»... fünfunddreißig Stunden und nicht ganz fünfzig Minuten«, sagte Charity und schob den Ärmel über ihre Uhr zurück.
»Wie bitte?« fragte Stone.
»Ich sagte: Noch knapp sechsunddreißig Stunden«, antwortete Charity, »bis Hartmann seine Raketen startet.« Nach einer genau bemessenen Pause fügte sie hinzu: »Sollte es also noch irgend etwas geben, was Sie uns bisher zu erzählen vergessen haben, Stone, sollten Sie sich beeilen.«
Stone starrte sie mit einer Entrüstung an, die nicht gespielt war. »Ich dachte, wenigstens Sie hätten begriffen, daß ich auf Ihrer Seite stehe, Captain Laird.«
Charity antwortete nicht darauf, und Stone fuhr in vorwurfsvollem Ton fort. »Das Ganze hier war meine Idee, schon vergessen?«
»Nun ja ...« sagte Skudder zweifelnd.
»Laß ihm doch die Ehre«, bemerkte Gurk spöttisch. Er sah sich demonstrativ um. »Nach allem, was bisher passiert ist, würde ich sagen, es war eine Scheißidee. Wir hätten dabei draufgehen können.«
»Falsch«, sagte Skudder ruhig. »Wir sind draufgegangen, Kleiner.«
»Hört auf«, sagte Charity scharf. Nicht einmal so sehr, um den ohnehin nicht ernstgemeinten Streit zwischen den beiden zu beenden, sondern weil ihr das Thema unangenehm war. Wer redete schon gern über seinen eigenen Tod?
Gurk setzte zu einer Entgegnung an, schwieg dann aber vorsichtshalber, und Charity ging mit zwei, drei schnellen Schritten an ihm und Skudder vorbei, um wieder an French auf zuschließen.
French humpelte noch immer leicht; offensichtlich hatte er sich bei dem Sturz doch schwerer verletzt, als sie bisher angenommen hatte. Der Anblick versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Es war einer jener dummen, überflüssigen Unfälle gewesen, die einfach nicht passieren durften. Sie wagte gar nicht daran zu denken, was geschehen wäre, hätte French sich wirklich ernsthaft verletzt.
»Ist es noch weit bis zu deinen Leuten?« fragte sie.
Das aus Gummi und Haar nachgeahmte Insektengesicht starrte sie an. Die Antwort kam erst nach einem Zögern, das eine Spur zu lang war, um Frenchs Furcht ganz zu verbergen. »Weit nicht«, sagte French. »Aber ich weiß nicht, ob wir es schaffen.«
»Wieso?« fragte Charity alarmiert. Ganz automatisch hob sie den Blick und sah nach vorn, wo sich der Korridor nach einigen Dutzend Schritten wieder verzweigte.
French schien ihre Gedanken zu erraten, denn er machte die verneinende Geste der Moroni und sagte: »Hier unten sind selten Spinnen. Aber wir müssen durch die Tote Zone.«
Charity fragte ihn nicht, was er mit dem Begriff Tote Zone meinte. Die Kommunikation zwischen French und ihnen hatte sich als schwierig genug erwiesen. French sprach ein so sonderbares Englisch, daß sie manchmal Mühe hatten, ihm zu folgen. Sein Wortschatz war der eines Menschen, der in einer völlig anderen Umgebung aufgewachsen war; er benutzte zwar die gleichen Worte wie alle anderen, aber sie bedeuteten oft genug etwas anderes.
Sie wollte irgendeine Belanglosigkeit sagen, um ihn zu beruhigen, aber genau in diesem Moment ging ein sanfter, aber dennoch spürbarer Ruck durch den Boden unter ihren Füßen; und einen Moment später rollte ein dumpfes Donnern heran.
»Was war das?« fragte Skudder erschrocken. Charity blieb stehen und hob lauschend den Kopf. Das Donnergrollen verklang allmählich, und auch der Boden zitterte nicht mehr. Aber sie hatte solche Geräusche einfach zu oft gehört, um nicht zu wissen, was sie bedeuteten.
»Eine Explosion«, murmelte sie.
»Sieht so aus, als hätten unsere Freunde Schwierigkeiten«, sagte Gurk.
