7

Die Nacht war wie eine schwarze Wand, in die sie hineingelaufen war. Während der ersten zehn Minuten rannte sie einfach, blindlings und beinahe ziellos, stürmte durch Dickicht und dürres Geäst. Es kam Charity gar nicht richtig zu Bewußtsein, daß sie auf diese Weise früher oder später sehr wohl in eine wirkliche Schlucht stürzen konnte. Für Minuten hatte sie Panik übermannt; es war pures Glück, daß sie sich in dieser Zeit nicht selbst umbrachte oder den Sharks geradewegs wieder in die Arme lief. Aber schließlich übernahm ihr bewußtes Denken wieder die Kontrolle über ihre Handlungen. Sie lief langsamer, versuchte sich zu orientieren - ein Vorhaben, das sie rasch wieder aufgab - und blieb schließlich stehen, um zu lauschen.

Im ersten Moment hörte sie nur das Hämmern ihres eigenen Herzschlages und ihre eigenen, lauten Atemzüge, aber nach einer Weile begann sie andere Geräusche zu identifizieren - das Heulen des Windes, hier und da ein gedämpftes Knacken, das ihr verriet, daß sie nicht das einzige Lebewesen in dieser Einöde war, und ganz leise die Stimmen der Sharks.

Aufmerksam sah sie sich um, entdeckte nicht weit entfernt einen Felsen, der die Ebene wie ein einsamer Wachtturm überragte, und machte sich an den Aufstieg.

Aber sie war kaum einen Meter weit gekommen, als sie verwirrt innehielt. Was im blassen Silberlicht des Mondes wie ein Fels ausgesehen hatte, war in Wahrheit eine von Moos überwucherte, verwitterte Ruine.

Ohne es zu bemerken, war sie die ganze Zeit durch eine Ruinenlandschaft gelaufen: Schwarze Steinhaufen schimmerten im Mondlicht, alte Stahlträger stachen in den Nachthimmel. Es war eine verfallene Stadt - eine Stadt, die sie vielleicht gekannt hatte.

Diese Erkenntnis erschreckte sie, und plötzlich wußte sie, wo sie war, zweifelsfrei ... Der zerborstene Turm, vor dem sie stand, hatte einmal zu einer kleinen, weißen Kirche gehört, das Schiff war verschwunden, aber es gab keinen Zweifel: Auf der Vorderfront des Schuttberges neben ihr hatten einmal die Buchstaben TOWN HALL gestanden.

Es war Brainsville. Drei Monate vor ihrer Flucht in den Bunker war sie hier gewesen, und dann noch einmal am Abend der Katastrophe, aber da hatte die Stadt schon gebrannt.

Der Gedanke erschreckte sie. Zum ersten Mal sah sie wirklich, was mit ihrer Welt geschehen war. Alles andere, die Berge, die Ebene, die zerfallene Farm, selbst die Sharks, gehörte zu einer völlig anderen Welt, in die sie hineingeschleudert worden war, aber Brainsville war der erste wirkliche und unleugbare Beweis, daß es sie nicht auf einen anderen Planeten oder in ein anderes Universum verschlagen hatte.

Charity schauderte. Es fiel ihr schwer, die Lähmung abzuschütteln, mit der dieses jähe Wiedererkennen sie erfüllte, und sich in Erinnerung zu rufen, warum sie eigentlich hier war.

Irgendwo in den Ruinen hörte sie ein Geräusch. Charity fuhr zusammen, griff ganz instinktiv nach dem leeren Halfter an ihrer Seite und wurde sich schmerzhaft der Tatsache bewußt, daß sie unbewaffnet war.

Wenigstens wußte sie endlich, wo sie sich befand. Sie war nur ein paar Meilen vom Haupteingang des Bunkers entfernt - fünf, sechs Meilen bergauf.

Alles andere als ein Spaziergang, aber mit etwas Glück konnte sie es schaffen, ehe es Tag wurde.

Wieder - und nicht zum letzten Mal - kamen ihr Zweifel.

Vielleicht hatte Gurk ja recht gehabt, und es war nichts als eine Legende, und vielleicht fand sie statt den sagenumwobenen Tiefen nur eine ausgebrannte Ruine - aber wenn es sie gab, dann wußte sie, wo sie sie suchen mußte. In den Ruinen von SS Nulleins.

