KAPITEL 10


Nachdem sich Lander von den anderen gelöst hatte, war er umgekehrt. Er hatte zuvor aufmerksam auf Orientierungs­punkte geachtet und hoffte, den Weg zurück zur Leiche dieses Mädchens zu finden.

Bald erreichte er eine umgestürzte Espe, an die er sich erinnerte. Die Wurzeln lagen frei, als wäre der Baum wie Unkraut aus dem Boden gerupft worden. Lander ging an dem hoch aufragenden Wurzelgewirr und der Grube vorbei, die in der Erde zurückgeblieben war. Ein Stück weiter sollte sich der Baum befinden, wo ihnen das Mädchen aufgelauert und sie angegriffen hatte und letztlich gestorben war.

Er eilte durch ein Dickicht und fand den Baum.

Das Mädchen war verschwunden.

Eine Zeit lang wanderte er durch die Dunkelheit. Viel­leicht hatte er sich ein wenig verschätzt. Schließlich glich ein Baum so ziemlich dem anderen. Er schritt den Bereich

kreuzweise ab, dann kehrte er zu der entwurzelten Espe zurück und versuchte es erneut. Letztlich gab er auf. Ent­weder hatte er sich völlig verirrt oder die Leiche des Mädchens war fortgeschafft worden.

War sie überhaupt tot gewesen?

Aber es musste so sein. Die Kugel hatte sie genau zwi­schen die Brüste getroffen.

Lander sank an der Stelle auf die Knie, wo sie gelegen haben musste, und tastete den Boden ab. Die abgefallenen Zweige und Blätter erwiesen sich als nass. Blut oder nur Tau? Er hielt sich die Hände dicht vors Gesicht. In der Dunkelheit konnte er nicht erkennen, ob es sich bei der Feuchtigkeit um Blut handelte. Er ballte die Hand zur Faust. Als er sie öffnete, fühlte sie sich leicht klebrig an. Er leckte sich über die Handfläche und nahm den salzigen Geschmack von Blut wahr. Die Erkenntnis ließ ihn würgen.

Lander kroch rückwärts, weg von dem nassen Fleck am Boden. Dann fiel ihm ein, warum er nach dieser Stätte des Todes gesucht hatte. Abermals begann er, den Boden abzu­tasten und das von den nahen Bäumen und Büschen abge­fallene Gezweig beiseitezuschieben. Nasse Blätter blieben an seinen Fingern kleben. Ein Dom kratzte ihm über den Handrücken. Ein Wurm wickelte sich um seinen Zeige­finger. Dann fand er es. Das Messer des Mädchens.

Es war dem Mädchen aus der Hand gefallen, als es getroffen wurde, dann war es ein Stück seitwärts geflogen und von einer Laubschicht begraben worden.

Der gekrümmte Griff passte wie angegossen in Landers Hand. Die Klinge war mindestens 15 Zentimeter lang. Lander stand auf und steckte sich das Messer unter den Gürtel.

Er wünschte, er hätte die Machete dieser alten Hexe behalten, die eine wesentlich schlagkräftigere Waffe darge­stellt hatte als das Messer.

Der Gedanke an die Machete rief ihm ins Gedächtnis, was auf der Lichtung geschehen war. Einige Sekunden lang lähmte ihn die Erinnerung an das Blutbad. Lander zwang sich, die Gedanken auf Ruth zu konzentrieren.

Er musste sie finden.

Irgendwie.

Aber wo sollte er suchen?

Er hatte keine Ahnung, also kehrte er zur Lichtung zurück. Dort hatte er sie zuletzt gesehen, deshalb schien sie ihm der geeignetste Ort zu sein, um mit der Suche zu beginnen.

Er rannte, bis ihm die Luft ausging, dann ging er lang­samer weiter. Als er wieder zu Atem gekommen war, verfiel er abermals in Laufschritt.

Schließlich erblickte er durch die Bäume vor ihm Mond­licht. Die letzten paar Meter legte er leise zurück, presste sich an den taufeuchten Stamm eines Baums und stellte fest, dass er sich tatsächlich am Rand des Feldes befand. Die Leichen waren verschwunden.

Jenseits der Reihe abgestorbener Bäume, an die er und die anderen gekettet gewesen waren, erkannte er Bewegung. Zwei Gestalten steuerten langsam auf die entfernte Seite des Felds zu.

Ruth war in der entgegengesetzten Richtung verschwun­den. Aber vielleicht hatten diese Kreaturen - diese Leute - einen gemeinsamen Sammelplatz. Es schien durchaus möglich zu sein. Sogar wahrscheinlich. Jedenfalls hielt er es für besser, ihnen zu folgen, als ziellos durch den Wald zu irren.

Wenn er die Lichtung direkt überquerte, würden sie ihn mit Sicherheit bemerken. Wenn er sie jedoch umginge, um außer Sicht zu bleiben, würde er sie vielleicht aus den Augen verlieren.

