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Schmerz weckte sie. Es gelang ihr nicht, ihn genau zu lokalisieren; eine Milliarde kleiner, kribbelnder Tierchen mit spitzen Zähnen lief durch ihren Körper, kroch durch ihre Adern, fraß sich an ihren Nervenbahnen entlang. Dann ein einzelner Gedanke, scheinbar sinnlos: Es wird weh tun. Sehr weh. Irgend jemand hatte das einmal zu ihr gesagt, irgendwann und irgendwo, eine Million Lichtjahre in der Vergangenheit. Wann und wo und wer genau, das hatte sie vergessen. Vielleicht hatte sie es nie gewußt.

Dann eine neue Erinnerung: ein schmales Gesicht mit Augen voller Angst und Wahnsinn, ein ... Gewehr, das auf sie gerichtet und - ja, und auch abgedrückt worden war.

Gut, dachte sie. Ihre Erinnerungen kamen zurück. Noch ergaben sie keinen Sinn, und noch vermochte sie nicht zwischen echten Erinnerungen und dem zu unterscheiden, was ihr aus dem endlos langen Alptraum gefolgt sein mochte, der hinter ihr lag. Aber allein, daß sie diesen Gedanken denken konnte, bewies, daß sich die grauen Spinnweben in ihrem Kopf aufzulösen begannen.

Es wird lange dauern. Vielleicht Tage.

Sie versuchte sich zu bewegen. Es ging nicht. Nun, sie hatte Zeit.

Und vielleicht war es ohnehin klüger, zuerst in ihrem Kopf für Ordnung zu sorgen.

Mit dem Einfachsten beginnen: Sie war ... war ...

Sie konnte sich nicht einmal an ihren Namen erinnern, und es war dieser Gedanke, der sie zum ersten Mal an den Rand der Panik brachte, seit sie die Fesseln jenes todesähnlichen Schlafes abgestreift hatte, in den sie irgendwann, vor unendlich langer Zeit gesunken war. Ganz schwach glaubte sie zu wissen, daß sie sich nicht freiwillig in diesen Zustand begeben hatte und daß sie ...

Es geschah so plötzlich, daß sie aufgeschrien hätte, wäre sie nur in der Lage dazu gewesen: Eine gewaltige, zehnfingrige Insektenklaue schlug nach ihren Gedanken und zerfetzte den Schleier aus grauen Spinnweben, der sich darüber ausgebreitet hatte.

Charity erwachte.


Sie war auf der Flucht. Das Leben eines Wastelanders brachte es zwangsläufig mit sich, daß man sehr früh lernte, sich durchzuschlagen und mit Gefahren fertig zu werden. Sie kannte alle Tricks, um die Reiter von der richtigen Spur abzubringen, und genug kleine Kunstgriffe und Kniffe, selbst einen Shark zu narren.

Aber heute war ein ganzes Dutzend hinter ihr her, und sie hatte die Spuren von mindestens drei Reitern gesehen. Ihre Chancen standen, vorsichtig formuliert, nicht besonders gut. Im Moment war sie zwar in Sicherheit, aber die Felsenhöhle, in die sie sich zurückgezogen hatte, bot ihr nur für kurze Zeit Schutz. Die Sharks waren nicht dumm - und zu allem Überfluß wurde die Höhle von einer Fangspinne bewohnt, wie die zahllosen kleinen Knochenhaufen bewiesen, die unter ihren nackten Füßen knisterten. Das Tier würde nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurückkommen, und es war fraglich, ob es einen so großen Gegner wie einen Menschen überhaupt angreifen würde; aber Net hatte weder Lust, es herauszufinden, noch ihr Nachtlager mit einer kopfgroßen, zehnbeinigen Scheußlichkeit zu teilen. Sie hatte noch eine gute Stunde, ehe sie ihre Deckung verlassen mußte. Und dann ...

Vorsichtig schob sie sich ein wenig näher an den Höhlenausgang heran und spähte zu den Bergen hinüber. Net hatte fast das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um ihre Ausläufer berühren zu können. Aber sie wußte auch, wie sehr dieser Eindruck täuschte. Die klare Luft hier oben verzerrte die Entfernungen. Bis zu den ersten Hängen mußten es einige Meilen sein. Und es war fraglich, ob sie selbst dort sicher wäre - die Reiter kamen nie in die Berge, aber diese verdammten Sharks stießen in letzter Zeit immer weiter nach Süden vor.

Verdammt, was hatte sie nur falsch gemacht? Es war doch nicht das erste Mal, daß sie sich an eine Reiterkarawane herangepirscht hatte, um Lebensmittel zu stehlen! Wieso veranstalteten sie plötzlich eine Treibjagd auf sie, als hätte sie sich die goldene Klobrille des Statthalters unter den Nagel gerissen?

Sie schloß die Augen und lauschte einen Moment angestrengt.

Für eine Sekunde glaubte sie das hohe Summen eines noch weit entfernten Sharks zu hören, aber dann merkte sie, daß sie sich das Geräusch nur einbildete. Nein - wenigstens für den Moment schienen sie ihre Spur verloren zu haben.

