Charity hatte das Gebirge verlassen, und das Wunder, auf das sie gehofft hatte, war tatsächlich eingetreten: Obwohl sie mehrmals die grellen Scheinwerfer gesehen hatte und ihr einmal eine der Maschinen fast bis auf Sichtweite nahe gekommen war, hatte man sie nicht entdeckt - was aber wohl daran lag, daß die Sharks sie für einen der ihren gehalten haben mußten. Charity hatte sich nach überraschend kurzer Zeit an das Motorrad gewöhnt. Außerdem hatte sie sich Gurks Rat zu Herzen genommen; statt nach Norden lenkte sie die Harley nach Süden, in die gewaltige Ebene hinein, die sie von der Höhe des Passes aus gesehen hatte. Sie fuhr eine gute Stunde - die letzten vierzig Minuten mit ausgeschaltetem Scheinwerfer -, ehe sie es wagte, die Maschine anzuhalten und sich einen Lagerplatz für die Nacht zu suchen.
Sie verbarg die Maschine sorgfältig, suchte sich einen überhängenden Felsen und rollte sich darunter zum Schlaf zusammen; allerdings nicht, ohne ihre Waffe griffbereit neben sich zulegen und den Körperschild des Anzuges einzuschalten.
Zumindest die zweite Vorsichtsmaßnahme erwies sich als berechtigt.
Sie wachte in der Nacht nicht auf, aber am nächsten Morgen sah sie im Sand neben sich eine Anzahl kleiner Klauenabdrücke. Etwas war in der Nacht gekommen, hatte sich einen gehörigen elektrischen Schlag geholt und sich wieder getrollt.
Beim ersten Licht des neuen Tages fuhr sie weiter, nachdem sie auf einen der Felsen geklettert und eine Weile vergeblich nach Verfolgern Ausschau gehalten hatte. Sie war durstig, und doch wagte sie es noch nicht, den knappen Wasservorrat in ihrer Feldflasche anzugreifen. Sie schätzte, daß es kaum später als sechs Uhr morgens war, aber die Sonne brannte bereits unbarmherzig vom Himmel. Der Tag würde sehr heiß werden.
Zum Glück hatte sie wenigstens genügend Treibstoff. Die Harley verfügte über zwei große, jeweils dreißig Liter fassende Reservetanks, die die Stelle der früheren Packtaschen einnahmen.
Sie würde ungefähr sechshundert Meilen mit diesem Ding fahren können. Theoretisch. Praktisch kam sie nicht einmal zwanzig Meilen weit, ehe ihre Fahrt zum ersten Mal unterbrochen wurde.
Zuerst war es nur ein winziger dunkler Punkt, der vor ihr auf dem Horizont auftauchte, ein schwarzes Etwas, das mit sonderbar starren Bewegungen vorwärts krabbelte. Aber aus dem einen Punkt wurden zwei, dann fünf, und schließlich waren es so viele, daß Charity es aufgab, sie zählen zu wollen. Sie nahm Gas weg und ließ die Harley über die flachen Hügel rollen. Die schwarzen Punkte auf dem Horizont wuchsen ganz langsam heran. Und obwohl Charity sie immer noch nicht richtig erkennen konnte, bekam sie ein ziemlich mulmiges Gefühl. Eine sonderbare Erinnerung blitzte in ihren Gedanken auf und erlosch sofort wieder.
Sie entschloß sich anzuhalten. Ächzend stemmte sie die Maschine auf den Ständer, kletterte umständlich auf den Sattel und löste den Feldstecher von ihrem Gürtel. Aus den drei oder vier Dutzend ameisengroßen Punkten wurde eine riesige Armee elefantengroßer braunschwarzer Giganten, die vor ihr über die Ebene zog. Charitys Hände krampften sich so fest um
Text fehlt
Treppe an und ließ den Motor der Harley noch zwei- dreimal aufbrüllen, ehe sie abstieg; falls sich dort Menschen verbargen, sollten sie nicht glauben, daß sie sich etwa anpirschen wollte. Sie kam in friedlicher Absicht.
Charity stieg ab, entfernte sich ein paar Schritte von der Maschine und sah weiter aufmerksam zum Haus hinüber. Hinter der geschwärzten Eingangstür rührte sich nichts, aber Charity glaubte, Blicke zu spüren, die sich auf sie richteten.
Und ihr Gefühl täuschte sie nicht. Im Haus blieb es weiter still, aber hinter sich vernahm sie plötzlich ein Poltern, und als Charity sich herumdrehte, stand sie einem kleinwüchsigen, grauhaarigen Mann gegenüber, der aus der Ruine des heruntergebrannten Schuppens trat. In seiner Hand lag eine kleine Waffe, die drohend auf ihr Gesicht zielte.
Charity hob ganz langsam die Hände, versuchte sich zu einem Lächeln zu zwingen und trat einen Schritt auf den Grauhaarigen zu.
Sofort machte der Mann mit der Waffe eine bedrohliche Handbewegung.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte sie, sehr langsam und übermäßig betont, damit er ihre Worte auch verstand, aber er antwortete nicht, sondern starrte sie nur weiter aus seinen dunklen, tiefliegenden Augen an. Er war eine Handbreit kleiner als sie, aber von sehr kräftigem Wuchs, und seine Haut war so sonnenverbrannt, daß sie sich im ersten Moment nicht einmal sicher war, einem Weißen gegenüberzustehen. Sein Haar war strähnig und begann vor der Zeit auszufallen, und auf seinen Wangen glänzten Bartstoppeln.
