Es war ein 10 000-Volt-Elektroschock, der ihre Seele traf und irgend etwas darin auslöschte. Sie hatte geglaubt, auf alles vorbereitet gewesen zu sein, und tatsächlich hatte sie sich bemüht, sich alle nur denkbaren Szenarien auszumalen, während sie den Hang hinaufgeklettert war.
Der Weg war schwierig gewesen, aber nichtsdestotrotz der einzige, der ihr sinnvoll erschien. Der Canyon, an dessen Ende das riesige Hangartor lag, war mehrere Meilen lang, und er führte praktisch nirgendwohin, außer zu einer kleinen, kahlen Ebene. Aber sie mußte in die entgegengesetzte Richtung, nach Süden, über den Rücken des Berges hinweg, unter dem sich die Bunkerstation befand.
Und jetzt wünschte sie sich fast, es nicht getan zu haben.
Fassungslos starrte Charity auf das Land, das sich im letzten Tageslicht unter ihr ausbreitete. Früher, vor ein paar Ewigkeiten, war diese Gegend eine der fruchtbarsten der Vereinigten Staaten gewesen, aber jetzt ...
Sie hatte alle denkbaren Möglichkeiten durchgespielt, hatte auch an eine radioaktiv verstrahlte Kraterlandschaft gedacht, aber diese trostlose, braune Ebene, die sich ohne Unterbrechung bis zum Horizont erstreckte, hatte sie sich nicht vorstellen können. Auf dieser verbrannten Erde wuchs nichts mehr; hier und da entdeckte sie häßliche, schwarze Flecken, wo die Erde zu Glas geworden und anschließend geborsten war. Obwohl es bereits dunkelte und die Temperaturen rasch fielen - es mußte Herbst sein, dachte sie automatisch, vielleicht sogar schon Winter -, spürte sie die Hitze, die tagsüber dieses Land zu einem Glutofen machte. Großer Gott, was war hier passiert?!
Und plötzlich erinnerte sie sich. An das weißblaue Sonnenfeuer, das immer und immer wieder im Norden aufgeflammt war, an das Grollen und Zittern der Erde, den Brandgeruch, der in der Luft gehangen hatte, und an die brodelnden Pilze aus Flammen und Glut, die die Nacht verschlungen hatten. Mit einiger Verspätung und einem gehörigen Schrecken kam sie auf die Idee, auf ihren Geigerzähler zu sehen. Die Nadel schlug ganz leicht aus; die Radioaktivität war erhöht, aber sie lag nicht im gefährlichen Bereich.
Entweder waren die Bomben sehr viel weiter im Norden gefallen, als sie angenommen hatte - oder es war alles sehr lange her.
Sie steckte den Geigerzähler wieder ein, drehte sich einmal im Kreis und beschloß, den Weg weiterzugehen, den sie einmal eingeschlagen hatte. Die Berge sahen aus, wie sie seit zwei- oder dreihundert Millionen Jahren aussahen, aber aufs Geratewohl einfach ins Gebirge hineinzumarschieren, erschien ihr wenig sinnvoll.
Charity hatte noch nicht einmal zwei Schritte gemacht, als sie das Feuer sah.
Es brannte auf halber Höhe des Berges, nicht sehr weit vom ehemaligen Bunkereingang entfernt. Sie erkannte plötzlich das grelle Licht von Scheinwerfern; drei, vier, dann fünf, die eine Weile wie betrunkene Leuchtkäfer um das Feuer herumtanzten und dann den Berg hinunterzutorkeln begannen. Es gab also noch Leben hier.
Jemand oder etwas, der jemanden oder etwas suchte, dacht Charity spöttisch. Eine wahrhaft umfassende Lagebeschreibung; aber die einzige, die sie hatte. Seufzend setzte sie sich in Bewegung.
Der Weg den Berg hinauf war schwierig. Sie spürte das Gewicht ihrer Ausrüstung und geriet bald außer Atem. Sie war noch lange nicht wieder in Form. Es wurde dunkel, lange bevor sie das Feuer erreichte, und es war seine sehr sonderbare Nacht: anders als alle, die Charity zuvor erlebt hatte. Der Himmel war unheimlich klar, und die Sterne strahlten ihr fahles Licht auf die Erde herab. Es war sehr still, als wäre alles Leben aus diesem Teil der Berge geflohen.
