9

Raoul schob sich Zentimeter für Zentimeter auf den Hang zu. Er hatte zwanzig Minuten gebraucht, um die zehn Schritte vom Waldrand bis zum Fuß der Geröllhalde zurückzulegen, auf dem Bauch kriechend und so langsam, daß er manchmal das Gefühl gehabt hatte, überhaupt nicht mehr von der Stelle zu kommen. Die ganze Zeit über hatte er das kleine, blinkende Glasauge nicht einmal aus den Augen gelassen, das aus der Schutthalde herab auf den Waldrand starrte.

Keiner der anderen hätte es bemerkt, und auch Raoul hatte es nur gesehen, weil er erstens ziemlich genau gewußt hatte, wonach er suchen mußte, und weil es sich bewegte - sehr langsam, aber unaufhörlich.

Eine halbe Drehung nach rechts, Pause.

Eine halbe Drehung nach links, Pause ...

Manchmal, wenn ein fallendes Blatt, ein Staubwirbel oder ein kleines Tier in seinen Sichtbereich gekommen waren, hatte es angehalten, aber nie für sehr lange.


Raoul kannte diese Art von Überwachungsgeräten, und das war auch der Grund, warum er sich auf Händen und Knien und im Schneckentempo bewegte. Immer dann, wenn das matte Glasauge direkt in seine Richtung blickte, erstarrte er zu völliger Reglosigkeit.

Dann atmete er nicht einmal mehr.

Es war eine Videokamera, aber das kleine, in unregelmäßigen Abständen flackernde rote Auge darunter verriet ihm auch, daß sie nicht permanent eingeschaltet, sondern mit einem primitiven Melder gekoppelt war, der auf jegliche Art von Bewegung reagierte. Er vermutete, daß es Dutzende, wenn nicht Hunderte solcher künstlichen Augen gab, die das Gelände rings um den Berg absuchten. Wahrscheinlich waren sie mit einem Computer gekoppelt, der jede registrierte Bewegung auswertete.

Raoul hatte die Schutthalde erreicht. Die Kamera war ihm so nahe, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren.

Sein Blick huschte über die Trümmerlandschaft aus Felsbrocken und Schutt und blieb an einem niedrigen, dreieckigen Spalt hängen.

Der Eingang. Hier nur konnte der Eingang liegen.

Langsam, unendlich langsam, richtete er sich auf und streckte die Hand nach der Kamera aus. Zwischen seinen Fingern glitzerte ein rundes Glas, geschliffen wie ein Prisma, aber viel zu dick dafür, und auf sonderbare Weise gleichzeitig durchsichtig wie milchig.

Seine Hand brauchte zehn Minuten, um die knapp zwanzig Zentimeter zurückzulegen, und seine Kräfte drohten abermals zu erlahmen. Er wartete. Die Kamera drehte sich, hielt an, drehte sich weiter, richtete sich für einen Moment genau auf seine Hand. Raouls Finger zuckten in einer unglaublich schnellen Bewegung vor.

Das Prismenglas prallte klirrend gegen die Aufnahmeoptik und verdeckte sie. Für den Bruchteil einer Sekunde verzerrten graue Schlieren das Glas, und Raoul wußte, daß jetzt irgendwo im Inneren des Berges eine Alarmglocke anschlug und wahrscheinlich ein Monitor zum Leben erwachte.

Dann klärte sich das Glas, und unten auf dem Monitor würde im gleichen Moment nichts anderes als das vertraute Bild des Waldrandes zu sehen sein, farbig und dreidimensional und sogar mit der Illusion von Bewegung - aber ohne die Sharks, die auf sein Zeichen hin aus ihrer Deckung traten und sich dem Hang näherten.

Das Prisma filterte sie einfach heraus, so, wie es alles aus dem Bild herausgefiltert hätte, von dem Raoul wollte, daß es es tat. Es war ein kleines Wunderwerk, dieses harmlos aussehende Glas. Es war nicht auf der Erde gemacht worden.

Raoul erhob sich stöhnend und verbrachte die nächsten Minuten damit, seine Hand- und Fußgelenke zu massieren, bis das Leben kribbelnd in seine Glieder zurückkehrte. Dann drehte er sich zu Bart und den gut hundert anderen Sharks herum, die hinter ihm stehengeblieben waren, zog seine Waffe und deutete auf den dreieckigen Spalt im Berg.

»Los!« befahl er.


Es ist völlig unmöglich, dachte Charity, absolut ausgeschlossen.

Aber der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches war Niles.