Skudder tauschte einen fragenden Blick mit Charity. »Leßter?«
»Ein Mann gegen die Besatzung dieser ganzen Raumstation?« Charity schüttelte den Kopf. Wenn das, was sie alle annahmen, zutraf, dann war Leßter mehr als ein Mann. Wahrscheinlich war es so gut wie unmöglich, ihn umzubringen. Und trotzdem ... Er stand Tausenden von Gegnern gegenüber.
»Ich schätze, er hält sie ganz schön auf Trab«, sagte Skudder grinsend. »Zumindest wäre das eine Erklärung dafür, daß wir noch am Leben sind.«
Wieder kam Charity nicht dazu, irgend etwas zu antworten, denn eine zweite, weitaus heftigere Explosion erschütterte die Station. Und einen Augenblick später drang ein hohes, dünnes Pfeifen an ihre Ohren, daß sie alle schmerzhaft das Gesicht verzogen. Offensichtlich eine Alarmsirene der Moroni.
Sie wandte sich mit einer auffordernden Geste an French. »Weiter«, sagte sie. »Solange sie abgelenkt sind, haben wir eine gute Chance.«
Wieder bedauerte sie, das Gesicht hinter der Maske nicht erkennen zu können, denn auch jetzt zögerte French einen Moment zu lange, um seine Unsicherheit zu verbergen. Dann fuhr er mit einer entschieden zu hastigen Bewegung herum und humpelte vor ihr den Gang hinunter.
Das Heulen der Alarmsirene und das Zittern des Bodens hielten an, und immer wieder drang auch ein dumpfes Grollen an ihre Ohren. Charity war jetzt nicht mehr sicher, daß es wirklich eine Explosion gewesen war, die sie hörten. Nicht zum ersten Mal, seit sie sich Frenchs Führung durch das bizarre Labyrinth anvertraut hatten, verspürte sie ein eisiges Frösteln - und die Frage, was die Invasoren von Moron mit der gewaltigen Weltraumstadt getan hatten. Die Station hatte sich auf eine unheimliche Art verändert. Die künstliche Welt sechsunddreißigtausend Kilometer über der Erdoberfläche, durch die sie sich bewegten, schien aus Teilen nicht nur zweier, sondern eines halben Dutzends unterschiedlicher Kulturen zu bestehen. Die Orbit-Stadt war ihr im ersten Augenblick nahezu unverändert vorgekommen, denn ihre neuen Besitzer hatten nichts an ihrer grundlegenden Konstruktion geändert - die Gänge und Räume waren noch genauso aufgeteilt, wie sie es vor der Invasion gewesen waren, Aufzüge und Luftschleusen befanden sich an ihrem vertrauten Platz, selbst die kleinen Hinweisschildchen neben den Türen, die ortsunkundige Besucher der Orbit-Stadt davor hatten bewahren sollen, sich in ihren endlosen Gängen zu verirren, waren noch vorhanden. Aber diese Täuschung hielt nicht lange stand. Die scheinbar so vertrauten Gänge starrten vor fremdartigen Maschinen, deren bloßer Anblick Charity schwindeln ließ, sinnverwirrende Erzeugnisse einer Technik, die die halbe Milchstraße unterworfen und geplündert hatte und deren Funktionsweise sie nicht einmal zu erraten imstande war. Daneben entdeckte sie Apparaturen, die so primitiv wirkten, als hätte ein Kind wahllos irgendwelche Ersatzteile genommen und zusammengebaut, und dann wieder Dinge, die sinnvoll und einfach zu durchschauen, aber im Grunde recht primitiv waren. Und manche Geräte wirkten wie eine völlig irrsinnige Kombination aus mechanischen und lebendigen Komponenten.
Die Wände einiger Gänge waren von etwas bedeckt, das Charity an das riesige Netz der Königin im Kölner Dom erinnerte - ein Gespinst grauer, klebriger Fäden, in dem sie hier und da große, pulsierende Klumpen gewahrte, die sich zu bewegen schienen. Charity war aufgefallen, daß French sich große Mühe gab, diese Klumpen niemals zu berühren.