Sie begann sich vorsichtiger zu bewegen, als sie dem Feuer näher kam. Der Wind trug Stimmen zu ihr heran; also mußten auf dieser öden Welt noch Menschen leben. Trotzdem blieb sie schließlich stehen, sah sich einen Moment suchend um und wich dann vom Weg ab, um sich dem Lager von der Seite her zu nähern. Vorsichtig schlich sie an die Feuerstelle heran.
Vor ihr war ein wildes Handgemenge im Gange. Charity konnte im flackernden Licht der Flammen nicht allzuviel erkennen, aber es schienen drei zu sein - zwei Gestalten in eng anliegenden, schwarzen Ledermonturen, die eine junge Frau gepackt hielten und wütend auf sie einredeten. Eine dritte Ledergestalt lag reglos ein paar Meter daneben.
Charity entsicherte ihre Waffe und sah sich noch einmal um. Was sie erkannte, war derartig bizarr, daß sie sich im ersten Moment ernsthaft fragte, ob sie vielleicht noch träumte. Die beiden Ledergestalten sahen aus wie die Urenkel von Mad Max. Ihre Kleidung war zerfetzt und mit kleinen Fell- und Metallstücken ausgebessert worden, ihre Gesichter verbargen sie unter Lederhelmen, unter denen sie obendrein noch schwarze Masken trugen. Wie um das Bild zu vervollständigen, standen auf der anderen Seite des Feuers drei schwere Motorräder.
Für einen Moment atmete sie erleichtert auf. Wenn es noch Motorräder gab, konnte sie nicht sehr weit in die Zukunft geworfen sein - wenigstens keine achthundertachtundachtzig Jahre, wie der Computer ihres Tanks ihr einzureden versucht hatte. Allerdings sahen die beiden Gestalten nicht gerade vertrauenerweckend aus.
Einer der beiden hielt das Mädchen fest, während der andere ihr eine schallende Ohrfeige versetzte.
Charity hob die Waffe ein wenig, zögerte aber noch. Das Mädchen war sehr jung, allerhöchstens zwanzig, mit kurzgeschnittenem, dunklem Haar und einem schmalen, aber energischen Gesicht, und Charity ergriff ganz instinktiv ihre Partei.
Aber am Boden lag der reglose - und wahrscheinlich tote! - Motorradfahrer, und es war besser, noch einen Moment zu beobachten, ehe sie sich einmischte.
Einer der beiden Männer hob eine Waffe auf und zielte damit auf das Mädchen, während sich der andere hastig zurückzog. Charity visierte das rechte Bein des Motorrad-Typs durch die Nachtoptik ihrer MP an und krümmte den Zeigefinger um den Abzug.
Aber sie mußte nicht schießen. Das Mädchen war nicht halb so hilflos, wie es bisher ausgesehen hatte. Statt zu fliehen, trat sie fast gemächlich auf den Mann zu - und versetzte ihm einen Tritt zwischen die Oberschenkel. Der Motorradfahrer brach zusammen, aber dann war der zweite heran, versetzte der jungen Frau einen Hieb gegen den Hals und trat ihr in die Seite, als sie stürzte.
Charity trat mit einem entschlossenen Schritt aus ihrer Deckung heraus und ließ den Sicherungshebel ihrer MP bewußt hörbar zurückschnappen. »Aufhören!« sagte sie laut.
Tatsächlich stockte der Motorradfahrer mitten in der Bewegung, aber nur für einen Moment - dann holte er zu einem neuen, noch wütenderen Tritt nach dem gestürzten Mädchen aus. Charity seufzte, zielte kurz und jagte einen einzelnen Schuß genau zwischen seine Füße.
»Aufhören, habe ich gesagt«, sagte sie noch einmal und hörbar schärfer als beim ersten Mal. »Oder bist du schwerhörig, Freund?«
Langsam und mit erhobener Waffe trat sie vollends in den Feuerschein, machte eine drohende Bewegung, die den Mann veranlaßte, einen Schritt zurückzuweichen, und beugte sich zu dem Mädchen herab, ohne den Mad-Max-Verschnitt dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Das Mädchen hatte sich auf die Ellbogen hochgestemmt und starrte sie an. Aus ihrer aufgeplatzten Unterlippe lief Blut über ihr Kinn. Sie zitterte am ganzen Leib.
