Hartmann starrte die vierfache Reihe von hintereinander geschalteten Bildschirmen vor sich an und versuchte vergeblich, sich in Erinnerung zu rufen, daß diese Monitore nichts anderes als Monitore waren und keinerlei Schuld an dem trugen, was sie zeigten. Es nutzte nichts - seit einer Stunde verspürte er das immer heftiger werdende Bedürfnis, den schweren Glasaschenbecher vom Schreibtisch vor sich zu nehmen und in einen der Bildschirme zu werfen. Vielleicht sollte er es tun, überlegte er. Nicht, daß es irgend etwas ändern würde. Aber es würde ihn erleichtern.
Hauptmann Hartmann war stets stolz auf seine Selbstbeherrschung gewesen. Aber dies war einer von den Tagen, an denen er sie zu verfluchen begann.
Ja, vielleicht sollte er es tun.
Er streckte die Hand nach dem Aschenbecher aus, nahm ihn sogar für einen Moment hoch und wog ihn in den Fingern, stellte ihn dann aber wieder zurück auf den Tisch.
Ersatzteile waren knapp.
Die Hälfte dieser verfluchten Monitore funktionierte ohnehin nicht mehr.
Er hörte das Geräusch der Tür, schwang abrupt mit seinem Drehsessel herum und entspannte sich wieder, als er erkannte, daß es Net war, die hereinkam.
Es war absurd genug: Noch vor wenigen Wochen hätte er ihr ungefragtes Eindringen in das Allerheiligste der Basis als Affront empfunden, und von allen, die Captain Charity Laird begleiteten, war die junge Wasteländerin wohl diejenige, die Hartmann und seinen Männern mit dem großen Mißtrauen begegnete. Trotzdem war er jetzt beinahe erleichtert, daß sie es war und nicht einer seiner Männer. In den letzten Tagen pflegten seine Soldaten nur noch Hiobsbotschaften zu bringen.
Einen Moment lang sah er sie an und fragte sich wieder einmal vergeblich, was hinter der Stirn des dunkelhaarigen Mädchens vorgehen mochte. Sie stand auf ihrer Seite, und über ihre Loyalität gab es keinen Zweifel, aber die Art, wie sie sich manchmal umsah, und der verwirrte, fast erschrockene Ausdruck, der in all den Wochen nicht aus ihrem Blick gewichen war, beunruhigten Hartmann. Sie hatte es niemals ausgesprochen, nicht einmal angedeutet, aber Hartmann wußte, wie wenig wohl sie sich hier fühlte. Sie mochte diese neue und zugleich alte Welt nicht. Sie hatte Angst vor all diesen Apparaten, den technischen Gerätschaften und Waffen, dem Lärm und der Hektik, der untergegangenen Zeit, die dieser Bunker symbolisierte. Dabei hätte es genau umgekehrt sein müssen. Er hatte sehr wenig mit Net, aber doch genug mit den anderen über sie geredet, um zu wissen, wie das Leben eines Wasteländers aussah: Net war in einer Welt aufgewachsen, die nur aus Furcht und Entbehrungen, aus Kämpfen ums nackte Überleben und aus Angst vor dem nächsten Tag bestand. Der Eifelbunker hätte ihr wie das Paradies vorkommen müssen, mit seinen atombombensicheren Wänden, seiner Nahrung im Überfluß, der Sicherheit, die er bot. Aber jeder Blick in ihre Augen bestätigte Hartmann, daß eher das Gegenteil der Fall war.
»Haben Sie Nachrichten von Charity?« fragte Net.
Hartmann deutete ein Kopf schütteln an. Die Frage überraschte ihn nicht. Net hatte sie in den letzten vierundzwanzig Stunden ein paarmal gestellt. Captain Laird und die anderen waren überfällig. Das letzte, was Hartmann von der Gruppe gehört hatte, war ein verstümmeltes SOS-Signal gewesen, das abbrach, ehe es auch nur zu Ende gesendet wurde. Er hatte nicht verhindern können, daß die Wasteländerin von diesem Signal erfuhr, aber er hatte ihr verschwiegen, was es wirklich bedeutete.
Es war keine direkte Nachricht von Captain Laird oder einem der anderen gewesen, sondern ein automatisches Signal, das der Bordcomputer des Flugzeuges ausstrahlte, wenn die Maschine zerstört wurde. Was nicht unbedingt hieß, versuchte er sich selbst in Gedanken zu beruhigen, daß ihnen wirklich etwas zugestoßen war. Aber es bedeutete ganz bestimmt auch nicht, daß alles nach Plan verlief.
Er schüttelte noch einmal den Kopf und schwang sich abermals mit seinem Stuhl herum. Sein Blick richtete sich wieder auf das ungleichmäßige Muster von intakten und blinden Monitoren an der gegenüberliegenden Wand. »Was zum Teufel tun die da?« murmelte er.
