Sie erreichten Volemaks Lager am Abend. Sie waren an diesem Tag länger als üblich gereist, da sie sich ganz in der Nähe befunden hatten; und doch mußten sie den gesamten Abend über arbeiten, da Volemak nicht hatte wissen können, daß sie an diesem Tag eintreffen würden. Es waren keine zusätzlichen Zelte aufgeschlagen, und Zdorab hatte bereits den Abwasch des Abendessens erledigt, das er für sich und Volemak und Issib zubereitet hatte. Die allabendliche Arbeit ging langsamer als gewohnt vonstatten, da sie sich sicherer fühlten und da es ihnen, nachdem sie das Lager nun endlich erreicht hatten, ungerecht vorkam, genauso hart zu arbeiten wie auf der Reise.
Huschidh blieb so nahe bei Luet und Nafai, wie es ihr möglich war. Sie erhaschte dann und wann einen Blick auf Issib, der auf seinem Stuhl dahinschwebte. Sein Äußeres konnte sie nicht überraschen — sie kannte ihn schon jahrelang, schließlich war er Herrin Rasas ältester Sohn und ihr Schüler gewesen, seit Huschidh in Rasas Haus lebte. Doch sie hatte ihn immer für den Verkrüppelten gehalten und ihm kaum Beachtung geschenkt. Als ihr dann damals in Basilika klar geworden war, daß sie mit Nafai und Luet in die Wüste gehen würde, hatte sie erkannt — denn sie konnte die Verbindungen zwischen Menschen immer erkennen —, daß sie bei den Zusammenfügungen von Männern und Frauen in der Expedition der Überseele für Issib bestimmt war. Die Überseele wollte, daß seine Gene — wie auch die ihren — erhalten blieben, und sie würden diesen Versuch gemeinsam unternehmen, ob er nun gelang oder nicht.
Es war ihr nicht leichtgefallen, dies zu akzeptieren. Besonders in der Hochzeitsnacht, als Luet und Nafai, Elemak und Eiadh, Mebbekew und Dolja von der Herrin Rasa verheiratet wurden und dann, immer zu zweit, in ihre Brautbetten gingen, hatte Huschidh kaum den Zorn und die Furcht und die bittere Enttäuschung in ihrem Herzen ertragen können, daß sie nicht die Art von Liebe haben konnte, die ihre Schwester Luet hatte.
Als Antwort hatte die Überseele — zumindest hatte sie dies anfangs geglaubt — ihr in dieser Nacht einen Traum geschickt. Darin sah sie sich mit Issib verbunden; sie sah, wie er flog, und flog mit ihm; ihr wurde klar, daß sie von seinem Körper nicht auf sein wahres Wesen schließen konnte. Sie würde feststellen, daß die Ehe mit ihm sie nicht zerreiben, sondern erhöhen würde. Und sie sah, daß sie Kinder von ihm bekam, sah, wie sie mit ihm in der Tür eines Wüstenzeltes stand und ihre Kinder beim Spielen beobachtete, und sie sah, daß sie ihn in dieser zukünftigen Szene liebte und mit ihm durch goldene und silberne Fäden verbunden wurde, die sich schon seit Generationen in ihnen befanden und auch in die Zukunft reichten, Jahr um Jahr, Kind um Kind, Generation um Generation. Der Traum hatte auch noch andere Bestandteile gehabt, von denen einige wirklich erschreckend gewesen waren, doch in all diesen Tagen hatte sie sich an den Trost dieser Bilder geklammert. Als sie vor General Muuzh stand und gezwungen werden sollte, den Eroberer Basilikas zu heiraten, hatte sie an diesen Traum gedacht und gewußt, daß sie nicht als seine Frau enden würde, und in der Tat hatte die Überseele Huschidhs und Luets Mutter nach Basilika geführt, die Frau namens Durstig, die sie als ihre Töchter offenbarte — und Muuzh als ihren Vater. Keine Ehe, und innerhalb von ein paar Stunden waren sie in der Wüste und auf dem Weg zu Volemaks Lager.
Doch seitdem hatte sie Zeit zum Nachdenken gehabt — und Zeit, um sich an ihre Ängste zu erinnern. Natürlich nicht absichtlich; sie versuchte vielmehr, sich an den Trost des Traums zu erinnern oder an Nafais Beteuerungen, denn er hatte ihr gesagt, daß Issib sehr klug und lustig war, ein angenehmer Gefährte, was sie in der Schule natürlich nie mitbekommen hatte.
Doch trotz des Traums, trotz Nafai, waren die alten Eindrücke geblieben, die sie so lange gehabt hatte. Den gesamten Weg durch die Wüste hatte sie immer wieder vor ihrem inneren Auge gesehen, wie er auf schon fast makabre Art und Weise seine Arme und Beine benutzte, um sich in der Stadt, wo er Flossen unter seiner Kleidung tragen konnte, zu bewegen, so daß er immer durch die Luft zu hüpfen schien wie ein tanzender Geist oder wie ein — wie hatte Kokor ihn einmal genannt? —, wie ein Kaninchen unter Wasser. Wie hatten sie damals gelacht! Und wie treulos kam sie sich nun vor, obwohl Issibs eigene Schwester den Scherz gemacht hatte. Huschidh hatte nicht ahnen können, daß der Krüppel, der Geist, das Unterwasser-Kaninchen, eines Tages ihr Ehemann sein würde. Die alte Furcht und Fremdartigkeit blieb trotz all ihrer Versuche, sich zu beruhigen, als Unterströmung bestehen.
Bis sie nun, als sie ihn sah, begriff, daß sie nicht vor ihm Angst hatte. Der Traum hatte ihr dafür zuviel Hoffnung gegeben. Nein, sie fürchtete sich davor, was er von ihr halten würde — eine noch ältere und dunklere Furcht. Wußte Issib bereits, was Tante Rasa und die Überseele für ihn vorgesehen hatten? Betrachtete er sie bereits, während sie das Zelt aufbaute, schätzte er sie ab? Sollte er dies tun, würde er zweifellos sehr enttäuscht sein. Sie konnte sich seine Gedanken vorstellen: Natürlich kriegt der Krüppel die Schlichte ab, diejenige, die zu groß ist, die mit dem verdrossenen Gesicht, deren Körper noch nie einen Mann zu einem zweiten Blick veranlaßt hat. Die Fleißige, die niemanden zum Lachen bringen kann, von ihrer jüngeren Schwester Luet einmal abgesehen (ah, die ist so lebhaft! Aber sie gehört zu Nafai). Er mußte denken: Ich muß das Beste daraus machen, denn ich bin ein Krüppel und habe keine Wahl. Genau, wie Huschidh dachte: Ich muß mich mit dem Krüppel abfinden, denn kein anderer Mann würde mich haben wollen.
Wie viele Ehen waren mit solchen Gefühlen geschlossen worden? Und waren welche davon schließlich doch noch glücklich geworden?
Sie zögerte es so lange hinaus, wie sie konnte, und verweilte über dem Abendessen — das tatsächlich besser war als alles, was sie während der Reise gegessen hatten. Zdorab und Volemak hatten in diesem Tal wilde Pflanzen und Wurzeln gefunden und aus ihnen einen Eintopf zubereitet, der besser war als eine Handvoll Rosinen und an der Luft getrocknetes Fleisch, und das Brot war frisch und aus Sauerteig und viel besser als der Zwieback und das Trockenfleisch, das sie auf der Reise gegessen hatten. Bald würde es noch besser werden, denn Volemak hatte hier einen Garten angelegt, und in ein paar Wochen würde es Melonen und Kürbisse, Mohren und Zwiebeln und Rettich geben.
