5


Hartmann traf Net auf dem Gang, nachdem er Krämers ehemaliges Büro verlassen hatte und sich auf den Weg nach unten machen wollte. Offensichtlich hatte das Geheul der Alarmsirenen auch sie aus dem Schlaf gerissen, denn sie trug nur einen zerschlissenen Morgenmantel, und ihr Gesicht und ihre Bewegungen wirkten gleichermaßen übermüdet und benommen. Aber ihre Art zu reden war so knapp und präzise wie gewohnt. »Was ist los?«

Hartmann starrte sie einen Moment lang wortlos an. Zum ersten Mal wurde ihm wirklich bewußt, wie sehr ihm Net gefiel. Vielleicht lag es daran, daß sie unvermittelt aus dem tiefsten Schlaf gerissen und noch nicht ganz wach war.

Unter der Oberfläche eines Mädchens, das gelernt hatte, niemanden und nichts an sich heranzulassen, gab es noch eine andere Net. Außerdem war sie sehr hübsch.

Der dünne Morgenmantel betonte mehr von ihrer Figur, als er verbarg, und strafte ihr normales Bemühen Lügen, sich äußerlich in etwas zu verwandeln, von dem man nie ganz sicher sein konnte, ob es Mann oder Frau war. Aber gleichzeitig wurde Hartmann sich auch wieder der Tatsache bewußt, daß er Nets Vater hätte sein können; wenn es nach seinem Geburtsdatum ging, sogar ihr Urgroßvater.

»Was ist los? Greifen sie an?« Energisch wiederholte Net ihre Frage.

Hartmann schüttelte eine Spur zu hastig den Kopf. »Nein«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Irgend etwas ist unten passiert.« Er wollte weitergehen, blieb dann aber doch noch einmal stehen und tat etwas, was ihn im ersten Moment selbst überraschte: Er machte eine einladende Handbewegung und sagte: »Komm mit.«

Auch Net wirkte überrascht. Sie waren so etwas wie Verbündete; aber irgendwie hatten sie sich bisher beide wie nach der unausgesprochenen Vereinbarung verhalten, ganz bestimmt keine Freunde zu sein. »So?« fragte sie schließlich mit einer Geste auf ihren Aufzug.

Hartmann zuckte mit den Achseln. »Warum nicht?« Er lächelte matt, als er Nets neuerliche Verwirrung bemerkte, und ging weiter. Was immer dort unten geschehen war - über eines war er sich im klaren: Es war nichts, was sie mit Waffengewalt würden ändern können.

Net zögerte noch einen Moment, beeilte sich aber dann, ihm zu folgen.

Das Heulen der Alarmsirenen war verstummt, als sie aus dem Gebäude traten, aber in der riesigen Höhle herrschte trotzdem helle Aufregung. Hartmanns Befehl, die Männer vorsorglich in Alarmbereitschaft zu versetzen, wäre absolut nicht mehr nötig gewesen, denn gut die Hälfte seiner verbliebenen Truppe war ohnehin aus ihren Quartieren gekommen. Einige standen in kleinen Gruppen beisammen und debattierten heftig, andere liefen mit unruhigen, nervösen Schritten auf und ab oder standen einfach reglos da und blickten die Höhle des gewaltigen Felsendomes an, aber auf allen Gesichtern las Hartmann nur ein Gefühl: Angst. Da es ohnehin unmöglich gewesen wäre, hatte er erst gar nicht versucht, den Männern zu verheimlichen, was draußen vorging. Eines quälte ihn mehr als die gewaltige Moroni-Armee, die draußen aufmarschierte, nämlich die Frage: Wer würde der nächste sein? Wer würde als nächster aufstehen oder sich auch mitten in einem Gespräch oder einer anderen Tätigkeit plötzlich umdrehen und den Bunker verlassen, um sich den Jared anzuschließen, jenen unheimlichen Zwitterwesen, die wie Menschen aussahen, aber längst keine Menschen mehr waren?

Hartmann verscheuchte den Gedanken und ging schneller weiter, um zu den Aufzügen zu gelangen. Einige der Männer, an denen er vorüberkam, blickten ihn mit einer Mischung aus Furcht und Neugier an, und zwei oder drei machten auch Anstalten, ihn anzusprechen, taten es aber dann doch nicht, als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkten. Hartmann war sehr froh darüber. Er hätte nicht gewußt, was er ihnen sagen sollte.

Die Liftkabine kam. Hartmann schüttelte wortlos den Kopf, als zwei Soldaten sich ihnen anschließen wollten. Die Männer wirkten ein wenig überrascht, traten aber gehorsam einen Schritt zurück, so daß sich die Lifttüren schließen konnten und die Kabine summend in die Tiefe glitt.

Der Weg nach unten war ihm noch niemals so lang vorgekommen. Vielleicht, weil er noch niemals mit dem Bewußtsein hinuntergefahren war, daß es eine Rückkehr für ihn vielleicht nicht mehr geben würde.

Wieder verfluchte Hartmann die Tatsache, daß sie so erbärmlich schlecht ausgerüstet waren. Dieser Bunker war vielleicht das modernste Bauwerk seiner Art, das es auf der ganzen Welt gegeben hatte, und er war dazu konzipiert und erbaut worden, seinen Bewohnern auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus ein Überleben unter einer strahlenverseuchten, unbewohnbaren Oberfläche zu garantieren. Aber annähernd sechzig Jahre hatten ihren Preis gefordert, und der letzte Angriff der Jared hatte nicht mehr sehr viel übriggelassen. Sie hatten einfach keine Ersatzteile, um die zerstörten Video- und Sprechfunkverbindungen zu reparieren.

Der Aufzug hielt mit einem Ruck an. Hartmann zog wider besseres Wissen seine Pistole und gab Net ein Zeichen, zurückzubleiben. Mit klopfendem Herzen verließ er die Kabine, sah sich rasch nach rechts und links um und atmete erleichtert auf. Sie waren allein. Von irgendwoher glaubte er Stimmen und Geräusche zu hören, aber viel zu leise, als daß er auch nur die Richtung ausmachen konnte, aus der es kam. In Gedanken versuchte er rasch, sich den Plan der unterirdischen Bunkeranlage vor Augen zu führen. Er war bisher sehr selten in diesem Teil der Festung gewesen. Und wozu auch? Daß ausgerechnet er eines Tages das Kommando über diesen Bunker übernehmen würde, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.

