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Die beiden letzten Stunden waren die Hölle gewesen. Sie hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft sie angegriffen worden waren und wie oft sie das Feuer erwidert hatten oder auch geflohen waren. Es war die Hölle, und vielleicht würde es in alle Ewigkeit so weitergehen, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr - für immer. Keiner von ihnen war noch unverletzt. Charity selbst war zwei- oder dreimal getroffen worden, und der letzte Schuß hatte den Körperschild ihres Anzuges bis an die Grenzen belastet; sie spürte die Hitze noch immer, die wie eine feurige Lohe in ihrer rechten Schulter explodiert war und sie zu Boden geschleudert hatte. Und dabei hatten sie trotz allem noch unbeschreibliches Glück gehabt. Wären die Moroni, die diese Station bevölkerten, nicht so unbeschreiblich unfähig gewesen, ein Scheunentor fünf Meter vor ihnen zu treffen, dann wären sie jetzt schon alle tot.

Wieder einmal.

Sie hätte diesen Gedanken nicht zu Ende denken sollen. Sie spürte, wie die mühsam unterdrückte Hysterie, gegen die sie seit zwei Stunden ankämpfte, erneut aufzuflackern drohte. Ihre Hände begannen zu zittern, und für einen Moment war es kein verrückter Gedanke mehr, sie war vollkommen davon überzeugt, daß sie wirklich in der Hölle waren.

Vielleicht war es diesmal nicht mehr ihre eigene Willenskraft, sondern die Hand, die sie an der Schulter berührte, die sie noch einmal in die Wirklichkeit zurückriß und ihre Selbstbeherrschung wiederfinden ließ. Oder zumindest die Kraft, so etwas wie Selbstbeherrschung zu spielen.

Sie hob den Kopf und blickte in ein Paar Augen, in den die gleiche Angst und der gleiche Funke von Wahnsinn loderte, gegen die auch sie kämpfte. Die Erkenntnis überraschte sie, obwohl sie es eigentlich nicht hätte tun dürfen - schließlich war auch Skudder nur ein Mensch. Man konnte auch von einem berufsmäßigen Helden schwerlich erwarten, daß er seinem eigenen Leichnam gegenüberstand und dann einfach zur Tagesordnung überging, als wäre nichts geschehen.

»Ja?« sagte sie mit einiger Verspätung.

»Ich glaube, wir sind sie los«, antwortete Skudder. »Wenigstens den Moment.«

Sie empfand nicht einmal wirkliche Erleichterung. Ihnen allen war klar, daß sie allerhöchstens eine Atempause hatten. Und sie würde wahrscheinlich kürzer sein, als sie glaubten. Die Moroni mußten irgendwie das physikalische Gesetz außer Kraft gesetzt haben, nach dem in einen Raum nicht mehr hineinging, als seine Größe gestattete. Wenn sie sich richtig erinnerte, dann hatte diese Station einen Durchmesser von einhundertfünfzig Metern - wie zum Teufel hatten es die Moroni geschafft, mindestens eine halbe Million ihrer Ameisenkrieger unterzubringen?

Skudder wartete einen Moment lang vergeblich auf irgendeine Reaktion, dann ließ er sich neben ihr zu Boden sinken, bettete den Kopf an die nackte Metallwand und schloß mit einem erschöpften Seufzer die Augen. Er sah müde aus, müde und so erschüttert und verängstigt, wie sie ihn niemals zuvor im Leben gesehen hatte. Natürlich wußte sie im Grunde sehr wohl, wie naiv dieser Gedanke war - aber bisher hatte sie sich einfach eingeredet, daß Skudder nicht einmal wußte, was das Wort Angst überhaupt bedeutete. Jetzt hatte er sie kennengelernt. Er und sie alle. Und es war eine Art von Furcht, von der sie bisher nicht einmal gewußt hatten, daß es sie gab.

Charity löste ihren Blick von Skudders bleichem, schweißüberströmten Gesicht und betrachtete nacheinander die anderen. Stone hockte mit an die Brust gezogenen Knien in einer Ecke der kleinen Kammer und starrte aus weit aufgerissenen Augen ins Leere, eine Jammergestalt, bei deren Anblick Charity nicht einmal mehr Verachtung zu empfinden vermochte. Sie fragte sich, wieso sie jemals Angst vor diesem Mann gehabt hatte. Dann begriff sie, wie ungerecht dieser Gedanke war. Vermutlich bot auch sie selbst keinen besseren Anblick als Stone, Skudder und auch Gurk. Verdammt, sie alle hatten ihren eigenen Tod erlebt. Was erwartete sie?