Alle waren müde und wußten nicht, wie sie während des Essens miteinander umgehen sollten. Die Erinnerung an Nafais Beinahe-Hinrichtung war noch frisch und nun, da sie zu Volemak zurückgekehrt waren, noch peinlicher, denn sie sahen, wie problemlos er die Befehlsgewalt über sie alle ergriff. Er war ein wahrer Anführer, und sein Auftreten war viel sicherer als Elemaks prahlerischer, einschüchternder Stil. Sie alle scheuten sich irgendwie davor, dem alten Mann Rechenschaft abzulegen, denn wie viele von ihnen — von Eiadh vielleicht einmal abgesehen, und von Nafai selbst natürlich — waren wirklich stolz darauf, wie sie sich verhalten hatten? Das Essen konnte also noch so gut sein, bis auf Huschidh verspürte niemand den Drang, am Feuer sitzen zu bleiben und zu plaudern. Es gab keine schönen Erinnerungen an die Reise, keine amüsanten Geschichten, die man jenen erzählen konnte, die hier auf sie gewartet hatten. Als das Essen weggeräumt war, gingen die Paare in ihre Zelte.
Sie gingen so plötzlich, daß Huschidh trotz ihrer Bemühungen, genau diesen Augenblick zu vermeiden, mit den letzten Töpfen, die sie gespült hatte, vom Bach zurückkam und feststellte, daß von den Frauen nur Schedemei und von den Männern nur Issib und Zdorab geblieben waren. Es herrschte bereits ein schreckliches Schweigen, denn Schedemei hatte nicht die Begabung, einfach zu plaudern, und sowohl Zdorab als auch Issib schienen fürchterlich schüchtern zu sein. Wie schwer es doch für uns alle ist, dachte Huschidh. Wir wissen, daß wir allein noch zu haben sind, daß wir zusammengeworfen wurden, weil niemand außer der Überseele uns haben wollte. Und einige von uns wollten nicht einmal sie haben, denn der arme Zdorab ist nur hier, weil Nafai ihm einen Eid abverlangt hatte, statt ihn in der Nacht, da er Gaballufix den Kopf abgeschnitten hatte, am Tor Basilikas zu töten.
»Was für eine elende Gruppe seid ihr«, sagte Volemak.
Huschidh blickte auf und sah erleichtert, daß Volemak und Rasa zum Kochfeuer zurückkehrten. Sie mußten erkannt haben, daß etwas gesagt werden mußte — daß man sie miteinander bekanntmachen mußte, zumindest Schedja und den Bibliothekar, die sich noch nie begegnet waren.
»Ich betrat das Zelt meines Gatten«, sagte Rasa, »und dachte, wie schön es ist, wieder bei ihm zu sein, als mir klar wurde, wie sehr ich meine Reisegefährtinnen Schuja und Schedja vermisse, und dann wurde mir klar, daß ich in meinen Pflichten als Herrin dieses Hauses nachlässig gewesen bin.«
»Dieses Hauses?« sagte Issib.
»Die Wände mögen aus Stein bestehen, und das Dach mag der Himmel sein, doch dies ist mein Haus, ein Ort der Zuflucht für meine Töchter und der Sicherheit für meine Söhne«, sagte Rasa.
»Unser Haus«, sagte Volemak sanft.
»In der Tat — ich habe es nur wegen der alten Gebräuche Basilikas, wo Häuser nur Frauen gehörten, als mein Haus bezeichnet.« Rasa hob die Hand ihres Mannes an ihre Lippen, küßte sie und lächelte ihn an.
»Hier draußen«, sagte Volemak, »gehören die Häuser der Überseele, aber sie vermietet uns dieses zu einem sehr Vernünftigen Preis: Wenn wir hier fortgehen, dürfen die Paviane, die flußabwärts leben, den Garten behalten.«
»Huschidh, Schedemei, ich glaube, ihr kennt meinen Sohn Issib schon«, sagte Rasa.
»Unseren Sohn«, sagte Volemak so sanft wie zuvor. »Und das ist Zdorab, der einst Gaballufix’ Archivar war, doch nun während unserer Zwischenstation als Gärtner, Bibliothekar und Koch dient.«
»Und bei allen drei Aufgaben nicht besonders gut ist, fürchte ich«, sagte Zdorab.
Rasa lächelte. »Volja hat mir erzählt, daß Issib und Zdorab den Index erkundet haben, während sie hier warteten. Und ich.weiß, daß meine beiden lieben Nichten, Schuja und Schedja, ein grundlegendes Interesse daran haben, was sie dort gefunden haben.«
»Der Index der Überseele ist der Weg in alle Erinnerungen der Erde«, sagte Volemak. »Und da wir zur Erde reisen werden, ist das Studium dieser großen Bibliothek für uns genauso wichtig wie die Aufgabe, in dieser Wüste zu überleben.«
»Du weißt, daß wir unsere Pflicht tun werden«, sagte Schedemei.
Huschidh wußte, daß sie sich nicht nur auf die Studien bezog.
»Ach, vergessen wir das höfliche Drumherumgerede«, sagte Herrin Rasa. »Ihr wißt, daß ihr die Unverheirateten seid und daß schließlich alle heiraten müssen, wenn unsere Sache Erfolg haben soll, und damit bleibt nur ihr vier übrig. Ich weiß, es gibt keinen besonderen Grund dafür, daß ihr die Sache nicht wenigstens unter euch ausmachen könnt, aber ich will euch sagen, daß mein Alter und meine Erfahrung mir raten, Huschidh mit Issib zusammenzubringen und Schedemei mit Zdorab. Es muß nicht so kommen, aber es wäre vielleicht hilfreich, wenn ihr zumindest die Möglichkeiten erkunden würdet.«
»Die Herrin Rasa spricht aus Erfahrung«, sagte Zdorab, »aber ich muß klarstellen, daß ich ein Mann bin, der nicht die geringste Erfahrung mit Frauen hat, und ich fürchte, ich werde mit jedem Wort, das ich sage, eine Beleidigung äußern.«
Schedemei lachte kurz und spöttisch auf.
»Schedemei wollte mit ihrer einfachen Beredsamkeit sagen«, warf Rasa ein, »sie könne sich nicht vorstellen, daß du weniger Erfahrung mit Frauen hast, als sie mit Männern. Sie ist sich auch ihrer Fähigkeit ziemlich sicher, dich mit jedem Wort beleidigen zu können, und hat es deshalb vorgezogen, ohne alle Worte zu antworten.«
Die Absurdität der Situation, Schedemeis ungehobelte Reaktion und Zdorabs unbeholfene Höflichkeit war zuviel für Huschidh. Sie platzte in lautes Gelächter aus, und bald fielen die anderen ein.
»Es besteht keine Eile«, sagte Volemak. »Laßt euch Zeit, euch kennenzulernen.«
»Ich würde es lieber direkt hinter mich bringen«, sagte Schedemei.
»Die Ehe ist nichts, das man einfach hinter sich bringt«, sagte Rasa. »Man geht sie ein. Laßt euch also Zeit, wie Volemak es gesagt hat. Wenn ihr bereit seid, kommt ihr zu mir oder meinem Gatten, und wir teilen euch neuen Zelten zu und führen die angemessenen Zeremonien durch.«
»Und wenn wir nie bereit sind?« fragte Issib.
»Keiner von uns wird lange genug leben, um das Nie zu sehen«, erwiderte Volemak. »Und was die Gegenwart betrifft, so genügt es, wenn ihr versucht, euch kennenzulernen und einander zu mögen.«
Das war es, abgesehen von ein paar lobenden Worten über das Abendessen, das Zdorab zubereitet hatte. Sie gingen schnell auseinander, und Huschidh folgte Schedemei in das Zelt, das sie sich vorerst teilen würden.
»Nun, das war aber beruhigend«, sagte Schedemei.
Huschidh brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, daß Schedja es ironisch meinte; sie brauchte immer eine Weile. »Ich bin nicht sehr beruhigt«, sagte Huschidh.
»Oh, du bist doch nicht der Ansicht, es sei nett von ihnen, uns Zeit zu geben, das Unausweichliche zu tun? Genausogut könnten sie einem zum Tode verurteilten Mörder den Hebel der Galgenfalltür in die Hand drücken und sagen: ›Wann immer du bereit bist.‹«
Es war eine Überraschung, daß Schedemei darüber viel wütender als Huschidh zu sein schien. Andererseits hingegen nahm Schedemei nicht freiwillig an der Reise teil, wie es bei Huschidh der Fall war. Schedemei war nie der Meinung gewesen, der Überseele zu gehören, wie Huschidh es annahm, seit sie herausgefunden hatte, daß sie eine Entwirrerin war; oder Luet, seit sie wußte, daß sie eine Wasserseherin war. Also war für sie natürlich nichts in Ordnung; ihre gesamten Pläne waren durcheinander gebracht worden.