»Wir müssen nach links«, sagte er. Er machte Anstalten, seine Waffe wieder einzustecken, tat es dann aber doch nicht, obwohl er sehr genau wußte, daß die Pistole nur den einzigen Zweck erfüllte, ihn selbst zu beruhigen.

Das Stimmengewirr wurde lauter, als sie eine Verzweigung erreichten, und schon die nächsten Schritte brachten sie in einen Bereich der Festung, die die Illusion einer zwar alten, aber unbeschadeten Welt aus Beton und Stahl nicht länger aufrechterhalten konnte. Die Wände zeigten Brandspuren, auf dem Boden lagen Scherben und Splitter, viele der in den Beton eingebauten Geräte und Versorgungsleitungen waren herausgerissen oder zerstört, und nur noch jede dritte oder vierte Lampe brannte, so daß aus dem kahlen Betonkorridor eine unregelmäßige Kette aus hellen und dunklen Flecken geworden war. Hartmanns überreizte Fantasie gaukelte ihm alles mögliche vor, was in diesen dunklen Bereichen zwischen dem Licht auf Net und ihn warten mochte. Doch er ging sogar ein wenig schneller, und sei es nur, um sich selbst Mut zu machen.

Plötzlich aber ergriff Net seinen Arm und deutete nach vorn. Es dauerte fast eine Sekunde, bis Hartmann sah, worauf sie ihn aufmerksam machen wollte. Aus einer der zahlreichen offenen Türen, die von dem Korridor abzweigten, war eine Gestalt herausgetreten: groß, schlank, mit wirrem Haar und in ein einfaches, hinten offenes Nachthemd gekleidet. Aus seiner linken Armbeuge tropfte ein wenig Blut, wo er die Nadeln, mit denen sein Körper während des sechzig Jahre währenden Tiefschlafes an die Versorgungseinheiten angeschlossen war, einfach herausgerissen hatte, und auf seinem Gesicht lag der gleiche, benommene Ausdruck, den Hartmann vorhin auch auf Nets Zügen gewahrt hatte. Aber es war nicht einfach nur Müdigkeit, diese Benommenheit würde nicht weichen, wenn er nur ein wenig Zeit hatte, um völlig wach zu werden. Der Mann war zum Jared geworden, wie fast alle anderen, die vor sechzig Jahren freiwillig in den Tiefschlaf gegangen waren, um nach einem Jahrzehnt, einem Jahrhundert oder möglicherweise auch einem Jahrtausend den Kampf gegen die Invasoren neu aufzunehmen.

Nein, nicht fast alle Männer, verbesserte sich Hartmann in Gedanken. Er war plötzlich sicher, daß das Drama bald ein Ende haben würde. Die Jared hatten sich nun auch die letzten Männer geholt. Irgend etwas war mit ihrem Geist geschehen während der Jahrzehnte, die sie geschlafen hatten, irgend etwas hatte nach ihrem Bewußtsein gegriffen und sie verändert.

Der Mann wandte den Kopf, als sie weitergingen und sich ihm näherten, aber in seinen Augen war kein Erkennen, ja, eigentlich nicht einmal so etwas wie Leben. Rasch und ohne ihn wirklich aus den Augen zu lassen, gingen sie an ihm vorbei und näherten sich der Tür des Wachraumes.

Sie war nur angelehnt. Durch eine der großen Glasscheiben, die die übrigen drei Wände bildeten, konnte Hartmann in den darunterliegenden Tiefschlafsaal blicken und sah, daß nun sämtliche Liegen verwaist waren. Die Einrichtung war zum Teil zertrümmert, aber er konnte nicht sagen, ob diese Schäden erst vor kurzem entstanden, oder Spuren der Kämpfe waren, die hier unten getobt hatten. Das ehemals sinnverwirrende Durcheinander von Monitoren und Kontrollinstrumenten, das die vierte Wand des Raumes bedeckte, war ebenso erloschen wie das System der Computer, das es gesteuert hatte, aber Steinberger saß mit dem Rücken zur Tür hinter seinem Schreibtisch und stand auf, als er ihre Schritte hörte.

»Was ist hier los?« fragte Hartmann. Seine Stimme klang nicht so sicher, wie er es gern gehabt hätte. Sie verriet mehr von seiner Furcht, als ihm recht war.

Aber wenn Steinberger das überhaupt bemerkte, so überspielte er es meisterlich. »Sie sind alle aufgewacht und gegangen«, sagte er.

»Alle?« vergewisserte sich Hartmann, obwohl das völlig überflüssig war.

»Fast alle«, entgegnete Steinberger. »Bis auf die, deren Überlebenssysteme ausgefallen waren.«

»Alle zugleich?« wunderte sich Net. »Aber wieso so plötzlich?«

»Wir brauchten sie«, sagte Steinberger.

Es verging eine Weile, bis Hartmann begriff. »Wir?«

Steinberger nickte und lächelte. Und plötzlich war dieses Lächeln nur noch ein Verziehen der Lippen ohne irgendeine Bedeutung. Seine Augen blieben kalt, kalt und leblos, und wenn überhaupt irgendein Gefühl darin war, so war es eines, das Hartmann nicht verstand und nicht verstehen wollte. »Sie auch?« fragte er schaudernd.

Wieder lächelte Steinberger. »Wir brauchen Ihre Hilfe, Herr General«, sagte er.

Hartmann lachte bitter. Die Waffe in seiner Hand deutete immer noch auf den Soldaten, aber seine Finger zitterten plötzlich so stark, daß er nicht mehr die Kraft hatte, sie zu halten. »Hilfe?« fragte er mit zitternder Stimme. Sein Blick glitt über die verwaisten Liegen hinter der Glasscheibe, über die sinnlos gewordenen, blinkenden Lichter auf den winzigen Computern neben den Betten, über die zertrümmerte Einrichtung. »Was wollt ihr denn noch?« murmelte er.