Es wurde wirklich kein Spaziergang. Die Sharks hatten ihr auch ihre Uhr abgenommen, so daß sie nicht wußte, wie lange sie so durch die Nacht irrte, aber es waren Stunden. Charity fühlte sich bald so erschöpft, daß sie sich am liebsten einen Platz zum Schlafen gesucht hätte, ganz egal, ob sie nun von den Sharks verfolgt wurde oder nicht. Sie hatte die Ruinen durchsucht und schließlich eine rostige Eisenstange gefunden, keine besonders gute Waffe, aber besser als nichts.

Der Anstieg war eine Tortur gewesen. Es war, als ginge sie nicht nur den Berg hinauf, sondern auch in der Zeit zurück, ein zweites, schreckliches Durchleben dieser letzten Meilen, die sie sich durch eine sterbende Welt gekämpft hatte. Selbst das Panzerwrack stand noch da, das ihr vor so vielen Jahren den Weg gewiesen hatte; fast völlig von Unkraut und Gestrüpp überwuchert, aber scheinbar unverändert, trotz all der Jahre, die seither vergangen waren. Charity schlug einen gewaltigen Bogen um den rostigen Stahlkoloß. Sie hatte die glühenden Insektenaugen nicht vergessen, die sie damals aus den Schatten heraus angestarrt hatten.

Die letzte Meile war die schlimmste. Die Straße war verschwunden, und wo der stacheldrahtumzäunte Vorplatz mit seinen Geschützstellungen und den Toren gewesen war, erhob sich eine gewaltige Schutthalde.

Charity hatte nichts anderes erwartet. Die sagenhaften Tiefen wären kaum so lange unentdeckt geblieben, wenn das Tor zu ihrem Reich jedem offengestanden hätte. Es gab andere Eingänge - sie kannte sie zwar nicht - aber sie würde sie finden.

Jetzt, im nachhinein, kam es ihr fast lächerlich vor, und so ganz nebenbei auch wie ein grausamer Scherz des Schicksals: Sie war wahrscheinlich nur ein paar Dutzend Meter von den überlebenden Bunkerbewohnern entfernt gewesen, als sie aufgewacht war. Hätte sie diese verdammte Panzertür aufbekommen, statt sich der Rutsche anzuvertrauen, dann wäre ihr diese ganze haarsträubende Flucht vielleicht erspart geblieben.

Sie verscheuchte diesen Gedanken, bedachte die gewaltige Schutthalde vor sich mit einem letzten, fast wehleidigen Blick und ging weiter.

Beinahe wäre es der letzte Schritt ihres Lebens gewesen.

Das Ding stand ganz plötzlich vor ihr, so lautlos und schnell, wie sich nur Insekten zu bewegen vermögen, und so abrupt, als wäre es buchstäblich aus dem Boden gewachsen. Es sah aus wie eine riesige Heuschrecke - und es wirkte verdammt gefährlich.

Charity machte einen halben Schritt zurück und erstarrte wieder, als sich auch die Heuschrecke bewegte: Ihr runder Kopf zuckte, die fingerdicken Antennenfühler peitschten erregt in ihre Richtung, und eine ihrer schrecklichen Fangscheren machte ein schnappendes Geräusch. Charity sah, wie sich die muskulösen Hinterläufe ganz sacht bewegten, als sammele sie Kraft für einen Sprung.

Charity machte einen weiteren vorsichtigen Schritt, und wieder vollführten die Fangarme der Heuschrecke diese zupackende Bewegung. Charity erstarrte wieder. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie wagte es nicht, sich zu rühren, ja, nicht einmal heftig zu atmen. Das Ungeheuer schien nur auf Bewegung zu reagieren, zumindest hoffte sie, daß es so war - aber selbst, wenn sie recht hatte, nutzte ihr das verdammt wenig. Sie wußte, wie ungeheuer geduldig Insekten sein konnten, und sie war unbewaffnet, so daß sie es auch nicht riskieren konnte, die Heuschrecke zu attackieren. Mit der Eisenstange würde sie überhaupt nichts ausrichten. Aber sie konnte auch nicht mehr lange reglos stehenbleiben. Sie ... sie mußte etwas tun.

Irgendwo hinter ihr erscholl ein Geräusch, und der Kopf der Heuschrecke ruckte in einer absurden Bewegung herum. Ihre Mandibeln zuckten nervös.

