5

Ihre linke Körperhälfte war immer noch gefühllos, als sie erwachte. Es war Nacht, und sie lag neben einem auflodernden Feuer, das eine karge, aus Felsen und Büschen bestehende Landschaft erhellte. Es war nicht nur der Schlag gewesen, der ihr so lange das Bewußtsein geraubt hatte. In ihrem Mund und ihrer Nase war ein widerwärtiger Geschmack, der ihr verriet, daß Skudder außer einer Axt auch noch eine Flasche Chloroform mit sich herumschleppen mußte.

Charity versuchte sich zu bewegen, aber es ging nicht. Sie war an Händen und Füßen gefesselt, und selbst, wenn es ihr gelungen wäre, die Stricke zu lösen, wäre sie wohl kaum sehr weit gekommen: Rings um sie herum wimmelte es nur so von Sharks. Sie sah mindestens zwanzig der abenteuerlich gekleideten Gestalten, die am Feuer saßen oder sich in der Dunkelheit hin und her bewegten.

Wo war sie? Sie konnte nicht sehr viel von ihrer Umgebung erkennen. Sie entdeckte ein paar Motorräder - blinkende schwarze Schatten in der Dunkelheit -, die Umrisse mächtiger Felsen und hier und da einen Busch. Sie war nicht mehr auf der Ebene, aber das war auch alles, was sie mit Sicherheit sagen konnte.

Und sie war nicht die einzige Gefangene. Kaum anderthalb Meter neben ihr saß eine zweite, halb aufrecht an einen Baum gebundene Gestalt, schlanker als sie und mit kurzgeschnittenem dunklem Haar: Net. Charity hielt vergebens nach den anderen Wastelandern Ausschau. In ihrer unmittelbaren Nähe befand sich nur ein einziger Shark, der mit untergeschlagenen Beinen dasaß, ihr den Rücken zukehrte und vor sich hinzudösen schien.

Charity versuchte sich umzudrehen. Ihre Schulter tat weh, und obwohl der Schmerz sich in Grenzen hielt, mußte sie all ihren Mut zusammennehmen, den Kopf zu drehen und an sich herabzublicken.

Aber was sie sah, erleichterte sie. Offenbar war sie nicht verletzt.

»Du hast nicht viel abbekommen«, sagte eine Stimme über ihr: Skudder.

Charity sah auf, blickte einen Moment in Skudders Gesicht und fragte sich, wo er hergekommen war. Sie hatte ihn nicht gehört; trotz seines riesenhaften Wuchses schien er sich lautlos wie eine Katze bewegen zu können.

Sekundenlang hielt er ihrem Blick stand, dann lächelte er, ließ sich in die Hocke sinken und streckte die Hand nach ihr aus, zog sie dann aber wieder zurück, ohne sie berührt zu haben.

»Tut es sehr weh?«

»Nein«, antwortete Charity. Skudder verwirrte sie; und nicht nur er, sondern beinahe noch mehr ihre eigene Reaktion auf seinen Anblick. Sie hätte zornig sein müssen, statt dessen betrachtete sie den Führer der Sharks mit einer Neugier, die sie selbst überraschte.

Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf die Axt, die wieder an Skudders Gürtel hing. Sie sah jetzt zum ersten Mal, daß es sich um einen echten indianischen Tomahawk handelte. In der Welt, in der sie geboren und aufgewachsen war, wäre diese Waffe sicherlich ein Vermögen wert gewesen.

»Du kannst gut mit diesem Ding umgehen«, sagte sie. Und fast gegen ihren Willen hörte sie sich hinzufügen: »Sieht so aus, als hätte ich noch einmal Glück gehabt. Wenn du ein bißchen besser gezielt hättest, wäre ich jetzt wohl tot.«

»Ja.« Ihre Antwort schien Skudder zu amüsieren. »Aber vielleicht auch, wenn ich schlechter gezielt hätte.«

Bei jedem anderen hätte sie diese Worte für glatte Angabe gehalten; ihm glaubte sie. »Woher hast du gewußt, in welche Richtung ich springen werde?«

Skudder machte eine unbestimmte Geste. »Erfahrung. Du warst in Panik. Menschen, die in Panik reagieren, fliehen fast alle in dieselbe Richtung: nach rechts, nach vorne und nach unten.«

Charity nickte anerkennend. Sie begriff allmählich, wieso ausgerechnet dieser Mann der Anführer der Sharks geworden war.