Da es nicht wirklich eine Frage gewesen war, sagte Net auch nichts, trat aber nach einigen Sekunden des Zögerns um den Schreibtisch herum und blieb neben ihm stehen. Ihr Blick irrte über das Durcheinander von Bildern. Hartmann hatte die letzten Wochen dazu benutzt, ein ganzes System von Überwachungskameras und Mini-Satelliten aufzubauen, das es ihm ermöglichte, nicht nur die nähere Umgebung des Bunkers, sondern auch Teile der Stadt zu beobachten. Und irgend etwas ging dort draußen vor. Seit Tagen hatte sich eine hektische, nervöse Aktivität unter den Moroni ausgebreitet. Gleiter kamen und gingen, Material wurde gebracht und weggeschafft, Ameisen kamen und gingen, und immer öfter tauchten neben den bekannten, flachen Diskusfahrzeugen auch die viel größeren Kampfschiffe der Moroni am Himmel auf. Hartmann bedauerte es sehr, nicht auch einen Blick in die Stadt und auf das mutierte Nest in den Ruinen des Doms werfen zu können. Aber alle ferngelenkten Sonden, die er losgeschickt hatte, waren zerstört worden, ehe das Gebäude auch nur in Sichtweite kam, und Hartmann wagte es nicht, einen oder gar mehrere seiner Männer loszuschicken. Er wußte nur zu gut, daß sie nicht zurückkehren würden.
Er wandte sich wieder dem Schreibtisch zu und berührte eine Taste des Sprechgerätes. Es dauerte einen Moment, bis sein Ruf beantwortet wurde. Wie alles hier war auch die Wachstube unten in den Tief Schlafkammern katastrophal unterbesetzt. Die Arbeit von fünf Männern mußte von einem getan werden. Hartmann konnte sich wahrscheinlich glücklich schätzen, daß er überhaupt eine Antwort bekam.
»Leutnant Steinberger hier, Hibernationskomplex«, drang eine verzerrte Stimme aus dem Lautsprecher.
»Hartmann«, antwortete Hartmann knapp. »Irgendeine Änderung?«
»Nein«, antwortete Steinberger, und Hartmann atmete innerlich schon auf. »Nichts. In den letzten vier Stunden waren es neun.«
Mit einem sehr tiefen Stirnrunzeln, aber ohne noch ein Wort zu sagen, unterbrach Hartmann die Verbindung. Im Grunde wußte er es längst, aber etwas in ihm weigerte sich immer noch, sich einzugestehen, daß er wohl alle seine Männer verlieren würde; alle, die in den Schlaftanks lagen und darauf warteten, aufzuwachen, und fast alle, die wach waren. In den ersten Tagen nach ihrem ebenso erbitterten wie kurzen und sinnlosen Widerstand gegen die Jared waren mehr als zwei Drittel seiner Männer einfach gegangen. Hartmann wußte, daß sie jetzt in Köln waren, keine wirklichen Menschen mehr, sondern zu etwas geworden, was er nicht verstand, was ihn aber zutiefst erschreckte. Captain Laird hatte versucht, es ihm zu erklären. Sie hatte etwas von Telepathie erzählt, vom Verschmelzen verschiedener Bewußtseine zu einer dritten, anderen Art, aber er hatte nichts von alledem verstanden. Vielleicht hätte er es, hätte er es gewollt.
Aber alles in ihm schreckte davor zurück, sich einzugestehen, daß es außer der Welt, die er kannte, und dem Universum der Invasoren, noch eine dritte, unsichtbare Ebene des Seins gab. Tatsache aber blieb, daß seine Männer verschwanden, unaufhörlich einer nach dem anderen. Vielleicht würde es auch nicht aufhören. Vielleicht würden noch einmal zwei Wochen oder zwei Monate oder auch zwei Jahre vergehen, bis auch der letzte Mann zu einem Teil jenes gigantischen Kollektivbewußtseins geworden war, das sich Jared nannte und über Tausende von Körpern verfügte. Vielleicht würde eines Tages sogar er gehen. Der Gedanke ließ ihn frösteln. Er dachte an das kurze Gespräch mit Kyle zurück, und er glaubte das, was der Megamann ihm gesagt hatte: daß es nichts war, wovor er sich fürchten mußte. Es war nicht der Tod, nicht die Veränderung in etwas Fremdes, nicht einmal der Verlust seiner Menschlichkeit, sondern die Verschmelzung zu etwas Neuem, Gewaltigen, das nicht nahm, sondern nur gab. Ja, er glaubte Kyle. Aber er hatte die Jared gesehen. Er hatte den leeren Ausdruck in ihren Gesichtern erblickt, und die Gleichmütigkeit, mit der sie ihr Schicksal hinnahmen; und was er gesehen hatte, das hatte ihn einen geheimen Entschluß fassen lassen: In der Pistole an seiner rechten Hüfte befanden sich neun Kugeln. Eine davon war für ihn.