Steinberger antwortete nicht, aber fast in der gleichen Sekunde hörte Hartmann Schritte hinter sich. Einen Moment lang blickte er den zum Jared gewordenen Soldaten noch durchdringend an, ohne in seinem Gesicht irgend etwas anderes zu erkennen als dieses leere, bedeutungslose Lächeln, dann drehte er sich herum - und fuhr überrascht zusammen. Seine Augen weiteten sich, als er die Gestalt erblickte, die unversehens hinter ihm erschienen war.

»Sie?« murmelte er.


*


Das Vorwärtskommen auf der Außenseite der Station erwies sich als schwieriger und gefährlicher, als Charity befürchtet hatte. Sie war nicht nur die einzige, die Erfahrung darin hatte, sich im freien Raum zu bewegen. Sie schien auch die einzige zu sein, der ihre Umgebung nicht Todesangst einflößte; abgesehen vielleicht von Abn El Gurk, der jedoch durch den viel zu großen Vakuumanzug so sehr behindert wurde, daß er ununterbrochen mehr taumelte als vorwärtsging. Charity hatte den anderen nichts von ihrem kurzen Gespräch mit Gurk erzählt. Und so unglaublich es ihr im ersten Moment auch vorkam - selbst Stone schien nicht zu ahnen, was es wirklich war, das sich da in rasendem Tempo unter ihnen drehte. Die Blicke, mit denen er die unheimliche Konstruktion musterte, spiegelten Neugier wider, aber keine Furcht. Charity hatte Gurk auch nicht gefragt, was genau sie sich unter einer Black-Hole-Bombe vorzustellen hatte; aber ihr astronomisches Grundwissen reichte durchaus, um dem nagenden Gefühl von Furcht in ihr immer neue Nahrung zu geben.

Sie hatten das silberne Riesenrad der Station zu einem Viertel umkreist und einen Punkt erreicht, von dem aus sie beinahe die ganze Anlage überblicken konnten. Charity blieb stehen, winkte French zu sich heran und schaltete den Helmfunk ein. »Wo müssen wir hin?« fragte sie. In Frenchs Blick lag nur Verwirrung und Unverständnis, und sie machte eine deutende Geste hinter sich und fragte: »Ihre Leute. Der Hort, wie Sie es nennen. Wo liegt er?«

French antwortete nicht gleich. Sein Blick irrte unstet über die gewaltige Konstruktion. Es fiel ihm immer schwerer, seine Panik zu unterdrücken. »Ich ... ich weiß es nicht«, gestand er schließlich.

»Sie wissen es nicht?« Charity runzelte zweifelnd die Stirn. »Sie wissen nicht, wie der Ort aussieht, an dem Ihre Leute leben?«

»Ich ... war niemals hier«, sagte French nervös. Mit einem Ruck sah er auf und starrte Charity aus angstgeweiteten Augen an. »Das ist die Tote Zone«, stammelte er. »Das Draußen. Niemand lebt hier. Es tötet die Menschen.«

Zorn stieg in Charity empor und erlosch fast im gleichen Moment wieder, als sie begriff, daß French die Wahrheit sagte. »Sie wollen damit sagen, Sie haben den Hort niemals von außen gesehen?« vergewisserte sie sich.

French nickte. »Niemand geht nach draußen«, sagte er. »Nur die Toten.«

Charity war enttäuscht. »Beschreiben Sie ihn«, verlangte sie. »Wie sieht dieser Hort aus? Wie groß ist er? Gehört er zur Station, oder befindet er sich außerhalb?«

Frenchs Blick machte ihr klar, daß er nicht einmal die Frage verstand. »Ich ... weiß es nicht«, stammelte er. »Er liegt hinter der Toten Zone, und ...«

Charity unterbrach ihn. »Die Tote Zone?« Plötzlich begriff sie, daß es ihr Fehler gewesen war. Sie hatte ganz automatisch bisher angenommen, daß French mit der Toten Zone den leeren Raum gemeint hatte.

»Es ist ... wie hier«, murmelte French verstört. »Genau wie hier, aber ganz anders.«

»Aha«, seufzte Charity.

»Es gibt keine Luft dort«, erklärte French. »Und es ist kalt. Alles ist zerstört.«

»Zerstört?« hakte Charity nach.

French nickte heftig. Für einen Moment konnte Charity nicht verstehen, was er sagte. »... haben die Spinnen versucht, sie zu reparieren. Aber wir haben sofort alles wieder zerstört. Pearl sagte, daß wir das tun sollten. Er hatte Angst, daß sie in den Hort kommen, wenn die Tote Zone nicht mehr da ist.«

Charity überlegte angestrengt. Frenchs Worte ließen eigentlich nur einen Schluß zu, nämlich, daß das Versteck seiner Leute in einem Teil der Raumstation lag, der beschädigt worden war. So schwer beschädigt, daß die Moroni es offensichtlich nicht für wert befunden hatten, allzuviel Energie auf seine Reparatur zu verschwenden. Aber sie konnte keinerlei Beschädigungen entdecken, so sehr sie sich auch bemühte. Sie ...

Und dann wußte sie es. Plötzlich aufgeregt fragte sie: »Ihr Hort, French - wie sieht der aus? Ein Raum mit einer halbrunden Decke, etwa vierzig Schritte lang und zehn breit? Und davor ein kurzer Gang, der zu zwei weiteren, kleineren Räumen führt?«

French blickte sie erstaunt an. »Woher wissen Sie das?«

»Das spielt jetzt keine Rolle«, antwortete Charity und richtete sich auf. Suchend sah sie sich um. Es war sehr schwer, sich zu orientieren. Die Moroni hatten so viel an der Station verändert und angebaut, daß sie fast nicht wiederzuerkennen war. Trotzdem - jetzt, wo sie einmal wußte, wonach sie zu suchen hatte, kehrten ihre Erinnerungen Stück für Stück zurück. Und nach einer Weile begriff sie, daß sie an der falschen Stelle gesucht hatten. Die Docks hatten sich auf der der Erde zugewandten Seite der Orbit-Stadt befunden.

