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Die Ratte war so groß wie ein ausgewachsener Schäferhund, aber ungleich schwerer, und wenn Hartmann jemals ein lebendes Wesen erblickt hatte, das einzig erschaffen worden zu sein schien, um dem Wort häßlich einen Körper zu verleihen, dann war es diese Kreatur. Ihr Fell war struppig und grau und wies große, häßliche Löcher auf, in denen entzündete, mit eitrigen Wunden übersäte Haut zum Vorschein kam. Ihre Zähne waren nach hinten gebogene Fänge, die einem Tiger Respekt eingeflößt hätten, und die messerscharfen Krallen waren so hart, daß sie dünne Kratzer auf dem stählernen Boden hinterließen.

Hartmann wandte sich schaudernd ab und begegnete Nets Blick. Die Wasteländerin hockte mit angezogenen Knien in einer Ecke des Laderaumes und hatte die Hände um die Oberarme geschlungen, als wäre ihr kalt. Ihr Gesicht spiegelte Ekel, den sie beim Anblick des Riesennagers und der anderen Ratten empfand, die sich im hinteren Drittel des Laderaumes zusammenquetschten. So wie ihr und Hartmann erging es jedem der insgesamt zwanzig Menschen, die sich an Bord der Flugscheibe aufhielten. Kyle hatte ihnen versichert, daß ihnen von den Tieren keinerlei Gefahr drohte, solange sie sie nicht angriffen, und Hartmann glaubte ihm. Dennoch konnte er seine Angst vor diesen entsetzlichen Kreaturen kaum bändigen. Dabei nutzte ihm auch der Gedanke sehr wenig, daß sie selbst es gewesen waren, die diese riesigen Mutanten aus ganz normalen Rattenpopulationen herausgezüchtet hatten. Ganz im Gegenteil. Dieser Gedanke machte es eher noch schlimmer. Während der letzten beiden Stunden hatte Hartmann sich ernsthaft überlegt, ob es wirklich so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals gab. Und ob jetzt vielleicht der Moment zur Abrechnung gekommen war.

Er ließ sich neben Net zu Boden sinken und schnippte die letzte Zigarette aus der zerknitterten Packung in seiner Brusttasche. Sie schmeckte, wie eine sechzig Jahre alte Zigarette trotz Tiefkühlung schmeckte, nämlich schauderhaft, aber er sog den Rauch tief und gierig in seine Lungen und genoß für einen Moment das leise Schwindelgefühl, das sich hinter seiner Stirn ausbreitete. Dann hustete er.

»Sie sollten das nicht tun, Hartmann«, sagte Net. »Eine schreckliche Angewohnheit. Es wird Sie umbringen.«

Hartmann hustete erneut. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte er. »Wenn wir das hier überstehen, höre ich damit auf.«

Nets Gesicht verdüsterte sich. Für einen Moment blickte sie wieder die Ratten an, dann schloß sie die Augen und seufzte tief. »Wahnsinn!« murmelte sie. »Das ist alles Wahnsinn.«

Hartmann antwortete nicht, sondern nahm einen neuen, tiefen Zug aus seiner Zigarette. Net erwartete auch keine Antwort. Sie redeten ohnehin nur, um zu reden, einfach irgend etwas zu tun, und sei es noch so sinnlos. Seit sie an Bord des Gleiters gegangen waren, war die Spannung langsam ins Unerträgliche gestiegen. Er wußte so gut wie jeder einzelne der fünfundsiebzig Männer in seiner Begleitung, daß sich ihre Chancen, den Einsatz zu überleben, irgendwo bei Null bewegten. Und trotzdem wünschte er sich, es wäre endlich soweit.

