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Zwanzig ihrer kostbaren dreißig Minuten vergingen, bis sie Starks Familie an Bord des Gleiters geschafft hatten, der sie vor der Schleuse erwartete. Und sie hätten es wahrscheinlich trotz allem nicht geschafft, hätte Skudder nicht am Schluß einfach das Kommando übernommen und Frenchs Leuten befohlen, die riesige Flugscheibe zu betreten. Charity war in diesen Momenten beinahe froh, daß die einfachen Schutzanzüge, die sie gefunden hatten, über keinerlei Funk- oder sonstige Kommunikationseinrichtungen verfügten. Doch zumindest French wußte, wem dieses gewaltige, silberne Raumschiff gehörte - und wer sie darin erwartete. Sie hatte das Entsetzen auf seinem Gesicht deutlich gesehen, als sie die Schleuse verließen und sich dem Gleiter gegenübersahen.

Nicht, daß sie selbst etwa keine Angst gehabt hätte. Sie hatte all ihre Selbstbeherrschung aufbieten müssen, um den Bewohnern des Space-Shuttles glaubhaft vorzutäuschen, daß das Raumschiff nur gekommen war, um ihr Versprechen einzulösen und sie fortzubringen - eine Lüge, für die sie bitter würde bezahlen müssen. Starks Leute waren nicht dumm. Sie hatten möglicherweise noch nie einen Gleiter der Moroni gesehen, aber sie kannten die Konstruktionen der Außerirdischen vermutlich besser als Charity und Skudder.

Ihre Uhr behauptete, daß ihnen noch neun Minuten blieben, als sich die Schleusentore des Gleiters hinter dem letzten Mitglied von Starks Familie schlossen. Es war drückend eng in dem winzigen Raum; alles in allem waren sie mehr als zwanzig, darunter einige Kinder, die sich schutzsuchend an die Körper ihrer Mütter oder Väter drängten. Charitys Gedanken rasten. Neun Minuten - das war einfach nicht genug, um diese Menschen auf den Schock vorzubereiten, der ihnen bevorstand, wenn sie erkannten, daß der Moroni Kias vor allen anderen an Bord gegangen war. Aber in ein paar Augenblicken, sobald sich die Tür hinter ihrem Rücken öffnete, würden sie ihn sehen, und Charity wagte sich nicht einmal vorzustellen, was dann geschah. Diese Menschen waren in einer Welt aufgewachsen, deren ganze Existenz von der Furcht vor einem einzigen, übermächtigen Feind bestimmt wurde - und sie sollte ihnen jetzt mit ein paar Sätzen erklären, daß der Moroni dort oben in der Zentrale des Schiffes nicht nur nicht ihr Feind, sondern ihr Verbündeter war?

Lächerlich!

»Wir sollten irgend etwas tun«, sagte Skudder neben ihr. Er sprach sehr leise, und Charity drehte rasch genug den Kopf, um zu sehen, daß er sich Mühe gab, nicht einmal die Lippen zu bewegen, während er sprach. Offensichtlich spürte er die Spannung, die sich unter den Shuttlebewohnern ausgebreitet hatte, ebenso wie sie.

Sie deutete ein Nicken an, wies dann vorsichtig auf die Tür hinter sich und flüsterte: »Versuch mich irgendwie abzuschirmen. Sie dürfen ihn nicht sehen.«

Skudder sah sie verwirrt an und verstand offensichtlich kein Wort, aber Charity verschwendete keine Zeit mit Erklärungen, sondern wandte sich mit lauter, erzwungener, ruhiger Stimme an Stark: »Das Schlimmste hätten wir hinter uns«, sagte sie. Sie war selbst ein wenig erstaunt, wie leicht ihr die Lüge von den Lippen ging. »Meine Freunde und ich müssen noch eine Kleinigkeit dort drinnen erledigen. Ich ... weiß, wie unbequem es für Sie sein muß - aber könnten Sie noch wenige Minuten hier warten?«

Stark starrte sie an. Sein Gesicht war unbewegt, aber sein Blick machte klar, daß er wußte, welche Kleinigkeit Charity meinte. Er nickte. Charity konnte erkennen, welche Überwindung ihn diese winzige Bewegung kostete.

»Gut«, sagte sie. »Es dauert nicht lange. Fünf oder sechs Minuten.« Rasch, bevor sie irgend etwas Falsches sagen oder tun konnte, drehte sie sich herum, betätigte den Öffnungsknopf und schlüpfte durch die Tür, kaum daß der Spalt breit genug war. Skudder, Stone und schließlich Gurk folgten ihr auf die gleiche Weise, und Charity atmete erleichtert auf, als sie sah, daß der Moroni so dagestanden hatte, daß er vom Gang aus nicht sichtbar war, und sich die Tür mit einem dumpfen Knall hinter ihnen wieder schloß.

Der Moroni sah sie an, blickte dann kurz zur Tür und trat mit einem raschen eckigen Schritt wieder an die Kontrollen des Gleiters heran. Tief im Rumpf des Schiffes begannen gewaltige Maschinen zu arbeiten, und auf dem großen Zentralschirm wurde das Wrack des Space-Shuttles ganz allmählich kleiner.

»Was glaubst du, wie lange das gutgeht?« fragte Skudder, ohne sie anzusehen.

»Was?«

Skudder machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Früher oder später mußt du sie hereinlassen. Sie werden durchdrehen, wenn sie ihn sehen.«

Er deutete auf Kias, und der Moroni hob kurz den Blick von den Kontrollen und sah ihn seinerseits an; dann konzentrierte er sich wieder darauf, das Schiff mit wachsender Geschwindigkeit von der Orbit-Stadt wegzusteuern. Charity sah auf ihre Uhr. Noch vier Minuten. Seltsam - sie hatte nicht einmal Angst. Jetzt nicht mehr.