Ihre Hand tastete nach der Waffe, die unter ihrem Kleid verborgen war. Schmerzhaft wurde ihr bewußt, daß ihr Vorrat an Springmaden auf zwei zusammengeschrumpft war und daß sie die Tiere zudem seit drei Tagen nicht gefüttert hatte. Möglicherweise funktionierte das Ding überhaupt nicht mehr. Aber das würde sie schon merken, dachte sie resignierend. Sie konnte es sich nicht leisten, einen ihrer zwei letzten Schüsse zu vergeuden, nur um sicher zu sein.

Net schob sich behutsam ganz aus der Höhle heraus, richtete sich auf und drehte sich einmal im Kreis. Das Licht hier war gnadenlos, und der fast weiße Sand der Wüste reflektierte jeden einzelnen Sonnenstrahl wie ein riesiger Spiegel. Sie hätte niemals so weit nach Norden gehen dürfen. Aber sie war nun einmal in dieser Situation, und es gab absolut niemanden, dem sie die Schuld dafür in die Schuhe schieben konnte. Sie hatte sich ganz allein hineingebracht.

Net verschob ihre sinnlosen Selbstvorwürfe auf später, sah sich noch einmal sichernd nach allen Seiten um und ging los. Sie hatte Durst, aber drüben in den Bergen würde sie genug Wasser finden.

Wenn sie es bis dorthin schaffte. Und es gab eine ganze Menge, was dagegen sprach.


Charity erwachte endgültig. Mühsam öffnete sie die Augen, starrte die kahle Betondecke fünf Meter über ihrem Kopf an und begriff, daß sich der Tank geöffnet hatte. Ihre Erinnerungen waren zurückgekehrt. Sie waren schlagartig und ohne Vorwarnung gekommen, und Charity gestand sich widerwillig ein, daß sie wohl auch der Grund für ihre Bewußtlosigkeit gewesen waren. Es war lächerlich, aber sie war wie eine hysterische alte Jungfer schlichtweg vor Schrecken in Ohnmacht gefallen, als sie begriffen hatte, wo sie war.

Sie versuchte sich zu bewegen. Jede Bewegung ihres Körpers bereitete höllische Schmerzen. Großer Gott, sie würde nie wieder laufen können, dachte sie. Selbst das Atmen bereitete ihr Mühe.

Unter Aufbietung aller Kräfte stemmte sie sich ein wenig in die Höhe, zog die Knie an und versuchte in eine Lage zu rutschen, in der sie wenigstens ihren Körper betrachten konnte.

Sie schien ihren Tiefschlaf einigermaßen überstanden zu haben, auch wenn es ihr zuerst nicht so vorkam: Das Dutzend haarfeiner Nadeln in ihrem linken Handgelenk stach wie Feuer, die Wunde in ihrem rechten Oberschenkel klopfte im Takt ihres Herzens, und ihr linker Arm versuchte ihr immer noch einzureden, daß er in Wirklichkeit in hellen Flammen stünde. Der Tank hatte wirklich hervorragend funktioniert, dachte sie griesgrämig. Er hatte nicht nur ihren Körper vor dem Altern bewahrt, sondern auch die beiden Verletzungen nicht heilen lassen.

Sie wartete fast fünf Minuten, bis sie mit zusammengebissenen Zähnen die Hand nach dem Metallreif ausstreckte, der um ihrem linken Handgelenk lag, und ihn löste. Es tat ekelhaft weh, und dort, wo die Nadeln gewesen waren, traten kleine hellrote Blutströpfchen aus ihrer Haut. Sie würde Stone die Zähne einschlagen, dachte sie wütend. Einen für jeden Tropfen Blut, der jetzt über ihre Hand lief.

Der Zorn aktivierte neue Kräfte in ihr. Stöhnend setzte sie sich ganz auf, sah zuerst nach rechts, dann nach links und musterte dann den benachbarten Tank, einen sechs Meter langen, schimmernden Sarg aus verchromtem Stahl, in dem Stone lag. Er war noch geschlossen.

Ein jäher Schrecken durchfuhr sie. Vielleicht war er tot. Die Chancen, den Hibernationstank zu überleben, standen fünfzig zu fünfzig, erinnerte sie sich. Sie war erwacht, aber vielleicht hatte es Stone erwischt, und er faulte seit einem Jahrhundert in seinem Zwanzig-Millionen-Dollar-Sarg vor sich hin.

Sie würde es kaum herausfinden, wenn sie weiter hier saß und den Tank anstarrte. Charity wartete, bis sie sich kräftig genug dazu fühlte, dann stemmte sie sich aus dem Tank, tastete vorsichtig mit dem Fuß nach der obersten Stufe der kleinen Treppe und stieg zitternd hinunter. Anschließend blieb sie zehn Minuten lang zitternd und völlig außer Atem sitzen und kämpfte abwechselnd gegen Übelkeit und eine neue Ohnmacht an, die sie überfallen wollte.

Aber ihre Kräfte kamen jetzt rasch zurück. Vor einer halben Stunde hatte sie nicht einmal die Energie gehabt, die Hand zu heben, geschweige denn, eine anderthalb Meter hohe Leiter hinunterzusteigen. Sie stand auf, machte einen Schritt auf Stones Tank zu und kehrte wieder um. Bevor sie den Streit fortsetzten, den sie vor zehn oder vielleicht auch zehntausend Jahren unterbrochen hatten, war es vielleicht besser, zuerst einmal gewisse Dinge herauszufinden - zum Beispiel die Antwort auf die Frage, wie lange ihr unfreiwilliger Schlaf gedauert hatte.