Niles, mit dem sie zum Mond und zum Mars und dann zum Sternenschiff hinaufgeflogen war. Sie hatte ihn gemocht, hatte gern mit ihm zusammengearbeitet. Niles war ein gutes Jahr jünger als sie gewesen, ein Bild von einem Mann, sehr intelligent, nur manchmal hatte er sich darin gefallen, den dummen Nigger zu spielen.

Jetzt aber war er ...

Charity starrte das Gesicht auf der anderen Seite des Tisches an, suchte krampfhaft nach Worten und versuchte vergeblich, das Entsetzen zu unterdrücken, mit dem der Anblick sie erfüllte.

Niles war alt. Unglaublich alt. Sein Gesicht schien nur noch aus Runzeln und Falten zu bestehen. Er hatte keine Haare mehr. Seine Wangen waren eingefallen, und seine Augen, die immer so lebenslustig und wach gewirkt hatten, waren vom Alter trüb geworden.

»Großer Gott«, flüsterte sie schließlich.

Mehr brachte sie nicht heraus. Sie konnte nicht in Worte fassen, welche Gefühle Niles' Anblick in ihr auslöste. Und dann dachte sie, daß ihre Reaktion ihn tief verletzen mußte. Betreten senkte sie den Blick.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Laird«, sagte er. Seine Stimme war dünn, wirkte aber dennoch voller Kraft. »Für mich war es ein ebensolcher Schock, Sie zu sehen. Aber ich war nicht ganz unvorbereitet.«

Er deutete auf einen der kleinen Bildschirme, die nebeneinander auf einem Bord hinter dem Schreibtisch aufgereiht waren. »Ich hatte eine halbe Stunde, mich an den Gedanken zu gewöhnen.« Er lachte. »Ich habe mir eine Menge kluger Worte zurechtgelegt, mit denen ich Sie begrüßen wollte - aber eigentlich ist das alles albern. Wer ist Stone?«

Charity sah wieder auf. Es fiel ihr noch immer schwer, dem Blick seiner um zwei Generationen gealterten Augen standzuhalten.

»Niemand«, antwortete sie.

»Niemand?«

»Ein Mann, den ich hier zu treffen erwartete. Es spielt keine Rolle.« Plötzlich fiel ihr wieder der erste Gedanke ein, der ihr durch den Kopf geschossen war, als sie ihn erkannte. »Wieso leben Sie noch?«

Die Worte taten ihr schon im gleichen Moment wieder leid, in dem sie sie aussprach. Selbst in ihren eigenen Ohren klangen sie fast wie ein Vorwurf. Aber Niles schien ihr die Bemerkung nicht übelzunehmen.

»Unkraut vergeht nicht, das wissen Sie doch.« Er lachte wieder, aber diesmal klang es nicht echt. Charity hatte das Gefühl, daß ihm das Sprechen große Mühe bereitete. Er hustete.

»Ich habe es überlebt, so wie Sie - wenn ich mich auch nicht ganz so gut gehalten habe.«

»Aber New ...«

»Ich bin herausgekommen«, unterbrach sie Niles. »Fragen Sie mich nicht wie. Ich weiß es nicht mehr. Irgendwie habe ich es geschafft. Und andere auch. Die ... die Vernichtung war nicht so total. Sie haben Manhattan ausradiert und einen Teil der Küste, aber wir ... hatten Glück.«

»Und Ihre Frau.«

»Sie ist tot«, antwortete Niles. »Meine Tochter auch. Sie hatten weniger Glück als ich.« Er lächelte milde. »Es macht mir nichts aus, darüber zu reden«, sagte er, und es klang ehrlich. »Es ist lange genug her, wissen Sie?«

»Wer ist das?« mischte sich Skudder ein. »Ihr kennt euch?«

»Halt den Mund!« rief Mark und hob drohend die Hand, als wolle er Skudder schlagen. Niles winkte hastig ab.

»Sie sind manchmal wirklich etwas zu übereifrig, Mark«, sagte er mit sanftem Tadel. Er seufzte, drehte sich mühsam in seinem Stuhl um und bedachte Skudder mit einem langen, nachdenklichen Blick.

»Also Sie sind der legendäre Skudder«, sagte er schließlich. Er seufzte wieder. »Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, mich weder anzugreifen noch zu fliehen, wenn ich Mark Sie losbinden lasse?«

Mark sog scharf und hörbar erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, und auch Skudder sah für einen Moment sehr verwirrt aus. Niles seufzte erneut.

