Charity war allein mit Skudder in dem großen, fast leeren Zimmer, das ihm als Wohn- und Schlafraum diente. Net, der Gnom und Niles waren fortgebracht worden, wohin, wußte sie nicht, und nach einer Weile war auch Raoul gegangen, nachdem er Skudder dreimal hintereinander vergeblich angesprochen und auf eine Antwort gewartet hatte. Niemand außer Charity wußte bisher von Stones Mordbefehl, aber Raoul mußte schon ziemlich dumm sein, um nicht zu spüren, daß irgend etwas passiert war, was Skudder bis ins Innerste erschüttert hatte. Sie hatten gegessen, aber kaum miteinander gesprochen, und Skudders Blick ging noch immer ins Leere. Charity las ein Entsetzen in seinen Augen, als hatte er geradewegs in die Hölle geblickt.
»Was wirst du tun?« fragte sie leise.
Skudder war bleich, als er sie ansah. Charity spürte, welche Mühe es ihn kostete, überhaupt auf ihre Frage zu reagieren.
»Das kann nicht sein Ernst sein«, murmelte er. »Er ... er kann nicht von mir verlangen, daß ich das tue.«
»O doch«, flüsterte Charity. »Er kann. Stone ist verrückt.«
Skudder schluckte mühsam. Seine Hände zitterten. »Du kennst ihn.«
»Ja«, antwortete Charity und verbesserte sich sofort: »Das heißt - nein. Ich habe ihn gekannt, aber das ist ... lange her. Der Stone, den ich gekannt habe, war ein anderer.«
»Er kommt aus der gleichen Welt wie du, nicht wahr?« fragte Skudder.
»Wir waren zusammen, als der Bunker angegriffen wurde«, erwiderte sie. »Es war seine Idee, in die Kälteschlaftanks zu gehen. Ich wollte es gar nicht. Er hat mich gezwungen.«
»Dann ist alles wahr, was der alte Mann erzählt hat?«
»Niles?« Charity nickte. »Natürlich. Die Welt war nicht immer so, wie du sie kennst.«
Sie lächelte traurig, lehnte sich auf dem unbequemen Plastikstuhl zurück und sah ihn nachdenklich an. Durch das Fenster fiel gelbes Sonnenlicht herein, und die Helligkeit ließ sein Profil scharf und überdeutlich hervortreten. Plötzlich fragte sie sich, wieso sie nicht gleich gemerkt hatte, was er war.
»Du solltest nicht für sie arbeiten, Skudder«, sagte sie. »Gerade du nicht.«
Skudder blickte sie an. »So?«
»Du bist ein Indi ... ein Hopi«, verbesserte sie sich. »Dieses Land hier hat einmal euch gehört. Es ist lange her, aber es gab eine Zeit, da hat dein Volk hier geherrscht.«
»Bis die Weißen kamen und es uns weggenommen haben, ja«, sagte Skudder heftig. »Ich kenne die Geschichten. Mein Vater hat sie mir oft genug erzählt.« Er zog eine Grimasse. »Und dann kamen die Moroni und haben es euch weggenommen. Wo ist der Unterschied?«
»Vielleicht gibt es keinen«, gestand Charity. »Aber wir waren wenigstens Menschen. Und wir sind ... Freunde geworden. Es hat lange gedauert, aber aus unseren beiden Völkern ist am Ende eines geworden.«
»So?« sagte Skudder bitter. »Ist es das? Mein Vater war da anderer Meinung.«
»Und vielleicht hatte er sogar recht«, sagte Charity. Sie war selbst ein bißchen überrascht, wie leicht ihr diese Worte von den Lippen kamen. Aber es machte ihr nichts aus, es zuzugeben.
»Vielleicht hätte es noch einmal zweihundert Jahre gedauert, bis wir uns gegenseitig akzeptiert und geachtet hätten, aber wir waren auf dem richtigen Weg.«
»Und mit Moron wird uns das nie gelingen, nicht wahr?« Skudder nickte grimmig. »Das willst du doch damit sagen, oder? Was soll ich tun? Mein Gesicht bunt anmalen und das Kriegsbeil ausgraben? Die Sharks gegen die Reiter hetzen?«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Sie würden es nicht tun, Charity. Du kennst sie nicht. Du denkst, sie wären Barbaren, aber das sind sie nicht. Auf ihre Art sind sie so stolz und frei wie du.«
»Aber du bist ihr Führer.«
»Nur, solange ich sie gut führe«, erwiderte Skudder. »Sie gehorchen mir, weil sie mir vertrauen, Charity. Nicht, weil sie Angst vor mir haben.«
»Und du gehorchst Stone«, fügte Charity hinzu. »Weil du ihm vertraust?«
Skudder schwieg betroffen. Aber sie spürte, daß er nicht nachgeben würde - und wie konnte er auch?
»Und was wirst du tun?« fragte sie schließlich. »Was tust du, wenn Stone kommt und sieht, daß du seinen Befehl mißachtet hast?«
»Wer sagt dir, daß ich es tue?« fragte Skudder unsicher.