Seine Hände waren über und über mit kleinen, weißen Narben bedeckt, und seine Kleider bestanden eigentlich nur noch aus Fetzen.
»Verstehen Sie mich?« fragte sie, als der Grauhaarige noch immer schwieg.
Er nickte, sagte aber auch jetzt noch kein Wort, sondern kam näher, wobei er ihr mit Gesten zu verstehen gab, ein Stück vom Motorrad wegzugehen. Charity gehorchte.
Hinter ihr polterte es abermals, und als sie vorsichtig den Kopf drehte, sah sie, daß die Haustür geöffnet worden war. Zwei Gestalten traten heraus - ein dunkelhaariger Mann, jung genug, um der Sohn des Grauhaarigen sein zu können, und eine schlanke Frauengestalt.
Es war das Mädchen, das sie am Abend zuvor vor den Sharks gerettet hatte.
»Das ist sie!« sagte das Mädchen heftig. »Ich bin ganz sicher. Schieß sie nieder, Dad!«
Charity zuckte zusammen und drehte sich hastig wieder herum.
Zum Glück schien Dad nicht ganz so blutrünstig zu sein wie seine undankbare Tochter, denn er schoß nicht; aber er senkte die Waffe auch nicht, sondern kam drohend näher, und er machte eine befehlende Geste. Charity verstand, was er wollte. Fast behutsam legte sie ihre beiden Waffen vor sich in den Sand, zog unaufgefordert auch noch ihr Messer aus dem Gürtel, legte es daneben und hob wieder die Hände.
»Ich bin nicht ihr Feind«, sagte sie gepreßt. »Ich weiß nicht, was Ihre Tochter Ihnen erzählt hat, aber ich ...«
»Halt den Mund«, unterbrach sie der Grauhaarige. Mit einer unwilligen Geste scheuchte er sie zurück, stellte sich mit gespreizten Beinen über die beiden Gewehre und musterte abwechselnd sie und das Motorrad. Charity hatte plötzlich das Gefühl, daß es ein Fehler gewesen sein mochte, die Maschine zu stehlen. Nach allem, was sie gestern erlebt hatte, schienen die Sharks nicht unbedingt zu den beliebtesten Zeitgenossen zu gehören.
»Lassen Sie es mich erklären«, sagte sie. »Ich ...«
»Was gibt es da zu erklären?« unterbrach sie das Mädchen erregt. »Schau sie dir an! Du weißt, wer sie ist. Und sie fährt eine Maschine der Sharks.«
»Und außerdem wärst du jetzt ziemlich tot, wenn sie dir nicht geholfen hätte, du dumme Kuh«, mischte sich eine dritte, quäkende Stimme ein, die Charity vage bekannt vorkam. Verwirrt drehte sie sich herum - und sog überrascht die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie den Zwerg mit dem riesigen Kahlkopf entdeckte, der hinter dem Mädchen aus dem Haus getreten war.
»Gurk!«
»Ihr kennt euch?« In Dads Augen blitzte es mißtrauisch auf, und Charity glaubte, schon wieder einen Fehler gemacht zu haben.
»Ja«, sagte Gurk. »Wir haben uns gestern abend gesehen - ein paar Minuten, nachdem diese Frau, der deine bescheuerte Tochter so gerne den Hals abschneiden möchte, ihr das Leben gerettet hat.«
»Sie ist eine Tiefe!« behauptete das Mädchen aufgebracht.
»Ach?« machte Gurk. »Woher weißt du das? Hast du schon einmal eine gesehen?«
»Ich ... nein«, gestand das Mädchen kleinlaut, aber nur, um eine Sekunde später wütend hinzuzufügen: »Aber ich weiß auch, wie ...«
»Du weißt gar nichts, Net«, fiel ihr Gurk ins Wort. »Ohne sie wärst du jetzt tot. Und um ein Haar hätte man sie umgebracht, weil du dich so überaus dankbar erwiesen hast. Und die Maschine«, fügte er mit einer Kopfbewegung auf die Harley hinzu, »hat sie den Sharks geklaut, nachdem sie die beiden Typen fertiggemacht hat, die dich in die Mangel genommen hatten.« Zornig wandte er sich an Dad. »Nimm endlich die Waffe herunter. Sie steht auf unserer Seite.«
Diesmal gehorchte Dad wirklich, wenn auch erst nach neuerlichem, sehr langem Zögern. Allerdings schien es mit seinem Vertrauen nicht weit her zu sein, denn er bückte sich rasch nach Charitys Waffen, hängte sie sich über die Schultern und deutete Charity dann, ins Haus zu gehen.
»Bob«, rief er dem jungen Mann zu, »bring die Maschine in den Schuppen. Und du, Net«, fügte er mit erhobener Stimme hinzu, als das Mädchen abermals etwas sagen wollte, »bist jetzt still. Wir unterhalten uns drinnen weiter.«
Net verstummte tatsächlich. Aber der Blick, den sie Charity zuwarf, sprühte förmlich vor Zorn. Charity schenkte ihr das freundlichste Lächeln, das sie im Moment zustande bringen konnte, und ging an ihr vorbei ins Haus.