»Keine Angst, Kleines«, sagte Charity. »Der tut dir nichts mehr. Alles in Ordnung?« Sie hatte keine Ahnung, ob das Mädchen ihre Worte überhaupt verstand; aber sie hoffte wenigstens, daß sie den beruhigenden Tonfall begriff und das Lächeln, mit dem sie ihre Worte begleitete.
Sie tat es nicht.
Irgend etwas schien gründlich schiefzulaufen, aber das begriff Charity eine halbe Sekunde zu spät. Das Mädchen sprang plötzlich auf, stieß einen kleinen, erschrockenen Schrei aus - und schlug ihr die geballten Fäuste seitlich gegen den Hals.
Charity fiel. Für zwei, drei Sekunden bekam sie keine Luft mehr.
Sie stürzte, rollte instinktiv herum und kippte ein zweites Mal nach hinten, als das Mädchen ihr brutal den nackten Fuß ins Gesicht stieß.
Dann, während das Mädchen sich aufrappelte und davonlief, griff der Motorradfahrer an. Charity sah einen riesigen, eisenbeschlagenen Stiefel auf sich zurasen, riß instinktiv die Arme hoch und nahm dem Tritt so wenigstens die ärgste Wucht. Die Ledermaske aber setzte sofort nach. Der Kerl warf sich auf sie. Ein Messer blitzte auf.
Charity griff verzweifelt nach dem Arm des Angreifers, packte ihn und brachte die Messerspitze einen Zentimeter vor ihrem Gesicht zum Halten. Aber sie spürte auch sofort, daß sie der Kraft des Mannes nicht gewachsen war. Das Messer bewegte sich ein Stück zurück, ruckte dann wieder vor und ritzte ihre Wange.
Charity setzte alles auf eine Karte. Statt sich weiter gegen den Messerhieb zu wehren, ließ sie den Arm plötzlich los, drehte blitzschnell den Kopf zur Seite und zog gleichzeitig mit aller Kraft die Knie an den Körper. Die Messerklinge glitt wie ein weißglühender Draht über ihr Gesicht und rammte mit einem klirrenden Laut in den Boden, einen halben Fingerbreit neben ihrem Hals, aber der Angreifer verlor durch den plötzlichen Ruck das Gleichgewicht. Mit einem überraschten Laut glitt er halb von ihr herunter, versuchte mit beiden Händen sein Messer aus dem Boden zu reißen und keuchte vor Schmerz, als Charity sich endgültig losriß und ihm in der gleichen Bewegung den Ellbogen seitlich gegen den Hals schlug.
Sie kam frei. Ihr Hieb hatte den anderen nicht ausgeschaltet, doch er war für einen Moment benommen, lange genug jedenfalls, daß Charity vollends auf die Füße springen und zwei, drei Schritte zurückweichen konnte. Das Mädchen war längst in der Dunkelheit verschwunden, Charity sah aus den Augenwinkeln, wie der zweite Motorradfahrer torkelnd auf die Beine kam. Einen Kampf gegen zwei dieser Männer gleichzeitig würde sie kaum durchstehen. Nicht in dem Zustand, in dem sie war.
Sie fuhr herum, nahm einen Schritt Anlauf und sprang. Der Mann in Leder riß instinktiv die Arme hoch, in einer Bewegung, die Charity ziemlich drastisch klarmachte, daß ihm ihre Art zu kämpfen keineswegs fremd war, aber er war noch ein wenig benommen, und seine Abwehr kam der Bruchteil einer Sekunde zu spät.
Charitys Füße krachten gegen seine Brust und ließen ihn zurücktaumeln. Mit wild rudernden Armen prallte er gegen eines der Motorräder, riß es um und fiel rücklings über die Maschine. Ein keuchender Schmerzlaut drang unter seinem Lederhelm hervor.
Charity war blitzschnell wieder auf den Beinen und bei ihm. Ihre Handkante traf seinen Hals mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte.
Der Mann stöhnte, verdrehte die Augen und verlor endgültig das Bewußtsein. Charity richtete sich blitzschnell wieder auf, fuhr herum - und erstarrte.
Der zweite Motorradmann hatte ihre eigene Waffe aufgehoben und zielte damit auf sie. Die Mündung der Miniatur-MP deutete genau auf ihre Brust. Charity sah, wie sich sein Finger ein wenig krümmte.