»Ich«, erwiderte Charity überzeugt. »Du kannst mir nichts vormachen, Skudder. Ich weiß nicht, wie du hierher gekommen bist und was du bei diesen ... diesen Sharks suchst, aber ich weiß, daß du kein Mörder bist. Du kannst keine vierhundert Menschen umbringen.«
Skudder schwieg. Seine Fingernägel kratzten nervös über die Tischplatte. Er schien es nicht einmal zu merken. Sie hatte recht gehabt, dachte Charity - etwas geschah mit Skudder. Daniel hatte ihn vor eine Entscheidung gestellt, die er nicht fällen konnte.
»Warum bist du hier?« flüsterte er plötzlich. Charity wollte antworten, aber dann begriff sie, daß es gar keine Frage war. »Verdammt, warum konntest du nicht bleiben, wo du warst? Alles war gut, bevor du aufgetaucht bist!«
»Das war es nicht«, widersprach Charity. »Du hast es nur nicht gemerkt.«
Für zehn, zwanzig endlose Sekunden starrte Skudder sie nur an, und sie spürte, daß ihre Worte irgend etwas in ihm auslösten; wie die letzte, winzige Schneeflocke, die die Lawine ins Rollen brachte.
Plötzlich stand er auf, wandte sich um und klatschte laut in die Hände. Die Tür hinter Charitys Rücken öffnete sich, und Raoul kam herein.
»Bring Niles hierher«, sagte Skudder, »und diesen Mark. Außerdem den Zwerg und die Wastelanderin. Schnell!«
»Was hast du vor?« fragte Charity, nachdem Raoul wieder gegangen war.
Skudder blickte sie beinahe haßerfüllt an. »Etwas, das dich sehr freuen wird«, sagte er zornig. »Ich begehe Selbstmord.«
Es dauerte eine halbe Stunde, bis Niles, Mark, Gurk und Net gebracht wurden. Skudder schickte die Männer, die sie begleitet hatten, wieder hinaus, winkte aber ab, als sich Raoul ihnen anschließen wollte, und deutete ihm mit einer Geste, sich ebenfalls zu setzen. Auch Skudder nahm Platz, und für eine Weile breitete sich eine unbehagliche Stille im Raum aus. Schließlich wandte er sich an Gurk.
»Ich müßte dich eigentlich töten, du Zwerg«, sagte er. »Du hast einen meiner Männer umgebracht.«
Gurk zog eine Grimasse. »Niemand tötet Abn El Gurk«, behauptete er. »Ihr braucht mich.«
»Die Welt würde nicht untergehen ohne dich«, antwortete Skudder. Er hob unwillig die Hand, als Gurk widersprechen wollte. »Aber du hast recht - vielleicht brauche ich dich wirklich noch. Wenigstens im Moment. Kannst du vierhundert Leute über die Ebene führen ...«
»Kein Problem«, sagte Gurk, und Skudder fuhr ungerührt fort:
»... ohne daß die Reiter es merken?«
Gurk riß die Augen auf und starrte ihn an und auch Mark und Niles tauschten überraschte Blicke. Nur in Nets Augen glomm so etwas wie Verachtung auf.
»Warum?« fragte Mark mißtrauisch.
»Weil Sie verschwinden müssen«, antwortete Skudder, ohne ihn anzusehen. »Sie und Ihre Leute.«
»Vielleicht meint er das wortwörtlich«, sagte Net. »Glaubt ihm nicht. Das ist ein Trick. Wahrscheinlich bringen sie euch in die Wüste, um euch dort in aller Ruhe zu erledigen.«
»Was soll das heißen - verschwinden?« fragte Niles. »Sie lassen uns ... gehen?«
Skudder lachte abfällig. »Was haben Sie gedacht, alter Mann?« fragte er. »Ihr seid mehr als wir. Glauben Sie, wir hätten Lust und Zeit, uns um vierhundert Gefangene zu kümmern? Ihr müßt weg, und zwar so schnell wie möglich. Und so weit wie möglich.«
»Ich glaube ihm kein Wort«, sagte Mark. »Das ist lächerlich - zuerst überfallen uns seine ... seine Kreaturen, und dann lassen sie uns wieder laufen, als wäre nichts geschehen? Wieso?«
Skudder schwieg, aber dafür antwortete Charity.
»Weil Daniel den Befehl gegeben hat, euch zu töten«, sagte sie. »Alle.«
Mark wurde blaß, und auch Niles und Net starrten sie ungläubig an. Nur auf Gurks Gesicht war nicht die Spur einer Überraschung zu erkennen. Auch Raoul zeigte keine Spur von Erstaunen. Instinktiv rückte Charity auf ihrem Stuhl ein Stück von dem Shark weg. Das Unwohlsein, das sie stets in seiner Nähe verspürte, war stärker denn je.
»Ist ... das wahr?« fragte Niles zögernd.