Huschidh glaubte, ihr zu helfen, indem sie sagte: »Zdorab ist genauso ein Gefangener dieser Reise, wie du es bist — er hat nie darum gebeten, und du hast zumindest deinen Traum gehabt.« Doch sie sah sofort — denn Huschidh sah immer die Verbindung zwischen Menschen —, daß ihre Worte für Schedemei alles andere als ein Trost waren und darüber hinaus noch einen Keil zwischen sie und Schedemei trieben, und so verstummte sie.
Verstummte und litt, denn sie erinnerte sich gut daran, daß Issib gefragt hatte: Was, wenn wir nie bereit sind? Es war schrecklich, so etwas von seinem zukünftigen Mann zu hören, einfach schrecklich, denn es bedeutete, daß er glaubte, sie niemals lieben zu können.
Doch dann kam ihr plötzlich ein Gedanke: Was, wenn Issib dies nicht gesagt hatte, weil er glaubte, er könne sie niemals begehren, sondern weil er befürchtete, sie wäre niemals bereit, ihn zu heiraten? Nun, da sie darüber nachdachte, stellte sich bei ihr die Überzeugung ein, daß er es genau so gemeint hatte, denn sie kannte Issib als freundlichen, jungen Mann, der nicht einfach etwas dahersagte, was einen anderen Menschen beleidigte. Plötzlich öffnete sich in ihr eine Schleuse, und sie sah vor ihrem inneren Auge alle Bilder, die sie von Issib hatte. Er war still und ertrug seine Gebrechlichkeit ohne Beschwerden. Er hatte auf seine Weise großen Mut und war in der Tat sehr gescheit — er war in der Schule immer von schneller Auffassungsgabe gewesen, wenn sie den Unterricht gemeinsam besucht hatten, und hatte niemals die offensichtlichen Ideen gehabt, sondern jene, die bewiesen, daß er der zur Debatte stehenden Frage immer um einen oder zwei Schritt voraus war.
Sein Körper mochte nicht voll tauglich sein, doch sein Geist ist dem meinen mindestens ebenbürtig. Und so unscheinbar ich auch bin, kann ich mir um meinen Körper doch keinesfalls solche Sorgen machen, wie er sie sich um den seinen macht. Nafai hat mir zwar versichert, daß Issib körperlich imstande ist, Kinder zu zeugen, doch das bedeutet nicht, daß er eine Vorstellung davon hat, wie es ist, mit einer Frau zu schlafen — wahrscheinlich befürchtet er sogar, daß er mich abstößt, oder ist frustriert, weil er glaubt, er könne mir kein körperliches Vergnügen bereiten. Nicht ich muß beruhigt werden, sondern er, und es wäre nur destruktiv, wenn ich mit der Vorstellung in unsere Werbezeit ginge, er müsse irgendwie meine Selbstzweifel ausräumen. Nein, wenn wir eine Freundschaft und Ehe aufbauen wollen, muß ich ihm die Zuversicht geben, daß ich ihn akzeptiere.
Diese Einsicht erfüllte Huschidh mit so großer Erleichterung, daß sie fast vor Freude geweint hätte. Erst da begriff sie, daß Ideen, die ihr so plötzlich und mit so großer Klarheit kamen, vielleicht gar nicht ihre eigenen Ideen waren. Nun wurde ihr sogar klar, daß sie sich ein Bild von Issibs Körper gemacht hatte, wie er sich sah. Aber es war gar keine Vorstellung gewesen, nicht wahr? Die Überseele hatte ihr die Gedanken und Ängste in Issibs Geist gezeigt.
Wie so oft zuvor wünschte Huschidh sich nun, die Kommunikation mit der Überseele fiele ihr so leicht, wie es bei Luet und Nafai der Fall war. Gelegentlich war die Überseele imstande, Gedanken als Worte in ihren Geist zu bringen, wie es bei ihnen ständig der Fall war, doch es handelte sich dabei niemals um einen angenehmen Dialog, sie konnte niemals problemlos entscheiden, bei welchen Gedanken es sich um ihre eigenen und bei welchen es sich um die der Überseele handelte. Also mußte sie mit ihrer Gabe der Entwirrung auskommen, und die klaren Einsichten, die diese Befähigung ihr gab, fühlten sich immer an, als wären es ihre eigenen, und erst später kamen sie ihr manchmal so klar vor, daß es sich eindeutig um Visionen handeln mußte, die die Überseele ihr gegeben hatte.
Dennoch war sie überzeugt, sich nicht etwas eingebildet, sondern die Wahrheit gesehen zu haben: Die Überseele hatte ihr gezeigt, was sie sehen mußte, wollte sie ihre Befürchtungen überwinden.
Danke, dachte sie so klar, wie es ihr möglich war, obwohl sie nicht wissen konnte, ob die Überseele ihre Gedanken verstand oder ihr in diesem Augenblick auch nur zuhörte. Ich mußte durch Issibs Augen sehen, wenn auch nur einen Moment lang.
Ein anderer Gedanke kam ihr in den Sinn: Sieht er in diesem Moment auch durch meine Augen? Die Vorstellung störte sie, daß Issib ihren Körper vielleicht sah, wie sie ihn sah, und all ihre Ängste und Unzufriedenheiten erkannte.
Nein, gerecht ist gerecht. Wenn er Selbstvertrauen haben und mir ein gütiger Ehemann sein soll, muß er wissen, daß ich genauso ängstlich und unsicher bin, wie er es ist. Also zeige ihm, falls du es nicht schon getan hast, wer ich bin, hilf ihm zu erkennen, daß ich zwar keine Schönheit, aber trotzdem eine Frau bin, daß ich mich trotzdem danach sehne, zu lieben und geliebt zu werden und mit einem Mann eine Familie zu gründen, der genauso fest in meinem Herzen ist, wie ich in dem seinen bin, genau, wie Rasa und Volemak durch ihre Seelen miteinander verbunden sind. Zeige ihm, wer ich bin, damit er Mitleid mit mir hat, statt mich zu fürchten. Und dann können wir Mitleid in Leidenschaft verwandeln und Leidenschaft in Verständnis und Verständnis in Zuneigung und Zuneigung in Liebe und Liebe in Leben, in das Leben unserer Kinder, das Leben der neuen Menschen, zu denen wir gemeinsam werden.
Zu Huschidhs Überraschung war sie nun müde — sie hatte schon befürchtet, in dieser Nacht überhaupt keinen Schlaf zu finden. Und Schedemeis leisem, schwerem Atmen zufolge mußte sie bereits eingeschlafen sein.
Hoffentlich hast du auch ihr gezeigt, was sie sehen muß, Überseele. Ich frage mich nur, wie andere Männer und Frauen es schaffen, einander zu lieben, die ohne deine Hilfe auskommen müssen; denen du nicht zeigst, was im Herzen ihres Partners ist.
Rasa wachte wütend auf, und sie brauchte eine Weile, um herauszufinden, warum dem so war. Zuerst dachte sie, es läge daran, daß Volemak zu ihr ins Bett gekommen und ihr nicht mehr als eine leidenschaftliche Umarmung geboten hatte, als hätte ihre lange Enthaltsamkeit es nicht verdient, mit einem Fest der Liebe beendet zu werden. Er war nicht blind; er wußte, daß sie wütend war, und er erklärte ihr: »Du bist nach solch einer Reise müder, als du glaubst. Wir beide hätten nur wenig Vergnügen daran.« Doch schon allein seine Ruhe machte sie wütender, als sie es sich erklären konnte, und sie hatte sich zusammengerollt, um nicht in seinen Armen schlafen zu müssen; doch an diesem Morgen wußte sie, daß ihr Groll letzte Nacht ein klarer Beweis dafür gewesen war, daß er recht gehabt hatte. Sie war zu müde für alles andere als den Schlaf gewesen, wie ein aufgeregtes kleines Kind.