Aber der Schuß, auf den sie wartete, fiel nicht. Statt dessen glühte über dem Lauf der MP ein kleines, rubinrotes Auge auf, und auf Charitys Brust erschien ein münzgroßer, roter Lichtfleck. Der Mann blinzelte erstaunt, blickte fassungslos auf die Waffe herunter und drückte noch einmal auf den Auslöser des Laserzielgerätes statt auf den Abzug.
Charity wartete nicht, bis er die Mechanik der ihm fremden Waffe ergründet hatte. Mit einem einzigen Satz war sie bei ihm, schlug ihm die MP aus der Hand und fegte ihn mit einem Tritt in die Kniekehlen von den Beinen. Als er stürzte, bückte sie sich nach der MP, wartete fast gemächlich, bis er sich wieder aufrichten wollte - und schlug ihm den Kolben in den Nacken. Nicht heftig genug, um ihn umzubringen, aber genug, ihm ein paar Stunden Schlaf und mächtige Kopfschmerzen zu bescheren. Blitzschnell richtete sie sich auf, drehte sich einmal um ihre Achse und schwenkte die Waffe hin und her.
Aber es war niemand mehr da, auf den sie schießen konnte.
Es dauerte eine Weile, bis Charity begriff, daß es vorbei war.
Und daß es beinahe endgültig vorbei gewesen wäre. Diesmal hatte sie nur Glück gehabt. Hätte der Ledermann nicht zufällig den falschen Knopf gedrückt ...
Sie ließ sich erschöpft gegen den Sattel einer der beiden Harleys sinken. Alles drehte sich um sie herum. Ihr Herz hämmerte, und in ihrem Mund war plötzlich ein Geschmack, als müsse sie sich übergeben. Der kurze Kampf hatte sie völlig ausgelaugt.
»Mein Gott«, flüsterte sie müde. »Ein Königreich für ein Zauberschwert und ein fliegendes Pferd.«
»Also«, sagte eine Stimme hinter ihr, »über das Zauberschwert können wir sprechen, aber wo ich ein fliegendes Pferd hernehmen soll, das weiß ich auch nicht so genau.«
Irgendwo in der Dunkelheit hinter ihr raschelte es. Charity fuhr hoch, riß die Waffe herum und schaltete den Lasersucher ein. Der fingernagelgroße rote Punkt huschte über Felsen und dürres Geäst und blieb auf einem faltigen Gesicht hängen, das große Ähnlichkeit mit einem alten Scheuerlappen hatte. »Nicht schießen!« quäkte ein dünnes, sehr erschrockenes Stimmchen. »Ich gehöre nicht zu den Sharks!«
Charity löste mit der Linken die Taschenlampe vom Gürtel, schaltete sie ein und richtete den Strahl auf die Gestalt, die hinter ihr aus den Büschen getreten war. Ihr Schrecken schlug in Staunen und Verwirrung um. Der Mann war ... eine Witzfigur, die irgend jemand zum Leben erweckt hatte.
Sein Gesicht war faltig und hatte einen unnatürlichen, fahlen Teint. Unter einer gewaltigen, weit vorgewölbten Stirn, die in eine makellos glänzende Glatze überging, blinzelten sie zwei winzige Äuglein hervor an, in denen nicht der kleinste Schimmer von Weiß war. Seine Nase sah so aus, als hätte jemand kräftig darauf herumgetrampelt, und der Mund des Mannes war dünn und spitz, die Lippen so hell, daß sie fast durchscheinend wirkten. Dahinter grinsten Charity die schlechtesten Zähne an, die sie jemals gesehen hatte. Alles in allem war dieser Schädel riesig, während der Körper des Fremden klein und spindeldürr war. Der Mann trug einen bis auf den Boden reichenden Umhang aus braunen und grauen Fetzen, aus dem nur seine Hände hervorragten. Sehr magere, fast graue Hände.
Das Scheuerlappengesicht verzog sich zu einer Grimasse.
»Verdammt, tu das Licht weg«, quäkte der Fremde, während er auf einen der bewußtlosen Motorradfahrer deutete. »Willst du, daß ihre Kumpel dich sehen und herkommen?«
Charity schaltete hastig die Lampe aus und überwand endlich ihren Schrecken. »Wer sind Sie?« fragte sie.