Sie wollte sich wieder zu den anderen umwenden, um ihnen mit Gesten zu verstehen zu geben, daß sie den Weg wieder zurückgehen mußten, als eine Bewegung auf der anderen Seite des riesigen Runds ihre Aufmerksamkeit erweckte. Sie sah genauer hin. Im ersten Moment war es nur ein schwaches Aufblitzen, aber es wiederholte sich und nahm an Stärke zu, und plötzlich wurde ihr mit furchtbarer Deutlichkeit klar, daß es noch etwas gab, das sie übersehen oder vergessen hatte.

Aus der Flotte scheibenförmiger Raumfahrzeuge auf der anderen Seite der Station hatten sich drei Gleiter gelöst, die so genau auf sie zukamen, als daß sie sich auch nur eine Sekunde lang hätte einreden können, es wäre Zufall.

Auch die anderen hatten die Gleiter bemerkt. Stone stand erstarrt vor Schrecken da, während French den riesigen Flugscheiben mit nichts anderem als Neugier entgegenblickte. Offensichtlich wußte er gar nicht, worum es sich dabei handelte. Skudder hatte ein wenig die Beine gespreizt, um festen Stand zu haben, und hob seine Waffe.

Charity schüttelte den Kopf. Sie alle kannten diese Gleiter; sie waren viel zu schwer gepanzert, um sie mit einer einfachen Laserwaffe zu beschädigen.

Ihre Gedanken rasten. Die Gleiter schienen sich fast gemächlich zu nähern, aber sie wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Sie würden in wenigen Augenblicken hier sein. Und es gab absolut nichts, was sie tun konnten.

Sie fuhr zu den anderen herum, löste mit einer raschen Bewegung die Sicherheitsleine von ihrem Gürtel und gab ihnen zu verstehen, dasselbe zu tun. »Verteilt euch!« schrie sie. »Vielleicht erwischen sie uns nicht alle! Wenn wir getrennt werden, versucht, euch zu Frenchs Leuten durchzuschlagen.«

So schnell, wie sie es eben noch wagen konnte, damit ihre Magnetsohlen nicht den Kontakt zum Boden verloren, entfernte sie sich von Gurk, Skudder und Stone, während sie French einfach mit sich zerrte. Im Laufen blickte sie sich um und sah, daß auch Skudder sich in Bewegung gesetzt hatte, während Gurk wieder einmal mit seinem viel zu großen Anzug kämpfte und Stone noch immer wie versteinert dastand. Die Gleiter waren ein gutes Stück näher gekommen; eine der riesigen Scheiben schwebte lautlos auf Gurk und Daniel Stone herab, während eine zweite zu Skudder und die dritte zu ihr und Frenchs Verfolgung ansetzte. Charity war klar, wie lächerlich und naiv ihr Fluchtversuch war - Großer Gott, dachte sie, wer hatte jemals versucht, vor einem Raumschiff davonzulaufen? -, aber es war das einzige, was sie tun konnte.

Die Flugscheibe glitt über sie und French hinweg, vollführte eine enge Drehung und begann, sich dann auf die Station herabzusenken. Charity schlug einen Haken nach rechts. Das Schiff vollzog die Bewegung nach, setzte kaum zwanzig Meter vor ihr auf, und in seiner Unterseite erschien ein dreieckiger Spalt, aus dem gelbes Licht und unmittelbar darauf fast ein Dutzend in durchsichtige Vakuumanzüge gekleidete Ameisenkrieger strömten. Sie waren ausnahmslos bewaffnet, aber sie verzichteten zumindest im Moment noch darauf, sofort das Feuer auf Charity und French zu eröffnen, sondern schwärmten schnell und mit fast militärischer Präzision zu einer langgezogenen Kette aus, die French und ihr vollends den Fluchtweg versperrten. Charity fluchte, fuhr abermals mitten in der Bewegung herum und sah, daß die beiden anderen Gleiter ebenfalls gelandet waren. Die Ameisen schienen zumindest eine gewisse Erfahrung mit dem freien Raum zu haben, denn sie verhielten sich sehr viel geschickter als sie und die anderen. Die Enden der drei weit auseinandergezogenen Ketten aus Kriegern bewegten sich rasch aufeinander zu und berührten sich schließlich, so daß sie einen unregelmäßigen, aber vollkommen geschlossenen Kreis um die Flüchtlinge bildeten.

Charity blieb stehen und sah sich um. Wie sie erwartet hatte, begann sich der Kreis fast unmittelbar nach seiner Vollendung zusammenzuziehen; die Ameisen marschierten los, nicht sehr schnell, aber aus allen Richtungen gleichzeitig, um ihre Opfer in der Mitte zwischen sich zusammenzutreiben. Sie war immer noch etwas überrascht, daß die Moroni noch nicht das Feuer eröffnet hatten, aber die einzige Erklärung, die es dafür gab, beruhigte sie überhaupt nicht. Die Insektenkrieger schienen den Befehl zu haben, sie lebendig zu fangen.

Schritt für Schritt wichen sie vor den näherkommenden Moroni zurück, bis sie wieder auf Skudder, Gurk und Stone trafen.

»Und jetzt?« fragte der Indianer.

Charity zuckte mit den Achseln. »Ich sehe nur zwei Möglichkeiten«, antwortete sie. »Wir können aufgeben oder unser Leben so teuer wie möglich verkaufen und noch ein paar von ihnen mitnehmen.« Sie hob rasch die Hand, als Skudder etwas sagen wollte. »Ich weiß, für welche Möglichkeit du bist. Ich bin nicht deiner Meinung.«

»Hast du eine Ahnung, was sie mit uns machen werden?« fragte Skudder düster.