Er blies einen Rauchring in die Luft, hustete wieder und lehnte den Hinterkopf gegen die stählerne Wand, an der er saß. Sein Blick glitt über die in weiße Tarnanzüge gehüllten Gestalten der zwanzig Männer, die sich zusammen mit den mutierten Ratten die knapp zehn Prozent des verbliebenen Laderaumes des Gleiters teilten. Die restlichen neunzig Prozent wurden von einem Monstrum aus Ketten und Panzerplatten und Geschützrohren beansprucht. Die Seitentür des Leopard stand auf. Dort drinnen wäre mehr Platz als hier draußen gewesen. Sie hätten bequemer sitzen können und wären von der Gesellschaft der Rattenmonster erlöst gewesen. Trotzdem hatte keiner der Männer den Leopard 2000 bisher betreten, obwohl Hartmann es ihnen erlaubt hatte.

Hartmann hatte keinem seiner Männer gegenüber auch nur mit einem Wort erwähnt, wer Kyle wirklich war. Aber das schien auch nicht nötig zu sein. Die Furcht, die die Männer dem Megamann gegenüber empfanden, war deutlich zu spüren.

Kyle tauchte in der Tür des Turmes auf. Er blickte ihn an und wartete sichtlich darauf, daß er irgendwie reagierte. Als er es nicht tat, hob er die Hand und winkte ihn zu sich heran. Hartmann nahm in aller Ruhe einen letzten, tiefen Zug aus seiner Zigarette, stand dann auf und zertrat sie unter seinem Absatz. »Sie haben recht«, sagte er an Net gewandt. »Dieses Zeug bringt einen wirklich um. Kommen Sie.«

Kyle wich gebückt wieder ins Innere des Panzers zurück, als Hartmann und Net durch die Tür traten. Hartmann sah, daß Kyle fast sämtliche Instrumente des Panzers eingeschaltet hatte. Es wird ernst, dachte er. Noch wenige Handgriffe, und der Leopard würde sich in ein brüllendes Etwas verwandeln, das es ganz allein mit einer ganzen Moroniarmee aufnehmen konnte.

»Es wird Zeit«, sagte Kyle. Er wies auf den großen Monitor im Kontrollpult. Auf dem Bildschirm war das Ewige Eis der Nordpolarregion zu erkennen, das in rasendem Tempo unter dem Gleiter dahinjagte. Die kleine Zahlenreihe darunter verriet Hartmann, daß die Entfernung bis zum Nordpol und somit zur Schwarzen Festung der Moroni auf weniger als hundert Kilometer zusammengeschrumpft war.

Hartmann fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Dem über Gletscherspalten und Schneewehen hüpfenden Schatten des Gleiters folgte eine endlose Kette gleichartiger, runder Schatten. Hartmann versuchte, ihre Zahl zu schätzen, gab es aber fast sofort wieder auf. Jeder einzelne dieser so harmlos aussehenden Flecken bedeutete ein Glied in einer buchstäblich endlosen Kette von Gleitern, die sich der Transmitterstation am Nordpol näherten. Schiffe, deren Besatzungen bis auf zwei aus Moroni bestanden, die im gleichen Moment das Feuer auf sie eröffnen würden, in dem sie begriffen, wer sich wirklich an Bord der drei Flugscheiben befand, die sich irgendwo über dem Atlantik in die Formation eingereiht hatten.

»Keine Sorge«, sagte Kyle. Er schien zu ahnen, was hinter Hartmanns Stirn vorging. »Sie haben nichts gemerkt. Bis dieses Schiff landet, sind Sie in Sicherheit.«

Hartmann sah ihn zweifelnd an. Er vertraute Kyle, aber seine Worte kamen ihm trotzdem wie böser Hohn vor. Der Gleiter verlor allmählich an Tempo. Trotzdem konnten höchstens noch fünf oder bestenfalls zehn Minuten vergehen, bis sie die Schwarze Festung erreichten.

Kyle blickte ihn noch einen Moment ernst und sehr durchdringend an, dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um, ging zu der schmalen Bank im hinteren Teil des Panzers und ließ sich darauf nieder. Auffordernd sah er Hartmann an.

»Das ist Wahnsinn, Kyle«, murmelte Hartmann kopfschüttelnd.