Wieder ertönte irgendwo hinter ihr dieses Geräusch, und diesmal identifizierte sie es als das Tappen schwerer, weicher Pfoten, das allmählich näher kam. Etwas schlich sich von hinten an sie an, und dann -

Und dann ging alles furchtbar schnell. Ein schrilles, wütendes Heulen erscholl, und plötzlich flog ein graues, massiges Etwas über Charitys Kopf hinweg und prallte wie ein pelziger Ball gegen die gepanzerte Brust des Rieseninsektes, das sich blitzschnell auf die hinteren Beinpaare aufgerichtet hatte. Charity sah kleinfingerlange, blendendweiße Zähne im Mondlicht aufblitzen. Das graue Wesen grub sich splitternd durch den Chitinpanzer der Heuschrecke.

Wölfe! dachte Charity fassungslos. Das ... das waren Wölfe!

Fast ein Dutzend der riesigen hundeähnlichen Kreaturen fielen heulend und geifernd über die Heuschrecke her. Doch das Rieseninsekt wehrte sich mit der ganzen mörderischen Kraft eines Titanenkörpers. Charity sah seine Fangarme wie tödliche Hornkeulen wirbeln; einer der Wölfe heulte vor Schmerzen auf, und die Dunkelheit spie immer noch mehr der grauen Jäger aus. Sie schienen keinerlei Respekt vor der überlegenen Kraft ihres Gegners zu haben. Charity wich Schritt für Schritt zurück, während die Riesenheuschrecke sich verzweifelt gegen die graue Übermacht zur Wehr setzte.

Vorsichtig drehte sie sich herum - und unterdrückte im letzten Moment einen Schrei.

Sie war nur noch zwei oder drei Schritte vom Waldrand entfernt, aber es hätten ebensogut zwei oder drei Meilen sein können, oder auch zwei Lichtjahre - denn zwischen ihr und den rettenden Bäumen stand ein gewaltiger, schwarzgrau gescheckter Wolf, der sie aus brennenden Augen anstarrte. Er regte sich nicht, aber seine Lefzen waren drohend zurückgezogen und entblößten ein fürchterliches Gebiß, und aus seiner Brust drang ein tiefes, drohendes Knurren.

»Nicht bewegen!«

Die Stimme kam irgendwo aus der Dunkelheit. Charity unterdrückte mit allerletzter Macht noch einmal ein erschrockenes Zusammenzucken; eine Bewegung, die den Wolf vielleicht zum Angriff provoziert hätte.

»Keine Bewegung«, sagte die Stimme noch einmal. »Egal, was passiert.«

Die Ohren des Wolfes zuckten aufmerksam, ohne daß er sie jedoch auch nur eine Sekunde aus dem Auge ließ. Er schien die Gefahr instinktiv zu spüren, die sich ihm von hinten näherte. Aber er sah auch die Beute, die vor ihm stand.

Das Unterholz teilte sich raschelnd, und ein zwei Meter großer Gigant stürzte hervor. Der Wolf stieß ein schrilles Knurren aus und wirbelte herum, aber er war eine Winzigkeit zu langsam.

Skudders Tomahawk traf seinen Schädel mit tödlicher Präzision und spaltete ihn.

»Weg jetzt!« Der Shark packte sie grob am Arm und zerrte sie einfach mit sich; keine Sekunde zu früh, wie Charity mit einem Blick über die Schulter erkannte. Die Heuschrecke war unter dem Anprall des Wolfsrudels zu Boden gegangen und wurde gerade in Stücke gerissen, aber einige Wölfe waren auch auf Skudder und sie aufmerksam geworden und jagten heran.

Sie erreichten den Waldrand, und sie retteten sich vor den Wölfen, wie sich Menschen seit einer Million Jahre vor ihnen gerettet hatten. Skudder hetzte mit weit ausgreifenden Sprüngen auf einen mächtigen Baum los, packte Charity kurzerhand bei den Hüften und warf sie einfach in die Höhe. Instinktiv griff sie nach einem Ast, bekam ihn zu fassen und zog sich hastig hinauf, während Skudder mit weit vorgestreckten Armen nach einem weiteren Ast sprang - und ihn verfehlte.

