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Das Heulen der Alarmsirenen riß Hartmann aus einem Schlaf, in den er erst vor einer halben Stunde gesunken war. Die Digitaluhr in seiner Videowand hatte etwas weniger als vierundzwanzig Stunden angezeigt, ehe er die Wache in der Zentrale an einen der wenigen Männer übergeben hatte, denen er noch vertrauen konnte, und sich in sein Privatquartier zurückzog. Er war seit fast dreißig Stunden auf den Beinen gewesen. Trotzdem hatte es lange gedauert, bis er endlich eingeschlafen war.

Um so schlimmer erwachte er wieder. Das aus zwei Zimmern bestehende Apartment, das Hartmann seit einigen Wochen bewohnte, hatte früher Krämer gehört; es zeichnete sich nicht nur durch einen sonst nirgendwo in der Bunkerfestung anzutreffenden Luxus aus, sondern auch dadurch, unmittelbar an die Kommandozentrale zu grenzen. Die erste Sequenz des Alarmgeheuls war noch nicht völlig verklungen, als Hartmann auch schon die Tür aufstieß und mit zwei gewaltigen Schritten hinter der Wache auftauchte. Sein Blick irrte über die Monitorwand und tastete in fliegender Hast jeden einzelnen Bildschirm ab. Nichts hatte sich darauf verändert. Es war dunkel geworden, und die Kameras zeigten das geisterhafte, grün-rote Bild der Restlichtverstärker. Auch mit Ausnahme der Farben unterschieden sich die Aufnahmen nicht von denen, die Hartmann den ganzen Tag über gesehen hatte: Die Moroni taten noch immer unverständliche Dinge, aber er sah nichts, was diesen Alarm rechtfertigte.

»Was ist hier los?« schnappte er. »Warum dieser Alarm?«

Eine Sekunde lang wartete er vergeblich auf eine Antwort, ehe er begriff, daß die Aufmerksamkeit des Wachoffiziers nicht den Bildschirmen, sondern vielmehr der kleinen Sprechanlage auf seinem Schreibtisch galt. Mit einem Satz war er neben ihm, sagte aber nichts, sondern blickte den Mann nur fragend an. Der Soldat deutete mit besorgtem Gesicht auf den Lautsprecher. Hartmann lauschte.

Im ersten Moment hatte er Mühe, die Geräusche zu identifizieren. Die Übertragung war sehr leise und schien nur aus sinnlosen Lauten und Geräuschen zu bestehen. Dann identifizierte er Schreie, das Klirren von Glas, ein dumpfes Krachen und Rumoren und andere unheimliche Laute, die er in den ersten Sekunden nicht einordnen konnte.

»Die Schlaftanks?« flüsterte er.

Der Wachoffizier nickte. »Der Alarm wurde dort ausgelöst«, bestätigte er. »Aber ich kann den Posten nicht erreichen. Er meldet sich nicht.«

Hartmann warf einen neuerlichen, raschen Blick auf die Monitorwand. Das Bild darauf hatte sich immer noch nicht verändert, aber er hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, was in den beiden unteren Stockwerken der Bunkerfestung vor sich ging.

»Soll ich eine Einsatzgruppe hinunterschicken?« fragte der Offizier.

Hartmann überlegte eine Sekunde, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Aber schalten Sie den Alarm ab.«

Der Mann gehorchte. Nach dem überlauten, an den Nerven zerrenden Wimmern der Sirene empfand Hartmann die nachfolgende Stille fast als noch unangenehmer. Trotzdem klang seine Stimme ruhig und verriet nichts von seinen wirklichen Gefühlen, als er fortfuhr. »Wecken Sie die Männer. Sie sollen in Alarmbereitschaft bleiben, aber noch nichts unternehmen.« Er zog eine Schublade auf, nahm den zusammengerollten Pistolengürtel heraus und schnallte ihn um. »Ich gehe hinunter und sehe nach.«

Der Offizier machte eine Bewegung, um sich aus seinem Stuhl zu erheben, aber Hartmann winkte ab. »Ich gehe allein«, sagte er.