Sie hörte ein Geräusch, fuhr erschrocken zusammen und herum - und entspannte sich wieder, als sie sah, daß es nur Gurk gewesen war, der sich auf den Boden hatte fallen lassen und das zerknitterte Gesicht in den Händen verbarg. Seine Augen waren so blicklos und starr wie Stones und ihre eigenen, aber Charity wurde das Gefühl nicht los, daß der Schrecken darin einen anderen Grund hatte als bei ihr und den anderen. Gurk hatte während der vergangenen beiden Stunden kaum ein Wort geredet; und wer den Zwerg auch nur flüchtig kannte, der wußte, was das bedeutete. Skudder hatte einmal scherzhaft behauptet, daß die sicherste Methode, die Moroni von der Erde zu vertreiben, wahrscheinlich die wäre, Abn El Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel den Vierten nebst zwei- oder dreitausend seiner Brüder auf sie loszulassen, damit die Gnome sie binnen weniger Tage zu Tode redeten.

Aber das war lange her. Vieles von dem, was sie damals noch über Gurk geglaubt hatten, hatte sich als falsch erwiesen. Der Außerirdische mit dem zu groß geratenen Kopf und dem Gesicht eines griesgrämigen alten Mannes war alles andere als der Clown, den er so gern spielte.

Er hatte Charity eine Menge über sich und sein Volk erzählt. Aber nicht alles. Längst nicht alles.

»Glaubst du nicht, daß du uns allmählich ein paar Erklärungen schuldig bist, Gurk?« fragte sie.

Im ersten Moment schien Gurk gar nicht auf ihre Worte reagieren zu wollen. Er starrte weiter mit leerem Blick an ihr vorbei, aber dann sah er doch auf, straffte die Schultern und versuchte vergeblich, eine seiner Grimassen zu ziehen. »Ich wüßte nicht, warum.«

»Was war mit diesem Transmitter los?« fragte Charity. »Was um alles in der Welt hat Leßter getan?«

»Ich werde ihn fragen, wenn ich ihn treffe«, knurrte Gurk. In ärgerlichem Tonfall fügte er hinzu: »Woher zum Teufel soll ich das wissen?«

»Du warst nicht besonders überrascht«, sagte Charity.

Gurk zog wieder eine Grimasse zur Antwort. Auch in seinen Augen hatte sich eine tiefsitzende Furcht eingenistet, aber wieder hatte Charity das Gefühl, daß seine Angst einen anderen Grund hatte, als sie auch nur ahnte.

»Bitte, Gurk«, sagte sie müde. »Hör auf. Ich bin es einfach leid, Verstecken mit dir zu spielen. Du weißt mehr über die Transmitter, als du zugibst.«

Natürlich hatte sie damit gerechnet, daß Gurk das rundheraus abstreiten würde. Erstaunlicherweise aber blickte er sie nun an und lächelte plötzlich bitter. »Da hast du sogar recht«, sagte er. »Aber glaub es oder glaub es nicht - was vorhin passiert ist, das hat mich genauso überrascht wie euch. Ich habe eine Theorie, das ist alles.«

»Und die wäre?«

»Sie ist so gut oder so schlecht wie jede andere Erklärung, die du dir aus den Fingern saugen kannst«, antwortete Gurk. »Aber bitte - du weißt, wie diese Transportmaschinen funktionieren?«

»Sicher«, antwortete Charity und schüttelte den Kopf.

Gurk lächelte müde. »Ich weiß es auch nicht«, sagte er. »Ich meine - ich kenne das Funktionsprinzip, aber die Technik, die es möglich macht, ist mir genauso rätselhaft wie dir.«

»Ich habe keine Konstruktionszeichnung von dir verlangt«, erinnerte ihn Charity mit sanftem Spott.

»Im Grunde funktionieren die Dinge wie Radio- oder Fernsehsender«, erklärte Gurk. »Nur ein bißchen komplizierter.«

Charity blickte zweifelnd. »Ein Radiosender überträgt Töne«, sagte sie.