Sie mußte auf die andere Seite, um einen Blick auf den Steuercomputer zu werfen. Es war ihr bisher gar nicht aufgefallen, daß der Tank zwei Meilen lang war, aber das war ungefähr die Strecke, die sie sich an dem schimmernden Metall entlangquälte, mit kurzen Schritten, nach vorne gebeugt wie eine zweihundertjährige Greisin und keuchend vor Anstrengung.

Das Ergebnis lohnte die Mühe nicht. Der Computer war so tot, wie er nur sein konnte: Das Dutzend kleiner Kontrollichter auf seiner Oberfläche war erloschen, und der Bildschirm matt und voller Staub.

Aus der mechanischen Digitalanzeige neben dem Gerät grinste sie eine 888 an.

Achthundertachtundachtzig Jahre? Verwirrt - und mehr als nur ein bißchen erschrocken - beugte sie sich vor und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das verstaubte Glas. Etwas klickte. Die mittlere der drei Achten verwandelte sich in eine Null, und Charity begriff, was geschehen sein mußte: Wie der Computer hatte auch das Zählwerk schlicht und einfach den Geist aufgegeben. Was den Weckvorgang aktiviert und den Tank aufgeklappt hatte, mußte eine Art Notautomatik gewesen sein. Im stillen bedankte sie sich bei den unbekannten Technikern, die dieses Gerät konstruiert hatten. Ihre Umsicht hatte ihr das Leben gerettet.

Damit wußte sie allerdings immer noch nicht, wie lange sie geschlafen hatte, aber das war im Moment auch nicht so wichtig. Sie lebte, das allein zählte.

Plötzlich kam ihr ein anderer, weit unangenehmerer Gedanke.

Dieser ganze Tiefschlafkomplex hatte eine eigene Energieversorgung, und es war nur zu logisch, daß die Tanks dabei oberste Priorität genossen. Das matte Glimmen der einst grellweißen Leuchtröhren unter der Decke verriet ihr genug über den Zustand der Reaktorladung. Wie zum Teufel sollte sie hier herauskommen? Sie erinnerte sich sehr lebhaft an die tonnenschwere Panzertür, die Stone hinter sich geschlossen hatte.

Wieder blieb sie zehn Minuten lang sitzen, ehe sie sich an den Rückweg machte. Diesmal war der Tank nur eine Meile lang, und für die Expedition hinüber zu dem Stones brauchte sie kaum eine Viertelstunde. Noch ein paar Tage, und sie würde den ganzen Raum durchqueren können, ohne auch nur ein einziges Mal vor Erschöpfung in Ohnmacht zu fallen.

Das Schaltpult an Stones Tank war gleichfalls tot, seine Digitalanzeige stand komplett auf Null.

Sie streckte die Hand nach dem großen, roten Knopf aus, der den Öffnungsmechanismus in Gang setzte, zog die Finger dann aber schnell zurück. Selbst, wenn das Wunder geschah und der Tank sich öffnete - sie hatte plötzlich Angst vor dem, was sie vielleicht finden würde.

Charity verscheuchte den Gedanken, streckte noch einmal die Hand aus, und diesmal berührte sie den Knopf. In der ersten, schrecklichen Sekunde geschah gar nichts, aber dann drang irgendwo aus den Tiefen des Tanks ein leises, metallisches Klack, und das Wunder geschah: Der riesige, stählerne Sarg teilte sich und klappte auseinander wie ein Paar gewaltiger Käferflügel.

Der Tank war leer.

Charity starrte sekundenlang verblüfft auf die Schaumstoffunterlage, auf der sich noch deutlich die Umrisse eines menschlichen Körpers abzeichneten. Erleichterung und Wut erfüllten sie; Erleichterung, weder einen mumifizierten Leichnam noch ein Häufchen Staub und ausgebleichter Knochen vorzufinden, und Wut, weil dieser leere Tank nur eines bedeuten konnte: Stone war vor ihr aufgewacht, und er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu wecken, sondern war ...

Verwirrt sah sie sich um. Der Raum war riesig und vollgestopft mit Geräten und Schränken und nicht zuletzt dem halben Dutzend zyklopischer Tanks, aber es gab trotzdem kein Versteck, das groß genug gewesen wäre, einen erwachsenen Menschen zu verbergen.

Und das wiederum bedeutete, daß er einen Ausgang gefunden hatte ...

Für einen Moment vergaß Charity ihre Erschöpfung. Sie trat von Stones Tank zurück, blickte sich aufgeregt um - und wäre beinahe gefallen, als ihre Beine ihr den Dienst verweigerten.

Keine Panik, jetzt! dachte sie. Es mußte eine Lösung geben. Die Konstrukteure dieser Anlage mußten eine solche Situation vorausgesehen haben. Wenn sie die Nerven behielt und logisch vorging, würde sie ...