Der Zwerg antwortete nicht, sondern kam mit kleinen, trippelnden Schritten näher, wodurch er in den Lichtschein des Feuers geriet und Charity ihn genauer betrachten konnte. Neugierig beugte er sich über einen der bewußtlosen Motorradfahrer, stieß ihn unsanft mit dem Fuß an und nickte, als keine Reaktion erfolgte.
»Saubere Arbeit«, sagte er anerkennend. »Aber du solltest sie töten, solange du es noch kannst. Sie werden nicht erfreut sein, wenn sie aufwachen.«
Charity ignorierte seine Worte.
»Wer sind Sie?« fragte sie noch einmal.
»Wer ich bin?« Das graue Gesicht verzog sich zu etwas, das sein Besitzer wohl für ein Lächeln halten mochte. »Wo kommst du her, Süße, daß du noch nie von mir gehört hast? Aber egal - ich habe jedenfalls lange niemanden mehr getroffen, der so sauber mit den Sharks aufgeräumt hat wie du.«
»Das ist keine Antwort«, sagte Charity ärgerlich. Sie hob drohend die Waffe, aber der Zwerg schien ganz genau zu wissen, daß sie nicht vorhatte, sie zu benutzen. Er grinste noch breiter, kam mit trippelnden Schrittchen näher und verbeugte sich übertrieben tief vor ihr.
»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, schöne Unbekannte?« flötete er. »Mein Name ist Abn El Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel der Vierte, Besorgungen aller Art, Informationen, Schwarzmarktware und Waffen, Drogen und Mietkiller gegen Aufpreis. Stets zu Diensten.«
Charity starrte Abn El Sowieso verblüfft an und fragte sich, ob sie das alles vielleicht nicht nur träumte.
»Meine Freunde nennen mich einfach nur Gurk«, fuhr der Kauz fort. »Und du gehörst natürlich dazu. Wer die Sharks so aufmischt wie du, den habe ich lieber zum Freund als zum Feind.«
»Aha«, sagte Charity.
Abn El Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel der Vierte, Besorgungen aller Art, Informationen, Schwarzmarktware und Waffen, Drogen und Mietkiller gegen Aufpreis, lächelte wissend, wurde aber dann sehr schnell wieder ernst. »Du solltest hier verschwinden, Liebling«, sagte er. »Die Schüsse sind bestimmt meilenweit gehört worden. In ein paar Minuten dürfte es hier von Sharks wimmeln.«
Charity blickte erschrocken zu den drei reglosen Gestalten herüber. »Es gibt noch mehr solche Typen?« Die Lichter, die sie gesehen hatte, fielen ihr ein, noch ehe Gurk antwortete.
»Klar«, sagte der Gnom. »Wenn ich du wäre, würde ich mich verpissen, ehe sie hier sind. Es sei denn, du hast eine überzeugende Erklärung für das, was hier passiert ist.« Er seufzte. »Ist allerdings nicht einfach, einem arschgesichtigen Shark überhaupt irgend etwas zu erklären.«
Charity unterdrückte ein Grinsen. Gurks Ausdrucksweise war nicht unbedingt druckreif, aber sehr treffend. Und wahrscheinlich hatte er recht. Es würde schwierig werden, mit diesen Mad-Max-Imitatoren fertig zu werden.
»Verschwinde«, sagte Gurk noch einmal. »Hätte mich gerne noch ein bißchen mit dir unterhalten, aber ich bin auch nicht scharf darauf, die Sharks zu treffen. Wenn du mal was brauchst, dann wende dich an mich.«
»Und wie?« fragte Charity amüsiert. »Ich nehme nicht an, daß du im Telefonbuch stehst.«
»Frag einfach nach mir«, rief Gurk. »Hier kennt mich jeder.« Er wandte sich zum Gehen, dann zögerte er noch einmal. »Und noch einen Rat«, sagte er, »ausnahmsweise sogar kostenlos: Halte dich aus dem Norden fern. Dort wimmelt es von Sharks.«
Charity sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Sie war irgendwie verwirrt, aber auch amüsiert. Dabei glaubte sie keinen Augenblick, daß dieser El Gurk auch nur halb so harmlos war, wie er aussah. Aber sie glaubte auch zu spüren, daß er es ehrlich meinte.