Drinnen war es schattig und kühl und überraschend sauber. So heruntergekommen das Haus von außen aussah, so wohnlich war der einzige, große Raum. Offenbar hatten Dad und seine Familie von überall halbwegs brauchbare Möbel zusammengetragen, aber alles wirkte doch irgendwie geschmackvoll. Unter den zugenagelten Fenstern an der gegenüberliegenden Wand standen vier niedrige Betten, und über der Feuerstelle im Kamin, die jetzt allerdings erloschen war, war eine Art Gitterrost angebracht worden, der verriet, daß sie jetzt zum Kochen diente.
Dad deutete befehlend auf den wuchtigen Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. »Setz dich«, sagte er. »Hast du Hunger?«
Charity nickte, dann schüttelte sie den Kopf und setzte sich. »Nur Durst«, gestand sie.
»Das ist kein Wunder«, murmelte Dad. »Ein ziemlicher Wahnsinn, am hellen Tage mit einem Motorrad über die Ebene zu fahren. Hattest du keine Angst, einer Heuschrecke zu begegnen?«
Nein, das hatte Charity nicht - vor allem deshalb nicht, weil sie keine Ahnung hatte, worum es sich bei der Art von Heuschrecke handeln mochte, von der Dad sprach. Sie antwortete nicht.
Draußen vor dem Haus heulte der Motor der Harley auf. Eine Sekunde später erfolgte ein dumpfer Aufprall, gefolgt von einem Schwall wütender Flüche. Charity lächelte still in sich hinein.
Offensichtlich hatte Bob versucht, das Motorrad zu starten.
Dad wandte sich an das Mädchen. »Geh und sag Mom Bescheid, daß wir Besuch haben. Sie soll Essen machen.«
»Du solltest Sie umlegen«, sagte Net haßerfüllt.
»Reizend«, sagte Charity lächelnd. »Wirklich reizend, Ihre Tochter.«
Net funkelte sie noch einmal zornig an und verschwand dann ohne ein weiteres Wort, und Dad nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz. Charitys Lasergewehr und die MP lehnte er neben sich an den Stuhl, während die eigenartige Waffe, mit der er auf sie gezielt hatte, vor ihm auf dem Tisch liegenblieb. Charity wartete darauf, daß er irgend etwas sagte, ihr Fragen stellte oder auch von sich aus zu erzählen begann, aber er schwieg weiter. Gurk, der hinter ihnen das Haus betreten hatte, zog sich scharrend einen Stuhl heran, kletterte umständlich hinauf; auch er blickte sie nur an und schwieg.
Charity begann sich immer unbehaglicher zu fühlen.
Schließlich kehrte Net zurück, aber sie war nicht allein. In ihrer Begleitung befanden sich Bob und eine vielleicht fünfzigjährige Frau mit streng zurückgekämmtem schwarzen Haar und einem scharfgeschnittenen Gesicht, die ihre Mutter sein mußte. Während die Frau zum Kamin ging und schweigend einige Scheite auf die Asche legte, nahmen Net und ihr Bruder rechts und links neben ihrem Vater Platz.
Schließlich verlor Charity die Geduld. »Wenn Sie fertig damit sind, mich anzustarren, Dad, dann können wir vielleicht reden«, sagte sie. »Ich habe nämlich ein paar Fragen an Sie.«
»Und wir an dich.« Es war Bob, der antwortete, nicht Dad.
»Okay«, sagte Charity. »Fang an.«
»Wer bist du, wenn du nicht zu den Sharks gehörst?« fragte Bob. »Und wo kommst du her?«
Charity seufzte. Eine wahrhaft intelligente Frage, aber immerhin ein Anfang. »Ich bin Captain Charity Laird«, antwortete sie. »Offizier der U.S. Space Force.«
Bobs Blick bewies ihr eindeutig, daß ihm diese Worte rein gar nichts sagten, und Dad bestätigte ihre Vermutung, indem er nachhakte: »Was soll das sein, U.S. Space Force? Und wieso hast du drei Namen?«
»Ich habe ...« begann Charity, brach mit einem Kopfschütteln ab und setzte dann in sanfterem Ton neu an. »Sie können mich einfach Charity nennen, Dad. Und die Space Force ist ...« Sie suchte nach Worten. »So etwas wie die Armee, in der ich diene.«
»Armee?« In Dads Augen funkelte es mißtrauisch, und auch Net und ihr Bruder sahen sie argwöhnisch an. »Du bist eine Kriegerin?«
»So könnte man es nennen«, sagte Charity. »Aber es ist nicht ganz richtig. Ich ... ich komme von sehr weit her.«
»Und was willst du hier?« Die Frage kam blitzschnell. Charity wußte, daß sie jetzt keine falsche Antwort geben durfte, wollte sie nicht in noch größere Schwierigkeiten geraten.
»Zuerst einmal nur Informationen«, sagte sie vorsichtig. »Ich bin völlig fremd hier. Ich weiß weder, wo ich bin, noch wer Sie sind, noch wer diese Sharks waren ...« Sie sah Net an, die peinlich berührt zusammenzuckte. »... denen ich gestern Abend begegnet bin.«
»Dann mußt du wirklich von sehr weit herkommen«, sagte Dad. »Du stellst Fragen wie jemand, der gerade vom Himmel gefallen ist.«
Das ist nicht ganz falsch, dachte Charity düster. Aber sie hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen.
Dad deutete auf den Gnom, der das kurze Gespräch aufmerksam verfolgt hatte. »El Gurk behauptet, daß man dir trauen kann«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, ob ich Gurk trauen kann.«
»Solange du mich bezahlst, schon«, sagte Gurk trocken. »Es sei denn, es kommt einer, der mehr zahlt.« Seine nachtschwarzen Augen ließen Charity erschaudern. Jetzt, da sie ihn das erste Mal im Tageslicht sah, wirkte er noch unheimlicher als in der vergangenen Nacht. Seine Augen waren tiefschwarz, als seien sie überhaupt nicht menschlich.