»Ich hasse es, mit einem gefesselten Mann zu sprechen, Mister Skudder«, sagte er. »Habe ich Ihr Wort?«

Skudder nickte, und Niles machte eine neuerliche, befehlende Geste zu Mark. »Binden Sie sie los, Mark. Beide.«

»Aber ...«

»Bitte!« sagte Niles noch einmal. Seine Stimme klang eher ungeduldig als verärgert. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Mark. Auch ich habe schon eine Menge über Mister Skudder gehört - aber daß er sein Wort bricht, gehört nicht dazu.«

»Wie Sie meinen«, entgegnete Mark ärgerlich und machte sich an die Arbeit. Er öffnete Charitys und Skudders Handschellen und bezog wieder Posten.

»Es ist gut, Mark. Ich rufe Sie, wenn ich etwas brauche. Bitte lassen Sie uns allein.«

Mark wurde sichtlich blaß, widersprach aber nicht. Mit einem übertrieben zackigen Gruß drehte er sich herum und stampfte aus dem Raum, gefolgt von seinen drei Begleitern. Niles sah ihm kopfschüttelnd nach. Dann wandte er sich in fast entschuldigender Tonart an Skudder.

»Ein guter Mann, wenn auch manchmal etwas hitzig. Ihnen ist doch klar, daß ich nicht für Ihr Leben garantieren kann, nicht wahr?«

Skudder nickte. »Völlig klar. Aber wieso legen Sie Ihr Leben in meine Hände? Sie sind ein alter Mann - und ich könnte Ihr Genick brechen, ehe Sie auch nur um Hilfe rufen.«

»Kaum«, antwortete Niles überzeugt. »Und ich bin nicht ganz so schutzlos, wie Sie vielleicht glauben, Mister Skudder.« Er lächelte, schwenkte seinen Stuhl wieder zu Charity herum und sah sie an, und plötzlich begriff sie, daß sein kurzes Gespräch mit Skudder keinen anderen Sinn gehabt hatte, als ihr einige Sekunden Zeit zu verschaffen, mit ihrer Überraschung fertig zu werden.

»Wenn Sie wollen, lasse ich Mister Skudder hinausbringen«, sagte er. »Aber es wäre mir lieber, wenn er ...« Er warf Skudder einen raschen, schwer zu deutenden Seitenblick zu »... wenn er dabei wäre«, fuhr er nach einer winzigen Pause fort. »Im Gegensatz zu Mark und den meisten anderen hier bin ich nämlich nicht der Meinung, daß er ein blutrünstiger Barbar ist. Ganz im Gegenteil. Er ist ein guter Mann. Er steht nur auf der falschen Seite.«

Skudder wollte etwas sagen, aber Niles brachte ihn mit einem raschen Kopfschütteln zum Verstummen. »Hören Sie einfach zu, Mister Skudder. Ich bin sicher, Sie werden hinterher so manches mit anderen Augen sehen.«

Skudder zog eine Grimasse, entgegnete aber nichts.

»Was ist passiert?« fuhr Niles fort, wieder an Charity gewandt. »Sie waren im Kälteschlaf, nehme ich an?«

»Sie wissen davon?«

Niles nickte. »Es gibt nicht viel in dieser Station, von dem wir nichts wissen«, antwortete er mit sanftem Tadel. »Wir hatten Zeit genug, sie zu erkunden. Wir haben einen Großteil wieder aufgebaut, wissen Sie? Leider ist es uns nie gelungen, in den Raum mit den Hibernationstanks vorzudringen. Aber ich dachte, es wäre leichter zu sterben. Aber das ist es nicht.«

»Es wäre nicht gegangen«, sagte Charity leise. »Der Hubschrauber war zu klein.«

»Ich weiß«, sagte Niles. »Trotzdem - ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie nicht zurückgekommen sind. Ich ... weiß nicht, was ich getan hätte. Vielleicht wäre ich wirklich zum Feigling geworden und hätte meine Familie im Stich gelassen. Aber so konnte ich es nicht. Und eine halbe Stunde später spielte es sowieso keine Rolle mehr.«

Obwohl er das Gegenteil behauptet hatte, spürte Charity, wie schwer es ihm fiel, über jenen Tag zu sprechen. Aber sie unterbrach ihn nicht. Schlimmer als der Schmerz der Erinnerung, den er jetzt spürte, mußten die Jahrzehnte gewesen sein, in denen er mit niemandem darüber hatte reden können.

»Plötzlich war alles tot«, fuhr er fort, mit leerem Blick und leiser, zitternder Stimme. »Es war ... eine Art Strahlung. Erinnern Sie sich an das Haus voller Toter, das wir in der Bronx gefunden haben?«

Charity nickte.