Skudder nickte. »Ja. Aber ich werde es nicht tun.«
»Das wird Daniel nicht besonders erfreuen«, sagte Raoul.
Skudder funkelte ihn wütend an. »Daniel«, antwortete er ärgerlich, »wird nichts davon erfahren. Du nimmst dir zwei oder drei Laster und fährst zurück zum Bunker. Ihr holt alle Toten, die ihr findet. Auch unsere eigenen Jungs. Steckt sie in Uniformen.«
Raoul zog eine Grimasse.
»Das ist doch Wahnsinn! Daniel wird -«
»Die Jungs werden ein Feuer machen, draußen vor der Stadt«, fuhr Skudder nervös fort. »Wir verbrennen ein paar Autoreifen und ein bißchen Müll. Und die Toten legen wir dazu.«
»Damit Daniel glaubt, wir hätten sie alle erschossen?« Raoul lachte gezwungen. »Damit kommst du nie durch!«
»Vielleicht schon«, widersprach Skudder. »Daniel hat keinen Grund, uns zu mißtrauen. Und Sie werden die Geschichte bestätigen.« Er sah Niles an.
Niles nickte, schüttelte aber gleich darauf den Kopf und lächelte traurig. »Ihr Freund hat recht, Skudder«, sagte er. »Daniel wird das niemals glauben.«
»Haben Sie eine bessere Idee?« fuhr Skudder auf. »Verdammt, was soll ich tun? Euch alle umbringen? Oder es nicht tun und zusehen, wie Daniel uns alle umbringt?«
»Es könnte funktionieren«, mischte sich Gurk ein. »Wenn Net mir hilft, finden wir vielleicht ein Versteck. Aber wir können nur nachts marschieren.« Er sah die Wastelanderin an. »Nun?«
Net nickte widerwillig. »Ich habe ja wohl keine andere Wahl, oder? Aber es ist Wahnsinn.«
»Ich glaube ihm nicht«, beharrte Mark. »Das ist eine Falle.«
»Halten Sie endlich den Mund, Sie Idiot«, fauchte Charity. »Sie können ja hierbleiben.«
»Schluß jetzt!« sagte Skudder scharf. »Wir machen es so. Sie gehen zurück zu ihren Leuten und bereiten alles für den Abmarsch vor. El Gurk und Net bringen euch weg, sobald es dunkel wird. Wir geben euch so viel Wasser und Essen mit, wie wir können - aber es wird hart werden.«
Mark starrte ihn an. »Und jetzt erwarten Sie auch noch, daß ich Ihnen dankbar bin, wie?« fragte er.
»Nein«, antwortete Skudder wütend. »Ich erwarte, daß Sie die Schnauze halten und tun, was ich von Ihnen verlange.«
Ärgerlich drehte er den Kopf und funkelte Raoul an. »Und du? Worauf wartest du noch?«
Raoul stand gehorsam auf. Aber er ging noch nicht. »Damit kommst du nicht durch«, sagte er ernst. »Daniel wird uns alle umbringen.«
Skudder lachte abfällig. »Kaum. Er braucht uns nämlich noch, und das weiß er genau. Was ist los mit dir, Raoul - hast du Angst?«
Raoul antwortete nicht mehr. Mit einer abgehackten Bewegung drehte er sich herum und warf die Tür hinter sich ins Schloß.
Der Tag verging schleppend. Mark wurde zurück zu seinen Leuten gebracht, die in einer Tiefgarage irgendwo im Westen der Stadt eingeschlossen worden waren, um alles für den Abmarsch vorzubereiten, während Skudder, Net, Niles und Gurk noch über tausend Einzelheiten sprachen, von denen Charity kaum ein Wort verstand. Ein besonderes Gefühl von Unwirklichkeit machte sich in Charity breit, während sie den dreien zuhörte - es fiel ihr immer noch schwer, zu glauben, daß Skudders Angebot ernst gemeint war, und plötzlich verstand sie Marks Mißtrauen. Gleichzeitig kam sie sich fast schäbig vor, ihm nicht zu glauben - ihr war, als müsse er ihre Gedanken deutlich auf ihrem Gesicht lesen, und jedesmal, wenn er in ihre Richtung blickte, sah sie rasch weg. Sie begriff sehr wohl, daß Skudder nicht halb so aufrecht und edel war, wie sie es ihm im ersten Moment unterstellt hatte: Daniel hatte ihn einfach vor eine Entscheidung gestellt, die er nicht treffen konnte. Seine Ruhe war nur gespielt. In seinem Inneren tobte ein entsetzlicher Kampf.
Charity war sich beinahe sicher, daß sein schöner Plan scheitern würde. Stone - Daniel - mußte schon ein kompletter Narr sein, um auf Skudders Lüge hereinzufallen. Aber sie hatten einfach keine andere Wahl. Trotzdem - es konnte nicht funktionieren.
Und es funktionierte auch nicht.
Zwei Stunden, nachdem Raoul die Stadt verlassen hatte, kam er zurück. Und er war nicht allein.