Ein Geräusch hinter ihr ließ sie aufblicken. Mom war vor dem Kamin auf die Knie gefallen und versuchte, mit Hilfe, eines Reibeholzes ein paar Späne zu entzünden. Charity schüttelte den Kopf, stand wortlos auf, trat neben sie und ließ ihr Feuerzeug aufschnappen. Die kleine Gasflamme leckte gierig an den trockenen Blättern, die Mom unter das Feuerholz gestopft hatte, und setzte sie augenblicklich in Brand.
Als sie zum Tisch zurückkam, starrte nicht nur Dad sie aus weit aufgerissenen Augen an. Auch auf Bobs Gesicht malte sich ein Ausdruck ungläubigen Staunens, ja fast Schreckens ab.
»Glaubt ihr es jetzt?« fragte Net leise. »Ich habe euch gesagt, sie ist eine verdammte Tie ...«
»Halt endlich den Mund«, unterbrach sie Dad, nicht einmal sehr laut, doch Net verstummte augenblicklich. Dad starrte Charity weiter sehr durchdringend an, und sie konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dann entspannte sich sein Gesicht.
»Ganz egal, was du bist«, sagte er. »Du hast Net das Leben gerettet. Wir schulden dir Dank. Du kannst bleiben. Und deine Fragen werde ich beantworten.«
Sie redeten sehr lange. Moms Essen war ausgezeichnet, und Charity kam wieder zu Kräften. Sie erzählte vorsichtig von sich, wobei sie allerdings mit Bedacht sehr vage blieb, um nicht zuviel von sich zu verraten. Sie selbst erfuhr eine Menge über Dads Familie und die Welt, in der sie lebten. Die vier gehörten zu einer Gruppe von Menschen, die sich selbst Wastelander nannten und wie Nomaden umherzogen. Sie kamen oft zu dieser Farm zurück, die sie sich im Laufe der Jahre hergerichtet hatten, aber meistens hielten sie sich in der großen Ebene auf. Sie lebten von dem, was das Schicksal ihnen schenkte - ein wenig Jagd, ein wenig Sammeln, ein wenig Diebstahl, wobei es allerdings einen strengen Ehrenkodex gab, daß ein Wastelander niemals einen anderen bestahl. Aber es zogen oft Karawanen über die Ebene, und es schien nicht besonders schwer zu sein, sich an sie anzuschleichen und ihnen Wasser oder Essen zu stehlen. Die Fremden schienen überall zu sein, und Dads Worte ließen keinen Zweifel daran, daß sie die Herren des Planeten waren.
Wie es jenseits der Ebene aussah, wußte niemand der vier. Die Wastelander mieden die Außerirdischen nach Möglichkeit, diese wiederum ließen die Wastelander in Ruhe - solange sie sie nicht bei irgendwelchen Diebstählen erwischten. Net war am vergangenen Abend in die Berge geflohen, weil sie von einem Trupp Reiter gejagt worden war, wie Dad die gigantischen Käferwesen nannte. Charity erinnerte sich schaudernd an die Armee, die sie am Morgen durch das Fernglas gesehen hatte. Beinahe gegen ihren Willen empfand sie so etwas wie Achtung vor Net, als sie den beiläufigen Ton registrierte, in dem das Mädchen über ihre Flucht sprach.
Leider erfuhr sie sehr wenig darüber, wie es auf dem Rest dieses Planeten aussah. Dad und seine Frau waren in dieser Gegend geboren worden, ihre Eltern waren Wastelander gewesen wie sie, und auch ihre Kinder würden es wieder werden und diese trostlose Einöde wahrscheinlich niemals verlassen - was Charity ganz und gar nicht verstand.
»Aber habt ihr denn nie versucht, von hier wegzugehen?« fragte sie ungläubig.
»Weggehen?« Dad nippte an dem bitter schmeckenden Tee, den Mom ihnen nach dem Essen bereitet hatte, und schüttelte den Kopf.
»Aber wieso denn?« fragte er verwundert.
»Um ... um ...« Charity breitete hilflos die Hände aus, erntete einen schadenfrohen Blick von Gurk und sagte: »Um eure Lage zu verbessern, zum Beispiel. Das Leben hier muß ziemlich hart sein.«
»Das ist es«, bestätigte Dad ungerührt. »Aber wir leben, und wir wissen auch, daß wir wahrscheinlich morgen noch leben, wenn wir ein bißchen aufpassen.«
»Und das ist anderswo nicht so?«
»Woher sollen wir das wissen?« fragte Net scharf. »Wir waren niemals woanders. Warum nicht? Wir haben zu essen, und die Reiter lassen uns in Frieden. Manchmal gibt es Ärger mit den Sharks, aber meistens werden wir mit ihnen fertig.«
»Gestern abend schien das anders zu sein«, sagte Charity.
Net fuhr zusammen und senkte für einen Moment den Blick. Aber sie fing sich schnell wieder. »Okay«, sagte sie. »Ich war in den Bergen, und die Berge sind ihr Gebiet. Hier in der Ebene hätten sie mich nie gekriegt.«
Das klang nicht ganz überzeugend, aber Charity hielt es für besser, es dabei zu belassen. Sie hatte nichts davon, Net in Verlegenheit zu bringen.