»Es war dasselbe«, fuhr Niles fort. »Eine Art ... graues Leuchten, anders kann ich es nicht beschreiben. Zuerst hielt ich es für Gas, aber das war es nicht. Es ... es war überall, und es tötete nur Menschen. Keine Pflanzen. Keine Tiere, nur Menschen. Sie fielen einfach um und waren tot, von einer Sekunde auf die andere. Aber nicht alle. Meine Tochter starb, und alle unsere Nachbarn, aber meine Frau und ich spürten nichts.«

»Es gab Überlebende in New York?« fragte Charity ungläubig.

Niles nickte und schüttelte fast gleichzeitig den Kopf. »Nicht in der City. Manhattan wurde ausgelöscht, aber wir ... wir lebten in den Randgebieten. Vielleicht war die Strahlung dort nicht mehr so stark.« Er zuckte die Achseln. »Viele überlebten. Viele flohen, aber manche blieben auch, wenigstens in den ersten Tagen. Bis die ...«

»Bis die Reiter kamen«, sagte Skudder.

Niles nickte. »Sie wissen davon?«

Skudder lächelte kalt. »Wenn Sie von demselben New York sprechen wie ich, ja. New York ist so etwas wie ihr Hauptquartier auf diesem Kontinent. Daniel kommt von dort.«

Niles' Blick nach zu urteilen, konnte er mit dem Namen Daniel noch weniger anfangen als Charity. Aber er nickte. »Bis sie kamen, ja«, bestätigte er. »Sie ... begannen irgend etwas zu bauen, und ihre Truppen machten Jagd auf uns. Sie haben viele getötet, aber sie haben auch viele entkommen lassen. Offensichtlich kam es ihnen nur darauf an, uns aus der Stadt zu verjagen. Meine Frau und ich gehörten jedenfalls zu denen, die entkommen konnten.«

Wieder stockte er, und wieder konnte Charity sehen, wie ihn die Erinnerung zu übermannen drohte. Diesmal dauerte es sehr lange, bis er sich wieder in der Gewalt hatte.

»Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, Charity«, sagte er dann mit veränderter Stimme. »Meine Frau starb wenige Wochen darauf, und ich irrte fast ein Jahr durch das Land, ehe ich mich bis hierher durchschlagen konnte. Als Sie und Mike sich in New York von mir verabschiedeten, da war ich bereit, zu sterben, und später, nachdem sie erst meine Tochter und dann meine Frau umgebracht hatten, da wollte ich es sogar, eine Zeitlang. Aber dann ... dann wollte ich nur noch überleben. Irgendwie und irgendwo, um es ihnen später einmal heimzuzahlen.«

Er sah Skudder an. »Aber im Gegensatz zu den meisten hatte ich ein Ziel«, fuhr er fort. »Ich wußte von diesem Bunker, und mir war klar, daß ich nur hier eine Chance haben würde. Leider kam ich zu spät.«

»Vielleicht ist es gut, daß Sie zu spät gekommen sind, Niles«, sagte Charity ernst. »Als ich ... in den Tank stieg, wurde der Bunker gerade angegriffen. Ich weiß nicht, ob es Überlebende gab.«

»Nein«, antwortete Niles. »Es gab keine. SS Nulleins war eine Ruine, als wir hierherkamen.«

»Wir?«

Niles machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Ich war nicht allein. Einige von denen, die mich damals begleiteten, sind noch heute hier, aber die meisten sind tot. Mark und die anderen sind ihre Nachkommen.«

Charity starrte ihn an. Ein unglaublicher Verdacht begann in ihr emporzusteigen, aber sie verscheuchte den Gedanken, noch ehe sie ihn wirklich zu Ende denken konnte.

»Was geschah in diesem Jahr?« fragte sie.

Niles lachte hart. »Unsere Welt ging unter, Captain Laird«, sagte er. »Zuerst dachte ich sogar, daß wir eine kleine Chance hätten. Ich glaube, sie haben uns unterschätzt. Es gab überall Widerstand, und nach ein paar Wochen gelang es uns sogar, sie hier und da zurückzuschlagen. Es sind Bomben gefallen. Die Chinesen hatten ein paar uralte Dinger, denen der EMP nichts ausgemacht hatte, und ich schätze, von unserer U-Boot-Flotte haben einige überlebt. Alles in allem dauerte es fast ein halbes Jahr. Aber am Ende wurden wir besiegt. Sie können nicht gegen einen Feind siegen, der über unbegrenzten Nachschub verfügt.«

»Tut er das?« fragte Charity.

