10

Raoul zog den Dolch aus dem Hals des Mannes, ließ den reglosen Körper vorsichtig zu Boden sinken und wischte die Klinge an dessen Uniformhemd sauber. Der Wächter hatte nicht einmal gespürt, wie er gestorben war; ebensowenig wie die drei anderen, denen Raoul auf dem Weg nach unten begegnet war. Und er war der letzte gewesen. Sie waren ihrem Ziel jetzt sehr nahe. Der rote Leuchtpunkt befand sich wieder genau im Zentrum des Suchers, er glühte so kräftig, daß er kaum noch mehr als ein paar hundert Meter von seinem Ursprung entfernt sein konnte.

Trotzdem beging Raoul nicht den Fehler, in letzter Sekunde leichtsinnig zu werden. Die Wächter waren unaufmerksam gewesen, weil sie sich viel zu sehr auf ihre technischen Spielereien verlassen hatten: ein halbes Dutzend unterschiedlichster Alarm- und Sicherungsanlagen, die Raoul der Reihe nach und auf die unterschiedlichsten Arten ausgeschaltet hatte, während er den Weg für Bart und die anderen ebnete. Aber das bedeutete nicht, daß es so einfach weitergehen würde, und Raoul wußte das. Es war eine kleine Armee, die hier unten auf sie wartete, und sie hatten nichts zu verlieren.

Lautlos schob sich Raoul weiter, öffnete die Tür, vor der der Wächter gedöst hatte, einen Spaltbreit und spähte hindurch.

Auf der anderen Seite der fingerdicken Tür aus Panzerstahl erstreckte sich eine gut fünfzig Meter lange, von kaltem, weißen Licht erfüllte Halle, von der zahlreiche Türen abgingen. Einige standen offen und gewährten Raoul einen Blick in die dahinterliegenden Räume. Menschen bewegten sich darin, und gerade als er die Tür wieder schließen wollte, rollte ein kleiner, summender Elektrokarren durch die Halle und blieb vor einer Tür stehen. Eine junge Frau stieg von dem Gefährt herunter, klopfte und trat nach kurzem Zögern ein.

Raoul hatte genug gesehen. Lautlos schloß er die Panzertür wieder, trat einen Schritt zur Seite und zog seine Waffe. Mit der anderen Hand löste er das Funkgerät vom Gürtel, hob es an die Lippen und drückte die Sprechtaste. Er war sich der Tatsache bewußt, daß das Funkgerät vermutlich angepeilt werden konnte und daß in längstens einigen Sekunden die Alarmsirenen losheulen würden. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.

»Es geht los«, sagte er. Er wartete die Antwort nicht ab, sondern steckte die Maschinenpistole wieder ein, stieß die Tür mit einem Fußtritt auf und stürmte hindurch.

Raoul begann zu schießen, noch ehe die ersten Schreckensschreie aufgellten.

Niles hatte noch eine Weile geredet, aber Charity hatte kaum mehr zugehört. Sie fühlte sich mutlos, und nur ganz langsam gelang es ihr, so etwas wie Zorn zu empfinden.

Schließlich war es Skudder, der das Schweigen brach.

»Was hast du eigentlich erwartet?« fragte er. »Einen Ritter auf einem weißen Pferd, der dich in den Sattel hebt und in einer heroischen Schlacht die Angreifer vertreibt?«

Sein Spott tat ihr nicht mehr weh; irgendwo hatte er sogar recht.

Es war ziemlich naiv von ihr gewesen, hierher zu kommen und zu glauben, damit wäre alles gut. Hätte sie auch nur einen Moment in Ruhe darüber nachgedacht, was es bedeutete, daß sich die Tiefen seit Jahrzehnten hier versteckten, wäre sie vielleicht von selbst darauf gekommen.

»Sie sind jetzt enttäuscht, Captain«, sagte Niles. Er warf Skudder einen fast dankbaren Blick zu. »Ich verstehe das. Auch ich habe Jahre gebraucht, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß es vorbei ist.«

»Sie haben aufgegeben«, erwiderte Charity. »Sie ... Sie hätten ebensogut hinausgehen und sich Skudder und seinen Männern ergeben können.«

»Wir leben«, erwiderte Niles, als wäre dies Antwort genug. »Auch Sie können hierbleiben, Captain, wenn Sie wollen.«

»Hier?« Charity schüttelte traurig den Kopf.