*


Die letzte Salve hatte Skudder von seinem Platz vor der Tür vertrieben. Skudders wütende Gegenwehr und die Hitze in dem engen Gang draußen, dessen Wände unter den Einschüssen seines Lasergewehrs immer wieder aufglühten, hatte die Ameisen bisher auf Distanz gehalten. Aber nun begannen sie sich offensichtlich auf ihr Ziel einzuschießen. Charity verstand ohnehin beim besten Willen nicht mehr, wie Skudder die erdrückende Übermacht so lange hatte aufhalten können. Auf dem Gang draußen mußten mehr als ein Dutzend toter Ameisen liegen, und allein die furchtbare Hitze hatte sicherlich noch einmal der gleichen Anzahl das Leben gekostet. Selbst hier drinnen war es mittlerweile so heiß geworden, daß sie kaum noch atmen konnten. Der einzige Grund, aus dem sie bisher noch nicht einfach überrannt worden waren, war der, daß die Moronikrieger, die sie angriffen, nicht halb so intelligent waren wie ihre Brüder, die Charity auf der Erde kennengelernt hatte. Sie verstanden hervorragend, mit ihren Waffen umzugehen, und reagierten so schnell und präzise wie Roboter. Hätte Charity es nicht besser gewußt, sie hätte geschworen, daß sie es nicht mit denkenden Individuen, sondern mit abgerichteten Tieren zu tun hatten, die blindlings in den Tod liefen, weil irgend jemand es ihnen befohlen hatte.

Sie gab einen ungezielten Schuß durch die Tür nach draußen ab und wandte sich dann wieder French zu, um ihm beim Anlegen des Anzuges zu helfen. Er stellte sich alles andere als geschickt an. Auf Charitys Befehl hin hatte er seinen Helm abgenommen, preßte ihn aber fast angstvoll an die Brust, während sich Charity ein letztes Mal pedantisch davon überzeugte, daß alle Verschlüsse seines Anzuges auch wirklich versiegelt waren. Mit Stones Hilfe hatte sie eine der gelben Sauerstoffflaschen auf Frenchs Rücken befestigt und die Schläuche angeschlossen. French wankte unter dem zusätzlichen Gewicht, und obwohl er sich alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen, spürte Charity, daß er am Ende seiner Kräfte angelangt war. Seine Bemerkung über die Schwere Zone ging ihr nicht aus dem Kopf. Offensichtlich herrschte nicht überall an Bord der Raumstation die gleiche Gravitation. Wenn French in einem Bereich mit deutlich geringerer Anziehungskraft geboren und aufgewachsen war, dann mußte er jetzt das Gefühl haben, eine Tonnenlast zu tragen. Selbst sie begann das Gewicht der Sauerstoffflasche bereits unangenehm zu spüren.

»Erschrecke jetzt nicht«, sagte sie und berührte eine Taste auf dem winzigen Instrumentengürtel des Anzuges. French gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen, aber er fuhr trotzdem zusammen, als sich der durchsichtige Kunststoffhelm aus den Schultern seines Anzuges herausfaltete und zu einer Halbkugel aufblies. Offensichtlich hatte er einen solchen Anzug noch nie zuvor gesehen.

Sie überzeugte sich davon, daß auch Gurks und ihr eigener Anzug fest verschlossen waren, und warf einen letzten, sichernden Blick zur Tür zurück. Skudder signalisierte ihr mit einer Geste, sich zu beeilen, und feuerte gleichzeitig wieder in den Korridor hinaus. Die Luft draußen vor der Tür waberte vor Hitze. Skudder feuerte nicht wirklich auf die Angreifer, sondern legte einfach eine Barriere aus unüberwindlicher Glut zwischen sie und ihrem Versteck. Aber so dumm, nicht früher oder später mit gepanzerten Anzügen und schweren Waffen anzurücken, konnten selbst diese Moroni nicht sein.