Niles nickte. »Ich habe eine Menge über sie herausgefunden«, sagte er. »Die Moroni scheinen keine Geheimnisse zu haben. Sie fühlen sich so sicher, daß sie Geheimhaltung wohl nicht mehr für nötig halten. Und vielleicht sogar zu Recht. Sie herrschen nicht nur über ein paar Planeten, Charity, die Hälfte der Milchstraße gehört ihnen, und die andere Hälfte erobern sie wahrscheinlich gerade. Es ist völlig sinnlos, gegen sie zu kämpfen. Wir haben es versucht, aber sie haben uns einfach niedergewalzt.«

»Aber das ist absurd!« protestierte Charity. »Es sind ... Ungeheuer. Ein Volk von primitiven Monstren, das ...«

»Moron?« Niles schüttelte lächelnd den Kopf. »O nein, Charity. Was Sie gesehen haben, was ich gesehen habe, was diesen Planeten niedergeknüppelt hat, das waren Ungeheuer. Aber das waren keine Moroni. Niemand hat die Herren von Moron jemals zu Gesicht bekommen. Was wir gesehen haben, das waren Sklaven. Eine Art ... lebender Kampfroboter, wenn Sie so wollen. Mehr nicht.«

»Das stimmt«, sagte Skudder. »Die Reiter und die anderen sind nur die Fußtruppen. Die Herren Morons verlassen ihre Festung nie.«

Charity starrte ihn fassungslos an. Alles in ihr sträubte sich dagegen, auch nur ein Wort von dem zu glauben, was sie gehört hatte. Aber gleichzeitig wußte sie auch, daß es die Wahrheit war.

»Was geschah danach?« fragte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Nach dem Krieg?«

»Alles brach zusammen«, berichtete Niles. »Was die Insektenkrieger oder der Graue Tod nicht niedermachten, das zerstörten unsere eigenen Bomben. Die meisten großen Städte wurden ausradiert, hier, in Europa, in Asien - überall. Die Armeen Morons zogen sich langsam zurück - die meisten starben nach wenigen Wochen. Ich vermute, daß sie sich nicht an die fremde Umgebung gewöhnen konnten. Aber manche blieben auch. Ein paar Gattungen überlebten, paßten sich an. Es gab ... Mutationen. Kreuzungen zwischen einheimischen Lebensformen und den anderen.«

Er seufzte tief. »Sie sind noch nicht lange genug wieder hier, Charity, um es zu wissen, aber dieser Planet ist nicht mehr die Erde. Sie beginnen, ihn zu verändern. Auf unglaubliche Weise und unglaublich schnell.«

»Ich weiß«, sagte Charity.

Aus irgendeinem Grund schienen Niles diese Worte zornig zu machen. Er fuhr ein wenig hoch und sank fast in der gleichen Bewegung wieder in seinen Stuhl zurück. »Nein, das wissen Sie nicht«, sagte er heftig. »Sie wissen nicht, daß die meisten irdischen Tierarten verschwunden sind, ebenso wie die meisten Pflanzen. Die Moroni besetzen nicht einfach eine Welt. Sie verändern sie. Sie ... sie sind dabei, aus unserer Erde einen anderen Planeten zu machen.«

Skudder wollte etwas sagen, aber Charity warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu. Sie spürte, daß es besser war, Niles jetzt einfach erzählen zu lassen.

»Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken«, fuhr er fort, ganz leise und fast wie im Selbstgespräch. »Wissen Sie, daß die einzige Gattung, die von der Invasion profitiert hat, die Insekten sind?«

Charity nickte. Sie erinnerte sich sehr lebhaft an ihre Begegnung mit der Heuschrecke.

»Ich vermute, daß die Moroni Insekten sind«, fuhr Niles fort. »Ich habe keinen Beweis dafür, aber ich bin trotzdem fast sicher.«

»Wieso?« fragte Skudder.

Niles bedachte ihn mit einem fast verzeihenden Lächeln. Sein Tonfall wurde dozierend, als er antwortete.