»Falsch«, antwortete Gurk. »Informationen, Kleines. Und mehr tun die Transmitter auch nicht. Eure Sender zerlegen das, was man hineingibt, in übertragbare Informationen und wandeln es im Empfänger wieder um. Genauso funktioniert ein Transmitter. Sie tasten jedes einzelne Atom eines Körpers ab, verschlüsseln die Informationen und schicken sie zum Empfänger. Dort wird er neu geschaffen - nach dem Muster, das empfangen wurde.«

Charity war nicht sicher, ob sie begriff, was er sagte. »Du meinst, er ... überträgt nicht wirklich Materie?«

Gurk schüttelte heftig den Kopf. »Das ist nicht möglich«, sagte er. »Die Dinge sind nicht wirklich Materiesender. Sie vernichten und schaffen neu.« Er kicherte, als er Charitys verblüfften Gesichtsausdruck bemerkte. »Ja, ja, es ist schon so - im Grunde stirbst du, wenn du einen Transmitter betrittst. Die meisten glauben, daß er das, was man hineinschickt, in seine Bestandteile zerlegt und irgendwie wieder zusammensetzt. Aber das ist Unsinn. Er vernichtet und schafft neu. Und jetzt frage mich bitte nicht, wie das funktioniert. Ich weiß es nämlich nicht.«

Charity sah ihn weiter verwirrt an - und dann begriff sie den Fehler in dieser Theorie. »Das kann nicht sein«, sagte sie.

»Ach?« entgegnete Gurk höhnisch. »Und wieso nicht?«

»Vielleicht klappt das bei einem Stein - oder einem Buch oder meinetwegen sogar bei einer Pflanze. Aber du und ich, Gurk, wir bestehen nicht nur aus Materie.« Sie tippte sich mit den Fingerspitzen an die Schläfe. »Da ist noch etwas.«

»Auch deine Erinnerungen sind nur Materie«, antwortete Gurk. »Chemie. Ziemlich kompliziert, zugegeben, aber trotzdem nur Chemie.«

»Und der Rest?« fragte Charity. »Das Bewußtsein? Die ... Seele?«

Gurk schwieg einen Moment. »Siehst du«, sagte er dann, »damit triffst du den Nagel genau auf den Kopf. Über diesen Punkt zermartere ich mir das Gehirn, seit ich weiß, wie diese Dinger funktionieren. Wahrscheinlich wird sie irgendwie mit übertragen.«

»Sicherlich«, antwortete Charity spöttisch.

Gurk blieb ernst. »Irgendwie muß es funktionieren«, sagte er. »Sonst wären wir nicht hier. Oder gleich zwei- oder dreimal.«

Charity dachte an das unheimliche Auftauchen ihrer Doppelgängerin, das sie mit eigenen Augen beobachtet hatte. Sie wußte sehr gut, daß Gurk und sie im Grunde nichts anderes taten, als wild herumzuraten. Und doch waren sie auf dem richtigen Weg. Was Gurk über die Funktionsweise des Transmitters behauptet hatte, war die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab. Was immer Leßter getan hatte, er hatte den Transmitter irgendwie dazu gebracht, die empfangenen Informationen nicht zu löschen, sondern sie immer wieder und wieder zu verarbeiten - und damit immer neue, identische Kopien der Körper erschaffen, die auf der anderen Seite in den Empfänger getreten waren.

Aber es waren nur Körper gewesen, nicht mehr. Sie hatte sich selbst aus dem Transmitter taumeln sehen, eine leblose Hülle, der jeder Funke des Lebens fehlte, und sie hatte gesehen, wie dasselbe mit Gurk und Skudder und Stone geschah, solange die zuerst erschaffene Kopie noch am Leben war. Offensichtlich ließ sich das, was den Unterschied zwischen belebter und unbelebter Materie ausmachte, nicht kopieren. Der Gedanke hatte etwas Beruhigendes.

Hinter ihr erklangen Schritte, und als sie sich herumdrehte, erblickte sie French, der in seinem Ameisenkostüm aus Gummi gebückt durch die Tür geschlurft kam. Der Anblick hatte nichts von seiner unheimlichen Wirkung verloren, obwohl Frenchs Aufzug im Grunde lächerlich war. Er trug eine schwarze einteilige Kombination, die verdächtige Ähnlichkeit mit einem umfunktionierten Taucheranzug hatte. An beiden Hüften waren Schläuche aus dem gleichen Material befestigt, die lose an seinem Körper herabpendelten und in leeren Handschuhen endeten, und statt eines Taucherhelmes hatte er etwas auf dem Kopf, das wie der völlig mißlungene Versuch aussah, den Schädel einer Moroni-Ameise nachzubauen. Ganz offensichtlich hatte er versucht, mit diesem Anzug das Aussehen eines Moroni-Soldaten nachzuahmen. Er sah nicht einmal aus wie eine schlechte Imitation.