Charity gab Stone, Gurk und French mit einer Kopfbewegung zu verstehen, von der rückwärtigen Wand des Raumes wegzutreten, hob ihre Waffe und visierte eine Stelle zwischen zwei der gebogenen Stahlträger an. Auf engste Bündelung und größtmögliche Energieabgabe eingestellt, fraß sich der grüne Lichtstrahl zischend und Funken sprühend in das Metall; schnell, aber nicht so schnell, wie sie gehofft hatte. Die Wand bestand aus zwei Zentimeter dickem Stahl. Selbst mit der schweren Laserwaffe würde sie eine Viertelstunde brauchen, um eine ausreichend große Öffnung hineinzubrennen. Und sie wußte nicht einmal, ob es Sinn hatte. Was geschah, wenn die Moroni die Orbit-Stadt in größerem Maße verändert hatten, als sie wußte?

Was, wenn hinter dieser gekrümmten Wand nicht der leere Raum, sondern nur ein weiterer Saal voller waffenstarrender Ameisenkrieger lag, die bereits auf sie warteten, und ...

Der Laserstrahl stieß plötzlich ins Leere. Ein helles Zischen und Pfeifen erklang, und etwas packte die Flammen und sog sie ins Freie.

Charity ließ den Laserstrahl ein wenig nach links wandern und begann die gewaltsam geschaffene Öffnung zu erweitern. Aus dem Zischen wurde ein heulendes Fauchen, und der Raum füllte sich mit Bewegung, als der Luftstrom an alle zu reißen begann, was nicht ausgesprochen schwer oder irgendwie befestigt war.

»Verdammt, was treibst du da?« rief Skudder von der Tür her.

Charity nahm für einen Moment den Finger vom Feuerknopf und blickte zur Tür. Der Luftstrom begann Rauch und Flammen vom Gang hereinzusaugen, so daß Skudder kaum noch etwas sehen konnte. Und plötzlich flackerte neben der Tür eine rote Warnlampe, und das schwere Panzerschott begann sich automatisch zu schließen.

Charity fuhr herum, war mit einem Satz neben Skudder und wuchtete eine der schweren Sauerstoffflaschen in die Türöffnung. Das Schott prallte mit einem Laut, als schlüge ein schwerer Schmiedehammer auf einen Amboß, dagegen, und zum Prasseln der Flammen und dem Zischen der immer schneller entweichenden Luft gesellte sich plötzlich das gequälte Wimmern eines überlasteten Elektromotors. Einen Augenblick später begann grauer Rauch aus einer Ventilationsöffnung neben der Tür zu quellen.

Skudder blickte sie verständnislos an. »Was tust du da?« wunderte er sich.

Charity gebot ihm mit einer Geste still zu sein und blickte konzentriert auf den Gang hinaus. Rauch und Flammen hatten sich zu einem Orkan ausgeweitet, der heulend und mit solcher Kraft durch die Tür hereinströmte, daß Charity Mühe hatte, ihm zu widerstehen. Sie wartete mit angehaltenem Atem, eine, zwei, drei Sekunden; und dann drang vom Gang her rasch hintereinander eine Folge dumpfer Schläge herein. Charity atmete hörbar auf. Offensichtlich funktionierte die Notfallautomatik noch genauso zuverlässig wie vor einem halben Jahrhundert.

Der Computer hatte sämtliche Türen geschlossen und den Bereich rings um den undichten Raum luftdicht abgeschottet. Der Strom aus Flammen, wirbelndem Rauch und Ruß hielt nur noch einen Moment an und versiegte dann. Der flackernde Feuerschein draußen wurde dunkler und erlosch.