»Die Insekten waren die erste höhere Lebensform, die sich auf diesem Planeten entwickelte«, sagte er. »Und ich vermute, nicht nur hier. Sie sind perfekt: zäh, schnellebig, mit einer unglaublichen Vermehrungsrate, unvorstellbaren Körperkräften und einer Anpassungsfähigkeit, von der höhere Lebensformen als sie nicht einmal zu träumen wagen. Zu unserer Zeit gab es Hochrechnungen, junger Mann, was geschehen würde, wenn irgendein Idiot einmal den Knopf drückt und das alles hier in die Luft jagt. Wissen Sie, was dabei herausgekommen ist? Mit ziemlicher Sicherheit wären es die Insekten gewesen, die den großen Knall überlebten.«

»Sie meinen, diese Monster sind die Nachfahren einer Welt, auf der ...«

»Ich meine gar nichts«, unterbrach ihn Niles. »Es war nur ein Beispiel. Es ist auch möglich, daß die Insekten sich auf ihrer Welt einfach weiter entwickelten. Daß sie Intelligenz entwickelten. Wäre dies hier geschehen, hätte es niemals eine menschliche Rasse gegeben. Wahrscheinlich überhaupt keine Säugetiere.«

»Interessant«, knurrte Skudder. »Und was hat das alles mit Moron zu tun?«

»Nichts«, antwortete Niles. »Verzeihen Sie einem alten Mann, daß er ins Schwatzen geriet. Ich ... habe nur versucht, mir vorzustellen, wie diese Welt einmal für unsere Enkelkinder aussehen wird.«

»Sie übertreiben doch«, sagte Charity erschrocken.

Statt zu antworten, stand Niles umständlich auf. Mit kleinen, mühsamen Schritten schlurfte er zu einer Computerbank neben der Tür, drückte einige Tasten und ging zu seinem Stuhl zurück. Hinter seinem Schreibtisch glomm ein fast wandgroßer Monitor auf.

Charity erkannte eine Satellitenaufnahme der Erde, offenbar aus extrem großer Höhe aufgenommen und mit einer Kamera, die ihre besten Zeiten hinter sich hatte. Das Bild war alles andere als scharf; voller Schnee, und auch die Farben stimmten nicht.

Skudder riß erstaunt die Augen auf. »Was ist das?«

»Die Erde«, antwortete Niles. »Unser Planet, mein Freund. Aus großer Höhe aufgenommen.« Er amüsierte sich einige Sekunden über Skudders erstaunte Miene, dann wandte er sich wieder an Charity.

»Wir haben noch Verbindung mit einigen der alten Satelliten«, sagte er.

Charity trat neugierig näher. Irgend etwas ... stimmte nicht mit diesem Bild. Aber sie wußte noch nicht, was.

»Ich dachte, die Bomben hätten sie alle zerstört.«

»Ein paar nicht«, antwortete Niles kopfschüttelnd. »Dieser und zwei oder drei andere waren hoch genug, um die Explosion zu überstehen.«

»Wenigstens zum Teil«, schränkte Charity ein, aber Niles schüttelte sofort wieder den Kopf.

»Sie irren sich. Der Satellit ist völlig in Ordnung.«

»Aber die Farben ...«

»Stimmen nicht, ich weiß«, fiel ihr Niles ins Wort. »Aber sie sind so.«

»Das ist unmöglich!« protestierte Charity. Sie trat um den Schreibtisch herum und ging ganz nahe an die riesige Video-Wand heran.

Dann erkannte sie, daß Niles recht hatte. Die Farben stimmten wirklich nicht, aber das lag nicht an der Kamera. Es war der Planet, der sich verändert hatte. Sie entdeckte große, manchmal sicherlich Tausende von Meilen messende Flecken, die einen unwirklichen, purpurfarbenen Ton angenommen hatten.

»Was ist das?« fragte sie atemlos.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Niles. »Niemand, der je versucht hat, diese Gebiete zu erforschen, ist zurückgekehrt. Das ist das, was sie aus unserer Welt machen.« Seine Stimme zitterte. »Sie kolonisieren die Erde nicht einfach. Sie ... verändern sie. Verstehen Sie, was ich meine? Das da ist eine völlig fremde Vegetation, eine andere Tier- und Pflanzenwelt... vielleicht sogar eine fremde Atmosphäre.«

»Wie bitte?« sagte Charity erschrocken.

Niles nickte. »Wir haben versucht, Einzelheiten herauszufinden, aber es ist unmöglich. Nicht von hier aus. Auch die Zusammensetzung der gesamten Erdatmosphäre hat sich in den letzten fünfzig Jahren verändert. Noch nicht so stark, daß man es sofort spüren würde, aber der Prozeß geht weiter - und er beschleunigt sich. Ich habe es ausgerechnet. Wahrscheinlich dauert es nicht einmal mehr hundert Jahre, bis die gesamte Erde ... verändert ist.«

Charity schwieg erschüttert.

»Das ... das ist ... die Erde?« murmelte Skudder.