Was allerdings nichts daran änderte, daß die Ameisen darauf hereinfielen.

Mehr als einmal in den vergangenen beiden Stunden war es French gewesen, dessen bloße Anwesenheit ihnen das Leben rettete. Warum auch immer - ganz offensichtlich hielten die Moroni ihn für einen der ihren, und ein paarmal hatte dieser Irrtum Charity und den anderen die winzige Zeitspanne verschafft, die sie brauchten, um als erste das Feuer zu eröffnen oder die Flucht zu ergreifen. Sie verstand den wahren Grund einfach nicht. Frenchs Anzug war dunkel, hatte sechs statt vier Gliedmaßen und einen rabenschwarzen Schädel mit zwei halb blinden Plexiglaskuppeln anstelle der Facettenaugen.

French blieb zwischen ihr und Gurk stehen, ließ sich in die Hocke gleiten und nahm den bizarren Helm ab. Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war allerdings kaum weniger bizarr. French war ganz eindeutig ein Mensch, aber vor fünfzig oder sechzig Jahren, dachte Charity, hätte er die besten Aussichten gehabt, auf Anhieb eine Hauptrolle in einem Horrorfilm zu bekommen, ohne sich großartig dafür schminken zu müssen.

Sein Gesicht hatte die Farbe einer acht Tage alten Wasserleiche; seine Züge wirkten sonderbar verschoben; als bestünde das Gesicht in Wahrheit aus Wachs, das einen Moment zu lange in der Sonne gelegen hatte - nicht lange genug, um wirklich zu schmelzen, aber doch lange genug, um Schaden zu nehmen. Und trotzdem war diese äußerliche Veränderung nicht einmal das schlimmste. Was weitaus erschreckender war, was Charity noch immer mit einem eiskalten Schauer erfüllte und sie zweifeln ließ, ob French wirklich noch ein Mensch war, waren die Veränderungen, die nicht auf der Hand lagen. French sah aus wie ein Mensch, er bewegte sich in etwa wie ein Mensch, aber Charity war nicht sicher, ob er wirklich noch wie ein Mensch dachte und handeln würde.

Sie verscheuchte den Gedanken und rang sich ein mühsames Lächeln ab, als ihr klar wurde, daß sie French seit einer geraumen Zeit anstarrte. Sie hätte French auch eine Stunde anstarren können, und er wäre die ganze Zeit ebenso reglos und stumm und mit gesenktem Blick vor ihr stehengeblieben. Als eines der größten Hindernisse ihrer Verständigung hatte sich das Problem erwiesen, French daran zu hindern, sie und die anderen ständig wie Götter zu behandeln und ihnen wenn möglich die Füße zu küssen.

»Ja?« fragte sie.

»Ich ... habe den Gang erkundet, Herr ... Charity«, verbesserte sich French hastig und noch immer mit gesenktem Blick. »Er ist sicher. Wir können weitergehen.«

»Danke, French«, sagte Charity. Der Klang ihrer Stimme und ihr Gesichtsausdruck sprachen eine andere Sprache. Sie konnten nicht hierbleiben. Aber es gab auch keinen Ort, wohin sie gehen konnten. »Wohin führt der Gang?«

»Ich ... bin nicht sicher«, antwortete French zögernd. Er begann, unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten. »Ich bin noch niemals so weit in das Nest vorgedrungen«, gestand er. Leiser fügte er hinzu: »Niemand ist das bisher.«

Charity seufzte tief. »Na wunderbar«, sagte sie.

»Ich würde ihm nicht trauen«, sagte Stone. »Wahrscheinlich überlegt er schon, wie er uns am besten an die Morons verkaufen kann.«

Charity schenkte ihm einen bösen Blick. Stone hatte wie sie alle kaum ein Wort gesprochen, seit sie den Transmittersaal verlassen hatten. Aber es war typisch für ihn, daß das erste, was er dann sagte, als er endlich wieder den Mund auftat, eine an den Haaren herbeigezogene Beschuldigung war. Charity fand es nicht einmal der Mühe wert, darauf zu antworten.