Ihr Blick fiel auf einen roten Gegenstand, der in Stones leerem Tank lag, und fast im gleichen Moment hatte sie das heftige Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen. Sie hatte die Plastikmappe mit den Notfallinstruktionen schlichtweg vergessen. Es gab eine in jedem Tank, nicht nur in dem Stones. Ächzend zog sie sich über den Rand des offenstehenden Stahlsarges, angelte den roten Hefter hervor und begann zu lesen. Auf den zwei Dutzend engbedruckten Seiten stand alles, was sie wissen mußte.

Trotzdem dauerte es noch länger als zwei Stunden, bis sie soweit war, den Bunker zu verlassen. Charity erholte sich zusehends, was nicht zuletzt an den Pillen lag, die sie in einem Schrank fand und von denen sie kurzerhand eine ganze Handvoll schluckte. Sie hatte keine Ahnung, was sie draußen erwartete, aber sie würde jedes bißchen Kraft brauchen, das sie bekommen konnte.

Offenbar war auch Stone den Instruktionen gefolgt; einer der sechs gepackten Tornister fehlte, außerdem zwei Lasergewehre und eine MP; wenn sie Stones eigene Waffe mitzählte, dann stand zu vermuten, daß dieser Wahnsinnige vier Gewehre mit sich schleppte.

Charity schüttelte seufzend den Kopf, hängte sich selbst einen Laser über die Schulter und nahm nach kurzem Zögern noch ein Messer und eine kleine, zusammenklappbare Maschinenpistole aus dem Waffenschrank.

Den Bunker zu verlassen erwies sich als relativ leicht - und sehr gefährlich. Auch der Fluchtweg war von einer dreißig Zentimeter starken Panzerstahlplatte versperrt gewesen, aber anders als beim Haupteingang hatten ihre Konstrukteure hier eine Vorrichtung angebracht, die die Tür elektrisch geschlossen hielt. Sobald der Strom ausfiel, klappten die beiden Panzerstahlflügel automatisch auseinander. Nein, die Tür war nicht das Problem. Das, was Charity den puren Angstschweiß auf die Stirn trieb, lag dahinter.

Es war rund, hatte einen Durchmesser von anderthalb Metern und war pechschwarz. Eine Fluchtrutsche, die in immer größer werdenden Spiralen in die Tiefe führte. Und sie hatte panische Angst, sie zu benutzen. Sie war durch ähnliche, kleinere Anlagen geflitzt, früher, in einer Welt, in der es noch Schwimmbäder und Freizeitparks gegeben hatte, aber das hier war etwas ganz anderes.

Sie hatte keine Ahnung, was sie am anderen Ende erwartete und ob dieses verdammte Ding überhaupt noch in Ordnung war. Die Sprengungen hatten den ganzen Berg erschüttert. Die Vorstellung, mit achtzig oder hundert Meilen in der Stunde in irgendwelche Trümmer zu rutschen, gefiel ihr nicht besonders. Und außerdem hatte sie einfach Angst vor dem, was sie finden würde, selbst wenn es ihr gelang, aus diesem Loch herauszukommen.

Aber welche Wahl hatte sie schon?

Entschlossen hob sie ihren Tornister hoch, stemmte ihn über den Rand des Schachtes und ließ ihn los. Eine Weile stand sie reglos und mit angehaltenem Atem da und lauschte, aber aus der Tiefe drang kein Laut herauf.

Sie würde selbst herausfinden müssen, was sie am Ende der Rutsche erwartete.

Charity knipste ihre Taschenlampe an, steckte sie so unter den Gürtel, daß der Strahl nach unten zeigte, und zog sich behutsam auf den Rand des kreisrunden Einstiegs hinauf. Sie spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Ganz vorsichtig schob sie sich ein Stück weiter nach vorne und blickte dem Lichtstrahl der Taschenlampe nach, der sich irgendwo in fünf, sechs Metern Tiefe in der Schwärze verlor.

Kalter Schweiß bedeckte ihre Stirn.

Sie begann zu rutschen. Im allerersten Moment war ihre Fahrt ins Ungewisse fast langsam, aber wirklich nur im allerersten Moment - dann hatte sie die erste Biegung des Stollens hinter sich, und der Tunnel machte einen jähen Knick.

Es dauerte vielleicht eine Minute, aber es war eines der schlimmsten Erlebnisse, die sie bis dahin in ihrem Leben gehabt hatte. Der Kunststoff, mit dem der Schacht ausgekleidet war, war zehnmal glatter als Eis. Sie schrie und versuchte vergeblich, sich irgendwo festzuhalten, und wurde immer schneller, während sie wie eine lebende Kanonenkugel mit siebzig, achtzig, vielleicht hundert Meilen in der Stunde nach unten schoß.

Dann endlich hatte sie das Ende ihrer Höllenfahrt erreicht. Der tanzende Lichtstrahl ihrer Lampe raste plötzlich nicht mehr über hellweißen Kunststoff, sondern verlor sich in der Dunkelheit. Für eine endlose, gräßliche Sekunde flog sie scheinbar schwerelos durch die Luft, schrie und folgte gleichzeitig fasziniert dem Flug ihrer Taschenlampe, die sich aus ihrem Gürtel gelöst hatte und wie ein kleiner, glimmender Leuchtkäfer davontorkelte.

Dann prallte sie auf.