»Bitte, Hartmann!« Kyle schaute auf die Uhr. Es gelang ihm nicht mehr ganz, seine Nervosität zu verbergen, aber Hartmann hatte das sichere Gefühl, daß diese Nervosität einen anderen Grund hatte, als er annahm. »Wir haben das alles doch schon besprochen. Wir können ihre Computer täuschen. Aber sie selbst nicht. Sie würden es merken, wenn ich näher als zwanzig oder dreißig Meilen an die Festung herankäme. Und dann wäre alles umsonst gewesen. Dort draußen sind buchstäblich Tausende von Schiffen. Sie würden diesen Gleiter im gleichen Augenblick vernichten, in dem sie auch nur argwöhnen, daß einer von uns an Bord sein könnte.«

»Ach, verdammt!« sagte Hartmann, zog seine Pistole aus dem Halfter und schoß Kyle aus allernächster Nähe drei Kugeln in die Brust.


*


Lähmendes Schweigen hatte sich im Laderaum des Space Shuttles ausgebreitet, als Charity und die anderen dorthin zurückkehrten. Sie hatten noch eine Weile miteinander gesprochen, nur um Stark noch eine kurze Gnadenfrist zu verschaffen, in der er mit seinen Leuten reden konnte. Offensichtlich aber schien dieses Gespräch anders ausgegangen zu sein, als Charity gehofft hatte. Frenchs Brüder und Schwestern standen schweigend da und sahen sie aus furchtgeweiteten, dunklen Augen an, während Stark die Hände in den Taschen seines grauen Overalls vergraben hatte und zu Boden blickte.

»Stark!« Charity gab sich Mühe, ihrer Stimme einen möglichst befehlenden Klang zu verleihen. »Warum haben Sie nicht getan, was ich Ihnen befohlen habe?«

Stark sah auf. In seinem Blick war kein Trotz, sondern nur Erschrecken und eine tiefe Verzweiflung. »Wir ... wir können nicht fort«, sagte er. »Bitte - verstehen Sie doch! Es geht zu schnell. Das hier ... das hier ist alles, was wir haben. Wir kennen keine andere Welt. Wir können in keiner anderen Welt leben.«

»Eigentlich hat er recht«, knurrte Gurk. »Ein Umzug würde sich kaum noch lohnen.«

Charity brachte ihn mit einer raschen Geste zum Verstummen und trat einen Schritt auf Stark zu, blieb aber wieder stehen, als sie die Blicke der anderen registrierte. Es lag noch immer Ehrfurcht und Staunen darin, aber jetzt auch eindeutig Angst. Und etwas, das sie im ersten Moment für Zorn hielt, bis sie begriff, daß es in Wahrheit nichts anderes als Enttäuschung war. Enttäuschung und eine unendlich tiefe Verzweiflung. Diese Menschen hier hatten auf einen Retter gewartet, seit sie auf die Welt gekommen waren. Und jetzt war Charity gekommen. Die Legenden, von denen sie alle insgeheim gewußt hatten, daß sie nichts anderes als Legenden waren, waren wahr geworden, aber Charity kam nicht als Retterin, sondern als Todesbotin. »Bitte, Stark«, sagte sie beinahe flehend. »Ich weiß, was Sie fühlen. Aber wir müssen es wenigstens versuchen. Was Gurk gesagt hat, ist wahr. Aber ... aber es gibt immer einen Ausweg. Solange wir noch am Leben sind, werden wir kämpfen. Es muß ein Möglichkeit geben, es aufzuhalten.«

»Das ist es nicht«, sagte Stark leise. »Wir können nicht fort. Wir können nicht hier heraus. Es gibt nicht genug Schutzanzüge, damit alle die Tote Zone durchqueren können. Nur vier oder fünf. Die anderen würden ersticken.«

Charity schloß mit einem Seufzen die Augen. Es war einfach lächerlich, daß es nach allem vielleicht daran scheitern sollte, daß es einfach nicht genug Vakuumanzüge für dieses Dutzend Männer und Frauen gab. »Vier oder fünf«, sagte sie. »Das ist besser als nichts. Dann suchen Sie Ihre vier oder fünf besten Männer aus, die uns begleiten werden. Wie gehen und holen Anzüge für den Rest.«