Gurk aber wurde wütend. »Blödsinn!« sagte er heftig. »Die einzige Gefahr ist wohl, daß ihm ein Moroni einen Heiratsantrag macht.« Er lachte kurz und gequält auf, und Charity seufzte erneut und stand umständlich auf, ehe Stone antworten und Gurk die Gelegenheit ergreifen konnte, einen Streit vom Zaun zu brechen. Der Zwerg machte keinen Hehl daraus, daß er Stone die Schuld an ihrer Situation gab. Wahrscheinlich hatte er recht damit. Nur nutzte es keinem von ihnen, wenn sie das bißchen Energie, das sie noch aufbringen konnten, damit vergeudeten, sich zu streiten.

Angeführt von French, der seine Insektenmaske wieder übergestülpt hatte, verließen sie die kleine Kammer. Charity spürte ein eisiges Frösteln, als sie hinter French auf den Gang hinaustrat. Alles hier war so ... vertraut. Und zugleich auf schreckliche Weise völlig anders, als sie es in Erinnerung hatte. Vielleicht machte gerade diese Tatsache es so schlimm: diese Mischung aus Altem und Wohlbekanntem und zugleich vollkommener Fremdartigkeit. Sie hatte bisher auf alle entsprechenden Fragen Skudders und der anderen beharrlich geschwiegen, aber sie wußte sehr wohl, wo sie sich befanden. Sie hatte es beinahe im allerersten Moment begriffen, schon bevor sie die Transmitterhalle verlassen und French in das Gewirr von Gängen und von mit Spinnweben erfüllten Hallen gefolgt waren. Es gab keinen Zweifel. Eine Weile hatte sie beinahe hysterisch versucht, sich selbst davon zu überzeugen, daß sie sich irrte, daß es ein Zufall war, eine unglaubliche Duplizität von Ereignissen; zwei Dinge, die dem gleichen Zweck dienten und daher auch gleich aussahen.

Natürlich stimmte das nicht, und das wußte sie sehr gut.

Vielleicht hätte sie sich ja noch einreden können, daß eine Raumstation eben eine Raumstation war, gleichgültig, ob sie von irdischen oder außerirdischen Astronauten erbaut wurde. Aber warum hätten die Moroni wohl die Beschriftungen an den Abzweigungen und Korridoren in englisch anbringen sollen?

Nein - die Wahrheit war, daß sie sich in der Orbit-Stadt befanden. Sie alle hatten angenommen, daß die gewaltige Raumstation genauso wie alle anderen militärischen Einrichtungen der Menschen beim ersten Angriff der Moroni zerstört worden war, aber das war ein Trugschluß gewesen. Die Orbit-Stadt existierte, und es gab sogar Überlebende, wie Frenchs plötzliches Erscheinen eindeutig erwiesen hatte.

Allerdings ...

Als wäre da etwas in ihr, das sie zwang, immer wieder über diesen sonderbaren, kleinwüchsigen Mann nachzudenken, blickte sie wieder zu French hinüber. Er bewegte sich fünf oder sechs Schritte vor ihnen den Korridor entlang, geduckt, mit abgehackten, starren Schritten - im Grunde ging er nicht, sondern stakste, eine unbeholfene Imitation des eckigen Insektengangs der Moroni, schon beinahe rührend in seiner Hilflosigkeit.

Doch die Ameisenkrieger fielen darauf herein. Vor einer Stunde hatte French vor Charitys Augen einen Moroni getötet, und die Ameise hatte nicht einmal versucht, sich zur Wehr zu setzen. Offenbar hatte sie nicht einmal begriffen, daß sie getäuscht worden war, als French seine Harpunenwaffe hob und ihr einen Stahlpfeil durch den Chitinpanzer jagte. Sie hatte French mehrmals angeboten, eine der erbeuteten Moroniwaffen zu nehmen, aber French hatte die Strahlengewehre nur mit einem fast angewiderten Blick bedacht, den Kopf geschüttelt und seine selbstgebaute Harpunenwaffe behalten.

Sie gelangten an eine Kreuzung des Ganges, und French blieb stehen. Einen Moment lang sah er sich unschlüssig um, dann wollte er sich nach rechts wenden, aber Charity hielt ihn mit einer Geste zurück und deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Dort entlang.«

French machte eine Bewegung mit beiden Händen, die sie im ersten Moment nicht verstand; dann begriff sie, daß es für die Moroni einem Kopfnicken gleichkam. Mit dem Überstreifen seines Anzuges hatte French auch die Gestik der Außerirdischen übernommen.