Er schrie auf, stürzte anderthalb Meter in die Tiefe und kam mit einem Fluch wieder auf die Beine. Die Wölfe jagten heran; zwei, drei, fast ein halbes Dutzend grauer Schatten. Charity schrie erschrocken auf. Aber Skudder schaffte es. Er versuchte nicht noch einmal, nach dem Ast zu springen, sondern kletterte mit schier unglaublicher Schnelligkeit am Baumstamm hinauf, während die Wölfe mit wütend gefletschten Zähnen auf ihn zufederten.

»Skudder - hier!« Charity beugte sich vor, hielt sich mit einem Arm am Ast fest und streckte Skudder die andere Hand entgegen.

Mit einer ungeheuren Kraftanstrengung zog sie ihn zu sich herauf.

Und dann war er es, der sie halten mußte, weil sie vor Erschöpfung fast vom Ast fiel.

Sekundenlang saß sie einfach da und rang keuchend nach Atem, ehe ihr zu Bewußtsein kam, daß Skudder sie noch immer festhielt.

Zornig befreite sie sich aus seiner Umarmung und stieß ihn von sich.

Skudder grinste.

»Wenn du jetzt darauf wartest, daß ich mich bei dir bedanke, dann täuschst du dich«, sagte sie ärgerlich. Skudders Grinsen wurde noch ein bißchen breiter, aber er schwieg. Und das machte Charity noch rasender.

Wütend blickte sie nach unten. Die Wölfe hatten den Baum eingekreist und sprangen kläffend und jaulend an seinem glatten Stamm empor. Es kamen immer mehr. Offenbar hatte das Rudel nicht besonders lange gebraucht, um die Heuschrecke aufzufressen.

»Das war knapp«, sagte Charity leise.

Skudder lachte. »Die Heuschrecke war übrigens völlig harmlos«, sagte er amüsiert. »Sie sind Pflanzenfresser. Sie werden nur gefährlich, wenn sie sich verteidigen müssen.«

Charity starrte ihn zornig an. Gleichzeitig hatte sie das heftige Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen. Vor allem, als Skudder im gleichen, fast beiläufigen Tonfall fortfuhr: »Ziemlich leichtsinnig von dir, allein und unbewaffnet durch diese Gegend zu laufen, findest du nicht? Du wärst nicht die erste, die von den Wölfen gefressen wird. Sie waren schon eine ganze Weile auf deiner Spur.«

»So wie du?«

Skudder schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin den Wölfen gefolgt. Aber ich wußte schon seit einer Stunde, wo du bist.«

»Warum hast du dann nicht einfach gewartet, bis sie mich erledigen?« fragte Charity. Ihr Zorn galt eigentlich mehr sich selbst als Skudder. Er hatte nur zu recht - es war mehr als nur leichtsinnig von ihr gewesen, einfach loszulaufen, in einer Welt, von der sie wenig mehr wußte, als daß sie die meisten ihrer Bewohner getrost als Feinde betrachten konnte.

»Ich soll dich lebend abliefern«, erinnerte Skudder. Er schüttelte den Kopf. »Wo wolltest du überhaupt hin? Hier gibt es im Umkreis von hundert Meilen nichts, wohin es sich zu fliehen lohnen würde.«

Charity zog es vor, nicht auf diese Frage zu antworten, sondern blickte wieder zu den Wölfen hinab. Die Tiere gerieten immer weiter außer sich. Mit einer fragenden Geste deutete Charity auf die Maschinenpistole - ihre MP, wie sie ärgerlich registrierte -, die in Skudders Gürtel steckte. »Warum knallst du nicht ein paar von ihnen ab?« fragte sie. »Vielleicht verschwinden die anderen dann. Ich habe keine Lust, auf diesem Baum zu übernachten.«

Skudder schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich sie erschießen?« fragte er ernst. »Sie tun uns nichts mehr. Und sie gehen sowieso bald.«

Tatsächlich schienen die ersten Wölfe bereits das Interesse an Charity und ihm zu verlieren. Hier und da sprang noch einer der grauen Jäger in die Höhe und versuchte den Baum zu erklimmen, aber die Tiere schienen allmählich zu begreifen, daß ihnen diese Beute entwischt war.