»Überlegen Sie es sich«, sagte Niles. »Es gibt nicht viele Orte, an denen Sie sicherer wären als hier, und wir brauchen jemanden wie Sie.«

Plötzlich lächelte er. »Ich bin alt, Captain Laird. Selbst wenn wir die Sharks und ihre Herren noch eine Weile an der Nase herumführen können, habe ich nicht mehr allzu lange zu leben. Sie könnten meine Nachfolgerin werden. Und wer weiß - vielleicht könnten Sie Mark und die anderen sogar überzeugen.«

Im ersten Moment war Charity von diesen Worten überrascht.

Aber sie durchschaute sie schnell. Sie würde wie Niles werden, wenn sie auf sein Angebot einging. SS Nulleins war zwar ein sicherer Unterschlupf, aber hier würde sie früher oder später einem Gift erliegen, das Bequemlichkeit hieß. Wenn sie Niles' Angebot annahm und wirklich an seiner Seite über die unterirdische Stadt regierte, würde sie sich irgendwann ernsthaft fragen, ob er nicht recht hatte.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Niles, beinahe traurig. »Aber Sie bleiben ein paar Tage unser Gast, bis Sie sich erholt haben und sich darüber im klaren sind, was Sie tun wollen.«

»Ganz bestimmt«, sagte Charity. »Wir haben viel zu erzählen.«

Sie lächelte, wenn auch etwas gezwungen, wurde sofort wieder ernst und deutete mit einer Kopfbewegung auf Skudder. »Was geschieht mit ihm?«

Niles sah den Shark nachdenklich an. »Ich kann Sie nicht gehen lassen, Mister Skudder, das wissen Sie. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihnen nichts geschieht, bis wir entschieden haben, wie wir mit Ihnen verfahren.«

Skudder schnaubte abfällig. »Das wissen Sie doch jetzt schon, alter Mann«, sagte er böse. »Sie werden mich umbringen. Sie können mich gar nicht gehen lassen, nach allem, was ich weiß.«

»Der Tod ist nicht das einzige Mittel, eine Erinnerung zu löschen«, widersprach Niles ärgerlich. »Wir sind keine Tiere, Mister Skudder.«

Er wollte noch mehr sagen, aber in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und Mark stürmte herein. Er hielt ein Lasergewehr in der Hand.

»Die Sharks!« schrie er. »Sie greifen an!«

Niles fuhr erschrocken im Stuhl hoch. »Was?«

»Sie kommen!« keuchte Mark. »Irgendwie haben sie die Sperren überwunden. Sie sind im Bunker!« Plötzlich fuhr er herum. Sein Gesicht verzerrte sich vor Haß. »Das warst du!« brüllte er, an Skudder gewandt. »Du hast sie hierher gebracht!«

Er schlug zu, so schnell, daß selbst Skudders instinktive Abwehrbewegung zu spät kam. Sein Gewehrkolben traf das Gesicht des Sharks, schleuderte ihn aus dem Stuhl und ließ ihn halb besinnungslos zusammenbrechen.

»Aufhören!« befahl Niles scharf.

Im ersten Moment sah es fast so aus, als würde Mark seine Worte einfach ignorieren. Mit einem gellenden Wutschrei trat er zurück, drehte die Waffe herum und legte auf den Shark an, der sich stöhnend auf Hände und Knie zu erheben versuchte.

»Aufhören, habe ich gesagt!« befahl Niles noch einmal. Und diesmal gehorchte Mark. Widerwillig senkte er die Waffe, wich bis zur Wand zurück und sah zu, wie Skudder sich mühsam aufrichtete.

»Also - was ist passiert?« fragte Niles scharf. »Wo sind sie, und wie viele sind es?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Mark nervös. »Aber es sind viele. Sie schießen alles nieder, was sich bewegt. Wir hätten diesen Mistkerl da draußen einfach abknallen sollen. Aber vielleicht hole ich es ja noch nach.«

»Idiot«, sagte Skudder stöhnend. »Wenn ihr mich erschießt, dann bleibt hier unten keiner mehr am Leben.«

»Da wäre ich nicht so sicher, Mister Skudder«, sagte Niles eisig. »Wir sind nicht ganz wehrlos, wissen Sie?«

»Ihr habt keine Chance, und das weißt du auch, alter Mann«, erwiderte Skudder abfällig. »Gebt auf, und ich lasse euch am Leben.«

Mark stieß ihn so grob mit dem Gewehrlauf zwischen die Rippen, daß er sich erneut vor Schmerzen krümmte. »Für jemanden, der auf der falschen Seite einer Waffe steht, riskierst du ziemlich viel, Shark«, sagte er.