Auch dieser Gang endete nach wenigen Dutzend Schritten an einer weiteren Kreuzung. Charity wurde zusehends ratloser. Es war eine Zeitlang her, daß sie hier im Schlaftank gelegen hatte. Aus der simplen Abzweigung, die sie kannte, war ein Kreuzungspunkt mit einem halben Dutzend in alle Richtungen führender Tunnel geworden, außerdem führte ein Schacht in die Tiefe. Charity beugte sich vor und erkannte die asymmetrisch geformten Metallösen, die die Moroni als Leiter benutzten. Offensichtlich hatten sie die Station nicht nur besetzt, sondern auch begonnen, sie nach ihren Bedürfnissen umzubauen.

»Wollen wir hier Wurzeln schlagen, oder gehen wir weiter?« fragte Gurk.

Charity blieb einen weiteren Moment unschlüssig stehen, dann deutete sie mit einer Kopfbewegung auf den nach unten führenden Schacht. Sie hatte keine Ahnung, wohin er führte, aber sie wußte, daß sie sich ziemlich nahe am Zentrum der Weltraumstadt aufhielten. Mit einer hastigen Bewegung hängte sie das Gewehr über die Schulter und wollte nach der obersten Stufe der Leiter greifen, aber French schüttelte rasch den Kopf und schob sich mit einer überraschend geschmeidigen Bewegung an ihr vorbei.

Charity wußte aus eigener Erfahrung, wie schwierig und unbequem es für einen Menschen war, die für einen Sechsbeiner erdachte Leiterkonstruktion zu benutzen. Aber French schien damit keine Schwierigkeiten zu haben. Rasch kletterte er vor Charity die Wand hinunter und hielt nach der Hälfte der Strecke inne.

Er legte den Kopf in den Nacken und sah auffordernd zu ihnen auf. Plötzlich bemerkte Charity ein Detail, das sie in Schrecken versetzte. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, da hatte sie Schuhe mit Magnetsohlen tragen müssen, denn in der Orbit-Stadt herrschte eine Gravitation, die kaum einem Zehntel der Erdanziehungskraft entsprach. Jetzt war die Schwerkraft vielleicht sogar ein wenig höher, als sie es gewohnt war. Vielleicht stammten die Moroni also von einer Welt mit einer höheren Gravitation als der Erde.

Sie beeilte sich, French zu folgen. Hinter ihr kamen Stone, dann Skudder und als letzter Gurk, der erstaunlicherweise die geringsten Schwierigkeiten mit der Moroni-Leiter hatte, obwohl er kaum größer als ein zwölfjähriges Kind war.

French kletterte weiter und hielt plötzlich inne, und Charity, die so sehr in ihre eigenen Gedanken versunken war, daß sie kaum noch auf ihre Umgebung achtete, bemerkte es zu spät und verpaßte ihm einen kräftigen Tritt. French schrie auf, ließ instinktiv seinen Halt los - und kippte mit einem überraschten Keuchen und mit wirbelnden Armen nach hinten. Hilflos stürzte er die restlichen drei, vier Meter in die Tiefe, schlug schwer auf den Boden auf und blieb liegen; benommen, verletzt oder vielleicht sogar tot. Charity blickte einen Moment lang ebenso fassungslos wie erschrocken zu ihm herab, dann kletterte sie hastig weiter. Die Gravitation mußte tatsächlich höher sein als gewohnt - denn sie verlor prompt das Gleichgewicht und fiel neben French auf die Knie. Besorgt beugte sie sich über ihn, tastete einen Moment lang hilflos mit den Händen über die Gummihaut seines Anzuges und wollte dann den Helm lösen, um ihm ins Gesicht zu blicken.

»Nicht!« flüsterte French erschrocken. »Vorsicht! Eine Spinne!«

Vielleicht war es die Überraschung, seine Stimme zu hören, vielleicht auch die Tatsache, daß die Bewohner der Orbit-Stadt die Moroni mit einem anderen Wort bezeichneten als die Menschen auf der Erde, aber sie begriff eine volle Sekunde lang nicht, was French überhaupt meinte.

Und als sie es begriff, war es zu spät.