»Es war ziemlich dumm von dir zu fliehen«, sagte Skudder noch einmal. »Nicht, daß ich es nicht auch versucht hätte - aber ich hätte mir eine andere Richtung ausgesucht, weißt du? Nicht einmal die Reiter wagen sich in die Berge.«

»Nur die tapferen Sharks, wie?« fragte Charity höhnisch.

Skudder schüttelte den Kopf. »Nicht einmal die«, sagte er. »Außer, wenn sie müssen. Du hast Glück, daß du noch lebst.«

»Ich habe mich schon bedankt«, sagte Charity spitz. »Oder?«

»Versuch es nicht noch einmal«, fuhr Skudder unbeeindruckt fort. »Ich weiß nicht, ob ich jedesmal rechtzeitig zur Stelle sein kann, um dich zu retten. Es gibt Schlimmeres hier als die Wölfe.«

Charity antwortete nicht mehr. Statt weiter mit ihm zu reden, blickte sie wieder nach unten.

Die Wölfe zogen sich tatsächlich langsam zurück; zuerst einzeln, dann in kleineren und größeren Gruppen, die in nördlicher Richtung im Unterholz verschwanden, bis nur noch ein einzelnes Tier unter dem Baum saß, das hechelnd und mit heraushängender Zunge wie ein Hund dasaß, ehe es sich ebenfalls davonmachte.

Trotzdem vergingen noch gute zehn Minuten, bevor Skudder hinuntersprang. Mit einer kraftvollen Bewegung schwang er sich zur Seite, hing einen Moment lang mit ausgestreckten Armen wie ein Reckturner am Ast und ließ sich schließlich in die Tiefe fallen. Fast gegen ihren Willen mußte Charity die kraftvolle Geschmeidigkeit seiner Bewegungen bewundern. Er fiel, rollte sich blitzschnell über die Schulter ab und kam wieder auf die Füße; gleichzeitig zog er die Axt aus dem Gürtel - nicht die Schußwaffe, wie Charity sehr wohl registrierte.

Er wurde nicht angegriffen. Das Unterholz spie weder Wölfe noch andere Ungeheuer aus, und nach einer Weile richtete er sich wieder auf und hob die Arme. »Spring!« sagte er.

Charity sprang tatsächlich. Aber sie ließ sich nicht in seine Arme fallen, wie er wohl angenommen hatte, sondern drehte sich halb um ihre Achse, landete ein gutes Stück neben ihm, rollte über die Schulter ab - und griff warnungslos an. Ihr Fuß beschrieb einen perfekten Halbkreis und traf sein Kinn mit der dreifachen Wucht eines Faustschlages.

Die meisten anderen Männer hätte dieser Tritt getötet oder kampfunfähig gemacht, zumal Skudder so überrascht war, daß er nicht einmal versuchte, ihm auszuweichen.

Aber Skudder stürzte nicht, sondern taumelte nur zwei, drei Schritte mit wild rudernden Armen zurück und fing sich wieder.

Benommen schüttelte er den Kopf.

Charity setzte sofort nach. Mit aller Kraft stieß sie sich ab, drehte sich halb in der Luft und rammte ihm beide Füße vor die Brust, und diesmal stürzte er, schwer und ohne einen Laut.

Aber er war in der gleichen Sekunde wieder auf den Füßen wie sie. Charity schlug mit der flachen Hand nach seinem Hals, und versuchte ihm gleichzeitig das Knie zwischen die Beine zu rammen, doch er fing ihre Schläge ab, beinahe spielerisch, wie es ihr vorkam, und versetzte ihr im Gegenzug eine schallende Ohrfeige, die sie haltlos zurücktorkeln ließ.

Dennoch beging er den Fehler, sie wieder zu unterschätzen.

Charity versuchte nicht, ihm auszuweichen oder ihn aufzuhalten.

Ganz im Gegenteil packte sie seine ausgestreckten Arme, zerrte mit aller Kraft daran und ließ sich gleichzeitig nach hinten kippen.

Skudder prallte mit einem erschrockenen Laut gegen ihr plötzlich hochgerissenes Knie, schien mit einem Male schwerelos zu werden und segelte drei, vier Meter weit mit wild rudernden Armen durch die Luft.

Charity war mit zwei blitzschnellen Schritten bei ihm, zerrte die MP aus seinem Gürtel - und wich wieder zurück. Hastig entsicherte sie die Waffe und legte auf ihn an.