Und sie nahm sich vor, ihn nicht noch einmal zu unterschätzen.

»Was willst du?« fragte sie.

Skudder antwortete nicht gleich, sondern sah sie wieder auf diese sonderbare Art an. Er lächelte, aber auf eine Art und Weise, die sie frösteln ließ. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Vermutlich einfach nur mit dir reden. Ich ... möchte gerne wissen, wer diese Frau ist, derentwegen Daniel eine ganze Armee losschickt.«

»Ich weiß nicht einmal, wer dieser Daniel ist«, murmelte Charity. »Geschweige denn, was er von mir will.«

»Hast du Hunger?« fragte Skudder unvermittelt.

Charity nickte, obwohl sie eigentlich hatte ablehnen wollen.

Drei, vier Atemzüge lang starrte er sie durchdringend, aber nicht unfreundlich, an, dann stand er mit einer fließenden Bewegung wieder auf. »Versprichst du mir, keinen Unsinn zu machen, wenn ich dich losbinde?«

Charity nickte abermals, und Skudder zog ohne ein weiteres Wort sein Messer und schnitt ihre Fesseln durch. Charity versuchte aufzustehen, aber sie schaffte es nicht aus eigener Kraft. Die Fesseln hatten ihr das Blut abgeschnürt, und ihr linker Arm und ihr linkes Bein waren wie taub.

»Und sie?« Charity deutete auf Net, die der kurzen Unterhaltung aufmerksam und mit steinernem Gesicht gefolgt war. Skudder schüttelte entschieden den Kopf.

»Ihr geschieht nichts, keine Sorge«, sagte er. »Aber sie ist nicht klug genug, als daß ich ihr trauen könnte. Ich lasse ihr etwas zu essen bringen. Kink!«

Das letzte Wort galt dem Wächter, der die ganze Zeit über reglos dagesessen und ihnen den Rücken zugekehrt hatte. Aber er schlief keineswegs, wie Charity angenommen hatte, denn er drehte rasch den Kopf und sah Skudder fragend an. Charity erhaschte einen raschen Blick auf ein breites, narbenzerfurchtes Gesicht mit harten Augen und einem brutalen Mund.

»Kümmere dich um Net«, befahl Skudder. »Und behandele sie gut.«

Kink sprang auf und beeilte sich, dem Befehl nachzukommen, während Skudder Charity behutsam am Arm ergriff und zum Feuer führte. Sie wehrte sich nicht dagegen. Das Leben kehrte allmählich in ihre abgestorbenen Glieder zurück. Ohne Skudders Hilfe aber hätte sie keine zehn Schritte geschafft.

Sie gingen nicht zum großen Lagerfeuer, sondern zu einer zweiten, etwas abseits gelegenen Lagerstelle, an der ein kleineres Feuer brannte. Der verlockende Duft von gebratenem Fleisch stieg ihr in die Nase. Als sie näher kam, sah sie, daß Skudder und sie auch hier nicht allein waren - aber immerhin war es nur eine einzelne Gestalt, die auf sie wartete, und keine grölende Bande von mehr als zwanzig Sharks. Sie war erleichtert, nahm sich aber vor, weiter auf der Hut zu bleiben. Skudders Freundlichkeit und die Sympathie, die sie ihm entgegenbrachte, täuschten sie keine Sekunde darüber hinweg, was er wirklich war: der Anführer einer brutalen Armee von Barbaren, denen ein Menschenleben absolut nichts galt.

Skudder half ihr, sich auf einen flachen Stein zu setzen, hockte sich selbst auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers hin und deutete aufmunternd auf eine Anzahl hölzerner Spieße, an denen kleine Fleischscheiben über dem Feuer brieten. Charity ließ sich nicht zweimal bitten. Das karge Frühstück bei Dad und seiner Familie war alles gewesen, was sie heute gegessen hatte, und ihr Magen meldete sich mit Macht zu Wort.

Skudder deutete auf den zweiten Shark, der am Feuer saß und Charity aufmerksam beobachtete. »Das ist Raoul«, sagte er. »Mein Stellvertreter. Du kannst ihm vertrauen.«

»Den anderen nicht?« fragte Charity trocken.