Sie hob erschrocken den Kopf - und sah sich einem Moroni gegenüber, der kaum drei Meter entfernt dastand und auf sie zielte. Ganz instinktiv versuchte sie, ihre Waffe von der Schulter zu reißen, aber natürlich gelang es ihr nicht. Die Laserpistole in der unteren linken Hand des Moroni stieß einen grellen Lichtblitz aus, und Charity wurde gegen die Wand geschleudert. Der kleine Generator im Körperschild ihres Anzuges heulte protestierend auf, als das Gerät versuchte, die Energie zu absorbieren. Blaues Feuer lief in dünnen, gezackten Linien über den Anzug, und ein Gefühl furchtbarer Hitze durchflutete sie. Charity sank stöhnend in sich zusammen, fiel auf den Rücken und zog vor Schmerz Knie und Ellbogen an den Leib.

Immer noch liefen knisternde blaue Funken über ihren Anzug. Der Laserblitz hatte das Material nicht durchschlagen, aber der elektrostatische Schock, den Charitys Nervensystem davongetragen hatte, war kaum weniger schlimm. Für Sekunden kämpfte sie mit einer Bewußtlosigkeit, die ihre Gedanken zu verschlingen drohte. Sie sah, wie sich die Ameise mit eckigen, sehr vorsichtigen Schritten näherte, dann direkt über ihr stehenblieb und sich vorbeugte. Die riesigen Facettenaugen glotzten mißtrauisch und starr auf sie herab, und die Strahlenpistole zielte plötzlich genau auf ihr Gesicht. Sie wollte etwas tun, sich aufbäumen, sich wehren, aber sie konnte es nicht. Ihr Nervensystem schien in Flammen zu stehen. Sie war gelähmt und hilflos.

Aber der Moroni schoß nicht. Er stand einfach da und zielte weiter auf sie, und plötzlich richtete er sich auf und drehte sich um.

Eine Sekunde später stürzte eine hünenhafte, in schwarzes Leder gekleidete Gestalt von der Decke herab, riß den Moroni von den Füßen und schlug ein paarmal mit dem Gewehrkolben zu. Der Moroni hatte keine Chance. Skudder gab ihm keine Zeit, seine überlegenen Körperkräfte auszuspielen, sondern zertrümmerte seinen Chitinpanzer mit mehreren gezielten Schlägen. Dann überzeugte er sich davon, daß die Insektenkreatur tatsächlich tot war, ehe er mit zwei raschen Schritten zu Charity zurückkehrte und neben ihr niedersank.

»Bist du okay?« fragte er.

Zitternd versuchte Charity sich aufzurichten und nickte schwach. »Ich ... glaube schon«, murmelte sie.

Rasch, aber sehr gründlich tastete Skudder ihre Schulter und ihren rechten Arm ab und überzeugte sich davon, daß sie tatsächlich nicht verletzt war. Charity biß die Zähne zusammen, denn seine Berührung, so sacht sie war, bereitete ihr heftige Schmerzen; sie senkte den Blick und fuhr ein zweites Mal erschrocken zusammen, als sie ihren Gürtel sah. Der kleine Schildgenerator hatte sich verformt. Seine Plastikteile waren geschmolzen, dünner, grauer Rauch kräuselte sich aus dem Inneren des Gerätes. Voller plötzlichem Schrecken begriff sie, daß sie jetzt keinen Schutz mehr hatte. Der nächste Schuß, der sie traf, würde sie töten.

»Gott sei Dank«, murmelte Skudder. »Für einen Moment habe ich gedacht, alles wäre aus. Du hast dagelegen wie tot.«

Charity blickte ihn verwirrt an. Irgend etwas an diesem Satz war wichtig, aber sie wußte nicht, was es sein konnte.

Diesmal war sie nicht zu stolz, um Skudders Hilfe beim Aufstehen in Anspruch zu nehmen. Auch die beiden anderen waren mittlerweile heruntergekommen. French humpelte ein wenig, als sie weitergingen, schien aber ansonsten ebenso wie Charity mit dem Schrecken davongekommen zu sein.

Charity spürte ein eisiges Frösteln, als sie auf den toten Moroni herabblickte. Skudders Kolbenhiebe hatten seinen Schädel zertrümmert, und der Moroni lag wie eine tote, viel zu große Spinne da, verkrümmt, die sechs Gliedmaßen an den Körper gezogen ... Ganz genau so, wie auch Charity dagelegen hatte, als sie gegen die Bewußtlosigkeit ankämpfte. Und auch das war wichtig. Es gehörte zu dem, was Skudder gesagt hatte. Sie wußte plötzlich, daß sie das Geheimnis enträtseln würde, wenn sie nur einen Moment Zeit und Gelegenheit fand, in aller Ruhe darüber nachzudenken.

