6

Nets rechte Hand war losgebunden worden, als sie wieder zu ihr zurückkam, und dicht daneben stand eine kleine, verbeulte Metallschüssel mit Wasser; auf ihrem Rand eine Scheibe gebratenes Fleisch, und darauf wiederum ein Stück Brot. Doch Net machte keinerlei Anstalten, danach zu greifen, obwohl sie so hungrig wie Charity sein mußte.

Raoul fesselte sie wieder, aber längst nicht so fest wie beim ersten Mal. Er lächelte sogar entschuldigend, als er sich aufrichtete, drehte sich dann aber beinahe hastig um und humpelte davon.

Charity blickte ihm verwirrt nach. Je länger sie ihn ansah, desto sicherer wurde sie, daß es wirklich der Mann war, dem sie ins Bein geschossen hatte - und desto unmöglicher erschien ihr dieser Gedanke.

Seufzend drehte sie den Kopf und sah Net an. Haßerfüllt blickte die Wastelanderin sie an.

»Wie geht es dir?« fragte Charity unbeholfen. Eine ziemlich dumme Frage, aber irgendwie mußte sie das Gespräch schließlich beginnen. Net antwortete auch nicht, sondern starrte sie nur weiterhin voller Verachtung und hilfloser Wut an.

»Das mit eurem Haus tut mir leid«, fuhr sie fort. »Ich wäre nicht zu euch gekommen, wenn ich gewußt hätte, was ... was passiert?«

Net verzog das Gesicht.

»Oh, das mit dem Haus tut dir leid. Das ist tröstlich. Sonst tut dir nichts leid?«

Ihre Stimme bebte vor Zorn.

»Ist sonst noch etwas ...« Charity stockte - und begriff endlich. »Deine Eltern?«

»Sie sind tot«, bestätigte Net. »Bob konnte entkommen, aber Mom und Dad haben sie umgebracht.« Sie deutete mit einer abgehackten Kopfbewegung auf den Wächter, der zusammengekauert dasaß und ihrer Unterhaltung zuhörte. Ein flüchtiges, sehr häßliches Lächeln huschte über sein düsteres Gesicht, als Net fortfuhr.

»Er hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Und er hätte mich auch getötet, wenn sie mich nicht gebraucht hätten, um dich zu kriegen.«

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, sagte Kink beinahe freundlich.

Net reagierte gar nicht auf seine Worte.

»Gibt es sonst noch irgend etwas, was dir leid tut?« fuhr sie fort.

Charity antwortete nicht, aber plötzlich konnte sie Nets Blick nicht mehr standhalten. Betroffen senkte sie den Kopf. Skudder hatte sie belogen - zumindest hatte er es ihr nicht gesagt, was auf das gleiche hinauslief. Nach einer Weile hob sie den Blick und sah wieder zum Feuer hinüber.

Im Lager hatte sich eine gewisse Unruhe breitgemacht. Die meisten Sharks waren aufgestanden, einige gingen zu ihren Maschinen hinüber. Auf den Felsen, die das Lager an drei Seiten wie eine natürliche Wehrmauer umgaben, waren Männer mit Gewehren aufgetaucht, die gebannt in die Dunkelheit starrten. Charity suchte vergebens nach Skudder oder Raoul, die beide irgendwo in dem Gewimmel aus schwarzgekleideten Gestalten verschwunden waren.

»Was ist los?« Die Frage galt Kink, der ebenfalls den Kopf gedreht hatte, aber keine Anstalten machte, aufzustehen.

Der Shark zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, gestand er. »Mir auch egal. Ich soll aufpassen, daß ihr zwei Hübschen keine Dummheiten macht.«

Charity schenkte ihm einen bösen Blick, den Kink mit einem hämischen Grinsen beantwortete, und wandte sich wieder an Net.