Von außen drang fast kein Licht in das Zelt. Es konnte Mittag oder noch später sein, und die Steifheit ihres Körpers und die Windstille draußen verrieten ihr, daß sie tatsächlich bis spät in den Morgen geschlafen hatte. Dennoch war es köstlich, einfach liegen zu bleiben; nun mußte sie nicht mehr schnell aufstehen, im Licht der Vordämmerung ein karges Frühstück verzehren, die Zelte abbrechen und die Tiere beladen, um bei Sonnenaufgang schon unterwegs zu sein. Die Reise war vorbei; sie war zu Hause, zu ihrem Gatten zurückgekehrt.
Als ihr dieser Gedanke kam, begriff sie, warum sie an diesem Morgen mit so heftigem Zorn erwacht war. Unter ihrem Zuhause stellte sie sich kein Zelt vor, nicht mal eins mit doppelten Wänden, so daß es tagsüber ziemlich kühl blieb. Und nicht sie hätte zu ihm nach Hause zurückkehren sollen, sondern eher ihr Gatte zu ihr. So war es immer gewesen. Das Haus hatte ihr gehört, und sie hatte es für ihn bereitgehalten und es ihm im Sommer als schattigen Ort geboten, als Schutz vor dem Sturm, als Zuflucht vor dem Tumult in der Stadt. Statt dessen hatte er diesen Ort vorbereitet, und je bequemer er war, desto wütender wurde sie, denn sie hatte an diesem Ort nicht die geringste Ahnung, wie man irgend etwas vorbereiten konnte. Sie war hier hilflos, ein Kind, eine Schülerin, und ihr Gatte würde ihr Lehrer und Hüter sein.
Niemand hatte ihr bei ihren eigenen Angelegenheiten Anweisungen erteilt, seit sie ihren Haushalt gegründet hatte, was sie schon in jungen Jahren und mit dem Geld getan hatte, das ihre Mutter ihr vererbt hatte. Sie hatte damit das Haus gekauft, das ihre Urgroßmutter berühmt gemacht hatte, damals als Musikkonservatorium; Rasa hatte es als Schule noch berühmter gemacht, und auf dieser Grundlage hatte sie in der Stadt der Frauen schließlich eine herausragende Rolle gespielt und war von Schülerinnen, Bewundererinnen und neidischen Konkurrentinnen umgeben gewesen — und nun war sie hier in der Wüste und wußte nicht einmal, wie man in diesem halbdauerhaften Lager eine Mahlzeit kochte öder der Körperpflege nachging. Zweifellos würde Elemak ihr alles erklären, auf seine so ungezwungene Art und Weise, mit dem ausgeklügelten Vorwand, daß er einem etwas erklärte, was man bereits wußte — was in der Tat großzügig gewesen wäre, wäre da nicht immer der einstudierte Unterton gewesen, der klarmachte, daß beide, er wie auch sie, wußten, daß sie nicht bereits alles wußte und in der Tat von ihm abhängig war, und wenn es auch nur darum ging zu lernen, wie man richtig pinkelte.
Elemak. Sie erinnerte sich an diesen schrecklichen Morgen, an dem er seinen Pulsator auf Nafais Kopf gerichtet hatte, und dachte: Ich muß es Volemak sagen. Ich muß ihn warnen, daß Elemak Mord im Herzen trägt.
Aber die Überseele hatte eindeutig gezeigt, daß sie keinen Mord dulden würde, und sowohl Elemak als auch Mebbekew hatten um Vergebung gebeten. Das Thema, nach Basilika zurückzukehren, war nun endgültig abgeschlossen. Warum sollte sie die Sache wieder zur Sprache bringen? Was konnte Volemak überhaupt tun? Entweder, er verstieß Elemak, womit der junge Mann den Rest der Reise über zu nichts mehr zu gebrauchen wäre, oder er sprach ihm das Recht zu, so eine üble Entscheidung zu treffen, und von da an würde es mit Elemak kein Auskommen mehr geben, und Nafai würde in dieser Gruppe weniger als nichts gelten. Elemak würde niemals zulassen, daß Nafai seine natürliche Rolle als Anführer übernahm. Und das wäre unerträglich, denn Rasa wußte, daß von ihren Kindern nur Nafai geeignet war, sie gut zu führen, denn von den Männern seiner Generation hatte nur er den Verstand, um kluge Entscheidungen zu treffen, Entscheidungen, zu denen ihm die Überseele die Informationen lieferte.
Natürlich war Luet genauso qualifiziert, aber sie befanden sich nun in einer primitiven, nomadischen Umgebung, und es war fast unausweichlich, daß Männer die Führung übernehmen würden. Rasa hatte Schedemeis Ausführungen über die Zusammensetzung einer Primatengemeinschaft nicht gebraucht, um zu wissen, daß in einem wandernden Stamm die Männer herrschten. Bald würden alle Frauen schwanger sein und sich daraufhin nach innen wenden; wenn die Kinder geboren wurden, würde ihr Kreis sich nur um die Nachkommen erweitern. Ihr ganzes Interesse würde dann in so einer angsteinflößenden, feindlichen Umgebung wie der Wüste nur der Nahrung, der Sicherheit und der Unterweisung gelten. Hier gab es weder einen Grund noch die Möglichkeit, die Herrschaft der Männer herauszufordern.
Aber wenn der Anführer ein Mann wie Nafai war, würde er freundlich zu den Frauen sein und auf einen guten Ratschlag hören. Wohingegen Elemak sein würde, als was er sich schon erwiesen hatte — ein eifersüchtiger Tyrann, der Ratschläge kaum akzeptieren und die Dinge immer zu seinem Vorteil wenden, der unfair und intrigant sein würde …
Ich darf ihn nicht hassen. Elemak hat viele gute Eigenschaften. Genau wie sein Halbbruder Gaballufix, der einmal mein Gatte war. Ich habe Gabja wegen dieser Eigenschaften geliebt; doch leider hat er an unsere Töchter Sevet und Kokor nur wenige davon weitergegeben. Statt dessen haben sie seine Egozentrik und seine Unfähigkeit geerbt, den Drang zu bezähmen, alles zu besitzen, was auch nur einigermaßen wünschenswert erscheint. Und diese Eigenschaft sehe ich auch in Elemak, und deshalb hasse und fürchte ich ihn, wie ich schließlich Gaballufix gehaßt und gefürchtet habe.
Wäre die Überseele doch nur ein wenig wählerischer gewesen, wen sie auf diese Reise mitnehmen will.
Dann hielt Rasa mitten beim Ankleiden inne und erkannte: Ich denke darüber nach, wie selbst- und herrschsüchtig Elemak ist, und doch bin ich heute morgen wütend, weil ich hier nicht das Kommando habe. Wer ist denn nun herrschsüchtig? Hätte man mir schon vor so langer Zeit die Macht entzogen, wie es bei Elemak der Fall ist, wäre ich vielleicht genauso verzweifelt bemüht, sie zu bekommen und zu behalten.
Aber sie wußte, das dem nicht so war. Rasa hatte nie versucht, die Macht ihrer Mutter zu untergraben, solange diese noch lebte, und Elemak hatte schon mehrmals versucht, die Pläne seines Vaters zu durchkreuzen — und war dabei fast so weit gegangen, Volemaks jüngsten Sohn zu töten.
Ich muß Volja erzählen, was Elemak getan hat, damit Volemak seine Entscheidungen voll informiert treffen kann. Ich wäre wirklich eine schlechte Ehefrau, würde ich meinem Mann keinen guten Rat geben, und dazu gehört, daß ich ihm alles sage, was ich weiß. Er hat bei mir immer genauso gehandelt.
Rasa schob die Zeltklappe beiseite und trat in das Vorzelt, in dem es viel heißer war. Nachdem sie die Klappe dann wieder geschlossen hatte, öffnete sie den äußeren Vorhang und trat in den grellen Sonnenschein hinaus. Sie war augenblicklich schweißnaß.
»Herrin Rasa!« rief Dol erfreut.
»Dolja«, sagte Rasa. Was bedeutete das? Hatte Dol darauf gewartet, daß Rasa aus dem Zelt kam? Hatte sie nichts Produktives zu tun? Rasa widerstand der Versuchung nicht, ihr einen kleinen Stich zu versetzen. »Hast du schwer gearbeitet?«
»O nein, dazu ist es doch viel zu heiß.«
Nun ja, wenigstens war Dol keine Heuchlerin.