Er musste eine Möglichkeit finden, sich zu tarnen, unsichtbar zu werden ...

»>Der entwendete Brief<«, murmelte er.

Sein Herz raste. Guter alter Poe.

In Sekundenschnelle zog sich Lander bis auf die Boxershorts aus. Dann zögerte er, wollte sie nicht ablegen. Aber er hatte keine andere Wahl. Nicht, wenn er wie einer seiner Feinde aussehen, sich als einer der ihren ausgeben wollte, um unsichtbar zu werden. Rasch streifte er sie ab.

Er ließ seine Kleider zurück, behielt nur das Messer und trat hinaus auf offenes Gelände. Die Gestalten jenseits des Feldes entfernten sich immer noch. Er rannte auf die abge­storbenen Bäume zu und beobachtete das Paar. Es schmerzte, nackt zu laufen. Am liebsten hätte er sich die Genitalien gehalten, um zu verhindern, dass sie gegen seine Beine klatschten, doch das hätte verdächtig ausgesehen.

Du musst dich ihnen anpassen, warnte er sich. Sieh so aus wie sie, benimm dich so wie sie. Die halten ihre Eier auch nicht, wenn sie rennen.

Lander änderte die Gangart in ein linkisches, breitbeiniges Hüpfen. Nach kurzem Experimentieren fand er in einen angenehmeren Rhythmus. Sein Penis schwang zwar immer noch wild hin und her, aber seine Hoden wurden nicht mehr so sehr in Mitleidenschaft gezogen.

Als er sich der Reihe der toten Bäume näherte, sah er, dass die Krulls anhielten. Beobachteten sie ihn? Er trottete im Kreis um zwei der Bäume und blickte zu Boden, als suche er etwas. Verstohlen spähte er zu den entfernten Gestalten. Sie verharrten reglos.

Lander trat an den nächstbesten Baum und begann zu urinieren. Wieder schaute er zu den anderen. Sie wandten sich ab und setzten den Weg in Richtung Wald fort. Nun erkannte er, dass die beiden eine dritte Gestalt mitschleiften. Brachten sie eine Leiche irgendwohin?

Bald verschwanden sie zwischen den Bäumen. Lander

eilte über das Feld zu der Stelle, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Er duckte sich unter tief herabhängenden Ästen hindurch, hielt inne und lauschte. Im nahen Unterholz hörte er Bewegungen.

Eine lange Zeit folgte er den Geräuschen. Er lief leise und blieb so weit zurück, dass er häufig fürchtete, er könnte die Krulls verlieren. Wenn er jedoch aufmerksam lauschte, spürte er sie jedes Mal wieder auf. Sie gaben sich keine Mühe, leise zu sein. Vereinzelt redeten sie sogar mitein­ander. Die Worte konnte Lander nicht verstehen, doch den Stimmen nach zu urteilen, vermutete er, dass es sich um zwei Frauen handelte.

Bald schnappte er ein neues Geräusch auf, ein windartiges Seufzen, das die anderen Laute überlagerte. Als er die Frauen nicht mehr hören konnte, eilte er voran. Er rannte und hoffte, das neue Geräusch würde seine Bewegungen verschleiern. Dann sah er die Frauen plötzlich vor sich. Sie befanden sich weniger als ein Dutzend Schritte entfernt.

Jede hielt die Hand einer toten Frau - der alten Hexe, die Lander erschlagen hatte. Sie schleiften sie hinter sich her. Das Gewicht der Leiche schien ihnen eine Menge Schwie­rigkeiten zu bereiten.

Keine der beiden Frauen war groß: die eine klein und pummelig, die andere etwas größer und schlank. Die Schlanke schien jung zu sein, ein Teenager vermutlich. Dichtes helles Haar hing bis zur Mitte des Rückens herab. Tief um ihre Hüften hing ein Lendenschurz aus Fell. In einer Hand hatte sie einen Spieß. Die andere, über deren Hintern ein pelziger Schwanz baumelte, trug eine Machete. Wahr­scheinlich die Waffe der toten Frau.

Lander beobachtete, wie die beiden versuchten, den Leich­nam über einen umgestürzten Baumstamm zu ziehen. Grun­zend zerrten sie an den Armen der Alten. Ein emporragender

Ast blockierte die Schulter der Toten. Murrend ließ die Schlanke ihren Arm los. Lander ertappte sich dabei, auf ihre Brüste zu starren, als sie von dem Baumstamm sprang. Wegen der Dunkelheit konnte er sie kaum erkennen, doch selbst die flüchtigen Eindrücke, die er im Mondlicht erhaschte, erzwangen eine Reaktion. Er schämte sich über seine wachsende Erektion. Trotzdem konnte er den Blick nicht abwenden. Er beobachtete, wie das Mädchen frustriert gegen die Leiche trat und sich anschließend bückte, um die Beine zu ergreifen. Dabei wanderte der Lendenschurz nach oben. Lander vermutete, dass sie darunter nackt war. Ob­wohl die Dunkelheit verhinderte, dass er ihre Pobacken sehen konnte, wurde sein Glied noch steifer.