Und so ganz nebenbei, dachte sie, hatte er verdammt recht mit seiner Warnung. Sie hatte die Scheinwerfer ja selbst gesehen, es gab noch mehr dieser Motorradtypen (Wie hatte Gurk sie genannt? Sharks?) Sie sollte sehen, daß sie wegkam.
Sie drehte sich um, machte ein paar Schritte vom Feuer weg und blieb dann noch einmal stehen. Nachdenklich betrachtete sie die drei rostzerfressenen Harleys, ging dann wieder zurück und schraubte die Ventile aus den Reifen von zweien. Außerdem schüttete sie eine Handvoll Sand in ihre Tanks. Die dritte Maschine ließ sie unbeschädigt.
Sie fühlte sich nicht besonders sicher, als sie in den Sattel des riesigen Motorrad-Ungetümes stieg. Der Schlüssel steckte. Die Maschine sprang sofort an, als sie den Starter betätigte. Das dumpfe Grollen mußte meilenweit zu hören sein. Und sie war nicht einmal sicher, daß sie mit dem Ding zurechtkam. Aber irgendwie hatte sie das ungute Gefühl, zu Fuß nicht allzuweit zu kommen.
Entschlossen legte sie einen Gang ein und gab Gas.
Als es ihr endlich gelungen war, die schwere Maschine wieder aufzurichten und zum zweiten Mal in den Sattel zu klettern, fuhr sie sehr viel vorsichtiger an.
Skudder holte blitzschnell aus. Der Schlag war so hart, daß Reg taumelte und das Gleichgewicht verlor. Hätten ihn zwei der anderen nicht aufgefangen, wäre er gestürzt.
»Idiot«, sagte Skudder kalt. Sein Gesicht blieb bei diesen Worten völlig unbewegt, und auch seine Stimme klang eigentlich nicht drohend; nicht einmal besonders erregt. Aber der Schein trog. Alle, die ihn kannten, hätte diese vermeintliche Ruhe eher gewarnt.
Reg rappelte sich mühsam hoch, schüttelte wütend das halbe Dutzend Arme ab, das ihn stützte, und wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Kinn. Skudders Schlag hatte seine Unterlippe aufplatzen lassen. Aber in seinen Augen war nur Angst, als er Skudder ansah.
»Es war nicht unsere Schuld, Skudder«, sagte er.
»Nicht eure Schuld, so?« wiederholte Skudder kalt. Er bedachte Reg und den neben ihm stehenden Garth mit einem Blick, der die beiden zusammenzucken ließ, und schüttelte spöttisch den Kopf.
»Natürlich war es nicht eure Schuld«, fuhr er fort, aber nun in eindeutig sarkastischem Ton.
»Ich hätte wissen müssen, daß ihr überfordert seid, nicht wahr.«
Zornig ballte er die Faust.
In seinen Augen blitzte es. »Verdammt, ich schicke acht meiner besten Männer los, um eine Frau zu fangen, und was passiert? Einer von ihnen läßt sich umbringen, und weil das allein ja noch nicht reicht, verliert ihr auch noch drei Maschinen? Bin ich eigentlich nur von Idioten umgeben, oder habt ihr nur vergessen, eure Gehirne mitzunehmen?!«
Garth senkte betreten den Blick, aber in Regs Augen regte sich so etwas wie Trotz. »Du hast gesagt, wir sollen eine Frau einfangen«, antwortete er. »Aber das war keine Frau, das ... das war eine Wildkatze!« stieß er erregt hervor. »Die Kleine war bis an die Zähne bewaffnet, und sie hat gekämpft wie ein Mann!«
Skudder bedachte Regs Gesicht mit einem sehr langen, abfälligen Blick. »Das sieht man«, sagte er spöttisch. »Gegen euch alle drei zugleich, nehme ich an.«
»Ja«, sagte Reg, lächelte unsicher und verbesserte sich fast sofort. »Das heißt, eigentlich nicht. Sie hat erst Garth fertiggemacht und dann mich. Ich hatte keine Chance.«
»Und da waren noch die Wastelander«, fügte Garth hinzu.
Skudder entging der rasche, fast beschwörende Blick nicht, den er mit Reg tauschte. »Davon wußten wir auch nichts.«
»Du kannst uns nicht für einen Hinterhalt verantwortlich machen, von dem wir nichts wußten«, fuhr Reg fort.