»Da Wetschik nicht wollte, daß dich jemand weckt, nicht einmal zum Frühstück, habe ich mich freiwillig gemeldet, darauf zu warten, daß du aus dem Zelt kommst.«
Rasa merkte, daß sie tatsächlich etwas hungrig war.
»Und Wetschik hat gesagt, wenn du aufwachst, wirst du einen fürchterlichen Hunger haben, und ich soll dich zum Küchenzelt führen. Wir halten alle Vorräte unter Verschluß, damit die Paviane nichts finden. Elemak sagt, wir würden sonst niemals Ruhe vor ihnen haben. Sie dürfen von uns nichts zu essen bekommen, oder sie würden uns wahrscheinlich weiter in die Wüste folgen und dann sterben.«
Also nahm Dolja tatsächlich Informationen aus den Gesprächen anderer Leute auf. Manchmal vergaß man einfach, daß sie ein ziemlich intelligentes Mädchen war. Sie war so hübsch, daß man ihr einfach nicht zugestehen wollte, Grips zu haben.
»Nun?« fragte Dol.
»Nun was?«
»Du hast kein Wort gesagt. Willst du jetzt etwas essen, oder soll ich alle zusammenrufen, damit wir Wetschiks Traum hören?«
»Traum?« fragte Rasa.
»Er hat letzte Nacht einen Traum von der Überseele gehabt und will ihn uns allen zusammen erzählen. Aber er wollte dich nicht wecken, und so haben wir erst andere Dinge erledigt, und ich sollte auf dich warten.«
Nun war Rasa zutiefst verlegen. Volja hatte eine schlechte Entscheidung getroffen, alle anderen aufstehen und arbeiten zu lassen, während Rasa ausschlafen durfte. Sie wollte nicht die verzärtelte Frau des Herrschers sein, sondern ein ganz normales Mitglied ihrer Expedition mit allen Rechten und Pflichten. Das würde Volemak sicher verstehen.
»Bitte rufe alle zusammen. Vorher zeigst du mir natürlich das Küchenzelt. Ich hole mir etwas Brot und komme dann zu euch.«
Dol ging davon, und Rasa hörte, wie sie aus vollen Lungen — und mit der vollen Theaterausbildung in ihrer Stimme — rief: »Tante Rasa ist jetzt wach! Tante Rasa ist wach!«
Rasa zuckte innerlich zusammen. Warum teilt sie nicht allen mit, wie lange ich geschlafen habe?
Sie fand das Küchenzelt ohne Schwierigkeiten — es war das mit einem Steinofen draußen, in dem Zdorab gerade Brot backte.
Er sah mit einem ziemlich verschämten Ausdruck zu ihr auf. »Ich muß mich entschuldigen, Herrin Rasa. Ich habe nie behauptet, Bäcker zu sein.«
»Aber das Brot riecht wunderbar«, sagte Rasa.
»Es riecht, ja. Gerüche bekomme ich hin. Du müßtest mal meinen Lieblingsgeruch in die Nase bekommen — ich nenne ihn »verbrannten Fisch‹.«
Rasa lachte. Sie mochte diesen Burschen. »Ihr holt Fische aus diesem Bach?«
»Dein Gatte hat versucht, dort Küstenfischerei zu betreiben.« Er deutete auf die Stelle, wo der Bach in die ruhigen Gewässer des Reinigenden Meeres floß.
»Und habt ihr Glück gehabt?«
»Eigentlich nicht«, sagte Zdorab. »Wir haben ein paar Fische gefangen, aber sie waren nicht sehr gut.«
»Auch die, die sich nicht in deinen Lieblingsgeruch verwandelt haben …«
»Auch die, die wir zu einem Eintopf verarbeitet haben. Es gibt einfach nicht genug Leben hier auf dem Land. Die Fische würden sich schon an der Mündung einfinden. Aber dann müßte sich in dem Sediment, das dort vom Bach abgelagert wird, mehr organisches Material befinden.«
»Du bist Geologe?« fragte Rasa ziemlich überrascht.
»Bibliothekar, also weiß ich wohl von allem ein wenig«, sagte Zdorab. »Ich wollte herausfinden, wieso es an diesem Ort keine dauerhafte menschliche Ansiedlung gibt, und der Index hat mir den Grund verraten; vielmehr einige alte Karten aus der Zeit, da es zum letzten Mal hier in der Gegend eine große Kultur gab. Sie entstehen immer an dem großen Fluß direkt hinter diesem Gebirgszug.« Er zeigte in östliche Richtung. »Zur Zeit gibt es dort noch ein paar kleinere Städte. Sie nutzen diese Gegend nicht, weil es hier nicht genug bepflanzbares Land gibt. Und der Bach führt jedes fünfte Jahr kein Wasser. Das ist zu oft, um eine Bevölkerung ernähren zu können.«
»Und was machen die Paviane?« fragte Rasa.
»Der Index enthält wirklich keine Aufzeichnungen über Paviane«, sagte Zdorab.
»Wohl kaum«, sagte Rasa. »Dann werden die Paviane sich eines Tages ihre eigene Überseele bauen müssen, nicht wahr?«
»Das denke ich auch.« Er schaute leicht verwirrt drein.
»Aber es würde schon helfen, wenn sie sich nur ihre eigene Latrine bauen würden.«
Rasa runzelte die Stirn.
»Wir müssen ein Auge auf sie halten, damit sie nicht flußaufwärts wandern und dann unser Trinkwasser verseuchen.«
»Hmm«, machte Rasa. »Das erinnert mich an etwas. Ich habe Durst.«
»Und bestimmt auch Hunger«, sagte Zdorab. »Nun, bediene dich. Kühles Wasser und das Brot von gestern liegen im Küchenzelt. Wir halten es verschlossen.«
»Nun, wenn es verschlossen ist …«
»Für Paviane verschlossen. Für Menschen dürfte es kein Problem sein.«
Als Rasa in das Küchenzelt ging, stellte sie fest, daß er recht hatte. Das ›Schloß‹ war nur eine Drahtschnur, die man um den Griff der mit Sonnenenergie betriebenen Kältetruhe gezogen hatte. Warum hatte er also die Tatsache betont, daß sie die Lebensmittel unter Verschluß hielten? Vielleicht nur, um sie zu erinnern, den Behälter wieder zu verschließen.
Sie öffnete den Deckel und fand mehrere Dutzend Brotlaibe und einige andere in Stoff gehüllte Pakete mit Vorräten — gefrorenes Fleisch vielleicht? Nein, gefroren konnte es nicht sein, dafür war es in der Truhe nicht kalt genug. Sie griff hinein, öffnete eins der Pakete und fand — natürlich — Käse aus Kamelmilch. Ein widerliches Zeug — sie hatte es schon einmal gegessen, in Volemaks Haus, als sie ihn zwischen den beiden Zeiträumen, in denen sie verheiratet waren, einmal besucht hatte. »Siehst du, wie sehr ich dich geliebt habe?« hatte er sie aufgezogen. »Wir waren so lange verheiratet, und ich habe dich nie davon probieren lassen!« Aber sie wußte, daß sie nun das Protein und das Fett brauchte — den Großteil ihrer Reise über würden sie nur karge Rationen bekommen, und sie mußten alles essen, was nahrhaft war.
Sie nahm einen flachen, runden Brotlaib, brach die Hälfte davon ab, packte den Rest wieder ein und legte ein paar Brocken Käse auf den Teil, den sie essen wollte. Das Brot war so trocken und schmeckte so streng, daß es den Geschmack des Käses fast überdeckte, und daher war das Frühstück nicht so widerwärtig, wie sie befürchtet hatte. Willkommen in der Wüste, Rasa.
Sie schloß den Deckel und drehte sich zur Tür um.
»Aah!« kreischte sie, ohne es zu wollen. In der Zeltöffnung stand ein Pavian auf allen vieren, betrachtete sie eindringlich und schnüffelte.