»Außerdem kommst du doch von außerhalb«, fuhr das Mädchen aggressiv fort. »Du solltest uns sagen können, wie es dort aussieht.«
Charity seufzte. »Anders«, sagte sie ausweichend. »Aber auch nicht sehr viel besser, wenn ich ehrlich sein soll.« Sie seufzte erneut, sah Net, ihren Vater und die beiden anderen der Reihe nach an und fügte hinzu: »Ehrlich gesagt - ich bin vor ihnen geflohen. Sie haben mein ... mein Land auch überfallen.«
»Und besiegt«, vermutete Dad. »Deine Armee ...«
»Wurde geschlagen, ja«, sagte Charity. »Wir haben uns gewehrt, aber ...«
»Morons Heerscharen sind unbesiegbar«, sagte Dad ruhig. »Das weiß jeder. Gibt's noch andere Krieger?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Charity. »Nein, ganz bestimmt sogar. Ich denke, ich bin die einzige, die es geschafft hat.«
Sie dachte an Stone und überlegte einen Moment, ihnen von ihm zu erzählen, verwarf den Gedanken aber fast sofort wieder. Stone war längst fort, und wahrscheinlich längst tot. Wäre er vor ihr hiergewesen, hätte Dad davon gewußt. Ihre Situation kam ihr immer grotesker vor. Sie saß hier, trank Tee und redete mit ihm, als wäre sie eine Fremde, die gerade vom Mond gekommen war. Dabei wußte sie viel besser als er, was wirklich passiert war.
Aber sie versuchte nicht, ihn aufzuklären. Seine Welt war fremd und bizarr und wahrscheinlich sehr gefährlich, aber sehr klein und überschaubar. Der Gedanke an einen Schlaf, der Jahre oder vielleicht auch Jahrhunderte gedauert hatte, hätte nicht in sein Weltbild gepaßt.
»Wie lange ist es schon her?« fragte sie vorsichtig.
»Her?« Dad sah sie verwundert an. »Was?«
»Der Angriff«, erklärte Charity. »Ich meine, wann ... wann sind sie gekommen?«
»Gekommen?« Dad blinzelte.
»Moron«, sagte Charity. »Die Reiter.«
»Ich verstehe nicht. Du ...« Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Oh, du denkst, sie hätten uns auch überfallen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das ist ein Irrtum. Sie waren schon immer hier. Wenigstens so lange, wie ich mich erinnern kann.«
Charity lächelte müde. »Welches Jahr schreiben wir?«
Dad zuckte gleichmütig mit den Achseln. »Wir schreiben nicht auf, wie viele Jahre vergangen sind«, antwortete er. »Wozu? Eines ist wie das andere. Mein Vater und mein Großvater waren Wastelander. Welchen Nutzen hat es, sich zu merken, wie viele Jahre vergangen sind?«
Charity hob hastig ihre Tasse und trank, um Dad nicht zu zeigen, wie sehr sie seine Antwort entsetzte.
»War das bei euch anders?« erkundigte sich Bob.
Charity nickte. »Ja. Wir ... wir haben die Jahre gezählt.«
»Aber das ist völlig sinnlos«, sagte Net.
Charity wollte eigentlich gar nicht antworten, aber irgend etwas brachte sie dazu, ihre Tasse abzustellen und das Mädchen anzusehen.
»Wir zählen nicht nur die Jahre, wir zählen auch die Tage und die Stunden«, antwortete sie.
»Und wozu?«
Charity seufzte. »Manchmal ist es ganz praktisch, weißt du? Wenn ich sage, daß ich fortgehe und in zwei Stunden wieder hier bin, dann mußt du zum Beispiel nicht die ganze Zeit herumstehen und auf mich warten, sondern bist pünktlich zur vereinbarten Zeit wieder am Treffpunkt.«
»Woher soll ich genau wissen, wann zwei Stunden vorüber sind?« fragte Net. »Niemand kann das so genau schätzen.«
»Ich schon«, widersprach Charity heftig. Nets Fragerei begann ihr auf die Nerven zu gehen. Aber schließlich war sie selbst schuld.
»Ich kann dir sogar sagen, wann eine Minute vorüber ist. Man kann es messen. Mit einer Uhr.« Sie hob den Arm und streifte die Jacke zurück, damit das Mädchen ihre Armbanduhr sehen konnte. »Siehst du? Bis auf den Augenblick genau. Ich bin jetzt genau seit vier Stunden und zweiunddreißig Minuten bei euch.«
Net beugte sich neugierig vor, betrachtete das Ziffernblatt der Uhr interessiert und ließ sich wieder zurücksinken. »Trotzdem ist es nutzlos«, sagte sie stur. »Und gefährlich.«
Gefährlich? Charity sah sie verwirrt an, aber sie verzichtete darauf, eine Frage zu stellen. Es gab Wichtigeres zu klären.
»Dabei fällt mir ein, daß ich nicht mehr allzu lange bleiben kann«, fuhr sie in bewußt beiläufigem Ton fort. »In welche Richtung muß ich fahren, wenn ich auf andere Menschen treffen will?«
»Nur ein paar Meilen nach Norden«, sagte Gurk grinsend, »und schon bist du bei den Sharks.«
Charity schenkte ihm einen giftigen Blick und wandte sich an Dad. »Es gibt doch außer den Sharks und euch sicher noch andere?«
»Du fährst heute nirgendwo mehr hin«, bestimmte Dad, statt ihre Frage zu beantworten. »Es wird bald Nacht. Die Ebene ist für dich zu gefährlich. Trotz deiner Waffen.«
»Und morgen früh?« sagte Charity, womit sie sein Angebot, hier zu übernachten, stillschweigend annahm.