Der Aufprall war so hart, daß sie fast das Bewußtsein verlor, aber er war nicht so schmerzhaft, wie sie erwartet hatte. Sekundenlang blieb sie benommen liegen und lauschte in sich hinein, ehe sie es überhaupt wagte, die Augen zu öffnen.

Sie konnte sehen. Es war nicht so völlig dunkel, wie sie im ersten Moment angenommen hatte. Sie lag auf dem Boden einer gewaltigen Höhle, deren Decke sich hundert oder mehr Meter über ihr wölbte.

Von irgendwoher kam Licht, heller Sonnenschein, der das Dunkel hier durchdrang.

Noch immer benommen, aber unverletzt, setzte Charity sich auf und sah sich noch einmal und gründlicher um.

Der Hangar. Der Fluchttunnel hatte sie geradewegs in den Raumschiffhangar der Bunkerstation geführt, einer riesigen Höhle zwei Meilen neben und eine unter dem eigentlichen Bunker, am Boden eines auf natürliche Weise entstandenen Canyons gelegen.

Riesig und verschwommen konnte sie die Silhouetten der beiden Raumschiffe erkennen, die im hinteren Drittel der Höhle startbereit auf ihren Rampen standen. Kein Laut war zu hören.

Sie plagte sich auf, verlor dabei beinahe erneut das Gleichgewicht und erinnerte sich erst jetzt wieder daran, daß irgend etwas ihren Sturz aufgefangen hatte. Verwirrt erkannte sie, worauf sie gelandet war: Es war nichts anderes als ein Stapel Matratzen und Decken, den jemand - Stone? - am Ende der Tunnelröhre plaziert hatte. Auf einer Decke bemerkte sie ein goldenes ›C‹. Als sie sich bückte und den Boden untersuchte, entdeckte sie einen eingetrockneten Blutfleck. Er schien sehr alt zu sein, auf jeden Fall älter als die paar Stunden, mit denen sie Stones Vorsprung bisher ganz instinktiv angesetzt hatte, aber es war eindeutig Blut. Ja, es mußte Stone gewesen sein. Die Sachen stammten aus der CONQUERER. Offenbar hatte er sich beim Aufprall verletzt und ihr helfen wollen.

Für einen Moment bekam sie Angst, Stones Leiche irgendwo zu finden. Aber das war natürlich Unsinn - er konnte nicht sehr schwer verletzt sein, wie das improvisierte Sprungtuch bewies, das er für sie aufgebaut hatte. Es war mit Sicherheit ein hartes Stück Arbeit gewesen, das ganze Zeug aus dem Schiff zu holen und hierher zu bringen.

Ihr Zorn auf Stone sank beträchtlich, als ihr klar wurde, daß er ihr vielleicht das Leben gerettet hatte. Nicht, daß sie seine Beweggründe verstand - warum, verdammt noch mal, hatte er sie nicht geweckt, wenn er so um ihr Wohlergehen bemüht war?

Umständlich klaubte sie ihre Sachen zusammen - der Tornister lag nur wenige Schritte neben ihr, die Taschenlampe war beim Aufprall zerbrochen -, blickte noch einmal die beiden gewaltigen Space-Shuttles an und überlegte, hinüberzugehen und sie in Augenschein zu nehmen.

Aber sie tat es nicht. Warum auch? Sie hatte keine Möglichkeit, die Schiffe zu starten. Wahrscheinlich besaßen die Schiffe ohnehin nur noch Schrottwert. Die Jahre, die sie nutzlos herumgestanden und auf eine Besatzung gewartet hatten, hatten sie vermutlich vollkommen zerstört.

Plötzlich erinnerte sie sich an Beckers letzten Funkspruch. Er und die anderen würden im Schiff auf sie warten, hatte er gesagt. Sie hatte keine besondere Lust, über ihre Leichen zu stolpern, wenn sie die CONQUERER betrat. Alles, was seit ihrem Erwachen geschehen war, war ihr wie ein großes Spiel vorgekommen: aufregend, unheimlich, auch gefährlich, aber irgendwie nicht ernst. Einen Toten zu finden - und sei es auch nur ein fünfhundert oder auch fünftausend Jahre altes Skelett, würde aus dem Spiel tödlichen Ernst machen.

Sie wandte sich dem Licht zu und ging los.


Sie würde es nicht schaffen. Net wußte es seit einer Stunde, wenngleich dieses Wissen zuerst nur eine nagende Furcht gewesen war, die sie selbst als pure Nervosität abgetan hatte. Sie war am Ende ihrer Kraft. Zu allem Überfluß war sie auch noch auf einen scharfkantigen Stein getreten und hatte sich eine heftig blutende Wunde am rechten Fuß zugezogen. Jetzt, kurz vor Einbruch der Dämmerung, hatte sie die bittere Gewißheit, dieses eine Mal zu hoch gespielt zu haben.

Sie hatte ihre Spuren entdeckt: die Abdrücke großer, horngepanzerter Insektenfüße und die kleineren, schmaleren, aber viel tiefer eingegrabenen Spuren von Gummireifen. Reiter und Sharks, dachte Net bitter. Außerdem hatte sie Lichter in den Bergen gesehen: das flackernde rote Glutauge eines Feuers, das auf halber Höhe des Passes entzündet worden war und das kein Problem darstellte - ihm konnte sie ausweichen -, und dann und wann ein geisterhaft weißes Aufleuchten, das wie ein Finger aus Helligkeit über die Felsen strich.