Langsam drehte sich Charity zu ihm herum. In den letzten Augenblicken hatte sie seine Gegenwart vollkommen vergessen.

Skudders Blick war starr auf den Monitor gerichtet.

»Nein«, sagte Niles hart. »Das ist sie nicht. Das da ist sie.« Er betätigte einen Schalter auf seinem Schreibtisch, und das Bild flackerte. Als sich die Streifen und bunten Schlieren wieder verzogen, war auf dem Monitor eine Aufnahme der Erde zu sehen, wie sie einmal gewesen war - ein blaugrüner Planet voller weißer Wolken und ausgedehnter Meere.

Niles' schmale Hände flogen über die Tastatur in seinem Schreibtisch, und das Bild wechselte abermals: Die Kamera näherte sich der Erde, als befände sie sich an Bord eines extrem hoch fliegenden Flugzeuges, das zur Landung ansetzte. Der blaugrüne Ball wuchs plötzlich und nahm den ganzen Bildschirm ein. Wolken tauchten auf, verschleierten das Bild für Augenblicke und verschwanden wieder, als die imaginäre Kamera tiefer sank.

Charity wußte, daß es sich nur um eine Computersimulation handelte, aber das spielte keine Rolle. Was die Kamera zeigte, das war ein Bild der Erde, wie sie Skudder niemals kennengelernt hatte, einer Erde, die fünfzig Jahre und einen Weltuntergang zurücklag: grüne Täler und Wiesen wechselten sich mit Flußläufen und Bergen ab, Meere und Städte huschten unter der Kamera vorbei, Menschen und Tiere ...

Es dauerte lange, sicherlich eine halbe Stunde, aber Skudder nahm in all dieser Zeit nicht für eine Sekunde den Blick vom Schirm. Sein Gesicht war wie Stein. Schließlich näherte sich die Kamera der Skyline einer gewaltigen Stadt. Charity erkannte Manhattan. Ein völlig unzerstörtes, intaktes Manhattan, voller glücklicher Menschen und spielender Kinder, bunte Autos und Flugzeuge, die über den Himmel zogen. Das Bild war falsch - die Stadt war niemals so sauber gewesen, und sie hatte niemals so glücklich gewirkt. Und trotzdem trieb es auch Charity die Tränen in die Augen.

Das Bild erlosch, der Film war zu Ende, und auf dem Monitor erschien wieder das Abbild einer geschändeten Erde. Die purpurroten Gebiete wirkten wie Krebs.

Niemand wagte das Schweigen zu durchbrechen. Schließlich räusperte sich Skudder. »Sie machen mir das nicht nur vor, nicht wahr?« fragte er. »Ich meine ... das ist kein Trick?«

Niles schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Das war unsere Heimat, Mister Skudder. Ich schaue mir diesen Film oft an. So war dieser Planet einmal - bevor Moron ihn zu einer Welt der Monster und Mutanten gemacht hat.«

»Aber warum?« fragte Charity erschüttert. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Sie sind auf Eroberung aus«, antwortete Niles. »Ihr Reich ist groß. Sie brauchen Rohstoffe, Energie - und Menschen.«

»Menschen?«

»Sie haben Millionen verschleppt«, bestätigte Niles. »Und sie tun es noch. Niemand weiß, wozu, denn keiner ist bisher zurückgekehrt. Vielleicht brauchen sie Sklaven. Vielleicht fressen Sie sie auch auf.«

Er sah Skudder an. »Ich weiß, das klingt hart, aber Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, junger Mann. Es ist nicht falsch, was Sie tun. Sie versuchen zu überleben, so wie wir auch.«

Skudder schwieg, offensichtlich völlig überrascht von dem, was er hörte. »Soll das heißen, Niles, daß sie sich seit fünfzig Jahren hier verstecken, ohne irgend etwas zu unternehmen?« fragte Charity ungläubig.

»Dreiundfünfzig«, verbesserte sie Niles ruhig. »Plus der Zeit, die wir brauchten, um hierher zu kommen. Natürlich haben wir etwas getan - wir haben diese Station wieder hergerichtet.«

Er beugte sich leicht vor und sah Charity durchdringend, ja, beinahe beschwörend an. »Ich weiß, was Sie jetzt denken, Captain«, sagte er. »Ich habe vor fünfzig Jahren genauso gedacht. Aber es ist sinnlos, glauben Sie mir. Wir sind fast fünfhundert hier unten, aber wir sind nichts gegen Moron und seine Macht. Und wir sind vielleicht die letzten freien Menschen dieses Planeten.«