»Es gibt nicht so viele«, sagte Stark. »Die Spinnen ...«

»Es gibt genug von diesen Anzügen an Bord«, unterbrach ihn Charity und strich mit einer Handbewegung über ihren eigenen Raumanzug. »Wir werden sie finden. French und ein paar von den anderen können sie zurückbringen. Er wird Ihnen zeigen, wie man sie anlegt.«

Starks Schweigen war Antwort genug. Trotzdem wiederholte Charity ihre befehlende Geste und sagte noch einmal: »Sie müssen hier weg.«

»Aber wohin denn?« murmelte Stark, machte aber gleichzeitig mit der linken Hand ein Zeichen, auf das hin sich drei der jüngeren Männer in die transparenten Kunstfolien zu wickeln begannen, die die Bewohner des Hortes zu primitiven Raumanzügen umfunktioniert hatten.

Während sie darauf warteten, daß die drei, einer nach dem anderen, in der improvisierten Luftschleuse verschwanden, trat Gurk an ihre Seite und musterte abwechselnd sie und Frenchs Familie mit finsteren Blicken.

»Weißt du«, sagte er so leise, daß nur Charity seine Worte verstehen konnte, »so unrecht hat er gar nicht.«

Charity schwieg. Sie hatte keine Lust, mit Gurk zu reden. Tief im Innersten war sie sich sehr wohl klar darüber, daß alles, was sie jetzt noch taten, völlig umsonst war, und doch gehörte es zum Menschen und unterschied ihn vom Tier immer das Unmögliche zu versuchen.

Gurk fuhr nach einer kurzen Pause fort. »Dieser Stark hat recht, Charity. Sie können nirgendwo anders leben. Bringe sie zur Erde, und du tötest sie.«

Auch damit hat er recht, dachte Charity. Sie selbst empfand die niedrige Gravitation an Bord des Space Shuttles im Moment als angenehm, aber diese Leute hier hatten niemals die Anziehungskraft eines Planeten gespürt. Sie hatte ja selbst gesehen, wie sehr French unter der künstlichen Gravitation im Inneren der Orbit-Stadt gelitten hatte. Die Haut dieser Menschen hatte niemals Sonnenlicht gespürt. Sie hatten niemals saubere Luft geatmet. Und sie waren niemals mit Krankheitserregern in Berührung gekommen. Sie hätte die Aufzählung beliebig fortsetzen können, aber es lief immer wieder auf das eine hinaus - Gurk hatte recht. Diese Handvoll Menschen auf die Erde zu bringen bedeutete ihren sicheren Tod.

Sie sprach nichts von alledem aus, sondern wartete stumm, bis French als letzter in der Schleuse verschwunden war und sich das gepanzerte Luk wieder öffnete. Beinahe hastig schloß sie den Helm ihres Anzuges, quetschte sich in die winzige Kammer und wartete ungeduldig darauf, daß die Außentür aufschwang.

French und seine drei Begleiter hockten auf einem verbogenen Träger unweit der Schleuse, und als Charity zu ihnen hinüberschwebte, da fiel ihr erst auf, daß die drei Männer nicht nur ihre improvisierten Raumanzüge, sondem auch die gleiche Art von Ameisenverkleidung angelegt hatten, wie sie auch French trug. Der Anblick ließ sie schaudern, denn er erinnerte sie auf eine unheimliche Weise daran, wo sie sich befand. Während der letzten Stunden waren ihre Gedanken nur um die höllische Bombe im Zentrum der Station gekreist, so daß sie die unmittelbare Gefahr durch die Moroni beinahe vergessen hatte. Aber sie war vielleicht größer denn je, denn trotz allem würden die Insektenkrieger fieberhaft Jagd auf sie und die anderen machen.

Sie erreichte den Träger, klammerte sich mit einer Hand an dem verbogenen Metall fest und deutete mit der anderen auf das Schleusentor auf der anderen Seite des Kraters. French sah sie verblüfft an und schüttelte dann erschrocken den Kopf. Charity wiederholte ihre Geste etwas energischer und wollte sich dann abstoßen, aber French hielt sie mit einer überraschend schnellen Bewegung am Arm zurück und beugte sich vor, um ihren Helm zu berühren.