Dad überlegte einen Moment, dann zuckte er mit den Achseln.
»Andere Menschen? Sicher, es gibt sie. Aber ... im Norden sind die Sharks, im Osten die Berge und im Süden und Westen die große Ebene. Was dahinter liegt, weiß ich nicht.«
Charity stöhnte auf. Aus diesen Leuten würde sie nichts herausbringen. Doch plötzlich fiel ihr etwas ein, das sie die ganze Zeit über hatte fragen wollen und aus einem ihr selbst unbegreiflichen Grund einfach vergessen hatte.
Mit einem fragenden Blick wandte sie sich an Net. »Gestern nacht«, sagte sie. »Wie hast du mich da genannt? Eine Tiefe? Wer soll das sein?«
»Es gibt eine Legende«, sagte Gurk sehr hastig.
»Das ist keine Legende!« fuhr Net den Gnom an. »Es gibt sie! Jedermann weiß das!«
Gurk zog eine Grimasse und wollte etwas entgegnen, aber Charity gebot ihm mit einer ärgerlichen Handbewegung zu schweigen.
»Ein anderes Volk, so wie eures?« erkundigte sie sich.
»Sie sind nicht wie wir!« widersprach Net heftig. »Sie sind ...«
Sie suchte nach Worten. »Sie töten«, sagte sie schließlich. »Sie sind wie du. Tragen sonderbare Kleider und reden Dinge, die niemand versteht, und sie haben auch Waffen wie du. Und sie töten jeden, der in ihr Gebiet kommt.«
»Und wo liegt dieses Gebiet?« fragte Charity erregt.
»Sie leben unter der Erde. Irgendwo in den Bergen«, antwortete Net. »Da, wo ich dich getroffen habe. Deswegen dachte ich ja, du wärst eine von ihnen. Vielleicht bist du es ja.«
»Unsinn!« unterbrach sie Gurk aufgebracht. »Du und deine Tiefen! Hirngespinste sind das. Niemand hat sie je gesehen, oder?«
»Das hat man doch!« rief Net aufgebracht. »Sonst wüßte man ja nicht, daß es sie gibt, oder?«
Charity wurde plötzlich sehr nachdenklich.
Charity war Dad und seiner Familie im nachhinein sehr dankbar dafür, die Nacht bei ihnen verbringen zu können; aber sie lehnte Nets Angebot ab, das Bett mit ihr zu teilen, und zog es vor, in dem Schuppen zu schlafen, in dem Bob ihre Maschine versteckt hatte.
Äußerlich eine Ruine, verbarg sich hinter dem feuergeschwärzten Tor ein großer, wohlbestückter Lagerraum, in dem die Wastelander alle möglichen Gegenstände aufbewahrten, die sie von ihren Streifzügen mitgebracht hatten. Bei einer Menge Dinge konnte sich Charity beim besten Willen nicht vorstellen, was sie damit anfangen wollten - wie zum Beispiel einem halben Dutzend beschädigter Fernsehempfänger oder einer ganzen Kiste voller kleiner, silberfarbener CD-Platten -, aber vermutlich konnte man gerade in einer solchen Welt einfach alles gebrauchen.
Charity war sehr müde, obwohl es noch früh war, doch auch die Wastelander hatten sich schon zur Ruhe begeben. Bob hatte ihr ein Lager aus Decken und Kleidungsstücken bereitet, auf das sie sich beinahe sofort ausstreckte.
Trotzdem fand sie keinen Schlaf. Zu viel ging ihr durch den Kopf, zu viele Fragen waren nicht beantwortet worden.
Alles war so ... so anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Nicht, daß sie irgendeine auch nur halbwegs klare Vorstellung von dem gehabt hätte, was sie erwarten mochte, aber sie wußte zumindest, was sie nicht erwartet hätte: nämlich eine postatomare Wüstenlandschaft, in der die wenigen Überlebenden von motorradfahrenden Mad-Max-Imitatoren terrorisiert wurden.
Sie lag lange wach, grübelte und starrte die rußgeschwärzte Decke über sich an, ohne das Durcheinander hinter ihrer Stirn ordnen zu können. Draußen wurde es dunkel, und mit der Nacht drangen sonderbare Geräusche zu ihr herüber.
Schließlich - sie sah auf ihre überflüssige Uhr und stellte fest, daß gute zwei Stunden vergangen waren, seit sie sich hingelegt hatte - stand sie wieder auf, hängte sich ihre MP über die Schulter und verließ die Scheune.
Es war kalt geworden. Der Mond stand als riesige, runde Scheibe am Himmel und überschüttete die Ebene mit silbernem Licht, in dem sich die Schatten wie finstere Schluchten abhoben. Der Wind trug sonderbar beunruhigende Laute herüber.
Nervös drehte Charity sich einmal um ihre Achse, stellte erleichtert fest, daß sie allein war, und lehnte sich gegen das Scheunentor. Vor ihr erstreckte sich die Ebene, und auf der anderen Seite erhoben sich die Berge, aus denen sie gestern abend erst geflohen war.