»Dort vorn.« French wies mit einer Handbewegung auf eine Tür, die Charity erst beim zweiten Hinsehen überhaupt bemerkte, denn sie lag fast völlig unter einem grauen Spinnwebnetz verborgen. »Ich glaube, in dieser Kammer finden wir Luft. Aber ich bin nicht sicher. Als ich das letzte Mal hier war, war es ... anders.«
»Das glaube ich dir gerne«, sagte Gurk. »Sonst wärst du wahrscheinlich kaum hier.«
Charity sah ihn irritiert an, und Gurk fuhr mit einer Geste zum Ende des Korridors hin beinahe im Plauderton fort. »Die da hätten wahrscheinlich etwas dagegen gehabt.«
Charity, Skudder und auch French fuhren in einer einzigen Bewegung herum und erblickten drei oder vier sechsgliedrige Gestalten, die vor einer Sekunde hinter der nächsten Biegung aufgetaucht waren. Offensichtlich waren die Moroni genauso überrascht wie Charity und die anderen; aber dank Gurks dummer Bemerkung hatten sie eine oder zwei Sekunden mehr Zeit gehabt, ihre Verblüffung zu überwinden - mit dem Ergebnis, daß sie sofort das Feuer eröffneten.
Charity fand gerade noch Zeit, sich zur Seite zu werfen und Gurk dabei mit sich zu reißen, dann zerriß ein wahres Gewitter bleistiftdünner Lichtblitze die Luft zwischen ihnen. Skudder warf sich mit einem Fluch zur anderen Seite, prallte ungeschickt gegen die Wand und stürzte. Wahrscheinlich rettete dieser ungewollte Sturz ihm das Leben, denn den Bruchteil einer Sekunde später glühte das Metall dort, wo er gestanden hatte, hellrot unter den Einschlägen von vier oder fünf Laserblitzen auf, während sich Stone mit erstaunlicher Kaltblütigkeit auf ein Knie herabsinken ließ, seine Waffe hob und das Feuer erwiderte. Er verfehlte sein Ziel genauso wie die Moroni, aber die unerwartete Gegenwehr bremste den Ansturm der Vierarmigen für einen entscheidenden Augenblick.
Wahrscheinlich aber war es wieder French, dessen Eingreifen die endgültige Entscheidung brachte. Die Ameisen machten nicht so rücksichtslos von ihren Waffen Gebrauch, wie sie es gekonnt hätten, vermutlich, um ihren vermeintlichen Kameraden nicht zu gefährden.
French nutzte solche Skrupel hemmungslos aus. Noch während Charity verzweifelt über den Boden rollte, um den zuckenden Laserblitzen auszuweichen, hob er seine Harpunenwaffe, zielte in aller Seelenruhe und drückte ab. Einer der Moroni taumelte zurück, ließ seine Waffe fallen und griff mit allen vier Händen gleichzeitig nach dem langen Stahlpfeil, der aus seinem Brustpanzer ragte, ehe er zusammenbrach. Die anderen erstarrten für eine halbe Sekunde. Völlig verstört blickten sie French an, der bereits mit fliegenden Fingern einen weiteren Pfeil in seine Waffe legte. So kurz diese Atempause war, sie reichte: Charity warf sich mit einer blitzartigen Bewegung herum, riß ihr Gewehr von der Schulter und drückte ab. Auch Skudder eröffnete das Feuer. Keinem von ihnen blieb Zeit, wirklich zu zielen, aber ihre Waffen erwiesen sich als leistungsfähiger als die Laser der Moroni. Die hellgrünen Laserblitze explodierten in der Wand hinter den Ameisen und ließen sie in greller Weißglut auflodern. Die Hitze war so intensiv, daß selbst Charity einen kochendheißen Gluthauch spürte und French mit einem Schmerzensschrei zurücktaumelte. Von der Gummihaut seines Anzuges kräuselte sich grauer Rauch. Die Chitinpanzer der Moroni flammten auf und brannten lichterloh.
Charity hob schützend den linken Arm vor das Gesicht und blinzelte. Das entgegengesetzte Ende des Korridors hatte sich in eine Hölle aus weißer Glut und zuckenden Schatten verwandelt. Geschmolzenes Metall lief zischend zu Boden, Flammen leckten nach dem grauen Spinnengewebe, das Wände und Decke überzog. Voller plötzlichem Schrecken begriff Charity, daß sowohl Skudders als auch ihre eigene Waffe auf maximale Energieabgabe geschaltet waren. Eine Nachlässigkeit, die in einer solchen Umgebung tödlich sein konnte. Sie befanden sich in einer Raumstation, und hinter manchen der Wände, an denen sie vorbeigingen, war nichts mehr als die luftleere Weite des Alls.