Sharks kurvten dort mit ihren Maschinen in den Felsen. Es gehörte nicht allzuviel Phantasie dazu, sich auszumalen, wonach sie suchten.

Nach ihr. Sie verstand nur immer weniger, warum. Was, bei den schwarzen Göttern von Moron hatte sie getan?

Net gestand sich ein, daß es ziemlich naiv gewesen war, sich allen Ernstes einzureden, daß ihre Glückssträhne anhalten würde.

Vielleicht hatte sie auf dem Weg hierher ihren Vorrat an Glück aufgebraucht. Wenn sie bedachte, daß sie mittlerweile von einer kleinen Armee gejagt wurde, dann hätte sie gar nicht so weit kommen dürfen.

Trotz all dieser düsteren Überlegungen ging sie weiter, denn Net wußte genau, daß sie jetzt nicht mehr umkehren konnte. Die Höhle würde sie niemals wiederfinden. Und die Nacht schutzlos auf der Ebene zu verbringen ...

Net dachte den Gedanken lieber nicht zu Ende. Statt dessen beeilte sie sich, so schnell wie möglich vorwärts zu kommen. Sie war am Ende, aber sie würde kämpfen.

Die Schatten begannen zu einer schwarzen Mauer zusammenzuwachsen, als sie die ersten Ausläufer der Berge erreichte. In der hereinbrechenden Dunkelheit schien das Feuer stärker zu leuchten, und ab und zu trug der Wind das Heulen eines Sharks heran, ohne daß er ihr allerdings auch nur einmal gefährlich nahe kam.

Aber das war auch nicht notwendig. Net war es gewohnt, Dinge zu vollbringen, von denen andere behauptet hätten, sie seien unmöglich, aber auch ein Wastelander war letztendlich nur ein Mensch, und ein Mensch mußte von Zeit zu Zeit trinken. Die einzige Quelle in weitem Umkreis befand sich auf halber Höhe des Berges, dort, wo das Feuer brannte. Die Sharks brauchten einfach nur auf sie zu warten.

Net griff übellaunig unter ihr Kleid, zog die Waffe heraus und steckte sie gleich wieder weg. Es gab nicht viel, worauf sie schießen konnte, sie würde, indem sie das Ding offen in der Hand hielt, den Sharks nur verraten, daß sie bewaffnet war.

Nicht, daß das irgend etwas ändern würde. Net war so gut wie tot, und sie wußte es. Eine der beiden Maden im glatten, schwarzen Lauf der Waffe war für sie bestimmt. Ein häßlicher Tod, aber nichts gegen das, was die Sharks mit ihr machen würden, wenn sie sie lebend fingen.

Sie schlich vorsichtig weiter. Das bleiche Licht der Shark-Maschinen huschte noch immer unruhig über die Felsen. Vielleicht hatte sie doch eine Chance, denn der Hang wurde immer unwegsamer. Geländegängig oder nicht, dachte sie grimmig, die Maschinen der Sharks konnten nicht fliegen.

Es war vollends dunkel geworden, als sie das Lager erreichte. Es waren Sharks, wie sie befürchtet hatte, und sie hatten ihr Lager unmittelbar an der Quelle aufgeschlagen. Net entdeckte drei ihrer Maschinen; große, schwarzglänzende Ungeheuer, deren ausgeschaltete Scheinwerfer sie wie riesige silberblinde Augen anstarrten. Drei oder vier andere fuhren in der Gegend herum und suchten sie, jeden Moment konnten sie zurückkommen. Wenn sie etwas unternehmen wollte, dann jetzt.

Lautlos schob sie sich weiter, zog die Waffe unter dem Kleid hervor und sah sich gebannt um. Drei Maschinen, drei Gestalten - aber das bedeutete nicht, daß es nur drei waren. Sharks fuhren oft zu zweit, und weitere Maschinen mochten irgendwo in der Nähe abgestellt sein, außerhalb der flackernden Halbkugel aus rotem Licht, die das Feuer schuf. Net begann sich ohnehin über die Sorglosigkeit zu wundern, die die Sharks an den Tag legten. Das Feuer war meilenweit zu sehen, und die drei unterhielten sich ziemlich laut. Zum ersten Mal, seit sie ihre verzweifelte Flucht über die Ebene begonnen hatte, kamen ihr Zweifel, daß wirklich sie es war, der dieser ganze Aufstand galt.

Sie verscheuchte den Gedanken und visierte den ersten Shark an.

Er saß kaum fünf Meter vor ihr. Sein schwarzglänzender, gekrümmter Rücken bot ein prachtvolles Ziel, das sie gar nicht verfehlen konnte.

Aber sie zögerte, abzudrücken. Sie hatte nur zwei Schüsse, und selbst, wenn sie auch noch einen zweiten Shark erwischte - was ganz und gar nicht sicher war, Sharks waren fast so schnell, wie sie brutal waren -, dann blieb noch einer übrig, der sich entweder auf sie stürzen oder seine Kameraden um Hilfe rufen konnte. Die Aussicht, einen Shark mit bloßen Händen anzugreifen, gefiel ihr nicht besonders.