»Wastelander?« Skudder ignorierte Regs letzten Satz. »Wie viele?«
Reg wirkte plötzlich sehr unsicher, und Skudder wußte, daß er log, als er antwortete: »Ich ... ich weiß nicht genau. Fünf oder sechs, vielleicht. Vielleicht auch ein paar mehr oder weniger.«
»Vielleicht auch nur einer?« sagte Skudder freundlich. Reg schwieg.
»Wie hat er ausgesehen?« fuhr Skudder fort. »Wo ist er hergekommen?«
»Es war ein Mädchen«, antwortete Garth, ohne ihn anzusehen. »Fast noch ein Kind. Ist wie aus dem Nichts aufgetaucht und hat Den erschossen.«
Zumindest das, dachte Skudder ärgerlich, schien der Wahrheit zu entsprechen. Die Männer hatten Dens Leichnam mitgebracht, und er hatte ihn sich sehr gründlich angesehen. Er war eindeutig mit einer Madenwaffe erschossen worden, die nur die Wastelander benutzten.
Eine widerwärtige Art zu sterben.
»Und dann?« fuhr er fort.
Garth sah weg und begann unruhig mit der Stiefelspitze auf dem Boden zu scharren, während Regs Blick unruhig herumirrte, als suchte er verzweifelt nach einem Fluchtweg. »Wir haben uns die Kleine natürlich geschnappt«, antwortete er zögernd. »Aber Garth hatte sie kaum gepackt, als die andere auftauchte und ihn von hinten niederschlug.«
»Und du hast seelenruhig dabei zugesehen«, vermutete Skudder.
Regs Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. »Nein«, fauchte er. »Ich bin auf sie los, aber ...«
»Er hatte keine Chance, Skudder«, sagte Garth, als Reg nicht weitersprach. »Das war nicht die ahnungslose Frau, die wir schnappen sollten. Die Kleine war eine ausgebildete Nahkämpferin.«
Skudder starrte Garth einen Herzschlag an, aber er schluckte die wütende Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. An der Geschichte der beiden war irgend etwas faul, das spürte er.
Wahrscheinlich hatten sie mehr getan, als sich die Wastelanderin nur zu schnappen, wie Reg es ausgedrückt hatte, und wahrscheinlich hatte Charity Laird sie nicht nur durch einen reinen Zufall so vollkommen überrumpeln können. Aber immerhin - Den war tot, Regs rechte Schulter gebrochen und Garth' Gesicht sah aus, als hätte jemand darauf Stepptanzen geübt. Ganz egal, ob sie nun abgelenkt waren oder nicht - das war nicht das Werk einer total verstörten, hilf- und ahnungslosen jungen Frau, die sie hatten einfangen sollen.
Wütend ballte er die Faust.
»Okay«, sagte er. »Verschwindet, ihr Nieten. Laßt euch verarzten, und dann seht zu, daß ihr irgendwo neue Maschinen auftreibt. Bis ihr welche gefunden und fertiggemacht habt, dürft ihr in der Küche mithelfen. Aber begrabt zuerst Den«, fügte er hinzu.
Die beiden sagten kein Wort mehr, sondern drehten sich hastig herum und verschwanden. Skudder gab auch den übrigen Männern ein Zeichen, ihn allein zu lassen. Er legte sorgfältig den Riegel hinter ihnen vor und verließ das Zimmer durch eine andere Tür. Über eine kurze Betontreppe, deren drei untersten Stufen geborsten waren, gelangte er in einen kleinen Keller. Der Raum war vollgestopft mit Gerumpel, Kisten und Truhen. An den Wänden hingen Waffen - angefangen von einer modernen Maschinenpistole, deren letzte Munition er vor mehr als einem Jahr verschossen hatte, bis hin zu Pfeil und Bogen und einem reichverzierten, handgearbeiteten Tomahawk, der weitaus effektiver war als eine leergeschossene MP.
Zumindest in der Hand eines Mannes, der damit umgehen konnte.
Und Skudder konnte.
Wie immer, wenn er hier herunterkam, fiel sein Blick fast automatisch auf die altertümlichen Waffen an der Wand, blieb einen Moment auf einem gewaltigen, bunten Federschmuck hängen, der seine Sammlung krönte, und wanderte dann zu dem kleinen Tischchen vor der gegenüberliegenden Wand. Der Tisch bestand aus verchromtem Metall. Es gab auch nicht sehr viele, die von seiner Existenz wußten und von dem modernen Fernsehempfänger, der darauf stand.