»Husch«, sagte sie. »Verschwinde. Das ist mein Frühstück.«
Der Pavian sah ihr ungerührt ins Gesicht. Da fiel ihr ein, daß sie die Kältetruhe nicht wieder verschlossen hatte. Mit schamgerötetem Gesicht drehte sie dem Pavian den Rücken zu, verbarg mit dem Körper, was sie tat, und legte den Draht wieder vor. Angenommen, die Finger des Pavians waren nicht geschickt genug, um unter den Draht zu kommen. Aber was, wenn seine Zähne so kräftig waren, daß er ihn durchbeißen konnte, was dann? Also wollte sie ihn gar nicht erst wissen lassen, daß er wegen dieses Drahtes nicht an die Leckereien kam.
Natürlich war es durchaus möglich, daß er von allein darauf kommen würde. Hieß es nicht, daß die Paviane den Menschen auf Harmonie am ähnlichsten waren? Vielleicht hatten die ursprünglichen Besiedler dieses Planeten sie deshalb mitgebracht — denn sie stammten von der Erde und nicht von dieser Welt.
Sie drehte sich wieder um und schrie erneut leise auf, denn der Pavian stand mittlerweile direkt hinter ihr. Er hatte sich auf die Hinterläufe erhoben und betrachtete sie noch immer mit ganz ruhigem Blick.
»Das ist mein Frühstück«, sagte Rasa leise.
Der Pavian kräuselte verächtlich, fast schon entrüstet die Lippen, ließ sich wieder auf alle viere hinab und lief aus dem Zelt.
In diesem Augenblick kam Zdorab herein. »Ha«, sagte er. »Den nennen wir Jobar. Er ist gerade erst zum Stamm gestoßen, und die anderen akzeptieren ihn noch nicht. Das macht ihm aber nichts aus, weil er sich für den Boß hält, wenn alle vor ihm davonlaufen. Aber der arme Bursche ist die halbe Zeit über geil und kommt einfach nicht an die Weibchen heran.«
»Deshalb der Name«, sagte Rasa. Jobar war ein uraltes Wort für einen Mann mit einem unersättlichen Geschlechtstrieb.
»Wir nennen ihn so, um ihn zu ermutigen«, sagte Zdorab. »Und jetzt verschwinde, Jobar.«
»Ich glaube, er wollte gerade gehen, nachdem ich mich geweigert habe, Brot und Käse mit ihm zu teilen.«
»Der Käse ist schrecklich, nicht wahr?« sagte Zdorab. »Aber wenn man bedenkt, daß die Paviane kleine Eidechsen lebendig essen, wenn es ihnen einmal gelingt, sie zu fangen, wird einem klar, daß ihnen der Kamelkäse wirklich gut schmecken muß.«
»Aber wir Menschen essen ihn auch, oder?«
»Zögernd und ständig«, sagte Zdorab. »Und an den Nachgeschmack gewöhnt man sich einfach nicht. Das ist der Hauptgrund, daß wir so viel Wasser trinken und dann so oft pinkeln müssen. Ich bitte um Verzeihung.«
»Ich habe so das Gefühl, daß die städtischen Vorschriften über anständige Sprache hier draußen nicht besonders praktisch sind«, sagte Rasa.
»Aber ich sollte mich wohl mehr bemühen«, sagte Zdorab. »Nun ja, laß dir deine Mahlzeit schmecken, und ich versuche, nicht den Geruch von verbranntem Brot zu erzeugen.«
Er ging rückwärts aus dem Küchenzelt.
Rasa biß von dem Brot ab, und es war gut. Also biß sie noch einmal ab und hätte sich fast übergeben müssen — diesmal war Käse darauf. Sie zwang sich, den Bissen zu zerkauen und herunterzuschlucken. Aber sie dachte mit Freude an die jüngste Vergangenheit, als das einzige Kamelprodukt, mit dem sie sich hatte befassen müssen, Dung gewesen war und niemand von ihr erwartet hatte, ihn zu essen.
Die Zelttür wurde erneut geöffnet. Rasa erwartete halbwegs, Jobar wiederzusehen, der noch einmal versuchen wollte, sie anzubetteln. Doch es war Dol. »Wetschik sagt, wir werden uns erst versammeln, wenn die Schatten länger werden, damit es nicht mehr so elend heiß ist. Eine gute Idee, meinst du nicht auch?«
»Es tut mir nur leid, daß du den halben Tag damit verschwenden mußtest, auf mich zu warten.«
»Ach, das macht doch nichts«, sagte Dol. »Ich wollte sowieso nicht arbeiten. Ich bin keine besonders gute Gärtnerin. Ich würde wohl die Blumen gemeinsam mit dem Unkraut rupfen.«
»Es handelt sich doch wohl kaum um einen Blumengarten«, sagte Rasa.
»Du weißt schon, was ich meine«, sagte Dol.
O ja, das weiß ich genau.
Ich weiß auch, daß ich Volemak suchen und darauf bestehen muß, sofort zu einer Arbeit eingeteilt zu werden. Ich kann mir keine Ruhetage gönnen, wenn alle anderen schwer arbeiten. Ich mag zwar die Zweitälteste sein, aber das heißt noch lange nicht, daß ich alt bin. Nun, ich kann noch Kinder bekommen, und das werde ich auch, wenn ich Volja dazu bringen kann, mich als lange vermißte Ehefrau zu begrüßen, statt mich wie ein behindertes Kind zu behandeln.
Aber sie konnte es sich nicht eingestehen. Obwohl sie es wußte und verabscheute, daß sie Kinder bekommen mußte, wollte sie hier in der Wüste noch eine Rolle spielen. Denn sie fielen hier in ein primitives Stadium des menschlichen Lebens zurück, bei dem das Überleben und die Reproduktion den wichtigsten Rang einnahmen, und die Art von zivilisiertem Leben, die sie in Basilika gemeistert hatte, würde es für sie nie wieder geben. Statt dessen würde sie in diesem neuen Stamm mit jüngeren Frauen um einen Rang konkurrieren müssen, und die Währung dieses Wettstreits waren Babies. Diejenigen, die welche bekamen, würden jemand sein, und die, die keine hatten, eben nicht. Und in Rasas Alter war es wichtig, schnell damit anzufangen, denn sie hatte nicht mehr soviel Zeit wie die jüngeren Frauen.
Rasa war schon wieder wütend, obwohl sie niemanden hatte, auf den sie wütend sein konnte, von der armen, leichtfertigen Dol einmal abgesehen. Noch immer von dem Brot und dem Käse essend, verließ sie das Zelt und sah sich im Lager um. Als sie den steilen Hang in die Schlucht hinabgestiegen waren, hatte es nur vier Zelte gegeben. Nun gab es zehn. Rasa erkannte die Reisezelte und verspürte ein schwaches Schuldgefühl, weil die anderen noch in so engen Quartieren wohnten, während sie und Volja so viel Platz hatten — ein großes Zelt mit doppelten Wänden. Doch dann sah sie, daß die Zelte in zwei konzentrischen Kreisen errichtet worden waren, aber das Zelt, das sie mit Volemak teilte, lag nicht in der Mitte; und auch nicht das Küchenzelt. Statt dessen befand sich dort das kleinste der ursprünglichen vier Zelte, und nach einem Augenblick des Nachdenkens wurde Rasa klar, daß sich darin der Index befinden mußte.
Sie hatte einfach vorausgesetzt, daß Volemak den Index in seinem eigenen Zelt aufbewahren würde, aber das wäre natürlich unpraktisch — Zdorab und Issib benutzten den Index häufig, und man konnte kaum erwarten, daß sie ihren Zeitplan nach solchen Unannehmlichkeiten richten würden, wie eine alte Frau es war, die bis spät in den Morgen hinein schlafen durfte.
Rasa blieb vor der Tür des kleinen Zelts stehen und schlug zweimal in die Hände.
»Herein.«
An der Stimme erkannte sie sofort, daß es Issja war. Sie verspürte ein stechendes Schuldgefühl, denn gestern abend hatte sie kaum mit dem Jungen — dem Mann — gesprochen, der ihr erstgeborenes Kind war. Eigentlich gar nicht, nur kurz, als sie und Volja sich gleichzeitig an die vier Unverheirateten gewandt hatten. Und obwohl sie wußte, daß er in dem Zelt war, wollte sie sich auch jetzt abwenden und ein anderes Mal zurückkommen.