Charity verneinte. »Aber vielleicht ergibt sich ja später die Möglichkeit zur Flucht. Wenn wir tot sind, haben wir diese Chance ganz bestimmt nicht mehr.«

Skudder lachte humorlos. »Das glaubst du doch nicht wirklich. Wunder wiederholen sich selten. Lieber gehe ich drauf, ehe ich mich diesen ... Tieren ausliefere.«

»Unsinn!« sagte Charity. »Wir ...«

Aber Skudder hörte ihr gar nicht mehr zu. Mit einem Ruck fuhr er herum, richtete seine Waffe auf die näherrückende Reihe der Moroni und drückte ab. Ein fingerdicker, giftgrüner Laserstrahl traf eines der Insektengeschöpfe und tötete es auf der Stelle. Aber sofort nahm eine andere Ameise deren Platz ein und schloß die Lücke wieder. Skudder erschoß auch sie, und wieder wurde die Lücke sofort geschlossen. Im allerersten Moment sah es so aus, als würden die Moroni auch diesmal nicht auf den Angriff reagieren. Doch dann nahmen fünf oder sechs der Ameisengeschöpfe gleichzeitig ihre Waffen, und Skudder prallte mit einem Schrei zurück und ließ um ein Haar sein Gewehr fallen, als ein halbes Dutzend dünner, grellweißer Lichtblitze so dicht an ihm vorbeizischte, daß einige davon dunkle Brandspuren auf seinem Anzug hinterließen. Aber keiner davon traf ihn. Die Salve war nur eine Warnung.

Skudder fand mit rudernden Armen sein Gleichgewicht wieder, hob sein Gewehr - und senkte es wieder. Sein Blick strich nervös über das knappe Hundert drohend auf sie gerichtete Gewehrläufe. Er wagte nicht noch einmal, seinen Laser einzusetzen. Vielleicht war er doch nicht ganz so entschlossen, lieber mit fliegenden Fahnen Unterzugehen als sich zu ergeben, wie er selbst bisher geglaubt hatte.

Jemand zupfte an ihrem Arm, und als Charity den Blick wandte, sah sie Gurk, der mit der freien Hand auf einen Punkt hinter der näherrückenden Moroniarmee deutete. In einer der zahllosen Erhebungen, die die Invasoren auf der Oberfläche der Station angebracht hatten, hatte sich eine asymmetrisch geformte Tür geöffnet, und weitere, in die gleichen Schutzanzüge gehüllte Ameisen schwärmten ins Freie. Einige von ihnen schleppten eine unverständliche Konstruktion aus silberfarbenen Dreibeinen und Stützen, gewaltigen Metallspulen und gläsernen Röhren mit sich, die sie in fliegender Hast wenige Schritte neben dem Ausgang aufzubauen begannen.

»Was um alles in der Welt tun die da?« murmelte Charity verwirrt.

Sie bekam die Antwort auf diese Frage fast im gleichen Augenblick, in dem die Moroni ihre Arbeiten beendet hatten.

Ein grellweißer, fast armdicker Lichtstrahl brach aus der bizarren Konstruktion, strich flüchtig über eine der gelandeten Flugscheiben und hinterließ eine rauchende Spur auf dem spiegelnden Metall, ehe er auf einer Stelle unterhalb der flachen Kuppel binnen Sekundenbruchteilen ein gewaltiges Loch hineinbrannte. Eine lautlose Explosion zerriß das obere Drittel des Gleiters. Flammen und weißglühende Trümmerstücke schossen wie aus einem ausbrechenden Vulkan in die Höhe, ehe eine zweite, noch gewaltigere und ebenfalls vollkommen lautlose Detonation den Gleiter vollends in Stücke riß. Weißglühendes Metall prasselte auf die Moroni herab und verwandelte ihre bis dahin so geordnete Formation in ein heilloses Durcheinander hastender, auseinanderstürzender Gestalten.

Noch ehe Charity überhaupt richtig begriff, was geschehen war, wanderte der Laserstrahl weiter, mähte wie eine Sense aus Licht durch die Reihen der Ameisenkrieger und hinterließ eine Spur aus schmelzendem Metall in der zweiten Flugscheibe. Die Besatzung des Gleiters reagierte mit fantastischer Schnelligkeit - aber nicht schnell genug. Die Triebwerke des scheibenförmigen Flugschiffes flammten auf und katapultierten die Scheibe regelrecht in die Höhe. Der Laserstrahl stieß für einen Moment ins Leere, suchte dann wie der tastende Leuchtfinger eines Scheinwerfers nach seinem entkommenden Opfer und bohrte sich mit fantastischer Zielsicherheit in eine der grell lodernden Triebwerksöffnungen. Der dreißig Meter durchmessende Diskus verwandelte sich in eine atomare Miniatursonne, deren Schein für einen Moment die Schwärze des Weltalls verblassen ließ. Charity schloß geblendet die Augen und drehte den Kopf weg, und auch die anderen hoben schützend die Arme vor die Gesichter.

Als sie wieder etwas erkennen konnten, hatte sich das Bild total verändert. Der doppelte Kreis aus Ameisen, der Charity und die anderen umgeben hatte, hatte sich in ein heilloses Durcheinander verwandelt. Nur einige wenige Moroni hatten ihre Waffen herumgeschwenkt und das Feuer auf die so plötzlich aufgetauchten Angreifer eröffnet; die meisten rannten einfach kopf- und ziellos hin und her, offensichtlich vollkommen überrascht und unfähig, auf die veränderte Situation zu reagieren. Das dritte Flugschiff hatte das Weite gesucht, aber Charity sah auch, daß es nicht wirklich floh, sondern sich nur mit einem gewagten Manöver aus der Reichweite der Laserkanone zu bringen versuchte.

Ein dünner Lichtblitz stach in ihre Richtung. Er verfehlte sie, brachte ihr aber drastisch zu Bewußtsein, daß sie keineswegs außer Gefahr waren. Mit einem gemurmelten Fluch ließ sich Charity auf die Knie herabsinken, hob ihr Gewehr und gab eine Salve kurzer Schüsse ab. Sie sah nicht einmal, ob sie traf, aber ihre Schüsse waren ein Signal für die anderen. Auch Skudder eröffnete das Feuer, und nach einer weiteren Sekunde riß auch Stone die erbeutete Moroni-Waffe von der Schulter und begann auf die Ameisen zu schießen.