»Nein«, antwortete Skudder im selben Tonfall. »Jedenfalls nicht allen. Aber Raoul und du seid ja gewissermaßen schon alte Bekannte.«

Charity sah ihn fragend an, und Skudder fügte mit einem nur angedeuteten Lächeln hinzu: »Heute morgen. Du hast ein Loch in sein rechtes Bein geschossen. Aber er ist nicht nachtragend.«

Charity musterte den Shark eingehend. Sie erkannte ihn nicht wieder, aber das besagte nichts - sie hatte wahrlich anderes zu tun gehabt, als sich die Gesichter der Männer einzuprägen. Aber sie sah, daß sein rechts Hosenbein bis übers Knie hinauf aufgeschnitten war.

Darunter schimmerte ein weißer Verband.

»Tut's noch weh?« fragte sie.

Raoul schüttelte den Kopf.

»Schade«, sagte Charity. »Ich hätte einen Meter höher zielen sollen.«

Raouls Gesicht blieb weiterhin unbewegt, aber Skudder lachte leise. »Du tust ihm unrecht, Laird«, sagte er. »Raoul hat dir das Leben gerettet.«

»So?« erwiderte Charity böse. »Das muß mir irgendwie entgangen sein.«

»Wenn er dich nicht an der Flucht gehindert hätte, hätten die Jungs dich getötet«, sagte Skudder ernsthaft. »Oder die Ebene hätte dich umgebracht. Niemand überlebt dort draußen, wenn er kein Wastelander ist. Und du bist kein Wastelander.«

»Nein«, antwortete Charity. »Das bin ich nicht.«

»Und was bist du?«

Der bewußt beiläufige Ton der Frage täuschte sie keine Sekunde - Skudder hatte sie nicht nur losgeschnitten, weil er ein so netter Mensch war, sondern weil er etwas ganz Bestimmtes von ihr wollte.

»Jedenfalls kein Wastelander«, antwortete sie ausweichend. »Du hast es ja selbst gesagt.« Sie beugte sich vor, angelte sich einen der Fleischspieße vom Feuer und kostete. Das Fleisch schmeckte sonderbar, aber gut, und nach dem ersten, vorsichtigen Bissen kaute sie schneller und fast gierig. Sie merkte erst jetzt richtig, was für einen Hunger sie hatte.

Skudder ließ sie eine Weile in Ruhe, aber er sah sie unentwegt an, auch während er aß, und auch Raouls Blicke folgten jeder ihrer Bewegungen. Charity begann sich zunehmend unbehaglicher zu fühlen. Am liebsten hätte sie das Fleisch zurückgelegt und darum gebeten, wieder an ihren Baum gebunden zu werden. Aber abgesehen davon, daß Skudder das wahrscheinlich abgelehnt hätte, war sie dazu einfach zu hungrig.

»Ich verstehe ja, daß du uns nicht traust«, sagte Skudder nach einer Weile. »Aber wir sind nicht deine Feinde.«

»Das habe ich gemerkt«, antwortete Charity sarkastisch. »Und Net und ihre Familie auch. Brennt ihr immer die Häuser der Leute nieder, die nicht eure Feinde sind?«

Skudder preßte ärgerlich die Lippen aufeinander, schluckte aber die scharfe Entgegnung herunter, die ihm auf der Zunge lag. »Das wäre nicht passiert, wenn du nicht weggelaufen wärst«, sagte er mit mühsam erzwungener Ruhe. »Aber das hatten wir ja schon, nicht? Wer bist du?«

»Wer ist Daniel?« entgegnete Charity.

Wieder blitzte Ärger in Skudders Augen auf, und wieder beherrschte er sich mühsam. »Du weißt es wirklich nicht?« fragte er. »Von wo kommst du? Vom Mond?«

»Vielleicht.« Charity zuckte mit den Schultern und sah Skudder abschätzend an. »Warum tust du nicht so, als käme ich wirklich von dort, und beantwortest mir ein paar Fragen? Vielleicht«, fügte sie mit einem neuerlichen Achselzucken hinzu, »beantworte ich dann auch deine.«

Skudder seufzte. Aber zu ihrer eigenen Überraschung nickte er plötzlich. »Okay - warum auch nicht? Ich weiß nicht, wer Daniel ist.« Er machte eine hilflose Handbewegung, als Charity ihn ungläubig ansah. »Ich bin ihm nie begegnet«, fuhr er fort. »Er ist unser Verbindungsmann. Aber ich habe sein Gesicht nie gesehen. Niemand hat das.«