Skudder streckte die Hand aus, berührte den einzigen, roten Knopf, der die Seitenwand des Monitors unterbrach, und wartete geduldig, bis die Mattscheibe zu flimmern begann. Ein leises Rauschen drang aus dem Gerät, dann ein an- und abschwellender Pfeifton, der Skudder heute so sehr wie beim allerersten Mal schaudern ließ, als er ihn gehört hatte.
Anders als sonst mußte er nur wenige Augenblicke warten, bis der weiße Schnee auf der Mattscheibe einem Bild wich. Gleichzeitig richtete sich die kleine Optik der mit dem Empfänger gekoppelten Kamera auf sein Gesicht. Skudder wußte, daß er nun irgendwo - wo immer das sein mochte - auf einem ähnlichen Bildschirm zu sehen war, während auf seinem Monitor wie gewohnt nur das verschlungene, flammendrote ›M‹ Morons erschien.
»Skudder?« Trotz der schlechten Empfangsqualität erkannte er einwandfrei Daniels Stimme. Anders als sonst mußte er nicht erst geholt werden. Skudder vermutete, daß er schon lange und sehr ungeduldig neben dem Empfänger gesessen und auf Skudders Ruf gewartet hatte. Er hörte auch deutlich die Erregung in Daniels Stimme.
»Habt ihr sie?«
Skudder schwieg einen Moment, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein«, sagte er.
Fünf Sekunden Schweigen. Dann: »Was soll das heißen - nein?«
»Sie ist meinen Leuten ... entkommen«, antwortete Skudder zögernd.
»Entkommen?« Daniel schrie fast. »Du hast ...«
»Ich habe«, unterbrach ihn Skudder ärgerlich und mit leicht erhobener Stimme, »acht meiner besten Männer losgeschickt. Sie hat einen getötet und zwei andere niedergeschlagen. Ich bin froh, daß die übrigen noch leben.« Er schwieg einen ganz kurzen Moment.
»Sie hätten mir sagen müssen, wie gefährlich diese Frau ist«, fügte er hinzu.
Daniel schwieg eine ganze Weile, und als er endlich weitersprach, klang er zu Skudders Überraschung kaum noch zornig, sondern beinahe amüsiert. »Das ist typisch Captain Laird«, murmelte er. »Ich hätte es wissen müssen. Trotzdem ...« Der Tonfall änderte sich wieder und wurde befehlend und kalt wie gewohnt. »... ihr müßt sie einfangen. Und nach Möglichkeit lebend.«
»Einfangen?« Skudder lachte ganz leise. »Wie stellen Sie sich das vor? Sie hat eine unserer Maschinen gestohlen. Sie kann überall sein.«
»Dann sucht sie!« befahl Daniel barsch. »Du hast genug Männer.«
Skudder schnaubte. »Hören Sie!« sagte er erregt. »Ich brauche eine Armee, wenn ich die Ebene nach einem einzelnen Menschen durchkämmen soll. Und selbst, wenn wir sie ...«
»Das mit der Armee ist eine gute Idee«, unterbrach ihn Daniel kalt. »Ich könnte dir eine schicken, Skudder, Willst du das?«
Er sprach nicht weiter, aber Skudder überhörte die kaum verhohlene Drohung nicht, die in seinen Worten mitschwang. Ein Gefühl hilfloser Wut machte sich in ihm breit. Aber er widersprach nicht mehr, sondern schüttelte nur stumm den Kopf.
»Gut«, fuhr Daniel fort. »Dann haben wir uns verstanden. Du hast zweiundsiebzig Stunden, Captain Laird zu finden. Ach - und noch etwas«, fügte er spöttisch hinzu. »Wenn du sie findest, paß auf dich auf, ja? Sie ist gefährlich.«
Das rote ›M‹ auf dem Bildschirm erlosch, aber Skudder starrte die flimmernde Mattscheibe noch sehr lange an, ehe er sich wütend vorbeugte und das Gerät ausschaltete. Irgendwann, dachte er grimmig, würde er es Daniel heimzahlen. Wer immer er sein mochte.