Skudder zog anerkennend die Augenbrauen zusammen, als er begriff, was sie getan hatte. »Du hast mein Feuer ausgemacht«, sagte er übertrieben vorwurfsvoll. Dann richtete er sich auf und spähte vorsichtig auf den Gang hinaus. »Alles klar«, fügte er grinsend hinzu. »Die Ameisen hast du auch ausgeknipst.«

Sein Lächeln erstarrte, als er den Blick auffing, den Charity ihm zuwarf. Charity war selbst ein wenig verwirrt - sie kannte Skudders sarkastische Art zur Genüge und wußte, daß sein Zynismus nur aufgesetzt und eigentlich nicht so gemeint war. Trotzdem spürte sie Verärgerung, fast Zorn.

Vielleicht hatte sie den Tod zu intensiv berührt, um noch Scherze mit ihm treiben zu können. Rasch drehte sie sich herum und visierte wieder die Wand an. Ihr Lasergewehr fuhr fort, grünes Feuer gegen den Stahl zu schleudern und ihn damit zu zerschmelzen, und nur einen Augenblick später gesellte sich Skudder zu ihr und erweiterte die Öffnung in der entgegengesetzten Richtung.

Trotzdem brauchten sie gute fünfzehn Minuten, um ein Loch in die Wand zu schneiden, das groß genug war, um bequem hindurchsteigen zu können. Immer wieder mußten sie ihre Arbeit unterbrechen, um ihre Waffen abkühlen zu lassen oder ihren gequälten Augen eine Pause zu gönnen. Der Lauf des Lasergewehres schien in Charitys Händen zu glühen, als sich die metergroße Stahlplatte endlich aus der Wand löste und lautlos nach draußen kippte. Ein Blick auf die Ladekontrolle zeigte ihr, daß die Batterien kaum noch zehn Prozent ihrer normalen Leistung hatten. Sehr lange würden sie mit diesen Gewehren nicht mehr schießen können.

Sie gönnte sich selbst den Luxus, einige Sekunden lang die Augen zu schließen und an gar nichts zu denken, dann drehte sie sich zu French herum und sagte: »Okay. Sie als erster.«

French starrte sie an. Sein bleiches Totenkopfgesicht wirkte unter dem durchsichtigen Plastikhelm klein und verloren. Er sagte etwas. Seine Lippen bewegten sich, aber Charity hörte nicht den mindesten Laut. Erst dann begriff sie, daß hier drinnen jetzt das Vakuum des Weltraums herrschte und sie gar nichts hören konnte.

Sie knipste den Helmfunk ein und bedeutete French, es ihr nachzutun. »Gehen Sie voraus«, sagte sie noch einmal. »Sie kennen den Weg.«

In Frenchs Augen flackerte Panik auf, und Charity fügte mit einem erzwungenen Optimismus in der Stimme, den sie selbst ganz und gar nicht verspürte, hinzu: »Keine Angst. Ihnen kann nichts passieren.«

»Das ... das ist die Tote Welt«, stammelte French. »Wir ... wir werden alle zur Erde gehen. Wir werden erfrieren oder verbrennen.«

»Ihnen wird nichts dergleichen geschehen«, versicherte ihm Charity. »Diese Anzüge sind sicher. Und wir passen auf Sie auf.« Sie lächelte aufmunternd. »Wir kommen von dort draußen, schon vergessen?«

Charity war nicht sicher, ob French ihr wirklich glaubte oder ob es immer noch die Ehrfurcht vor den Fremden war, die er für eine Art Götter oder zumindest Übermenschen zu halten schien, aber es wirkte. French beruhigte sich. Er war noch immer nervös, aber in seinem Blick war jetzt keine Panik mehr, und er machte einen zögernden Schritt auf das Loch in der Außenwand zu und hob die Hände. Langsam schob er Kopf und Oberkörper durch die gewaltsam geschaffene Öffnung ins Freie, und Charity hielt ihn im letzten Moment zurück, als ihr der nächste Fehler klar wurde, den sie im Begriff war, zu begehen.