»Wir müssen warten«, sagte er.

»Warten? Worauf?«

»Auf die Spinnen. Sie kommen manchmal und öffnen das Tor.«

»Und manchmal auch nicht?« Charity schüttelte heftig den Kopf. »Soviel Zeit haben wir leider nicht, French.«

»Aber niemand von uns weiß, wie man es öffnet«, widersprach French.

Charity hob ihren Laserstrahler und machte ein grimmiges Gesicht. »Schlimmstenfalls damit«, sagte sie. »Aber wahrscheinlich wird das nicht nötig sein. Kommt mit.«

Ohne French Gelegenheit zu geben, noch einmal zu widersprechen, stieß sie sich ab und glitt mit weit vorgestreckten Armen zielsicher auf die riesige Irisblende vor der Schleuse zu. Sie prallte ein wenig zu heftig gegen die Wand, so daß sie um ein Haar zurückgeschleudert und abgetrieben worden wäre. Im letzten Moment fand sie irgendwo Halt, rief sich selbst in Gedanken zur Ordnung und konzentrierte sich dann auf die fremdartige Schleusenkonstruktion. Sie fand den Öffnungsmechanismus auf Anhieb. Er war für Lebewesen gebaut, deren Gliedmaßen völlig anders aussahen als die Hände von Menschen, und mit unverständlichen Symbolen und Schriftzeichen versehen. Aber sein Funktionsprinzip war derart einfach, daß Charity kaum eine Minute brauchte, um es zu durchschauen. Keine weitere Minute verging, ehe sich in der Mitte der Irisblende ein faustgroßes Loch bildete, das rasch im Zentrum einer spiralförmigen Bewegung heranzuwachsen begann, bis es groß genug war, sie bequem hindurchzulassen.

Charity nahm ihr Gewehr wieder von der Schulter, schwang sich in den Schleusenraum hinein und spürte, wie die künstliche Gravitation wieder nach ihrem Körper griff und sie langsam auf den Boden herabzog. Sie wartete, bis alle anderen hinter ihr die Schleuse betreten hatten, winkte aber ab, als French weitergehen wollte. Mit wenigen, knappen Gesten erklärte sie ihm, wie der Öffnungsmechanismus funktionierte und ließ es sich vorsichtshalber einmal von ihm demonstrieren. »Es kann sein, daß Sie allein zurückgehen müssen.«

French sah erschrocken aus, enthielt sich aber jeden Kommentars, sondern nickte nur. Charity schloß die Schleuse endgültig, flutete den Raum mit Sauerstoff und wollte die innere Tür öffnen.

French hielt sie zurück. Mit bereits erstaunlich sicherer Bewegung öffnete er den Helm des für ihn ungewohnten Anzuges, forderte dann seine Kameraden auf, sich ebenfalls ihrer Schutzanzüge zu entledigen, und richtete plötzlich und ohne Warnung seine Harpunenwaffe auf Charity. In einer einzigen Bewegung hoben auch die anderen ihre selbstgebauten Armbrüste und legten damit auf Skudder, Gurk und Stone an.

Skudder wirbelte herum, sein Lasergewehr von der Schulter zerrend. Gleichzeitig versuchte er, dem Mann vor sich einen Tritt zu versetzen, verfehlte ihn aber und fand im letzten Moment mit einer hastigen Bewegung sein Gleichgewicht wieder.

»Was soll das?« fragte Charity, mehr verblüfft als wirklich erschrocken.

»Sie sind unsere Gefangenen«, sagte French. Mit einem flüchtigen Lächeln fügte er hinzu: »Keine Sorge. Wir tun natürlich nur so. Aber wenn wir auf Spinnen treffen, ist es sicherer, wenn sie glauben, wir hätten euch gefangengenommen.«

Charity atmete erleichtert auf, während sich Skudders Gesicht noch weiter verdüsterte. »Richte nie wieder eine Waffe auf mich, Knirps«, sagte er, während er versuchte, den in einem Ameisenkostüm steckenden Mann vor sich mit Blicken zu durchbohren.