»Und wohin jetzt?« fragte Gurk.

Charity zuckte nur mit den Schultern, während French reglos stehenblieb und dann mit einer Geste, die ein wenig unentschlossen wirkte, nach links deutete. »Ich glaube, dort entlang.«

»Geht es dort zu deinen Leuten?« erkundigte sich Skudder.

French machte wieder die verneinende Moroni-Geste. »Ich bin zum Luftholen hergekommen«, erinnerte er. »Ich glaube, dort vorn ist eine Kammer mit Luftpatronen. Der Hort wird sterben, wenn er keinen frischen Sauerstoff bekommt.«

Charity und Skudder tauschten einen raschen Blick. French hatte im Laufe der letzten beiden Stunden mehrmals vom Hort und seinen Leuten gesprochen, aber auf eine Art, die sie sehr wenig von dem verstehen ließ, was er sagte. Immerhin war ihnen klargeworden, daß die überlebenden Menschen an Bord der Raumstation offensichtlich Schwierigkeiten mit ihrer Luftversorgung hatten.

Sie gingen weiter. Charity überließ es diesmal Skudder, French zu folgen, und fiel absichtlich einige Schritte zurück, bis Stone zu ihr aufgeschlossen hatte. Er bewegte sich langsam, schlurfend und mit hängenden Schultern. Offensichtlich litt auch er unter der leicht erhöhten Schwerkraft. Sein Blick flackerte, als er sie ansah und begriff, daß sie mit ihm reden wollte.

»Was ist das hier, Stone?« fragte sie.

»Woher soll ich das wissen?« erwiderte Stone unfreundlich. »Sie sind hier ...«

»Sie wissen so gut wie ich«, unterbrach ihn Charity scharf, »was ich meine. Das hier ist die Orbit-Stadt. Aber ich will wissen, was sie daraus gemacht haben.«

»Ich weiß es nicht«, beharrte Stone. Er wich ihrem Blick aus. »Ich war niemals hier. Weder vor noch nach dem Angriff.«

»Nein«, antwortete Charity sarkastisch. »Woher sollten Sie auch. Sie waren nur ihr Gouverneur. Der Statthalter ...«

»Eines ganzen Planeten, ja«, unterbrach sie nun Stone. »Glauben Sie, ich wüßte alles? Und glauben Sie, sie hätten mir alles gesagt?« Er schüttelte zornig den Kopf. »Ich weiß nicht genau, wie Sie es sich vorstellen, Captain Laird - aber ich war auch nicht viel mehr als ein Sklave.«

»O ja«, bemerkte Skudder spöttisch, ohne sich herumzudrehen. »Das hat man gemerkt.«

Stone bedachte ihn mit einem bösen Blick, ohne aber etwas darauf zu erwidern. »Sie haben irgend etwas hier getan, das stimmt. Aber ich weiß nicht, was. Sie haben es mir nicht gesagt, und ich habe nicht danach gefragt. Im Grunde hat es mich auch nicht interessiert.«

»Du warst wahrscheinlich zu sehr damit beschäftigt, deine Sklavenbrüder zu jagen und umzubringen«, sagte Skudder.

»Verdammt, was soll das?« ereiferte sich Stone. »Ich stehe auf eurer Seite. Was muß ich noch tun, um das zu beweisen?«

»Fang schon mal damit an, dir eine Kugel durch den Kopf zu jagen«, schlug Skudder völlig ernsthaft vor. »Das würde mich überzeugen.«

»Hör auf, Skudder«, bat Charity müde. »Ich glaube ihm. Egal, was er vorher getan hat - er steht jetzt auf unserer Seite. Er ist hier, oder?«

»Ja«, sagte Skudder grimmig. »Nachdem er keine andere Wahl mehr hatte. Ich mag Verräter nicht. Auch nicht solche, die meine Feinde verraten.«

Charity beendete die Diskussion, indem sie Stone zurückhielt und noch langsamer ging, so daß French und Skudder nun fünf oder sechs Meter vor ihnen gingen. »Was ist mit der Bombe?« fragte sie. »Ist sie hier?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Stone. »Glauben Sie mir, das ist die Wahrheit. Ich weiß es wirklich nicht. Offiziell weiß ich nicht einmal, daß es sie gibt.«

Charity seufzte. »Wir müssen uns einmal eingehend unterhalten, Stone«, sagte sie. »Und zwar sehr bald.«

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