Statt die Waffe zu benutzen, richtete sie sich vorsichtig auf dem Felsen auf, sah sich noch einmal sichernd nach allen Seiten um - und sprang mit einem federnden Satz in den kleinen Tümpel hinab.

Die drei Sharks wirbelten so schnell herum, wie Net befürchtet hatte, als sie das Geräusch des aufspritzenden Wassers hörten, aber Net war noch schneller als sie. Mit einem einzigen Satz - das Wasser des Tümpels ging ihr kaum bis an die Knie - war sie am Ufer und visierte den vordersten Shark über den Lauf ihrer Waffe hinweg an.

»Keine Bewegung!« sagte sie scharf. »Rühr dich, und du bist tot!«

Der Shark erstarrte, und auch seine beiden Kameraden stockten mitten in der Bewegung. Net konnte ihre Gesichter hinter den schwarzen Masken aus Leder und Metall nicht erkennen, aber es war nicht sehr schwer, nachzuempfinden, was sie beim Anblick der Waffe verspüren mochten. Es gab unangenehmere Todesarten, als von einer Springmade zerfetzt zu werden. Aber nicht sehr viele.

»Rührt euch nicht!« sagte sie noch einmal. Vorsichtig stand sie auf, bewegte sich ein paar Schritte nach links und deutete mit der freien Hand auf die Feldflasche, die am Tank einer der Maschinen hing. »Ich will nichts von euch. Nur etwas Wasser. Du da!« Sie machte eine Kopfbewegung zu dem Shark, auf dessen Rücken sie gezielt hatte. »Mach die Flasche voll. Aber vorsichtig.«

Der Shark gehorchte, während die beiden anderen sie weiter schweigend ansahen. »Wer bist du?« fragte der eine schließlich.

Seine Stimme drang nur verzerrt unter dem schweren Lederhelm hervor. Und sie klang nicht unbedingt so, als hätte er übergroße Angst vor ihr. »Was soll das Theater? Wenn du wirklich nur Durst hast, dann nimm dir Wasser. Es ist genug da. Kein Grund, mit diesem Ding da herumzufuchteln.«

Net antwortete nicht, und der Shark deutete ihr Schweigen vollkommen falsch. Plötzlich richtete er sich auf, streckte fordernd eine Hand aus und trat einen Schritt auf sie zu. »Gib es her, Kleines, ehe du jemanden verletzt.«

Net hielt sich nicht damit auf, ihm eine Warnung zuzurufen. Sie senkte die Waffe um eine Winzigkeit und drückte ab. Die Springmade jagte mit einem schrillen Geräusch aus dem Lauf und ließ eine mehr als mannshohe Sandfontäne vor den Füßen des Sharks hochspritzen. Als der Staub auseinandertrieb, gähnte ein halbmetergroßer Krater im Sand vor der schwarzen Gestalt.

»Der nächste trifft«, sagte sie kalt. »Verstanden?«

Der Shark nickte.

»Ich will keinen Streit mit euch«, sagte Net noch einmal. »Nur ein wenig Wasser. Und euer Versprechen, mir nicht nachzukommen.« Sie wedelte mit ihrer fast leergeschossenen Waffe, um ihre Worte zu unterstreichen, und deutete dann den Paß hinauf.

»Du ... du gehörst zu den Wastelandern, nicht wahr?« sagte der Shark plötzlich, auf den sie geschossen hatte. Er lachte ganz leise.

»Niemand sonst wäre verrückt genug, so etwas zu tun. Du kannst uns trauen.«

»Einem Shark?« Net legte so viel Verachtung in dieses eine Wort, daß der Shark nicht noch einmal versuchte, sie zu überzeugen.

»Dann laß es«, sagte er achselzuckend. »Aber wenn du einen guten Rat von mir hören willst, Kleine ...«

»Will ich nicht«, sagte Net, aber der Shark sprach unbeeindruckt weiter.

»...dann würde ich heute nacht nicht dort hinaufgehen.« Er deutete auf den Hang. »Könnte ungemütlich werden.«

Seltsam - aber für einen Moment war Net fast überzeugt davon, daß er es ehrlich meinte. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Wenn ich deine Hilfe brauchen sollte, lasse ich es dich wissen«, sagte sie.

Mit einer herrischen Bewegung wandte sie sich an den anderen.

»Wo bleibt das Wasser?«

Der Shark richtete sich langsam auf, schraubte den Deckel auf die Feldflasche und kam auf sie zu. Als er noch zwei Meter von ihr entfernt war, machte Net eine befehlende Geste mit der Waffe. »Das reicht. Laß sie fallen!«

Der Shark gehorchte.

Für den Bruchteil einer Sekunde folgte Nets Blick dem Sturz der kleinen Feldflasche - und der Shark nutzte seine Chance. Net sah einen Schatten auf sich zufliegen, hörte einen Schrei, den einer der anderen ausstieß, um sie abzulenken, und drückte ganz instinktiv ab.