»Euer Verbindungsmann? Zu wem?«

»Zu den Herren Morons«, antwortete Skudder bereitwillig. »Ich weiß nicht, ob er ein Mensch ist oder einer von ihnen. Die Reiter unterstehen ihm.«

»Und ihr.«

»Nein.« Die Antwort kam so scharf, daß Charity spürte, daß sie einen empfindlichen Punkt getroffen hatte. Und auch Skudder sah, daß sie es gemerkt hatte. Er lächelte verlegen. »Nein«, sagte er noch einmal. »Wir unterstehen niemandem. Er ... treibt Handel mit uns, wenn du es so nennen willst. Wir achten ein bißchen darauf, daß in unserem Gebiet alles seinen ordentlichen Gang geht, und er ...« Er überlegte einen Moment. »Was man eben so braucht«, sagte er schließlich. »Treibstoff, Ersatzteile ... wir sind viele.«

Das war nicht die ganze Wahrheit. Charity spürte deutlich, daß Skudder ihr etwas Wesentliches verschwieg. Aber es hätte wenig Zweck gehabt, wenn sie nachfragte. Skudder schien ohnehin schon mehr zu sagen als ihm eigentlich recht war.

»Was seid ihr?« fragte sie dann. »So eine Art privater Schlägertrupp dieses Daniel?«

Skudder überhörte den bewußt beleidigenden Tonfall, in dem diese Frage gestellt war. Beinahe ungerührt schüttelte er den Kopf.

»Wir sind frei«, sagte er. »Niemand sagt uns, was wir zu tun und zu lassen haben. Woher kommst du, Laird? Aus dem Süden?«

Natürlich antwortete sie nicht, aber diesmal schien Skudder ihr Schweigen als Zustimmung zu deuten, denn er fuhr unvermittelt fort:

»Ich weiß, daß diese Narren dort uns verachten. Aber weißt du, Laird, sie und ihre famosen Städte und ihre sogenannte Zivilisation können uns gestohlen bleiben. Der Preis, den sie dafür bezahlen, ist mir zu hoch.«

Städte? Es gelang Charity nicht ganz, ihre Überraschung zu verbergen. Und ihre Erleichterung. Immerhin bewiesen ihr Skudders Worte, daß es nicht überall auf der Erde so schlimm auszusehen schien wie in dieser Einöde.

»Von welchem Preis sprichst du?« fragte sie wie beiläufig.

Skudder schnaubte. »Die Sklaverei«, antwortete er heftig. »Oh, ich weiß, ihr wollt es nicht wahrhaben, aber es ist nichts anderes. Wir ...« Er brach ab, sah sie einen Moment lang fast betroffen an und verzog die Lippen dann zu einem dünnen, widerwillig anerkennenden Lächeln. »Du kommst nicht aus dem Süden.«

»Nein«, sagte Charity. »Das habe ich auch nicht behauptet.«

Skudder schüttelte seufzend den Kopf. »Du ...«

Eine Gestalt in schwarzem Leder trat hinter Skudder und beugte sich zu ihm herab. Charity verstand nicht, was der Shark sagte, aber es schien nichts zu sein, was Skudder erfreute, denn auf seinem Gesicht machte sich ein eindeutig besorgter Ausdruck breit. Ein paar Sekunden lang hörte er dem Mann schweigend zu, dann nickte er, stand mit einer kraftvollen Bewegung auf und sah Charity bedauernd an.

»Wir müssen unsere Unterhaltung später fortsetzen«, sagte er. »Raoul bringt dich zurück.«

Charity stand ebenfalls auf, und sie war fast überrascht, daß sie sich beinahe ausgeruht fühlte. »Keine Fragen?«

Skudder lächelte. »Du würdest sie sowieso nicht beantworten, oder? Und die Fragen, die du gestellt hast, waren sehr interessant.«

Er lächelte ein wenig breiter, als er ihre Betroffenheit bemerkte, gab Raoul einen Wink und sah zu, wie sein Stellvertreter sich erhob und mühsam auf sie zuhumpelte. Sie würden einen herrlichen Anblick bieten, dachte Charity sarkastisch, wenn sie durch das Lager humpelten und sich dabei gegenseitig stützten.

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