Hartmann verscheuchte auch diesen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. Zumindest eines glaubte er zu erkennen: Wenn nicht alles, was er jemals als Soldat gelernt hatte, falsch war, dann beobachteten sie die Vorbereitung einer Invasion.
Andererseits war das vollkommen unmöglich. Die Zahl der Moroni, die in den letzten Tagen in der näheren Umgebung von Köln eingetroffen waren, mußte in die Zehntausende gehen. Und sie hatten genug Waffen aufgehäuft, um einen kleinen Planeten einzuäschern. Die Vorstellung, daß dieses ganze Aufgebot nur hier war, um es mit einer Handvoll abtrünniger Ameisen und ihren menschlichen Verbündeten aufzunehmen, die nicht einmal Waffen hatten, war lächerlich.
»Wieviel Zeit bleibt ihnen noch?« fragte Net.
Hartmann blickte auf die roten Leuchtziffern der Digitaluhr, die zwischen den Bildschirmen an der Wand hing. »Nicht ganz sechsunddreißig Stunden«, sagte er.
Sechsunddreißig Stunden. Für einige Sekunden hing Nets Blick wie gebannt an den roten Leuchtziffern. Dann fragte sie. »Werden Sie es tun?«
Hätte er doch eine Antwort auf diese Frage gewußt. »Ich schätze«, sagte er schließlich ausweichend, »es spielt keine Rolle, ob ich es will oder nicht.«
»Danach habe ich nicht gefragt«, sagte Net.
»Ich weiß«, knurrte Hartmann. Er fragte sich, ob es ihr Vergnügen bereitete, ihn immer wieder in Verlegenheit zu bringen. Er begriff aber im gleichen Augenblick, wie ungerecht diese Frage war, und entschuldigte sich in Gedanken bei ihr. Die Frage war nicht, ob er es tun würde. Die Frage, die Net bewegte, war, ob sie es tun würde. Wenn er ja sagte, dann nahm er ihr damit einen Teil der Verantwortung ab. Und es spielte überhaupt keine Rolle, daß nicht Net es war, deren Finger auf dem Auslöser lag.
Er räusperte sich, wartete, bis sie darauf reagierte und ihn ansah, und sagte mit fester Stimme: »Ja. Ich werde es tun. Und ich werde Ihnen auch sagen, warum. Es spielt keine Rolle, ob ich Captain Laird und die anderen damit umbringe oder nicht. Wenn sie es geschafft hat, dann ist sie in Sicherheit, wenn die Rakete einschlägt. Wenn nicht, dann sterben wir sowieso alle - ein paar Tage früher oder später.«
Net sagte nichts, aber sie wußten beide, daß es nicht wahr war. Es spielte eine Rolle. Es war gleich, ob es sich um wenige Tage, um Jahre oder auch nur um Stunden handelte - was zählte war, daß er es war, der sie töten würde, nicht die Nova-Bombe der Moroni.
Nets Frage war ohnehin falsch gestellt gewesen. Er brauchte gar nichts mehr zu tun. Er mußte einfach die Dinge ihren vorbestimmten Lauf nehmen lassen. Noch sechsunddreißig Stunden und der Computer würde ein Funksignal an einen zweiten Rechner in einen nur von Maschinen und Elektronik gesteuerten Teil der Anlage Hunderte von Kilometern entfernt senden und kurz hintereinander die vier ICBMs starten, die dort seit achtzig Jahren auf ihren Einsatz warteten. Hartmann zweifelte keine Sekunde daran, daß sie noch funktionierten. Vier Raketen waren erbärmlich wenig, doch mehr als genug, um mit ihren vier Mehrfachsprengköpfen die Schwarze Festung der Moroni in eine radioaktive Wolke zu verwandeln.
Bei der Vorstellung überkam ihn eine sonderbare Empfindung, nicht nur pure Angst, sondern das Gefühl, einen Frevel zu begehen. Die Welt der Atombomben war vor einem halben Jahrhundert untergegangen, und er hatte nicht das Recht, vielleicht als einzigen Teil jener verlorenen Vergangenheit ausgerechnet deren größten Wahnsinn wiederzubeleben. Er fragte sich, ob sie alle auch nur irgend etwas aus dem gelernt hatten, was ihrer Welt zugestoßen war.
Er begegnete wieder Nets Blick und las die gleiche Frage in ihren Augen. Barsch und beinahe erschrocken wandte er sich ab. Dann sah er die Anzeige der Digitaluhr. Sie hatten noch ...