»Wir sind wieder in den Bergen, nicht wahr?« sagte sie. »Ungefähr in der Gegend, in der wir uns das erste Mal getroffen haben.«

Net nickte widerwillig. »Ja.«

Aber nach allem, was sie gehört hatte, lag das Gebiet der Sharks nur zwei oder drei Stunden von Nets Farm entfernt - und es war früher Vormittag gewesen, als Skudder sie überwältigt hatte. Charity fragte vergebens, warum die Sharks diesen Umweg in Kauf genommen und sogar ein Nachtlager aufgeschlagen hatten, statt sie gleich in ihr Lager zu bringen. Die Gegend hier schien alles andere als sicher zu sein, wie das Benehmen der Sharks deutlich verriet.

Plötzlich tauchte Skudder wieder auf. Er rief ein paar Befehle, und seine Sharks teilten sich in drei gleich große Gruppen auf, von denen eine die Männer oben auf den Felsen verstärkte, während die beiden anderen das Lager in unterschiedlichen Richtungen verließen. Nur eine Handvoll Männer blieb am Feuer zurück.

»Irgend etwas stimmt da nicht«, murmelte Charity. Sie sah Net an. »Gibt es außer euch und den Sharks noch andere Gruppen hier?«

Net nickte und zuckte dann mit den Schultern. »Keine, die so verrückt wären, Sharks anzugreifen«, murmelte sie. Sie versuchte es zu verbergen, aber Charity spürte deutlich, daß auch sie sich ihre Gedanken über die plötzliche Aufregung unter den Sharks machte.

»Vielleicht ... irgendwelche Tiere«, fügte sie unsicher hinzu. »Diese Gegend ist gefährlich.«

»Maul halten«, sagte Kink grob. Auch er wurde allmählich nervös. Er stand auf, kam drohend auf Net zu und ging neben ihr in die Hocke. Net versuchte mit der freien Hand nach seinem Gesicht zu schlagen, aber der Shark fing den Hieb spielerisch ab, verdrehte ihren Arm und griff mit der anderen Hand nach dem Strick, um sie wieder zu fesseln.

»Ich verschnüre dich besser wieder«, sagte er. »Nachher kommst du noch auf dumme ...«

Eine dünne, rasiermesserscharfe Klinge zuckte aus der Dunkelheit und streifte seine Kehle. Er griff sich an den Hals und begann zu keuchen. Seine Augen weiteten sich. Beinahe lautlos sackte er nach vorne, fiel gegen Net und wäre zur Seite gekippt, hätten sich nicht plötzlich zwei dürre, graue Hände nach ihm ausgestreckt und ihn gehalten.

»Keinen Laut!« sagte ein dünnes Stimmchen. »Halt ihn fest, Net. Wenn die anderen etwas merken, sind wir alle erledigt.«

Charity sah hastig zum Feuer hinüber. Die vier oder fünf Sharks, die zurückgeblieben waren, blickten gebannt in die Nacht hinaus.

Keiner sah auch nur in ihre Richtung. Aber das konnte sich verdammt schnell ändern.

Gurk durchschnitt Nets Fesseln und half ihr, den toten Shark in eine halbwegs sitzende Position zu bugsieren. Sie benutzten sein Gewehr, um ihn zu stützen. Für jemanden, der nur sehr flüchtig herübersah, mochte es aussehen, als döse er vor sich hin.

»Gurk!« murmelte sie überrascht. »Wo kommst du denn ...«

»Still!« zischte der Gnom. »Ich mache dich los, aber halt um Gottes willen den Mund!« Er sagte es so laut, daß es Charity fast wie ein kleines Wunder vorkam, daß die Sharks seine Stimme nicht hörten. Aber sie verstummte gehorsam. Der Gnom war mit einem Satz bei ihr, durchtrennte auch ihre Fesseln und legte den ausgestreckten Zeigefinger über die Lippen, als sie etwas sagen wollte.

»Schnell jetzt!« wisperte er. »Sie sind abgelenkt, aber Skudder und die anderen kommen bestimmt gleich wieder. Keinen Laut!«

Charity deutete ein Nicken an, blickte aber konzentriert zum Feuer hinüber.