Etwas bewegte sich unter ihr, und dann hörte sie eine halberstickte Stimme, die etwas rief, das sie nicht verstand. Erschrocken richtete sie sich auf und bemerkte, daß sie Gurk halb unter sich begraben hatte.
»Verdammt, willst du mich umbringen?« keuchte Gurk.
»Eigentlich sollte ich dich umbringen, du Idiot. Dein kleiner Scherz hätte uns allen das Leben kosten können, ist dir das klar?«
Zornig stemmte sie sich in die Höhe, griff nach Gurks Arm und zerrte ihn so grob auf die Füße, daß der Zwerg einen quiekenden Laut ausstieß.
»Es ist doch nichts passiert, oder?« maulte Gurk.
Charity ignorierte ihn und sah rasch zu Stone und Skudder. »Ist jemand verletzt?« fragte sie.
Skudder schüttelte nur kurz den Kopf, während sich Stone unsicher aufrichtete und beinahe verblüfft auf die Waffe in seinen Händen hinabblickte. Charity musterte ihn einen Moment lang sehr aufmerksam. Sie waren alle ziemlich nervös, aber Stone mußte nach den Ereignissen der vergangenen Stunden unter einem Druck stehen, der fast unvorstellbar war. Sie nahm sich vor, ihn genauer im Auge zu behalten, und drehte sich zu French herum.
Sein Ameisenkostüm schwelte noch immer hier und da; die Gummihaut hatte Blasen geschlagen und wies jetzt große, häßlich verbrannte Flecken auf. Aber seine Haltung verriet keinen Schmerz, sondern nur Anspannung. »Alles in Ordnung?« fragte sie.
French reagierte im ersten Moment überhaupt nicht, sondern blickte weiter wie gebannt zum Ende des Ganges. Die Hitze hatte nachgelassen, aber die Wand glühte noch immer, und aus den verkohlten Chitinpanzern der Moroni leckten kleine, gelbe Flammen.
»Keine Sorge«, sagte Charity. »Sie sind tot.«
French starrte weiter auf die Moronikrieger. Er hob die Hand und massierte seinen schmerzenden linken Arm, in einer Bewegung, die er wahrscheinlich nicht einmal selbst registrierte. »Einer fehlt.«
Charity blickte ihn fragend an.
»Einen habe ich getötet«, sagte French. »Und dort liegen drei.«
»Das macht vier«, erwiderte Charity. »Und?«
»Es waren fünf.«
»Bist du sicher?« fragte Skudder erschrocken. »Ich habe nur vier gesehen.«
»Ich auch«, fügte Stone hinzu.
French schüttelte stur den Kopf. »Es waren fünf. Ich bin ganz sicher. Einer muß entkommen sein.«
Skudder murmelte einen Fluch und zog die Unterlippe zwischen die Zähne, während Stone erbleichte. Gurk zog es vor, gar nichts zu sagen, und duckte sich unter Charitys Blick wie ein geprügelter Hund.
»Das heißt, daß sie in wenigen Augenblicken hier sein werden«, sagte Charity ruhig. Mit einem giftigen Seitenblick auf den Zwerg fügte sie hinzu: »Vielen Dank, Gurk.«
Gurk öffnete den Mund, um nun doch etwas zu erwidern, aber Charity schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Wir klären das später«, bemerkte sie. Dann wandte sie sich wieder an French. »Also los.«
French starrte sie an, und obwohl sie nur in die Gummimaske vor seinem Gesicht blickte, spürte sie sein Erstaunen. »Aber wohin denn?«
Charity deutete mit dem Lauf ihrer Waffe auf die Tür, hinter der ihr ursprüngliches Ziel lag. »Zu Ihren Leuten. Nachdem wir das da erledigt haben. Los!«
Das letzte Wort hatte sie bewußt in scharfem, befehlendem Ton gesprochen. Was immer French hatte sagen wollen, er drehte sich gehorsam herum und lief mit weit ausgreifenden Schritten vor ihnen her.
Die Hitze wurde so groß, daß sie es fast nicht geschafft hätten, aber sie hatten zumindest in einem Punkt Glück: Die Tür war nicht verschlossen, und der Mechanismus funktionierte noch so zuverlässig und schnell wie vor fünfzig Jahren. Mit einem kaum hörbaren Summen glitt das schwere Panzerschott vor ihnen zur Seite und gab den Eingang zu einer asymmetrisch geformten Kammer frei, deren Wände mit Regalen und Schränken so vollgestopft waren, daß sie zu fünft kaum darin Platz fanden.