Aus der Schleuse waren mittlerweile weitere Moroni herausgekommen, welche die Gleiterbesatzungen gleichfalls unter Feuer nahmen. Noch immer waren sie den Soldaten, denen sie gegenüberstanden, zahlenmäßig unterlegen, aber diese Unterlegenheit machten sie durch Entschlossenheit mehr als wett. Charity hatte viel zu viel damit zu tun, dem wütenden Laserfeuer der Moroni zu entgehen und selbst zurückzuschießen, als daß sie Zeit gefunden hätte, wirklich darüber nachzudenken - aber mit einem Teil ihres Bewußtseins nahm sie sehr wohl wahr, daß die neu aufgetauchten Moroni sehr viel zielsicherer und entschlossener vorgingen als ihre Feinde. Und ihre Zahl wuchs unaufhörlich. Immer mehr und mehr Krieger strömten durch die Luftschleuse ins Freie. Die Oberseite der Station hatte sich längst in ein Chaos aus grellen, durcheinanderzuckenden Lichtblitzen, hastenden Körpern und glühendem Metall verwandelt. Es kam einem Wunder gleich, daß bisher weder Charity noch einer der anderen getroffen worden war.

Plötzlich fuhr Gurk erschrocken zusammen und deutete aufgeregt auf einen Punkt hinter Charity. Sie drehte sich herum und entdeckte den Gleiter, der die Station offensichtlich einmal umkurvt hatte und in rasendem Tempo wieder heranschoß. Charity begriff voller Entsetzen, daß er ganz genau auf sie und die anderen zuhielt, warf sich instinktiv flach auf den Boden und hoffe, daß die anderen es ihr gleichtaten. Für eine schreckliche Sekunde spürte sie, wie sie den Halt verlor und schwerelos in die Höhe zu gleiten begann, dann fanden ihre wild umhertastenden Hände irgendwo Widerstand und klammerten sich fest.

Fast im gleichen Moment war der Gleiter heran und eröffnete das Feuer auf die angreifenden Moroni. Armdicke Laserstrahlen brannten rauchende Spuren aus Feuer in die Reihen der vorrückenden Ameisen. Das Geschütz schwärmte herum und eröffnete das Feuer auf den Gleiter, aber das Schiff war zu schnell. Der Laserstrahl prallte an der spiegelnden Unterseite ab und verpuffte wirkungslos im All, und fast im gleichen Moment sauste eine ganze Salve greller Energieschüsse auf das Geschütz herab. Die Laserkanone samt ihrer Besatzung verwandelte sich in eine brodelnde Feuerwolke. Der Gleiter raste im Tiefflug darüber hinweg, kippte wie ein flach geworfener Stein über die Schmalseite ab und vollführte einen rasend engen Salto, um zurückzukehren und auch die übrigen Moroni unter Feuer zu nehmen.

Charity richtete sich behutsam auf, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß keiner der anderen verletzt oder gar abgetrieben worden war, und deutete zum Zentrum der Basis. Aus irgendeinem Grund schienen die Moroni diesen Teil der Station zu meiden.

Mit Ausnahme Frenchs schienen die anderen verstanden zu haben, denn sowohl Stone als auch Skudder und Gurk setzten sich unverzüglich in Bewegung, während French wie erstarrt dahockte und fassungslos den miteinander kämpfenden Moroni zusah. Offensichtlich verstand er noch viel weniger als Charity, was hier vorging.

Der Gleiter kam zurück und hielt in zwanzig oder dreißig Metern Höhe über der Station an. Die neu aufgetauchten Ameisen eröffneten das Feuer aus ihren Gewehren auf die riesige Flugscheibe, konnten dem Fahrzeug damit aber keinen Schaden zufügen. Dafür überschüttete der Gleiter sie mit ganzen Salven greller, tödlicher Laserblitze, die ihre Reihen schneller lichteten, als sie sich wieder füllen konnten, obwohl aus der Schleuse immer noch Krieger herausströmten. Auch die überlebenden Moroni hatten sich wieder formiert und drangen - wenn auch unentschlossen und ziellos - auf die Angreifer ein. So erfolgreich der Überfall im ersten Moment gewesen war, das Eingreifen des Gleiters wendete das Kampfgeschehen. Charity begriff, daß ihre neuen Verbündeten nicht mehr lange durchhalten würden.

Mit einer entschlossenen Bewegung riß sie French mit sich und versetzte ihm einen Stoß, der ihn hinter Skudder und den anderen hertaumeln ließ. Sie sah, wie sich sein Gesicht verzerrte und er irgend etwas schrie, achtete aber nicht darauf, sondern packte ihn am Arm und zerrte ihn einfach mit sich, während sie mit großen Schritten über das sanft gekrümmte Metall eilte und versuchte, gleichzeitig so schnell wie möglich zu laufen und dabei nicht den Halt unter den Füßen zu verlieren.

Sie lief erst langsamer, als sie Skudder und die beiden anderen erreichte, die dicht über der Krümmung des künstlichen Horizonts stehengeblieben waren. Skudder warf ihr einen fragenden, fast hilflosen Blick zu, auf den sie mit einem ebenso hilflosen Achselzucken reagierte. Hastig drehte sie sich herum.

Der Kampf tobte noch immer mit unerbittlicher Härte. Der Gleiter flog ein wenig tiefer und bestrich die Außenseite der Orbit-Stadt mit ganzen Salven flimmernder, breit gefächerter Lichtstrahlen. Die Laserstrahlen waren jetzt nicht mehr konzentriert genug, um das Metall der Panzerplatten zu schmelzen, aber sie reichten offensichtlich, die dünnen Schutzanzüge der Moroni zu zerstören, denn über der Orbit-Stadt schwebten Dutzende, wenn nicht Hunderte regloser, riesiger Insektengestalten. Und die Moroni erhielten jetzt keinen Nachschub mehr: Eine der Laserkanonen des Gleiters hatte sich auf die Schleuse gerichtet und gab kurze, grellweiße Energieblitze in rascher Folge ab.

Dann hörte Charity Skudders aufgeregte, kurzatmige Stimme: »Was zum Teufel geht dort vor?«

Charity zuckte hilflos mit den Achseln. Sie hatte eine ungefähre Ahnung, was dieser abenteuerliche Zwischenfall zu bedeuten hatte, aber die Idee war zu fantastisch, um sie überhaupt auszusprechen.

»Sie bringen sich gegenseitig um«, murmelte Skudder fassungslos. Sein Gesicht war ein einziger Ausdruck von Verwirrung.

Charity nickte wortlos und wollte sich umwenden, um weiterzugehen, aber in diesem Moment geschah etwas, das ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf das Kampfgeschehen lenkte.