Warum mied sie ihn? Nicht wegen seiner körperlichen Mängel — daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt, nachdem sie ihn durch die frühe Kindheit und dann die Pubertät gebracht hatte. Sie hatte ihn mit Stühlen und Flossen ausgestattet, damit er sich leichter bewegen und ein fast normales Leben führen konnte — oder zumindest ein freieres. Sie kannte seinen Körper fast besser, als er selbst ihn kannte, denn bis in die Pubertät hinein hatte sie ihn von Kopf bis Fuß gewaschen, massiert und seine Glieder bewegt, um sie biegsam zu halten, bis er langsam und schmerzhaft lernte, sie selbst zu bewegen. Während all dieser Sitzungen hatten sie sich unablässig unterhalten — Issib war ihr Freund, ein besserer als irgendeins ihrer anderen Kinder. Und doch wollte sie ihm jetzt nicht gegenübertreten.
Also teilte sie natürlich die Tür und trat ins Zelt und ihm gegenüber.
Er saß in dem Stuhl, den er mit der Sonnenzelle über dem Zelt verbunden hatte, damit er keine Batterieenergie verschwendete. Der Stuhl hatte den Index hochgehoben und hielt ihn nun vor Issib in der Luft, und der Junge hatte die linke Hand darauf gelegt. Rasa hatte den Index noch nie gesehen, wußte aber sofort, daß es sich darum handeln mußte, wenn auch nur, weil er ein Gegenstand war, den sie noch nie gesehen hatte.
»Spricht er zu dir?« fragte sie.
»Guten Tag, Mutter«, sagte Issib. »War dein Morgen geruhsam?«
»Oder hat er irgendein Display wie ein ganz normaler Computer?« Sie wollte sich nicht von ihm ärgern lassen, indem er sie daran erinnerte, wie spät sie aufgestanden war.
»Einige von uns haben gar nicht geschlafen«, sagte Issib. »Einige von uns lagen wach und haben sich gefragt, wieso unsere zukünftigen Frauen hierher gebracht und uns nur auf die beiläufigste Art und Weise vorgestellt worden sind.«
»Ach, Issja«, sagte sie, »du weißt, daß diese Situation die natürliche Konsequenz der Dinge ist, wie sie nun mal sind, und niemand es so geplant hat. Bist du wütend? Nun, das bin ich auch. Ich mache dir einen Vorschlag. Ich lasse es nicht an dir aus, und du nicht an mir.«
»An wem sonst soll ich es denn auslassen?« fragte Issib und lächelte schwach.
»An der Überseele. Sag deinem Stuhl, er soll den Index durch das Zelt werfen,«
Issib schüttelte den Kopf. »Die Überseele würde meinen Befehl einfach aufheben. Und außerdem ist der Index nicht die Überseele, sondern schlicht und einfach unser stärkstes Werkzeug, um Zugang zum Gedächtnis, zu den Speichern der Überseele zu erlangen.«
»An wieviel erinnert er sich?«
Issib sah sie einen Augenblick lang an. »Weißt du, ich hätte nie gedacht, daß du die Überseele als er bezeichnen würdest.«
Rasa stellte verblüfft fest, daß sie dies gerade getan hatte, wußte aber sofort, warum sie es getan hatte. »Ich dachte nicht an sie — die Überseele. Ich dachte an ihn — den Index.«
»Er erinnert sich an alles«, sagte Issib.
»An wieviel von allem? An die Bewegungen jedes einzelnen Atoms im Universum?«
Issib grinste sie an. »Manchmal habe ich diesen Eindruck. Nein, ich meinte, alles über die menschliche Geschichte auf Harmonie.«
»Vierzig Millionen Jahre«, sagte Rasa. »Vielleicht zwei Millionen Generationen von Menschen. Eine Weltbevölkerung von etwa einer Milliarde, jedenfalls die meiste Zeit über. Zwei Billiarden Menschen, mit Tausenden von bedeutungsvollen Ereignissen in jedem Leben.«
»Ganz genau«, sagte Issib. »Und dann füge diesen Biographien die Geschichten jeder einzelnen menschlichen Gemeinschaft hinzu, von kleinen Familien bis hin zu den größten Nationen und Sprachgruppen, von Kinderfreundschaften bis hin zu beiläufigen sexuellen Verbindungen. Und dann nehme sämtliche Naturereignisse hinzu, die Einfluß auf die menschliche Geschichte gehabt haben. Und dann jedes Wort, das je von Menschen geschrieben wurde, und die Karte jeder Stadt, die wir je gebaut haben, und Bauzeichnung jedes Gebäudes, das wir je errichtet haben …«
»Wir hätten gar nicht den Platz, so viele Informationen zu speichern«, sagte Rasa. »Nicht einmal, wenn wir den gesamten Planeten dazu verwenden würden. Wir müßten bei jedem Schritt über die Datenspeicher der Überseele stolpern.«
»Eigentlich nicht«, sagte Issib. »Die Erinnerungen der Überseele befinden sich nicht in den billigen und sperrigen Speichern, die wir für normale Computer benutzen. Außerdem sind unsere Computer allesamt binär — jeder Speicherplatz kann nur zwei mögliche Bedeutungen enthalten.«
»Ein oder aus«, sagte Rasa. »Ja oder nein.«
»Sie werden elektrisch gelesen«, sagte Issib. »Und wir können nur ein paar Billionen Bits Informationen in jeden Computer eingeben, bevor sie zu sperrig werden, als daß wir sie noch tragen können. Und der Platz, den wir in unseren Computern verschwenden — nur um einfache Zahlen darzustellen. Zum Beispiel können wir mit zwei Bits nur vier Zahlen erfassen.«
»A-1, B-1, A-2 und B-2«, sagte Rasa. »Weißt du noch, ich habe in meiner kleinen Schule Einführungskurse über Computertheorie abgehalten.«
»Aber jetzt stell dir vor«, sagte Issib, »mit jeder Schaltung könnten wir nicht nur zwei Zustände ausdrücken, sondern fünf. Dann wären in zwei Bits …«
»Fünfundzwanzig mögliche Werte«, sagte Rasa. »A-1, B-1, V-1, G-1, D-1 und so weiter bis zu D-5.«
»Jetzt stelle dir vor, jeder Speicherplatz könne Tausende möglicher Zustände haben.«
»Damit wäre der Speicher wirklich wesentlich effizienter.«
»Eigentlich nicht«, sagte Issib. »Noch nicht, jedenfalls. Die Zunahme ist nur linear, nicht exponentiell. Und sie hätte eine bösartige Beschränkung, nämlich in der Hinsicht, daß jeder einzelne Speicherplatz nur ein Stadium gleichzeitig übermitteln kann. Selbst wenn ein Speicherplatz eine Milliarde mögliche Mitteilungen enthalten könnte, könnte jeder Speicherplatz davon nur eine gleichzeitig überbringen.«
»Aber wenn man sie zusammenfügt, verschwindet das Problem, da dann zwei beliebige Speicherplätze untereinander Millionen möglicher Bedeutungen übermitteln könnten.«
»Aber noch immer nur eine Bedeutung auf einmal.«
»Na ja, man kann doch schlecht denselben Speicherplatz so benutzen, daß er gegensätzliche Informationen enthält. Sowohl G-9 als auch D-9.«
»Es kommt darauf an, wie die Information gespeichert wird. Für die Überseele ist jeder Speicherplatz die innere Kante eines Kreises — eines ganz, ganz winzigen Kreises —, und diese Innenkante ist fraktal komplex. Das heißt, Tausende von Zuständen können durch Hervorhebungen ausgedrückt werden wie die Spitzen auf einem mechanischen Schlüssel oder die Zinken eines Kammes. Auf jedem Speicherplatz befindet sich entweder eine Hervorhebung, oder es befindet sich keine darauf.«
»Aber dann ist der Speicherplatz der Zinken und nicht der Kreis«, sagte Rasa, »und damit wären wir wieder bei einem binären System.«
»Aber die Zinken können weiter oder nicht so weit hervorstehen«, sagte Issib. »Der Speicher der Überseele ist imstande, bei jedem Speicherplatz auf der Innenseite des Kreises Hunderte verschiedener Stufen der Hervorhebung zu unterscheiden.«
»Noch immer eine lineare Zunahme«, sagte Rasa.