Das Mädchen richtete sich auf, hielt die toten Beine an den Knöcheln. Mit Anlauf hielt sie auf den umgestürzten Baum zu. Die andere Frau sprang zurück und zog an den Armen. Die Leiche schlitterte über den Stamm und ver­schwand. Lander beobachtete, wie die Schlanke hinauf­kletterte und auf der anderen Seite hinabsprang.

Einen Moment lang wartete er, dann folgte er den beiden. Als die Frauen wieder in Sicht gerieten, befanden sie sich am Ufer eines Bachs. Sie unterhielten sich kurz miteinander, dann nickten sie und ließen die Leiche los. Beide legten die Waffen auf den Boden. Die Schlanke öffnete ihren Schurz und ließ ihre Beine hinabgleiten. Die andere löste ein schmales Band um ihre Hüften und entfernte den Zier­schwanz. Seite an Seite wateten die beiden ins Wasser.

Nach Landers Schätzung mochte der Bach etwa neun bis zwölf Meter breit sein. Statt ihn zu durchqueren, blieben sie ein paar Meter vom Ufer entfernt stehen, wo das Wasser hüfttief war. Sie spritzten sich gegenseitig nass und tauchten kurz die Köpfe unter. Anschließend begannen sie, einander abzureiben.

Zuerst glaubte Lander, es handle sich um schlichtes Baden. Vermutlich war es das zu Beginn auch. Dann jedoch ging das forsche Abreiben in zärtliches Streicheln über. Die beiden Körper schmiegten sich aneinander. Ihre Münder berührten sich.

Während Lander sie beobachtete, schwoll sein steifes Glied immer mehr an. Er fühlte sich schuldig, als wäre er nicht besser als ein gemeiner Spanner. Schlimmer noch, seine Erregung erschien ihm wie ein Verrat an Ruth. Wie konnte er hier stehen und sich von diesen Frauen aufgeilen lassen, während Ruth in Gefahr schwebte - womöglich gefoltert wurde?

In diesem Augenblick konnte irgendjemand Ruth ver­gewaltigen.

Ich könnte dasselbe mit den beiden machen, dachte er.

Lander sah, wie die Schlanke an die Oberfläche stieg und sich auf dem Rücken treiben ließ. Ihre Beine spreizten sich. Der Kopf der anderen bewegte sich zwischen ihre Schenkel. Das Gesicht presste sich gegen ihren Schritt und sie begann zu stöhnen.

Sie sind unbewaffnet. Die Hässlichere könnte ich töten. Die Hübsche könnte ich erst vergewaltigen und dann umbringen. Würde ihnen recht geschehen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Vergewaltigung um Vergewaltigung.

Während er die vom Mondlicht erhellte, glänzende Haut der Schlanken beobachtete, vermeinte er beinah, sie spüren zu können. Die kühle, glatte Haut, die Brüste klein und fest mit steifen Nippeln. Das enge Loch, das sein Glied umschlin­gen würde, wenn er unsanft in sie stieße.

Gott, wäre das herrlich!

Aus solchem Stoff waren Träume gemacht.

Und er konnte es tun - er konnte es wirklich tun. In dieser

Nacht hatte er bereits drei oder vier dieser Leute getötet. Warum nicht zwei mehr?

Warte nicht. Tu es jetzt, während sie ineinander ver­schlungen und hilflos sind, ihre Körper vor Lust strotzen. Sie werden gar nicht mitbekommen, wie ihnen geschieht.

Und was war mit dem Plan, ihnen zu folgen?

Lächerlich. Sie würden ihn nicht zu Ruth führen. Das war Wunschdenken, mehr nicht.

Die Chance, sich die Hübsche zu nehmen, war real. Lander hatte es noch nie mit einer so jungen, attraktiven Frau getan.

Vermutlich war sie nicht älter als Cordelia.

Er beobachtete, wie sie sich im Wasser wand, hörte ihr heftiger werdendes Stöhnen. Gott, könnte er sie nur in den Armen halten, seinen pulsierenden Schwanz in sie stoßen, dabei zusehen, wie eine Mischung aus Schmerz und Wonne ihre Züge verzerrte.

Aber er wartete, konnte sich nicht dazu überwinden, aus dem Dickicht hervorzutreten, wollte nicht angreifen.

Tu es!, sagte er sich. Tu es sofort!

Er konnte es nicht.

Lander zitterte. Seine Erektion fiel in sich zusammen.

Er hatte Angst.

Angst vor dem Vergewaltiger und Mörder, der in der Haut von Lander Dills lauerte.

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