»Frei?« Skudder schnaubte. »Ich sehe den Unterschied nicht so ganz, wissen Sie? Die dort oben werden eingesperrt, und Sie sperren sich freiwillig ein. Ihr seid ja alle verrückt.«

Niles lächelte milde. »Vielleicht. Aber wir können nichts tun. Sollen wir einen Gegner besiegen, der einen ganzen Planeten in die Knie gezwungen hat?«

»Aber Sie können doch nicht ...«

»Was?« unterbrach sie Niles sanft. »Einfach leben? Warum nicht? Was sollen wir tun? Hinausgehen und uns töten lassen, nur um einer Geste willen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe Sie nur zu gut, Captain Laird - doch glauben Sie mir: Ich habe siebenundfünfzig Jahre Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und es gibt nur diese eine Wahl für uns. Niemand kann Moron besiegen.«

»Heißt das, daß Sie für alle Zeiten hier unten sitzen und so tun wollen, als wäre nichts geschehen?« fragte Charity entsetzt.

»Wohin sollten wir gehen?« erwiderte Niles. »Moron hat uns vergessen. Selbst für die Menschen hier in der Umgebung sind wir kaum noch mehr als eine Legende. Wir haben Frieden, Laird. Hier unten wächst jetzt die dritte Generation heran, die in Frieden lebt, und dies ist vielleicht das höchste Gut auf dieser Welt, nicht erst, seit die Krieger Morons kamen. Wir könnten gehen. Wir besitzen Ausrüstung, Waffen, Lebensmittel - aber was würden wir finden? Mit sehr viel Glück ein neues Versteck.«

»Sie wollen ihnen die Erde einfach schenken?«

»Man kann nichts verschenken, das man nicht mehr besitzt«, sagte Niles. »Diese Welt gehört jetzt ihnen, Captain. Die meisten Menschen wissen gar nicht mehr, daß es einmal anders war.«

»Aber das ist doch nicht möglich!« widersprach Charity. »Es sind doch nur ...«

»Zwei Generationen vergangen«, fiel ihr Niles ins Wort. »Unterschätzen Sie Moron nicht, Charity. Sie haben Erfahrung damit, ganze Welten zu versklaven. Viele Menschen leben relativ frei, aber sie achten scharf auf gewisse Dinge. Sie haben mit den Wastelandern gesprochen? Dann wissen Sie, wie die Welt aussieht. Moron herrscht, und Moron weiß alles. Sie kontrollieren die Schulen. Sie haben Bücher verboten und das Erzählen alter Geschichten. Es ist nicht erlaubt, einen Kalender zu führen. Oder eine Uhr zu besitzen.«

»Aber warum?« wunderte sich Skudder.

Niles lächelte. »Ein Volk ohne Geschichte ist weniger gefährlich«, antwortete er. »Es gibt nichts, worum sie kämpfen würden, wenn sie glauben, daß es schon immer so war. Und es gibt nichts, wofür sie sterben würden, ohne eine Geschichte.«

»Aber es gibt die Rebellen.«

Niles seufzte. »Die hat es immer gegeben. Unzufriedene und Querulanten. Aber sie sind harmlos. Moron läßt sie gewähren, weil sie nicht wirklich gefährlich sind. Ganz im Gegenteil - ein bißchen ähneln sie Ihnen und Ihren Sharks, Mister Skudder. Sie bilden sich ein, frei zu sein, und wissen nicht einmal, daß sie in Wahrheit den Invasoren dienen.«

»Das ist nicht wahr!« widersprach Skudder heftig.

»Ich weiß«, seufzte Niles. »Die Sharks sind frei und gehorchen niemandem, nicht wahr? Deswegen sind Sie ja auch jetzt hier, Skudder.«

»Sie ... Sie sprechen von Moron, als wäre es der Teufel persönlich«, murmelte Charity.

»Vielleicht ist er es«, erwiderte Niles ernsthaft. »Ich glaube, daß es das Prinzip des Bösen an sich ist.«

»Unsinn.«

»Dann lassen Sie es mich anders formulieren«, sagte Niles. »Sie werden mir zustimmen, daß es zwei Arten von Kräften im Universum gibt - konstruktive und destruktive, nicht wahr? Wenn es so ist, dann symbolisieren die Herren Morons mit Sicherheit die negativen Kräfte.«

»Die dunkle Seite der Macht, wie?« sagte Charity. Die Worte hatten spöttisch klingen sollen, aber sie wirkten nur hilflos. Niles nickte auch wieder.

Charity antwortete nicht mehr. Plötzlich mußte sie mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfen, die ihre Augen füllten.

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