Und zu denen sie zurückkehren würde, dachte sie. Morgen, sobald die Sonne aufging. Sie hatte Angst davor, aber gleichzeitig wußte sie auch, daß sie keine andere Wahl hatte.
Ihr Blick fiel auf einen kleinen mattglänzenden Gegenstand, der neben der Tür im Staub lag. Sie hob ihn auf und erkannte im schwachen Mondlicht, daß es sich um eine der Waffen handelte, die sie schon einmal bei Net gesehen hatte - ein gut zwanzig Zentimeter langer, klobiger Stab aus Holz, der sehr schwer war und keine sichtbare Öffnung hatte. Als sie ihn in der Hand drehte, spürte sie ein schwaches Vibrieren, als bewege sich etwas in seinem Inneren.
»Ich würde das weglegen, wenn ich du wäre«, sagte ein dünnes Stimmchen hinter ihr.
Charity schrak zusammen, drehte sich herum und blinzelte überrascht auf Gurk herab, der wie aus dem Nichts hinter ihr aufgetaucht war. Aber sie verbiß sich die Frage, wie zum Teufel er das geschafft hatte.
»Und ich wäre sehr vorsichtig damit«, fügte Gurk hinzu.
»So?« sagte sie nur.
Gurk streckte die Hand aus, nahm ihr den Stab aus den Fingern und schob ihn mit einer ganz und gar unvorsichtigen Bewegung unter seinen Gürtel. »Eine primitive Waffe, aber trotzdem ziemlich effektiv«, sagte er. »Der Stab ist hohl, weißt du? In seinem Inneren sind nur ein paar Springmaden.«
»Was ist das?«
Gurk grinste. »Ein paar niedliche kleine Tierchen. Sie stammen von einem Planeten, dessen Namen ich lieber nicht auszusprechen versuche. Ich habe keine Lust, mir die Zunge zu verknoten. Sie sind immer hungrig, weißt du? Wenn du auf den Auslöser drückst, dann wird eine von ihnen freigelassen und stürzt sich auf das erstbeste warmblütige Lebewesen, das es wittert. Sie sind ekelhaft schnell. Und ihr Gift wirkt auf der Stelle.«
Er zog eine Grimasse. »Ich muß mit Dad reden. Irgendwann wird noch ein Unglück passieren, wenn Net ihre Waffen weiter einfach so herumliegen läßt.«
Er legte den Kopf schräg und sah Charity nachdenklich an. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er.
»So?«
Gurk nickte. Seine dürre Greisenhand deutete auf die Berge im Osten. »Das Mädchen redet Unsinn«, sagte er, in einem sehr ernsten, fast schon besorgten Tonfall, den Charity an ihm noch nicht kannte. »Es ist eine Legende.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Charity. Sie hatte eigentlich gar keine Lust, sich mit dem Gnom zu unterhalten, aber sie wollte ihn auch nicht zu brüsk abfertigen.
»Du kannst mir glauben«, sagte Gurk, ohne ihre Frage direkt zu beantworten. »Die Tiefen sind eine Legende.«
»Es ist wohl auch eine Legende, daß diese Welt einmal den Menschen gehört hat, wie?« sagte Charity sarkastisch, aber zu ihrer Überraschung schüttelte Gurk nur den Kopf. Seine gewaltige Größe ließ die Bewegung absurd aussehen; so, als wolle sein Schädel jeden Moment einfach von dem viel zu dürren Hals herunterfallen.
»Nein«, sagte er. »Das ist die Wahrheit.«
»Du weißt ...«
»Ich bin kein kleingeistiger Wastelander,« sagte Gurk beleidigt. »Ich weiß eine Menge. Ich weiß zum Beispiel auch, daß du nicht aus irgendeinem Land kommst, das sie überfallen haben.« Er lachte leise und deutete mit der Hand in den Himmel hinauf. »Woher kommst du wirklich? Von dort? Oder aus der Vergangenheit?«
Diesmal war Charity ehrlich überrascht. Sie schwieg eine ganze Weile, und Gurk schien deutlich zu spüren, mit wieviel Mißtrauen sie seine Frage plötzlich wieder erfüllte, denn er fügte hinzu:
»Keine Angst, Charity. Abn Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel der Vierte ist kein Spion Morons. Ich kann im Gegensatz zu Dad und den anderen zwei und zwei zusammenzählen. Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten.«
»So?« sagte Charity lauernd.
Gurk nickte heftig. »Ich komme viel herum«, sagte er. »Ich habe eine Uniform wie die, die du da trägst, schon gesehen. Und auch Waffen wie deine. Aber die waren verdammt alt. Deine sehen aus, als wären sie nagelneu.«
»Vielleicht sind sie es«, sagte Charity.
»Woher kommst du?« fragte Gurk noch einmal. Charity antwortete nicht, und nach einer Weile gab er es auf und zuckte mit den Schultern. »Na ja, geht mich auch nichts an. Ich dachte nur, du wärst ein bißchen dankbarer, nach allem, was sich für dich getan habe. Aber die Dankbarkeit ist wohl aus der Mode gekommen.« Er seufzte. »Egal. Jedenfalls solltest du dir den Gedanken aus dem Kopf schlagen, in die Berge zurückzugehen. Die Sharks werden dich kriegen. Und wenn nicht sie, dann die Reiter. Ich glaube, sie suchen dich.«
»Ein Grund mehr, die Tiefen zu finden«, antwortete Charity.