Charity betrat die Kammer als letzte, und sie schloß die Tür nicht wieder, sondern gab Skudder mit Gesten zu verstehen, den Gang draußen im Auge zu behalten. »Schnell«, sagte sie dann an French gewandt. »Wir haben nicht viel Zeit.«
»Wir haben sogar weniger Zeit, als du glaubst«, sagte Skudder von der Tür her. »Sie kommen.«
Charity drängte sich an French vorbei und riß wahllos einen der Schränke auf. Er war vollgestopft mit Dingen, die vor einem halben Jahrhundert ihre Bedeutung verloren hatten: Werkzeuge, Ersatzteile, technische Gerätschaften und Batterien, Kleidungsstücke und Lebensmittelpakete. Es war so, wie sie vermutet hatte - sie waren in einem der alten Lagerräume, von denen es an der Peripherie der Station eine ganze Reihe gegeben hatte. Die Orbit-Stadt hatte am Schluß mehr als zweihundert ständige Bewohner gehabt, und sie war darauf eingerichtet gewesen, diese Anzahl von Menschen im Notfall ein volles Jahr lang versorgen zu können.
Während Charity rasch und nacheinander von Schrank zu Schrank ging und ihn aufriß, ohne irgend etwas zu finden, was ihnen im Augenblick weiterhelfen würde, mühte sich French mit Gurks Hilfe ab, eine Anzahl klobiger, in Signalgelb gestrichener Stahlflaschen von einem der Regale herunterzuwuchten; Reservetanks für die Sauerstoffflaschen, die zu den Anzügen des Wartungspersonals gehört hatten. Sie waren sehr viel schwerer und unhandlicher als die kleinen modernen Wiederaufarbeitungs-Packs und enthielten einen Luftvorrat, der knappe zwei Stunden reichte.
Charity sah den beiden einen Moment lang zu, und es fiel ihr auf, wie sehr sich French anstrengen mußte, um auch nur eine einzige dieser Flaschen anzuheben. Sie fragte ihn, wie um alles in der Welt er es geschafft hatte, dieses Gewicht zurück zu seinen Leuten zu schleppen.
»Normalerweise gehe ich nicht so weit in die Schwere Zone«, antwortete French. »Und mehr als eine ist auch nicht nötig.«
Er riskierte sein Leben, um einen Sauerstoffvorrat für zwei Stunden zu erbeuten? Charity war mehr als nur ein wenig verwirrt, fuhr aber fort, den Inhalt der Kammer gründlich zu inspizieren. French und Gurk häuften unterdessen vier der klobigen Stahlflaschen neben dem Eingang auf. Offensichtlich setzte French wortlos voraus, daß sie ihm beim Abtransport seiner Beute helfen würden.
Hinter der letzten Tür, die sie öffnete, fand Charity, wonach sie gesucht hatte: Säuberlich aufgereiht hing ein Dutzend silberfarbener Vakuumanzüge. Es waren keine wirklichen Raumanzüge, sondern mit Silber und Aluminium versehene Overalls, die ihre Träger bestenfalls zwei oder drei Stunden vor der Weltraumkälte oder der direkten Sonneneinstrahlung zu schützen vermochten.