»Laß es gut sein, Skudder«, sagte Charity. »Sie haben völlig recht.«

Skudder knurrte irgendeine Antwort, die Charity nicht zu verstehen vorzog, hob aber gehorsam die Hände in Schulterhöhe und stellte sich neben ihr, Gurk und Stone auf, während die vermeintlichen Ameisen mit angelegten Waffen einen Halbkreis um sie bildeten.

French ließ mit einem Knopfdruck das innere Tor aufgleiten. Düsteres, flackerndes rotes Licht und ein deutlicher Brandgeruch schlugen ihnen entgegen; aus der Ferne drangen die undeutlichen Geräusche eines Kampfes zu ihnen. Der Boden zitterte ganz leicht. Offensichtlich waren die Moroni noch immer dabei, sich gegenseitig umzubringen.

»Wohin?« wandte sich French an Charity.

Sie überlegte einen Moment, dann deutete sie mit einer Kopfbewegung auf die Sauerstoffflasche auf Frenchs Rücken. »Wo finden Sie diese Dinger normalerweise?«

French deutete den Gang hinab. »Es ist nicht sehr weit. Aber die meisten Stellen, wo es Luft gibt, sind erschöpft. Deshalb mußte ich ja so weit in die Spinnenwelt vordringen.«

»Das spielt keine Rolle«, antwortete Charity. »Wir brauchen nur die Anzüge.«

»Ohne Sauerstoff?« fragte Gurk und zog die linke Augenbraue hoch.

»Wir müssen die Leute nur irgendwie hier herüberschaffen«, sagte Charity. »Für die paar Augenblicke reicht der Luftvorrat im Anzug. Außerdem können wir schlimmstenfalls die Flaschen tauschen.«

Das Zittern des Bodens nahm an Heftigkeit zu, während sie tiefer in die Orbit-Stadt eindrangen. Ein paarmal glaubte Charity, Schatten und Bewegungen vor sich zu sehen, aber sie waren niemals deutlich genug, um sie zu identifizieren. Unbehelligt erreichten sie die Kammer, von der French gesprochen hatte.

Es war ein alter Vorratsraum, wie Charity angenommen hatte. Die großen Regale mit den Sauerstoffflaschen waren leergeräumt, aber in einem Schrank daneben hingen fast zwei Dutzend völlig intakter Raumanzüge. Während einer von Frenchs Begleitern draußen an der Tür Wache hielt, nahmen Charity und Skudder die Anzüge aus dem Schrank und verpackten sie hastig in eines jener durchsichtigen Transportbehältnisse, die den Bewohnern des Hortes bisher als Raumanzüge gedient hatten. Obwohl die Anzüge nur aus dünner Kunststoffolie bestanden, bekamen sie ein ansehnliches Paket zusammen, das sie nur mit Mühe durch die Tür wieder auf den Gang bugsieren konnten.

Als sie die Luftschleuse beinahe wieder erreicht hatten, stießen sie dann doch auf Ameisen. Die Wand rechts neben Skudder, der die Spitze übernommen hatte, glühte plötzlich in einem grellen, lodernden Rot auf, und bevor noch einer von ihnen Gelegenheit fand, zu reagieren, brach ein ganzes Dutzend vierarmiger Insektenkrieger aus dem Loch, das in dem dünnen Aluminiumblech entstanden war. Skudder riß seine Waffe in die Höhe.

»Skudder! Nein!«

Skudders Bewegung war zu schnell, als daß er noch auf Charitys Schrei reagieren und sie zurückhalten konnte: Sein Finger riß den Abzug des Lasergewehres durch, und die vorderste der heranstürmenden Ameisen flammte auf wie ein Stück trockenes Holz und zerfiel zu Asche. Zwei, drei weitere Moroni warfen sich blitzschnell zur Seite, um nicht von den lodernden Flammen getroffen zu werden, aber aus der gewaltigen Bresche in der Gangwand strömten ununterbrochen weitere Insektenkrieger heran, eine Flut schwarzglänzender Gestalten, die rasend schnell und mit angeschlagenen Waffen einen Halbkreis um sie herum bildeten. Drei Dutzend der kleinen, gefährlichen Laserpistolen richteten sich auf Skudder.