Sie traf. Der Shark schrie, dann wurde aus seinem Schrei ein irrsinnig hohes, schauerliches Kreischen, und im gleichen Moment prallte er gegen sie. Net versuchte noch zur Seite zu springen, aber es war zu spät. Der Shark starb sofort, aber er riß sie von den Füßen und begrub sie noch im Fallen unter sich. Net schrie auf, rollte sich herum und versuchte den schweren Körper von sich herunterzustemmen. Plötzlich war sie über und über mit Blut besudelt. Ein Gefühl unbeschreiblichen Ekels durchflutete sie.

Dann waren die beiden anderen über ihr. Einer riß den Körper seines toten Kameraden von ihr, der andere packte ihren Arm und zerrte sie so grob auf die Füße, daß sie abermals vor Schmerz aufschrie. Eine Hand aus schwarzem Leder schlug ihr ins Gesicht, und der Schmerz raubte ihr fast das Bewußtsein.

Als sich die blutigen Schleier von ihrem Blick hoben, schwebte das schwarze Ledergesicht des Sharks vor ihr. In seinen Augen glomm die pure Mordlust.

»Miststück!« sagte er und schlug sie wieder. Diesmal gelang es Net, den Kopf ein wenig zur Seite zu drehen, so daß sie dem Hieb die allergrößte Wucht nahm. Trotzdem stöhnte sie erneut vor Schmerz.

»Worauf wartest du?« fragte der Shark, der sie gepackt hatte. »Schneid ihr die Kehle durch!«

Die Hand des anderen zuckte zum Gürtel, wo er ein Messer trug, aber dann glitt sie wieder zurück. »Ich habe eine bessere Idee«, sagte er kopfschüttelnd.

»Dafür ist keine Zeit«, entgegnete der andere. »Verdammt, wir können morgen so viele Weiber haben, wie wir wollen, aber wenn Skudder hört, was hier passiert ist, dann ...«

»Das muß er ja nicht, oder?« unterbrach ihn der Shark. »Außerdem meine ich nicht, was du denkst. Nein, die Kleine soll bezahlen. Aber mit einem Messer wäre die Sache zu einfach.« Er lachte böse, drehte sich herum und nahm die Waffe auf, die Net beim Sturz aus der Hand gefallen war. »Sie soll auf die gleiche Weise krepieren wie Den. Laß sie los!«

Der Mann hinter ihr sprang fast erschrocken zur Seite, und Net taumelte. Sie fiel auf die Knie, blieb einen Moment reglos hocken und stand wieder auf. Die Mündung ihrer eigenen Waffe deutete drohend auf ihr Gesicht.

»Na?« sagte der Shark. »Willst du nicht winseln, Kleines?«

»Nein«, antwortete Net. Und sprang auf ihn zu. Der Abzug der leergeschossenen Waffe klickte zweimal rasch hintereinander, und die Augen hinter der schwarzen Ledermaske weiteten sich erstaunt, als der Shark begriff, daß er nur noch ein nutzloses Stück Holz in der Hand hielt. Net ließ ihm keine Zeit, seine eigene Waffe zu ergreifen, sondern trat mit aller Gewalt zu. An eine Stelle, an der auch Sharks besonders empfindlich waren.

Der Shark keuchte, ließ die Waffe fallen und krümmte sich. Ganz langsam und ohne einen Laut sackte er auf die Knie. Eine halbe Sekunde später kippte er nach hinten, als Net ihm das rechte Knie ins Gesicht rammte.

Und damit endete ihre Glückssträhne. Sie hörte ein Geräusch hinter sich, fuhr blitzschnell herum - und sah gerade noch die Faust des dritten Sharks auf ihr Gesicht zurasen.

Der Schlag riß sie von den Beinen. Sie stöhnte, hob schützend die Hände über das Gesicht und krümmte sich voller Qual, als der Shark ihr in die Seite trat. Sie wußte, daß er sie totprügeln würde.

Aber plötzlich ertönte hinter ihr ein helles, metallisches Klicken.

»Aufhören!« sagte eine scharfe Stimme.

Der Shark hielt tatsächlich für einen Moment verblüfft inne.

Verwirrt richtete er sich auf, sah sich wild um - und holte zu einem weiteren Tritt aus.

Ein Schuß krachte. Net sah eine handlange, orangerote Feuerzunge aus den Schatten neben sich brechen, und fast im gleichen Sekundenbruchteil spritzte der Sand zwischen den Füßen des Sharks auf.

»Aufhören, habe ich gesagt«, fuhr die Stimme fort. »Oder bist zu schwerhörig, Freund?«

Schritte. Net stemmte sich mühsam auf die Ellbogen hoch, drehte stöhnend den Kopf - und unterdrückte im letzten Moment einen verzweifelten Aufschrei.

Eine große, sehr schlanke Gestalt war aus der Dunkelheit getreten. In der Hand hielt sie ein sonderbar kurzläufiges Gewehr, dessen Mündung drohend auf den Shark gerichtet war.

Aber das war es nicht, was Net fast zur Verzweiflung trieb. Was sie bis ins Mark erschreckte, war die sonderbare Kleidung der Fremden und der sonderbar blasse, fast weiße Teint, der selbst im Feuerschein deutlich zu erkennen war.

Die Götter spielten wirklich ein grausames Spiel mit ihr, dachte sie bitter. Vielleicht würde der Shark ihr nichts mehr tun, aber wenn, dann hatte sie den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben.

Vor ihr stand eine Tiefe!

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