»Sie werden ihn sehen«, sagte sie. »In fünf Minuten. Wenn wir dann noch leben.«

Skudder zog fragend die Augenbrauen hoch, und Charity fügte hinzu: »Ich bin nicht sicher, daß wir es schaffen. Du etwa?«

»Er ... hat gesagt, sie wird explodieren«, murmelte Skudder. »Aber er hat auch gesagt, wir wären nicht, in Gefahr.«

»Vielleicht hat er recht«, sagte Charity. Sie preßte die Lippen aufeinander. »Diese Leute halten uns für Götter, Skudder. Sie glauben, wir wären gekommen, um sie ins Paradies zu führen. Gibt es einen logischen Grund, sie in ihren letzten drei Minuten glauben zu lassen, die Götter hätten sie belogen?«

Langsam glitt das Schiff weiter von der Orbit-Stadt weg. Die Krümmung des künstlichen Horizonts kam in Sicht, und wenige Augenblicke später füllte die Raumstation den Schirm in ihrer ganzen Größe aus; ein riesiger, schimmernder Silberring, in dessen Mitte sich ein bizarres Etwas drehte. Die Bewegung der Riesenhantel war fast zum Stillstand gekommen.

»Wie lange noch?« fragte Skudder.

Charity sah auf die Uhr. »Zwei Minuten.« Sie atmete hörbar ein, dann sah sie den Moroni an. »Verstehst du mich?«

»Ja«, antwortete Kias. Seine Stimme klang unangenehm und metallisch; die Computerstimme aller Moroni.

»Könnt ihr es aufhalten?«

»Nein«, antwortete Kias. »Sie wird explodieren. In wenigen Sekunden. Aber unsere Chancen sind gut. Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist ein schnelles Schiff.«

Charity sah die riesige sechsgliedrige Kreatur verblüfft an. Keine Sorgen? Das ... das war doch kein Moroni. Das war nicht der Wortschatz einer Ameise. Sie war ...

»Großer Gott!« flüsterte Gurk plötzlich.

Charity sah erschrocken auf den Zwerg herab, dann wieder auf den Monitor, dem die ganze Aufmerksamkeit des Zwerges galt. Das Schiff bewegte sich jetzt rasend schnell. Die Orbit-Stadt schrumpfte im Zentrum des Bildes zusammen. Trotzdem war die Entfernung lächerlich, wenn sie an das dachte, was ihr Gurk über die Bombe erzählt hatte.

»Seht doch!« stammelte Gurk. Seine ausgestreckte, zitternde Hand deutete auf die Weltraumstadt.

Charity sah noch einmal hin, konnte aber nichts entdecken. Die Riesenhantel drehte sich nur noch ganz langsam, aber sie drehte sich noch.

»Was hast du?« fragte sie.

»Seht ihr es denn nicht?« wimmerte Gurk. »Da! Und da! Und da!« Seine Hand bewegte sich hektisch, deutete nach rechts und links, nach oben und unten und auf verschiedene Teile der riesigen Ringkonstruktion. Charity gewahrte eine Anzahl kompliziert aussehender Geräte, die sie vorher noch nicht bemerkt hatte. Bedachte sie den Abstand, den das Schiff mittlerweile zur Orbit-Stadt hatte, mußten sie allerdings riesig sein.

»Was ist das?« fragte sie.

»Diese ... diese Wahnsinnigen!« kreischte Gurk. »Ich ... ich weiß jetzt, was sie vorhaben! Diese Irren! Das ganze Netz wird zusammenbrechen! Sie werden die halbe Galaxis in die Luft jagen! Sie dürfen das nicht! Nein! Haltet sie auf!«

Und plötzlich kreischte er wie von Sinnen, fuhr herum und stürzte sich ohne Warnung auf Kias, so ungestüm, daß er selbst die riesige Insektenkreatur von den Füßen riß.

»Nein!« brüllte er immer wieder. »Ihr dürft das nicht! Haltet sie auf!«

Charity machte eine Bewegung, um den Zwerg zurückzureißen - und erstarrte.

Auf dem Bildschirm war die Hantel zur Ruhe gekommen. Eine einzige Sekunde lang hing sie völlig still im Raum, dann lief ein Zittern und Wogen durch die gigantische Konstruktion; es sah aus, als betrachte man sie durch einen Vorhang aus schnell fließendem glasklaren Wasser hindurch. Und dann ...

Die beiden gigantischen Kugeln aus Neutronium zerbrachen, zogen sich zusammen wie Luftballons aus dünnem Stanniol, wurden kleiner - und waren plötzlich verschwunden. Für einen Moment glaubte Charity an ihrer Stelle etwas zu erkennen, das nicht eigentlich zu erkennen war; eine Schwärze, die alles Vorstellbare übertraf, die Leere, die dort herrschte, wo selbst die Schöpfung aufhörte.

»O mein Gott!« flüsterte Skudder. »Sie explodiert.«

Das letzte, was Charity sah, war eine Woge blendendweißer, unerträglicher Helligkeit, die plötzlich da entstand, wo sich zuvor die Riesenhantel gedreht hatte, Licht von so unvorstellbarer Intensität, daß die Wände des Gleiters durchsichtig zu werden schienen. Es war, als hätte der gesamte Kosmos Feuer gefangen, ein Licht wie das Herz einer explodierenden Nova, das sich rasend schnell auf sie zubewegte.


Ende des siebten Teils

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