»Hören Sie endlich auf, Mark«, sagte Niles. »Wieviel Zeit haben wir noch?«

Mark brauchte nicht zu überlegen. »Nicht mehr viel«, gestand er dann. »Vielleicht können wir sie aufhalten. Sie waren schon in der Station, ehe wir sie überhaupt bemerkt haben.«

Niles wandte sich an Skudder. »Wie haben Sie das geschafft?«

Skudder grinste. Langsam hob er die Hand und streckte sie nach Charity aus. Mark fuchtelte drohend mit seiner Waffe herum, aber Charity winkte ab. »Lassen Sie ihn.«

Skudder bedankte sich mit einem spöttischen Kopfnicken, öffnete den Reißverschluß ihrer Ärmeltasche und zog eine kleine Scheibe aus weichem, grauem Kunststoff heraus. Charitys Augen weiteten sich vor Erstaunen.

»Eine Wanze!« sagte sie. »Du ... du hast mir eine Wanze angehängt? Aber dann ... das war alles ...«

»Geplant, natürlich«, sagte Skudder ruhig. »Glaubst du wirklich, du hättest fliehen können, wenn ich es nicht gewollt hätte?« Er schüttelte den Kopf. »Deine Freundin Net war so freundlich, uns zu verraten, was du vorhattest, und da ich schon lange eine Gelegenheit gesucht habe, Mister Niles einmal persönlich kennenzulernen ...«

Charity starrte ihn an. In ihrem Mund war plötzlich ein bitterer Geschmack, und sie mußte all ihre Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nicht einfach auf ihn zu stürzen und ihm die Fäuste ins Gesicht zu schlagen. Großer Gott, was für eine Närrin war sie doch gewesen!

»Nimm es nicht tragisch«, sagte Skudder spöttisch. »Früher oder später hätten wir sie auch allein gefunden.«

»Du verdammter Mistkerl!« brüllte Mark. »Dafür bringe ich dich um!«

»Mark!« schrie Niles.

Aber diesmal regierte Mark nicht mehr darauf. Mit einer wütenden Bewegung riß er den Laser hoch und legte auf Skudder an.

Charity schlug ihm die Waffe aus der Hand, versetzte ihm einen Hieb in die Seite, der ihn auf die Knie herunterfallen ließ, und hob blitzschnell den Laser auf. Drohend richtete sie die Mündung der Waffe auf Skudder, behielt aber auch Mark scharf im Auge.

»Und jetzt?« fragte Skudder ruhig.

Charitys Gedanken überschlugen sich. Sie hatte einfach gehandelt, fast ohne zu denken, und es tat ihr auch nicht leid, Skudders Leben gerettet zu haben - aber er hatte recht, sie wußte einfach nicht, was sie tun sollte!

»Erschießen Sie ihn!« stöhnte Mark. Niles schwieg.

»Die Leute hier«, fragte Charity unsicher. »Haben Sie eine Chance?«

»Gegen meine Männer?« Skudder schüttelte überzeugt den Kopf. »Nein.«

»Er lügt!« keuchte Mark. Taumelnd stemmte er sich hoch, streckte die Hand aus und schaltete die Gegensprechanlage ein.

Plötzlich erfüllten Schüsse und Schreie das kleine Büro, der Kampf tobte noch immer.

»Ich will dein Wort!« sagte sie. »Du garantierst mir, daß Niles' Leute am Leben bleiben, wenn sie sich ergeben.«

Skudder überlegte einen Moment. Dann nickte er. »Okay. Ich verspreche es.«

»Glauben Sie ihm nicht!« kreischte Mark. »Alle Sharks sind Lügner!«

Charity beachtete ihn gar nicht. Sie sah Niles an. Und nach einer Weile nickte der alte Mann.

Langsam beugte er sich vor und drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch. Aus dem Lautsprecher drang ein gedämpftes Knacken, dann seine Stimme, die jetzt überall gleichzeitig in der Station erscholl:

»Hier spricht Commander Niles. Stellen Sie das Feuer ein. Wir ergeben uns.«

Charity reichte Skudder schweigend ihre Waffe.

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