»Warten Sie«, sagte sie. Sie signalisierte die gleiche Aufforderung mit Gesten, als French sie erschrocken ansah, trat rasch an den Schrank heran, aus dem sie die Anzüge geholt hatte, und nahm eine der Sicherheitsleinen heraus. Sie befestigte die Ösen an ihrem und Frenchs Anzug und bedeutete Skudder, das gleiche mit Gurk und Stone zu tun. Außer ihr selbst - und möglicherweise Gurk - hatte keiner von ihnen jemals einen Raumanzug getragen oder sich im leeren Raum aufgehalten.

Ihre Vorsicht erwies sich als keineswegs übertrieben. Kaum war sie hinter French ins Freie geklettert, da spürte sie, wie eine unsichtbare Last von ihr genommen wurde. French schwebte vor ihr im Nichts wie ein bizarrer Riesenfisch an der im Vakuum silbern schimmernden Nylonschnur, und die Außenwand der Orbit-Stadt sackte lautlos unter ihr weg. Sie bewegte sich auf die Art, die sie gelernt hatte, glitt wieder in die entgegengesetzte Richtung und berührte sanft wie ein fallendes Blatt die gekrümmte Außenfläche der Raumstation. Mit einem leisen Klicken schalteten sich die Elektromagnete in den Sohlen ihres Anzuges ein. Sie überzeugte sich davon, sicheren Stand zu haben, dann griff sie nach der Leine und zog French zu sich zurück, was ihr nun vollends das Gefühl gab, einen zu groß geratenen Fisch an der Angel zu haben.

Offensichtlich hatte er auch keine große Erfahrung im Umgang mit Magnetschuhen, denn er versuchte ganz instinktiv, die Füße wieder vom Boden loszureißen, bis Charity ihm zeigte, wie er leichter und mit nur einer sanften Drehung ging, ihm aber gleichzeitig andeutete, es im Moment noch nicht zu tun. Besorgt betrachtete sie sein Gesicht. Der Ausdruck, den sie darauf sah, ließ sich nur noch mit Todesangst bezeichnen. Charity schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß sein Respekt vor ihr und den anderen größer sein möge als seine Angst, dann stellte sie den Helmkontakt wieder her.

Frenchs Atem ging schnell und stoßweise. Er zitterte. »Wir ... wir werden zur Erde gehen«, stammelte er. »Wir werden alle ...«

»Wir werden nichts dergleichen tun«, unterbrach ihn Charity scharf. »Vielleicht nehmen wir Sie eines Tages mit dorthin, French, aber nicht auf diesem Weg. Das würde zu lange dauern und wäre auch nicht besonders bequem. Bitte reißen Sie sich zusammen. Ihnen wird nichts passieren.«

Das Wunder wiederholte sich. French beruhigte sich auch jetzt wieder. Doch wenn auch nur noch die kleinste Kleinigkeit geschah, dachte Charity alarmiert, dann würde er einfach zusammenbrechen und wer weiß was tun. Sie mußte sehr gut auf ihn achtgeben.

»Bitte, French«, fuhr sie eindringlich fort. »Wir haben nicht sehr viel Zeit. Der Sauerstoff reicht nur für zwei Stunden, und sie werden uns wahrscheinlich verfolgen. Zeigen Sie uns den Weg zu Ihrem Hort.«

»Ich ... ich weiß es nicht«, stammelte French. Sein Blick irrte unstet hin und her, drohte, sich in der Schwärze des Weltraums zu verlieren, und tastete über die Orbit-Stadt. Sie hatten einen unglücklichen Ort gewählt, um ins Freie zu gelangen: Die Orbit-Stadt hatte die Form eines riesigen Rades, in dessen Nabe sich der Generator und die wichtigsten Versorgungseinheiten befanden, während die Speichen und das Rad selbst die Wohn- und Arbeitsquartiere der Besatzung aufnahmen. Tatsächlich ähnelte sie verblüffend der klassischen Form einer Weltraumstation, wie sie sich Generationen von Science-Fiction-Autoren und Trickfilm-Spezialisten ausgedacht hatten. Aber sie waren an der Außenseite dieses Rades herausgekommen, so daß sich die künstliche Welt unter ihnen schon nach wenigen Dutzend Schritten zu krümmen begann und hinter dem Horizont verschwand.