Gurk seufzte übertrieben. »Es gibt sie nicht, verdammt noch mal«, sagte er heftig. »Sie sind eine Legende, mehr nicht.«
»Für mich klingt Nets Beschreibung nicht nach einer Legende«, antwortete Charity gleichmütig. »Eher nach Überlebenden, die es irgendwie geschafft haben, sich in Sicherheit zu bringen.«
Gurk starrte sie an, dann schüttelte er erneut den Kopf. »Das glaubst du nur, weil du es glauben willst«, behauptete er. »Du rennst in dein Verderben, wenn du wirklich in die Berge zurückkehrst. Du solltest nach Süden gehen. Die Ebene ist groß, aber mit der Maschine kannst du es schaffen, wenn du ein bißchen Glück hast.«
»Und dann? Was soll ich dort im Süden?«
»Überleben«, antwortete Gurk ernsthaft. »Dazu bist du doch hier, oder?«
»Und was finde ich dort?« erwiderte Charity. »Dad hat gesagt, daß ...«
»Dad weiß nicht alles«, unterbrach sie Gurk ungehalten. »Die Ebene ist groß, aber sie reicht nicht bis ans Ende der Welt. Es sind zwei Tage mit deiner Maschine, allerhöchstens zweieinhalb.«
»Bis wohin?« fragte Charity, aber Gurk schwieg. »Wenn du das alles so genau weißt, warum hast du dann vorhin nichts davon erzählt?«
Gurk lachte hart. »Warum sollte ich? Glaubst du, ich tue denen einen Gefallen, wenn ich ihnen erzähle, daß es hinter der Ebene ein Land gibt, in dem sie besser leben können?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Mit der Wahrheit würde ich sie umbringen. Sie würden losziehen und irgendwo zugrunde gehen. Der Weg ist gefährlich, und das, was hinter der Ebene liegt, noch gefährlicher. Tödlich für einen Wastelander. Du kannst es schaffen. Vielleicht.«
»Was schaffen?« fragte Charity ungeduldig. »Was liegt hinter der Ebene, Gurk?«
»Was zahlst du?« sagte Gurk anstelle einer Antwort.
Sekundenlang starrte Charity ihn verstört an, ehe sie begriff.
Dann schlug ihre Verwirrung in Zorn um. Wütend streckte sie die Hand aus und versuchte Gurk zu packen, verfehlte ihn aber, weil er mit einer erstaunlich behenden Bewegung zur Seite auswich. »Du kleine, gierige Ratte!« sagte sie drohend. »Du ...«
»Was willst du?« unterbrach sie Gurk. »Jeder muß leben, nicht? Ich lebe von Informationen - und davon hast du schon genug bekommen, ohne zu bezahlen. Du willst wissen, was hinter der Ebene liegt? Ich weiß es. Also bezahle mich.«
Charity schluckte die wütende Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag. Irgendwie konnte sie Gurk sogar verstehen; was ihren Ärger aber kaum dämpfte.
»Was verlangst du?« fragte sie gepreßt.
Gurk deutete, ohne zu zögern, auf die MP über ihrer Schulter.
»Die Waffe da.«
Charity lachte böse. »Die kannst du haben«, sagte sie drohend. »Zwischen die Zähne. Vergiß es.«
Gurk war nicht sonderlich enttäuscht, sondern zuckte nur abermals mit den Schultern. »Einen Versuch war es wert«, sagte er.
»Aber gut - gib mir dein Feuerding, und ich verrate dir, wie du die Ebene überwinden kannst. Und was dahinter liegt.«
Für einen Moment war Charity fast versucht, seinem Vorschlag zu folgen. Schließlich - es war nur ein billiges Einwegfeuerzeug, ein Plastikding, das sie für ein paar Cent ...
Sie erkannte den Fehler in diesem Gedanken gerade noch rechtzeitig, um die Hand wieder zurückzuziehen, die sie schon nach der Tasche ausgestreckt hatte. »Nein«, sagte sie. Sie drehte sich um, blickte wieder zu den Bergen hinüber und versuchte, sich Nets Worte ins Gedächtnis zurückzurufen. »Sie tragen Kleider wie ich«, murmelte sie. »Und haben Waffen wie ich. Und sie leben unter der Erde ...«
Die Worte waren nicht für Gurk bestimmt gewesen, aber er antwortete trotzdem. »Du bist verrückt. Sie werden dich einfach umbringen. Glaubst du, die Leute hier haben umsonst solche Angst vor ihnen? Sie sind tausendmal schlimmer als die Sharks!«
»Ach?« fragte Charity lauernd. »Woher weißt du das? Ich denke, es gibt sie gar nicht?«
Gurk zog eine Grimasse. »Und selbst wenn«, sagte er trotzig. »Du findest sie niemals. Ihr Versteck ist zu gut. Nicht einmal die Sharks haben es geschafft, sie aufzuspüren.«
Charity lächelte. »Und wenn ich nun genau wüßte, wo sie sind?« fragte sie.
Gurk sperrte Mund und Augen auf und starrte sie an. »Du ... du weißt ...«
»Ich denke schon«, antwortete Charity ruhig. »Jedenfalls weiß ich, wo ich nach ihnen suchen muß.«
»Wo?« fragte Gurk erregt. »Wo sind sie? Verrate es mir!«
»Gerne«, erwiderte Charity freundlich, drehte sich herum und ging wieder in die Scheune. Aber bevor sie die Tür direkt vor Gurk zuwarf, rief sie ihm noch zu: »Sobald wir uns über den Preis geeinigt haben, den dir diese Information wert ist.«