Skudder richtete sich stöhnend auf und griff nach seinem Kopf.

Als er seine Finger wieder zurückzog, klebte Blut daran.

»Bewege dich, und du bist tot«, sagte Charity drohend.

Skudder betrachtete eine Sekunde lang seine blutigen Fingerspitzen, ehe er aufsah. Sein Blick wirkte eher vorwurfsvoll als zornig. »Ich habe dich schon wieder unterschätzt«, sagte er. »Allmählich wird das zu einer schlechten Angewohnheit. Wo hast du gelernt, dich so zu prügeln?«

»Da, wo ich auch gelernt habe, wie man mit Typen wie dir umgeht«, antwortete Charity wütend. Als er sich bewegen wollte, fügte sie drohend hinzu. »Bleib unten. Du bist mir ein bißchen zu schnell.«

Skudder erstarrte tatsächlich, aber er sah nicht besonders ängstlich aus. Ganz im Gegenteil - er lächelte, als er in den Lauf der MP blickte, die Charity auf sein Gesicht richtete. »Das tust du ja doch nicht«, behauptete er.

»Bist du sicher?«

Skudder nickte. »Sehr. Du schießt ebensowenig auf einen Unbewaffneten wie ich. Ich werde jetzt aufstehen.«

Charitys Daumen berührte eine winzige Taste auf der MP, und auf dem schwarzen Leder, das Skudders rechtes Knie umhüllte, erschien ein münzgroßer, blutroter Punkt. Der Lasersucher stieß ein kaum hörbares, aber scharfes Summen aus.

»Möchtest du eine Kugel dorthin?« fragte Charity. »Es macht mir nichts aus.«

Skudder zögerte. Zum erstenmal, seit sie ihn kennengelernt hatte, wirkte er unsicher.

»Es macht mir nicht einmal etwas aus, dich hinterher eigenhändig wieder auf den Baum zu schleppen, damit dich die Wölfe nicht fressen, Skudder«, sagte Charity ernst. »Aber ich drücke ab, wenn du auch nur hustest.«

Skudder betrachtete fast eine Minute lang den roten Lichtfleck auf seinem Knie, ehe er wieder zu ihr aufsah. »Du hast keine Chance«, sagte er leise. »Glaub mir, du überlebst nicht einmal einen Tag hier draußen.«

»Ich werde mein Möglichstes tun«, erwiderte Charity ruhig. »Und jetzt leg dich hin. Auf den Bauch und mit ausgestreckten Armen und Beinen.«

Skudder zögerte noch einmal, aber dann begann er - sehr langsam - Charitys Befehl auszuführen.

Aber er beendete die Bewegung nicht. Plötzlich erstarrte er.

Seine Augen wurden groß, während sich sein Blick auf etwas hinter ihr heftete.

Charity seufzte. »Wenn du glaubst, ich falle auf diesen Trick herein, Skudder«, sagte sie. »Der war schon alt, als ich geboren wurde. Und das ist lange her.«

»Es ist kein Trick.«

Skudders Lippen preßten sich zu einem schmalen, fast blutleeren Strich zusammen. »Verdammt, ich wollte, es wäre einer«, flüsterte er.

Charity zögerte. Entweder war Skudder der beste Schauspieler, dem sie jemals begegnet war - oder der Ausdruck fast panischen Schreckens auf seinem Gesicht war echt. Aber auf keinen Fall wollte sie sich herumdrehen.

Natürlich tat sie es trotzdem.

Nein - es war kein Trick. Sie waren nicht mehr allein, ein gutes Dutzend Männer und Frauen in eng anliegenden, hellblauen Uniformen bildeten einen weiten Halbkreis um sie und Skudder. Die Uniformen sahen ihrer zum Verwechseln ähnlich. Und die Waffen, die sie in den Händen hielten, waren ganz eindeutig Lasergewehre.

Die Haut des Dutzends Männer und Frauen war sehr blaß. Kein Zweifel - sie hatten die Tiefen gefunden. Und sie waren weit mehr als eine Legende.

Charity ließ mit einem erleichterten Seufzen ihre Waffe sinken und trat den Uniformierten entgegen.

Sie fand nicht einmal mehr Zeit, die Bewegung zu bedauern.

Einer der zwölf Laser stieß einen dünnen, grellroten Blitz aus, der ihr das Bewußtsein nahm.

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