Die Angreifer waren durch die Laser des Gleiters längst so dezimiert worden, daß ihnen selbst ihr entschlosseneres Vorgehen und ihre offensichtlich bessere Bewaffnung nichts mehr nutzten. Die Moroni trieben sie vor sich her, schossen sie nieder oder griffen sie mit bloßen Händen an, um ihre Schutzanzüge zu zerfetzen, ungeachtet der Tatsache, daß sie meistens dabei selbst den Tod fanden. Aber plötzlich beobachtete sie, wie sich eine der Ameisen mit vier ausgebreiteten Armen auf ihren Gegner stürzte - und mit einemmal erstarrte. Fast eine Sekunde lang stand sie völlig reglos da, dann drehte sie sich plötzlich herum, hob ihre Waffe - und feuerte auf die hinter ihr stehende Ameise!

Und sie war nicht die einzige. Überall, wo die Moroni die aus der mittlerweile rotglühend gewordenen Schleuse aufgetauchten Ameisen berührten, wiederholte sich das unglaubliche Bild. Es war, dachte Charity fassungslos, als genüge eine flüchtige Berührung der neuen Ameisen, um die Insektengeschöpfe auf der Stelle die Seiten wechseln zu lassen!

Trotzdem gab es am Ausgang des ungleichen Kampfes keinen Zweifel mehr. Der Gleiter feuerte ununterbrochen, und seine Besatzung nahm kaum Rücksicht darauf, welche der beiden Seiten sie traf. Der Kampf konnte allerhöchstens noch Sekunden dauern.

Charity riß sich fast gewaltsam von dem schrecklichen Anblick los und gab den anderen ein Zeichen weiterzugehen. Sie hatten überhaupt nur eine Chance zu entkommen, wenn sie schnell handelten.

Trotzdem zögerte auch sie, als ihr Blick auf das riesige, sich rasend schnell drehende Etwas im Zentrum der Orbit-Stadt fiel. Sie waren der gewaltigen Hantel mittlerweile nahe genug gekommen, um Einzelheiten erkennen zu können. Was sie nicht entdecken konnte, war eine Lücke zwischen den beiden gewaltigen Kugeln und der Innenseite der Raumstation. Was, dachte sie schaudernd, wenn dieses ungeheuerliche Ding so groß war, daß es einfach keinen Platz gab, um hindurchzukommen. Sie würden zerfetzt werden wie Tauben, die den Rotoren eines Hubschraubers zu nahe gekommen waren.

Es gab nur einen Weg, diese Frage zu klären. Sie unterdrückte ihre Furcht und ging weiter, wobei sie French weiter einfach mit sich zerrte. Nach einer weiteren Sekunde des Zögerns setzten sich auch Skudder und Stone in Bewegung, und schließlich folgte ihnen auch Gurk.

Das grelle Lasergewitter zwischen den Moroni blieb hinter dem stählernen Horizont hinter ihnen zurück, während sie sich der rotierenden Riesenhantel näherten. Die Worte Abn El Gurks gingen Charity nicht aus dem Sinn. Eine Black-Hole-Bombe. Wenn Gurk recht hatte, dann lauerten in diesen so harmlos aussehenden Metallkugeln unvorstellbare Gewalten; Energien, die ausreichten, eine Sonne zur Nova werden zu lassen oder den kleinen Blauen Planeten auf der anderen Seite der Orbit-Stadt im wahrsten Sinne des Wortes in seine Atome zu zersprengen. Aber warum? dachte sie. Wovor hatten die Moroni solche Angst, daß sie eine Bombe zündeten, die ein ganzes Sonnensystem vernichtete, nur um sicherzugehen, den Transmitter auch tatsächlich zerstört zu haben?

Ohne daß sie es auch nur merken, wurde ihre Schritte langsamer, je näher sie der riesigen Hantel kamen. Charitys Blick hing wie gebannt an dem gewaltigen schwarzen Etwas. Ihr Herz raste, und sie spürte, wie sie allmählich am ganzen Körper zu zittern begann. Ein leichter Schmerz breitete sich in ihrem Kopf aus. Sie spürte ein sonderbares, unangenehmes Kribbeln, das diesen Schmerz begleitete und sich, vom Kopf ausgehend, langsam in ihrem ganzen Körper ausbreitete.

Plötzlich blieb Gurk stehen und begann wild mit den Händen zu gestikulieren. Einen Moment lang sah Charity ihn verständnislos an, dann begriff sie, was er ihr und den anderen mitteilen wollte: Verwirrt, aber ziemlich sicher, daß Gurk wußte, was er tat, ließ sie sich auf Hände und Knie herabsinken und robbte auf dem Bauch über das spiegelnde Metall.

Sie brauchten eine gute halbe Stunde, um auf diese Weise die gigantische Hantelkonstruktion zu passieren und die andere Seite der Station zu erreichen, aber Charity und den anderen kam es wie eine Ewigkeit vor. Die Schmerzen und das Kribbeln wurden schier unerträglich; irgend etwas geschah in dieser Zeit mit ihrem Körper, das sie nicht begriff, das sie aber fast an den Rand des Wahnsinns trieb. Die Hantel raste hoch über ihren Köpfen dahin, vielleicht noch zehn Meter entfernt, aber sie versuchten nur ein einziges Mal, sich wenigstens auf Hände und Knie aufzurichten, um auf diese Weise etwas rascher voranzukommen. Unsichtbare Hände schienen nach ihren Muskeln zu greifen und sie zerreißen zu wollen. Ein schier unerträglicher Druck preßte ihre Lungen zusammen, und sie hatte das Gefühl, von unsichtbaren Hammerschlägen getroffen und bis ins Mark erschüttert zu werden.

Als es vorbei war, waren sie alle so erschöpft, daß sie minutenlang einfach liegenblieben und keuchend nach Luft rangen. Bunte Sterne tanzten vor Charitys Augen. Sie hatte sich auf die Zunge gebissen, ohne es überhaupt zu merken, und schmeckte erst jetzt ihr eigenes Blut, und es schien nicht eine einzige Zelle in ihrem Körper zu geben, die nicht schmerzte. Sie fühlte sich, als wäre sie unter eine tonnenschwere Presse geraten und eine halbe Stunde dort liegengeblieben, während jemand mit wachsender Begeisterung den Schalter betätigte, um herauszufinden, was das Gerät leisten konnte.