»Ich verschwinde jetzt«, wisperte Gurk ihr ins Ohr. »Gib mir einen Augenblick Vorsprung, okay? Wir rechnen ab, wenn wir uns wiedersehen.«

»Abrechnen?« wiederholte Charity verstört. »Wieso? Was meinst du?«

Gurk lachte leise. »Mach dir keine Sorgen. Du hast unbegrenzten Kredit bei mir.«

»Warte!« sagte Charity hastig. »Du ...«

Aber Gurk hörte schon gar nicht mehr zu. Für ein, zwei Sekunden hörte sie noch seine Schritte, dann verklangen auch sie; der Zwerg war so lautlos verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Und als sie den Kopf drehte, um nach ihm zu sehen, hatte auch Net sich davongemacht.

Entschlossen sprang auch Charity auf und schlich sich davon in die Schwärze der Nacht.

Raoul senkte das Fernglas und gab es ihm zurück, schüttelte aber rasch den Kopf, als Skudder es ansetzen wollte. »Hat keinen Zweck mehr«, sagte er halblaut. »Sie ist zwischen den Felsen verschwunden. Irgendwo dort oben.« Seine Hand machte eine vage Bewegung in die Dunkelheit hinein. »Und Kink?«

»Tot«, antwortete Raoul knapp. Nach einer kurzen Weile fügte er hinzu. »Aber das hast du ja wohl gewollt, oder?«

Skudder war nicht sicher, aber er glaubte so etwas wie einen Vorwurf aus Raouls Worten herauszuhören.

»Nein«, antwortete er grob, während er sich fragte, ob Raoul vielleicht sogar recht hatte. »Aber ich kann nicht gerade sagen, daß es mir das Herz bricht.«

Raoul sah ihn an, und obwohl Skudder nicht in seine Richtung blickte, sondern die Dunkelheit zu durchdringen versuchte, in der Laird untergetaucht war, spürte er seine Blicke fast wie eine unangenehme Berührung.

»Irgendeines Tages bricht dir dein Gerechtigkeitssinn noch den Hals«, prophezeite er düster.

Skudder antwortete gar nicht. Wenn er an dem, was passiert war, überhaupt etwas bedauerte, dann höchstens den Umstand, Kink nicht selbst den Hals aufgeschlitzt zu haben. Außerdem hatten sie wichtigere Dinge zu tun, als sich den Kopf über das Schicksal eines Psychopathen zu zerbrechen, der in seinem Leben mehr Menschen umgebracht hatte, als er Läuse auf dem Kopf gehabt hatte.

»Was ist mit dem Mädchen?«

»Die Wastelanderin« Raoul zuckte mit den Achseln. »Sieht so aus, als wäre sie in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Die beiden waren wohl nicht unbedingt dicke Freundinnen.« Er lächelte, griff unter seine Weste und zog einen flachen, schwarzen Kasten heraus. Auf seiner Vorderseite begann ein mattgrünes, münzgroßes Auge zu leuchten, als er einen Knopf drückte. Ein winziger roter Punkt bewegte sich über den Miniaturbildschirm. Sehr langsam, und noch nicht sehr weit von seinem Zentrum entfernt.

Skudder betrachtete den Sucher einen Moment lang nachdenklich, dann, als Raoul ihm das Gerät auffordernd hinhielt, schüttelte er den Kopf. Er mochte die Technik der Moroni so wenig wie sie selbst. Außerdem kannte er andere Mittel und Wege, einer Spur zu folgen.

»Noch nicht«, sagte er. »Gebt ihr eine Stunde Vorsprung. Die Jungs sollen ein bißchen Lärm machen, damit sie glaubt, wir suchen sie.«

Raoul nickte wortlos, steckte den Sucher wieder ein und wollte sich herumdrehen, aber Skudder hielt ihn noch einmal zurück. »Bart und ein paar Jungs sollen das Mädchen zurückholen«, befahl er. »Aber vorsichtig. Ich will sie lebend und unverletzt. Und bringt mir diesen verdammten Zwerg.«

»Auch lebend und unverletzt?« fragte Raoul.

Skudder antwortete erst nach einer Weile.

»Lebend«, sagte er.

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