Sie deutete hinter sich. »Kommen Sie. Von dort aus haben wir einen besseren Überblick.«

French folgte ihr gehorsam, während Charity mit den ungeschickt tapsenden Schritten eines Menschen, dessen Stiefel ihr möglichstes tun, um ihn am Boden festzunageln, die Krümmung der Stationswand hinaufging. Sie befanden sich auf der Erde und Mond abgewandten Seite der Orbit-Stadt, so daß über ihr nichts als leerer Raum und das Sternendiadem der Milchstraße waren, aber Charity fiel trotzdem auf, daß sich diese Sterne nicht bewegten. Früher hatte sich die Orbit-Stadt um ihre Mittelachse gedreht, um auf diese Weise eine dem Menschen angenehme Schwerkraft an Bord zu schaffen. Die Moroni schienen eine andere Lösung für dieses Problem gefunden zu haben. Künstliche Gravitation, dachte Charity fassungslos. Das war unvorstellbar. Die Wissenschaftler des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts hatten nicht einmal genau gewußt, was Gravitation war.

So primitiv ihr die Technik der Moroni manchmal vorkam, schienen sie auf manchen Gebieten ebenso unvorstellbar weit fortgeschritten zu sein. Vermutlich gaben die unsichtbaren Herrscher im Hintergrund ihren Insektensöldnern stets nur das, was sie unbedingt brauchten.

Und trotzdem, dachte Charity verbittert, war es ihnen nicht gelungen, mit diesem Söldnerheer fertig zu werden. Welchen Sinn hatte ihr Widerstand überhaupt noch? Selbst wenn es ihnen gelang, die Moroni zu vertreiben - wie sollten sie sich gegen einen Angreifer verteidigen, der Materietransmitter baute und Bomben, die eine ganze Sonne zur Nova werden lassen konnten?

Dann waren sie so weit über die Krümmung des Rades hinaus, daß sie seine Oberseite sehen konnten, und Charity vergaß schlagartig alles andere und starrte fassungslos auf das unglaubliche Bild, das sich vor ihnen ausbreitete.

Offensichtlich waren sie nicht nur auf der der Erde abgewandten Seite der Station ausgebrochen, sondern zugleich auch so ziemlich an der einzigen Stelle, die die Moroni nicht um- oder ausgebaut hatten.

Die Orbit-Stadt war schon früher groß gewesen. Jetzt war sie gigantisch. Wohin sie auch blickte, wuchsen rechteckige, runde, zylinder- und kegelförmige Kuppeln aus den Wänden. Auf der anderen Seite des riesigen Rades schwebten drei gewaltige metallene Quader, von denen mindestens einer größer als die Orbit-Stadt selbst sein mußte. Ein irrsinniges Durcheinander von Stahlträgern und Stützen und silberfarbenen, flexiblen Schläuchen verband die einzelnen Teile dieses unglaublichen Gebildes miteinander, und weit entfernt auf der anderen Seite der Basis, halb unter dem künstlichen Horizont verborgen, sah sie ein silbriges Blitzen und Schimmern; wie von einer Münze, die das Sonnenlicht widerspiegelte.

Charity sah noch einmal genau hin und entdeckte mehr und mehr der funkelnden Lichtsplitter, ehe sie ihren Irrtum begriff. Die vermeintliche Münze dort drüben war in Wirklichkeit eine gut dreißig Meter durchmessende, silberfarbene Flugscheibe, die zusammen mit Dutzenden, wenn nicht Hunderten oder gar Tausenden gleichartiger Fahrzeuge an der Orbit-Stadt angedockt hatte. Was vor ihnen lag, das war das Flottenhauptquartier der Moroni.