Unsicher und mühsam drehte sie sich auf den Rücken und öffnete die Augen.

Über ihr schwebte die Erde wie ein riesiger blauer Ball; der Anblick war ihr noch niemals so schön und beruhigend vorgekommen wie in diesem Augenblick. Sie verstand plötzlich, wieso French und seine Leute glaubten, daß die Seelen der Verstorbenen zur Erde gingen.

Wieder verging fast eine Minute, während sie einfach dalag, atmete und an nichts dachte, aber dann meldete sich ein Teil ihres Verstandes zu Wort und erklärte ihr, daß sie vielleicht nicht mehr allzu lange hier liegen und diesen Anblick genießen würden, wenn sie nicht machten, daß sie wegkamen. Mit einem Ruck richtete sie sich auf und sah sich um.

Das erste, was sie erblickte, war Gurks Gesicht, und was sie sah, das erschreckte sie zutiefst. Der Zwerg blutete aus Nase, Ohren und Augen, und da, wo seine Haut nicht rot von seinem eigenen Blut war, hatte sie eine schmutzig-graue Färbung angenommen. Sein Blick war verschleiert; er schien alle Mühe zu haben, sich trotz der praktisch nicht vorhandenen Schwerkraft aufrechtzuhalten. Hastig kroch Charity zu ihm hinüber und berührte seinen Helm.

»Was ist los mit dir?« fragte sie.

Gurk stöhnte. Sein Blick klärte sich für einen kurzen Moment, verschleierte sich dann wieder, und als er antworten wollte, brachte er im allerersten Moment nur ein unverständliches Keuchen zustande.

»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte Charity besorgt und kam sich im gleichen Moment ebenso hilflos wie dumm vor. Natürlich war nicht alles in Ordnung mit dem Zwerg.

Trotzdem zwang sich Gurk zu einem angedeuteten Kopfschütteln, stöhnte erneut und sah sie aus Augen an, die trüb vor Schmerz waren. »Schwerkraft ...« stöhnte er. »Ich ... ertrage sie nicht so gut wie ... ihr.«

»Was für eine Schwerkraft?« fragte Charity.

Gurk stöhnte wieder. Er kippte nach hinten, fing sich im letzten Moment und richtete sich wankend wieder auf. »Gravitationswellen«, murmelte er.

»Die Kugeln. Sie ... bestehen aus ... Neutronium.«

Charity riß erstaunt die Augen auf, blickte automatisch die gigantischen, rasenden Kugeln über sich noch einmal an und wandte sich dann wieder dem Zwerg zu. »Neutronium?« wiederholte sie ungläubig. »Du ... du willst behaupten, sie könnten ... Neutronium bearbeiten?«

Trotz seines miserablen Zustandes versuchte Gurk zu lachen, brachte aber nur ein Krächzen zustande. »Sie können noch ganz andere Dinge«, murmelte er. Er atmete tief und schwer ein. »Sie können uns zum Beispiel den Arsch aufreißen, wenn wir noch lange hier herumhocken und uns gegenseitig versichern, wie gut es uns doch schon wieder geht.«

Charity starrte ihn eine Sekunde lang verblüfft an, dann stahl sich gegen ihren Willen ein Lächeln auf ihre Lippen. »Ich glaube, dir geht es schon wieder besser«, sagte sie.

Gurk knurrte etwas Unverständliches, und Charity richtete sich vorsichtig auf und beugte sich zu French herab. Er schien unverletzt zu sein, zitterte aber am ganzen Körper und leistete im ersten Moment Widerstand, als sie ihn auf die Füße ziehen wollte. Sein Blick hing wie gebannt an der blauen Riesenkugel der Erde, die zwei Drittel des Himmels über ihnen beherrschte. Charity fragte sich, was in diesem Moment in ihm vorgehen mochte. Dann drehte sie sich einmal im Kreis, um sich umzusehen.

Jetzt, als sie wußte, wonach sie suchen wollte, entdeckte sie es fast sofort.

Wie es aussah, hatten sie Glück gehabt. Sie befanden sich nur hundert Schritte von einem klaffenden Loch in der Außenhülle der Orbit-Stadt entfernt. Ein Gewirr aus verborgenen Stahlträgern und zerschmolzenen, zerfetzten Panzerplatten verwandelten seine Ränder in eine fast unüberwindliche Barriere. Dahinter war das hintere Drittel eines gewaltigen Etwas zu sehen, das beinahe die Form einer ins Gigantische vergrößerten, plumpen Pfeilspitze hatte.

Obwohl das Bild damals tagelang über alle Bildschirme der Erde geflimmert war und Charity es in allen Einzelheiten kannte, ließ der Anblick sie schaudern. Die NASA hatte niemals herausgefunden, was damals wirklich geschehen war, denn der Unfall hatte sich nur wenige Tage vor der Invasion der Moroni ereignet, aber Tatsache war, daß er beinahe zum Untergang der ganzen Orbit-Stadt geführt hätte.

Das Europäische Space Shuttle, das eigentlich auf der anderen Seite der Station hatte andocken sollen, war plötzlich ins Trudeln gekommen und hatte sich wie ein Geschoß in den äußeren Ring der Orbit-Stadt gebohrt.

Wie durch ein Wunder hatte es keine Toten gegeben, weder in der Station noch an Bord des Space Shutlles, aber jeder Versuch, das sechzig Meter lange Raumschiff aus dem Gewirr von Trümmern zu befreien, war gescheitert.

»Was ... was ist das?« stammelte French. Sein Blick glitt verwirrt über das gewaltige Schiff und das riesige Leck in der Station.

Charity deutete nacheinander auf den Bereich aus zerfetzten Panzerplatten und Trägern, dann auf das auf dem Kopf stehende Space Shuttle. »Wenn ich mich nicht sehr täusche«, sagte sie, »dann ist das die Tote Zone, French. Und das«, sie hob abermals die Hand und wies auf das Raumschiff, »ist Ihr Hort.«

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