Aber keine von ihnen wurde abgefeuert.

Skudder erstarrte für eine halbe Sekunde. Sein Gewehr schwenkte herum und zielte auf eine weitere Ameise. Aber auch er drückte nicht noch einmal ab. Für die Dauer eines Herzschlages stand er einfach reglos und zutiefst verwirrt da, dann drehte er den Kopf und sah Charity an, als begriffe er erst jetzt wirklich, daß sie es gewesen war, deren Schrei er gehört hatte.

Er war nicht der einzige, der Charity verblüfft anstarrte. Auch French und seine Freunde hatten ihre Harpunenwaffen in Anschlag gebracht, zögerten aber ebenso wie Charity, abzudrücken. Es wäre Selbstmord gewesen.

Charity machte eine beruhigende Handbewegung, zog die linke Hand, die sie ebenso wie Skudder zu ihrem Gewehr gehoben hatte, wieder zurück und machte einen zögernden Schritt.

Die Moroni starrten sie aus ihren ausdruckslosen Insektenaugen an. Zwei, drei Waffen bewegten sich und folgten mit der Präzision von Maschinen jedem ihrer Schritte. Dann teilte sich plötzlich die Front der Insektenkrieger.

Skudder sog überrascht die Luft zwischen den Zähnen ein, und auch French ließ einen halblauten, verblüfften Ruf hören.

Eine der dunklen Gestalten war kein Moroni.

Es war Leßter.

Charity war nicht einmal sehr überrascht - aber sie war im ersten Augenblick selbst verblüfft, daß sie ihn überhaupt als Menschen erkannt hatte.

Der Mann, der gebrannt hat ... Sie begriff erst jetzt, was French wirklich damit gemeint hatte.

Leßter hatte gebrannt. Er war verbrannt. Er war ein lebendes Wesen aus Fleisch und Blut, und kein lebendes Wesen konnte solche Verletzungen überstehen.

Und trotzdem stand Leßter ruhig da und blickte ihr entgegen.

Seine Kleider und seine Haut waren bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Fast ein Dutzend faustgroßer Wunden bedeckte seinen Körper, von denen eigentlich jede einzelne hätte tödlich sein müssen, und zumindest einer der Laserstrahlen mußte sein Gesicht getroffen haben, denn Mund und Kinn waren nur noch eine einzige, vernarbte Masse, bei deren Anblick sich etwas in Charity zusammenzog.

Zwei Schritte vor dem Jared blieb sie stehen. Sie wollte etwas sagen, konnte es aber nicht. Sie schien auch ihr Gesicht nicht so gut unter Kontrolle zu haben, wie sie glaubte, denn Leßter sagte plötzlich: »Ich weiß, welchen Anblick ich biete, Captain Laird. Es tut mir leid, Sie damit konfrontieren zu müssen. Ich hätte es Ihnen gerne erspart, aber die Zeit reicht nicht mehr aus.«

Charity starrte ihn an. Der Anblick seines zerstörten Gesichts schnürte ihr die Kehle zu; das Entsetzen war so stark, daß sie Mühe hatte, an irgend etwas zu denken. Doch wieso lebt er noch?

»Leßter?« fragte sie unsicher. »Sie ...«

»Bitte, Captain Laird«, unterbrach sie Leßter. Er hob die Hand, um sie vollends zum Schweigen zu bringen, und trat auf sie zu. Seine Bewegungen waren ungelenk. Offensichtlich hatte er Mühe, überhaupt zu gehen. »Sie und Ihre Freunde müssen diese Station verlassen«, sagte er. »Sofort. Es bleibt keine Zeit mehr für Erklärungen.«

Charity hörte, wie Skudder neben sie trat und abermals scharf die Luft einsog, als sein Blick in Leßters Gesicht fiel. Sie betete, daß er keinen Fehler machte.