»Was immer ihr da tut«, sagte Skudder von der Tür her, »beeilt euch. Da draußen geht irgend etwas vor.«
Charity warf ihm einen besorgten Blick zu, dann nahm sie einen der Anzüge aus dem Schrank, öffnete ihn und stieg mit raschen Bewegungen hinein. Stone sah ihr mit großen Augen dabei zu, während sich Gurks Stirn noch mehr in Falten legte. French war wieder zum Regal getreten, beschäftigte sich aber jetzt nicht mehr mit den Sauerstoffflaschen, sondern wühlte mit fliegenden Fingern in einem darunterliegenden Fach. Nach einigen Augenblicken hatte er gefunden, wonach er suchte. Mit einem erleichterten Seufzen zog er eine zusammengefaltete Kunststoffolie aus dem Fach, breitete sie vor sich auf dem Boden aus - und gab einen enttäuschten Laut von sich. Wortlos starrte er auf den Plastiksack vor sich, dann fuhr er plötzlich herum und trat abermals an das Fach heran. Diesmal wühlte er mit hektischen, fast schon panikerfüllten Bewegungen dessen Inhalt durch. Nach einigen Augenblicken fand er eine zweite Kunststoffolie, die er so hastig herauszerrte und ebenfalls ausbreitete, daß er sie beinahe zerrissen hätte. Nicht, daß das noch einen großen Unterschied machte - Charity sah, daß die Kunststoffhaut an zahlreichen Stellen eingerissen war. Sie fragte sich, was er damit vorgehabt hatte. Sie kannte den Verwendungszweck dieser Folien: Aufgeblasen bildeten sie eine Art Miniatur-Behelfsraumschiff; eine Luftblase, um Nachschubgüter, die dem Vakuum nicht ausgesetzt werden durften, an Bord der Station oder umgekehrt in eines der Shuttles zu transportieren. Aber es gab hier drinnen absolut nichts, was sie mitnehmen konnten.
»Was ist los?« fragte sie alarmiert. Es war nicht nur Frenchs plötzliches Schweigen, das sie aufschreckte. Seine Haltung verriet nicht nur Schrecken, sondern Entsetzen.
»Wir ... können nicht zurück«, sagte er.
»Zurück? Wohin?«
»Zurück in den Hort«, murmelte French. »Sie ... sie sind beschädigt. Sehen Sie doch selbst.« Zitternd deutete er auf die Löcher und Risse in der Plastikfolie. »Ich habe Flickzeug dabei, aber es reicht nicht. Wir ... wir müssen versuchen, andere zu finden.«
»Aber wozu?« fragte Stone.
French sah mit einem Ruck auf. »Wir müssen in den Hort«, wiederholte er unsicher. »Die Tote Zone. Wir ... wir können sie nicht durchqueren ohne einen Schutzanzug.«
»Einen Schutzanzug!« Charity hätte fast gelacht. Dann begriff sie. »Die Tote Zone - das ist ein Bereich ohne Luft?«
»Und?« fragte Stone verwirrt. Er blickte auf den offenstehenden Schrank mit den Vakuumanzügen. »Wozu brauchen wir diese Dinger da?«
»Ihr würdet sterben«, sagte French. »Mein Anzug ist beschädigt, aber vielleicht kann ich es schaffen. Aber ihr nicht. Es ist zu weit. Niemand kann so lange die Luft anhalten.«
»Das ist auch nicht nötig«, begann Stone, »wir ...«
Charity brachte ihn mit einer unwilligen Geste zum Verstummen. »Der Hort«, sagte sie, an French gewandt. »Das ist der Ort, an dem deine Leute leben, nicht wahr? Er liegt außerhalb der Station?«
»Hinter der Toten Zone«, bestätigte French.
»Beschreibe sie«, verlangte Charity. »Wie sieht es dort aus?«
French machte eine hilflose Bewegung. »Es ist ... die Tote Zone«, wiederholte er verwirrt. »Es gibt keine Luft dort, und es ist kalt. Die Spinnen kommen niemals dorthin.«
Charity gab auf. Es hatte wenig Sinn, über Dinge diskutieren zu wollen, für die sie keine gemeinsamen Worte hatten. Aber sie glaubte, zumindest eine ungefähre Vorstellung von dem zu haben, was French als Hort bezeichnete.
Langsam drehte sie sich einmal im Kreis und sah sich um. Sie verfluchte jetzt die Tatsache, sich damals nicht mehr für die Konstruktion der Orbit-Stadt interessiert zu haben. Sie hatte ja nicht ahnen können, wie wichtig es einmal werden würde. Andererseits blieb ihnen wahrscheinlich gar keine andere Wahl, als sich darauf zu verlassen, daß sie ihre Erinnerung nicht narrte.
»Wenn das Zeug hier das ist, was ich hoffe«, sagte sie, »dann habe ich eine kleine Überraschung für unsere vierarmigen Freunde.« Sie machte eine schnelle, auffordernde Geste auf den Schrank. »Schnell - zieht die Dinger an. Und beeilt euch.«
»Das ist eine wirklich gute Idee«, rief Skudder von der Tür her und duckte sich unter einem grellen Energieblitz, der den Stahl über seinem Kopf zum Aufglühen brachte.