Aber trotz dieser erstaunlichen Erkenntnis verweilte Charitys Blick nur wenig länger als eine Sekunde auf der gewaltigen Gleiterflotte. Erstaunlicher, erschreckender als alles andere war eine Veränderung, die die Ameisen mit dem Zentrum der Orbit-Stadt vorgenommen hatten. Die gewaltige Weltraumbasis war kein Rad mehr, sondern ein Ring. Jemand hatte die Speichen und die Mittelnabe entfernt und durch etwas ersetzt, das Charity im ersten Moment nicht einmal richtig erkennen konnte, denn es war zwar riesig, aber von nachtschwarzer Farbe und in schneller, routierender Bewegung, so daß sie eigentlich nur ein gelegentliches Aufblitzen von Licht sah. Das Gebilde ähnelte einer ins Absurde vergrößerten Hantel: Es bestand aus zwei sicherlich fünfundzwanzig oder dreißig Meter durchmessenden Kugeln, die an den Enden einer vielleicht hundert Meter langen Röhre befestigt waren. Es drehte sich so schnell, daß seine Umrisse zu verschwimmen schienen.

Verwirrt wandte Charity sich um und sah die anderen an. Stone wirkte so beunruhigt und erschrocken wie sie selbst, aber sein Gesichtsausdruck verriet ihr auch, daß er ebensowenig wie sie wußte, was da vor ihnen lag. Skudders Blick spiegelte ein eher wissenschaftliches Interesse wider und allenfalls Erstaunen über die immense Größe der Hantel, während French noch verängstigter aussah als zuvor. Und dann fiel ihr Blick in Gurks Gesicht, und was sie in seinen Zügen las, das war schieres Entsetzen. Seine Augen waren starr und schienen aus den Höhlen zu quellen, und sein Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet. Er war so bleich geworden, daß seine Haut jetzt fast so weiß und durchsichtig erschien wie Frenchs.

Charity ging zu ihm. »Was hast du?« fragte sie.

Gurks Blick blieb weiter starr auf die riesige Hantel gerichtet, aber er hatte ihre Frage gehört, denn er deutete ein knappes, abgehacktes Kopfschütteln an. »Nichts«, behauptete er. »Es ist ... nichts.«

»Ja«, sagte Charity. »Hör mit dem Theater auf, Gurk. Du weißt, was das da ist, und du wirst es mir jetzt sagen.«

Sie sah, welche Mühe und Überwindung es Gurk kostete, seinen Blick von dem bizarren Riesengebilde zu lösen und sie anzusehen. »Warum eigentlich nicht?« flüsterte er mit belegter Stimme. »Schließlich sind wir hierhergekommen, um das Ding zu suchen.«

Charity sah überrascht auf und maß die rotierende Hantel mit einem neu aufkeimenden Gefühl von Furcht. »Die Bombe?« vergewisserte sie sich. »Du meinst - das ist die Sonnenbombe?«

»Ja und nein«, antwortete Gurk.

Charity runzelte ärgerlich die Stirn, beherrschte sich aber. »Aha«, sagte sie.

»Es ... es ist etwas viel Schlimmeres«, murmelte Gurk. »Dieses Ding wird ... wird diesen Planeten in seine Atome zerlegen, oder ...«

»Und?« unterbrach ihn Charity ruhig. »Wir sind schließlich hierhergekommen, um es zu entschärfen. Sollte es uns nicht gelingen, dann spielt es keine Rolle, ob es diese Station, den Planeten oder meinetwegen die halbe Milchstraße zerreißt. Jedenfalls nicht mehr für uns oder die Erde.«

»Du ... du verstehst nicht«, murmelte Gurk. Seine Stimme wurde schrill, drohte umzukippen. »Das ist eine Black-Hole-Bombe. Und sie ist bereits gezündet.«

»Wie bitte?« keuchte Charity entsetzt.

»Sie geht in ein paar Stunden hoch«, fuhr Gurk fort. »Und keine Macht des Universums kann das jetzt noch verhindern.«

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