»Wer sind Sie?« fragte sie leise.

Leßters zerstörtes Gesicht verzerrte sich, als er zu lächeln versuchte. »Aber das wissen Sie doch längst, Captain Laird«, sagte er. »Sie haben gedacht, ich wäre Kyle, nicht wahr?«

Charity nickte schwach.

»In gewissem Sinne stimmt das auch«, fuhr Leßter fort. Er stöhnte. Sein zerstörtes Gesicht verzog sich einen Moment vor Schmerzen. »Ja, ich bin Kyle, Charity. So, wie er ich ist. Leider bin ich in mancher Hinsicht nicht ganz so gut wie er.« Er versuchte ein Lächeln, brachte aber wieder nur eine schreckliche Grimasse zustande.

»Wer zum Teufel sind Sie!« fragte Skudder. Er sprach ganz leise, aber seine Stimme zitterte vor Erregung. Charity sah, daß seine Hände noch immer das Gewehr umklammerten.

»Bitte, Mister Skudder«, sagte Leßter. »Wir haben keine Zeit. Man wird Ihnen alles erklären, aber jetzt müssen Sie von Bord gehen.« Er deutete mit einer Hand, die wenig mehr als ein verkohltes Stück Fleisch war, auf die Luftschleuse. »Draußen steht ein Schiff für Sie bereit.«

»Und French und seine Leute?« fragte Skudder.

»Der Gleiter ist groß genug für alle«, antwortete Leßter. Seine Stimme klang noch immer gepreßt, aber Charity glaubte jetzt, eine deutliche Spur von Ungeduld oder Nervosität herauszuhören. Er machte einen mühsamen Schritt und wies auf die Ameise direkt neben sich. »Das ist Kias. Er wird Sie begleiten. Er spricht Ihre Sprache, wenn auch nicht sehr gut. Er wird Ihnen alle Fragen beantworten.«

»Er?« fragte Charity. »Und Sie, Leßter? Sie begleiten uns nicht?«

»Ich wollte, ich könnte es«, antwortete Leßter. »Aber ich werde hier gebraucht. Ich hätte gar nicht kommen dürfen, aber wir haben jemandem versprochen, für Ihre Sicherheit zu sorgen. Und jetzt gehen Sie. Der Kampf ist noch nicht vorbei. Ich bin nicht einmal sicher, ob wir ihn gewinnen.«

»Was ist mit der Bombe?« fragte Charity. »Werden Sie sie entschärfen?«

»Das ist unmöglich« antwortete Leßter. Er deutete auf Gurk. »Fragen Sie den Zwerg. Er wird es Ihnen bestätigen. Sie wird explodieren. In weniger als einer halben Stunde.«

Charity schloß mit einem lautlosen Seufzen die Augen. Leßters Worte hätten sie nicht enttäuschen dürfen, aber sie taten es, so sehr, daß es fast körperlich schmerzte. Gegen jede Logik hatte sie sich bei Leßters Anblick einfach an die verzweifelte Hoffnung geklammert, daß vielleicht doch noch alles gut werden würde.

»Dann hat es nicht mehr viel Sinn, an Bord dieses Schiffes zu gehen«, sagte sie leise. »Sie wissen, um welche Art Waffe es sich handelt, nicht wahr?«

»Besser als Sie«, antwortete Leßter. Er versuchte es noch einmal, und diesmal brachte er tatsächlich das Kunststück fertig, so etwas wie ein Lächeln auf sein Gesicht zu zwingen. »Sie sind nicht in Gefahr, Captain Laird. Weder Ihnen noch Ihren Freunden wird etwas geschehen, wenn Sie Kias begleiten und diese Station verlassen, so lange noch Zeit dazu ist.«

Irgendwo in den Tiefen der Orbit-Stadt explodierte etwas, wie um den Ernst von Leßters Worten zu unterstreichen. Ein lang anhaltendes Zittern und Beben lief durch die Wände und den Boden.

»Gehen Sie«, sagte Leßter noch einmal. »Bitte.«

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