»Aber jetzt«, sagte Issib, »mußt du die Tatsache berücksichtigen, daß die Überseele des weiteren Zinken auf jeder Hervorhebung unterscheiden kann — Hunderte verschiedener Werte auf jedem einzelnen von Hunderten von Zinken. Und auf jedem Widerhaken Hunderte von Dornen. Und auf jedem Dorn Hunderte von Haaren. Und auf jedem Haar …«
»Ich habe das Prinzip verstanden«, sagte Rasa.
»Und dann verändern die Bedeutungen sich noch dahingehend, von wo aus auf dem Kreis man anfängt, sie zu lesen — im Norden oder im Osten oder Südsüdosten. Verstehst du, Mutter, auf jedem Speicherplatz kann die Überseele gleichzeitig Billionen verschiedener Informationen ablegen«, sagte Issib. »In unseren Computern befindet sich keine vergleichbare Technik.«
»Und trotzdem ist der Speicher nicht unendlich«, sagte Rasa.
»Nein«, sagte Issib. »Nicht unendlich. Weil wir irgendwann an die kleinste Auflösung stoßen — Hervorhebungen, die so klein sind, daß die Überseele keine Hervorhebungen auf den Hervorhebungen mehr wahrnehmen kann. Vor etwa zwanzig Millionen Jahren hat die Überseele erkannt, daß ihr Speicherplatz knapp wurde — oder in etwa zehn Millionen Jahren ausgehen würde. Sie suchte nach Möglichkeiten, Informationen in einer Art Kurzschrift abzulegen, und widmete einen beträchtlichen Teil des Platzes dem Speichern von ausgeklügelten Verzeichnissen verschiedener Handlungen. Zum Beispiel könnte der Verzeichnis-Eintrag ZH-5-SHCH lauten: ›Streit mit Eltern über Ausmaß der persönlichen Freiheit, die sie gewähren, und reißt aus Heimatstadt in eine andere Stadt aus.‹ Dort, wo also die Biographie einer Person gespeichert wird, wird also nicht mehr jedes Ereignis beschrieben; der biographische Eintrag verweist statt dessen einfach auf das riesige Verzeichnis über jedes nur denkbare Ereignis im Leben eines Menschen. Dort findet sich der Eintrag ZH-5-SHCH und dann der Kode für die Stadt, in die die betreffende Person davongelaufen ist.«
»Das läßt unser Leben aber ziemlich steril erscheinen, nicht wahr? Phantasielos, meine ich. Wir alle tun immer wieder dieselben Dinge, die auch schon andere getan haben.«
»Die Überseele hat mir erklärt, daß zwar neunundneunzig Prozent des Lebens aus Ereignissen besteht, die sich bereits in den Verhaltensverzeichnissen befinden, es aber immer ein Prozent gibt, das ausgeschrieben werden muß, weil es noch keinen Eintrag dafür gibt. Keine zwei Menschenleben sind je gleich verlaufen.
»Das soll wohl ein Trost sein.«
»Du mußt einfach glauben, daß unser Leben einem ungewöhnlichen Pfad folgt. ›Von der Überseele aufgefordert, eine Reise durch die Wüste zu unternehmen und schließlich zur Erde zurückzukehren‹ — ich wette, dafür gibt es noch keinen Eintrag.«
»Oh, aber da dies mittlerweile sechzehn Personen zugestoßen ist, wird die Überseele bestimmt einen neuen Eintrag anfertigen.«
Issib lachte. »Das hat sie wahrscheinlich schon getan.«
»Aber es muß ein gewaltiges Projekt sein, all diese Verzeichnisse möglicher menschlicher Handlungen anzulegen.«
»Wenn die Überseele eins im Überfluß hatte, dann Zeit«, sagte Issib. »Doch trotz allem gibt es Verfall und Verluste.«
»Speicherplätze können unlesbar werden«, sagte Rasa.
»Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, daß die Überseele Satelliten verliert. Das erschwert es ihr, ein Auge auf uns zu halten. Bislang gibt es noch keine blinden Stellen — aber jeder Satellit muß weit mehr Informationen sammeln, als es ursprünglich vorgesehen war. Es gibt Engpässe im System. Manchmal kann ein Satellit einfach nicht alle Informationen, die er gesammelt hat, so schnell weitergeben, daß die Überseele die lückenlose Beobachtung der Menschen aufrechterhalten kann. Kurz gesagt, in diesem Augenblick geschieht etwas, das nicht in den Speichern abgelegt wird. Die Überseele kontrolliert die Verluste, indem sie Vermutungen trifft, die die Informationslücken ausfüllen, doch es wird immer schlimmer. Es ist noch jede Menge Speicherplatz frei, doch bald wird es Millionen Menschenleben geben, die nur noch als verschwommene Skizzen oder Umrisse eines Lebens abgespeichert werden. Eines Tages werden natürlich so viele Satelliten ausfallen, daß manche Leben gar nicht mehr aufgezeichnet werden.«
»Und irgendwann werden alle Satelliten ausfallen.«
»Genau. Aber noch wichtiger ist: Wenn diese blinden Flecken auftreten, wird es Menschen geben, die in keiner Hinsicht mehr unter dem Einfluß der Überseele stehen. Und dann werden sie wieder beginnen, Waffen zu schaffen, die die Welt vernichten können.«
»Warum setzt die Überseele nicht neue Satelliten ein?«
»Wie? Welche menschliche Gemeinschaft hat die Technologie, die Schiffe zu bauen, mit denen man Satelliten ins All befördern kann? Einmal ganz davon abgesehen, daß auch die Satelliten selbst gebaut werden müssen.«
»Wir bauen doch Computer, oder?«
»Mit der Technologie, mit der man Satelliten in den Raum bringen kann, kann man auch Waffen von einer Seite Harmonies auf die andere bringen. Wie kann die Überseele uns lehren, ihre Satelliten zu ergänzen, ohne uns gleichzeitig beizubringen, einander zu vernichten? Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, daß wir dann herausbekommen könnten, wie wir die Überseele so umprogrammieren müssen, daß wir sie beherrschen — oder, falls das nicht funktioniert, daß wir unsere eigenen kleinen Überseelen bauen können, die dann in jenen Teil unseres Gehirns greifen, über den die Überseele mit uns kommuniziert, so daß wir eine Waffe hätten, mit der wir den Feind in Panik versetzen oder dumm machen könnten.«
»Ich verstehe den springenden Punkt.«
»Die Überseele ist in einer verzwickten Lage. Sie muß repariert werden, oder sie wird die Menschheit nicht mehr schützen können; doch die einzige Möglichkeit, sie zu reparieren, besteht darin, den Menschen genau jene Kenntnisse zu geben, die sie uns unbedingt vorenthalten will.«
»Die Quadratur des Kreises.«
»Also geht es nach Hause«, sagte Issib. »Zurück zum Hüter der Erde. Um herauszufinden, was sie nun tun soll,«
»Und wenn dieser Hüter der Erde es auch nicht weiß?«
»Dann stecken wir bis zum Hals in der Scheiße, nicht wahr?« Issib lächelte. »Aber ich glaube, der Hüter weiß es. Ich glaube, er hat einen Plan.«
»Und wieso glaubst du das?«
»Weil die Menschen immer wieder Träume haben, die nicht von der Überseele kommen.«
»Die Menschen haben schon immer Träume gehabt, die nicht von der Überseele kommen«, sagte Rasa. »Wir hatten schon lange Träume, bevor es überhaupt eine Überseele gab.«
»Ja, aber wir hatten nicht identische Träume, die eindeutig die Botschaft enthalten, daß wir zur Erde zurückkehren müssen, nicht wahr?«
»Ich glaube einfach nicht, daß ein Computer, oder was auch immer es sein mag, der viele Lichtjahre von hier entfernt ist, uns einen Traum schicken kann.«
»Wer weiß schon, was auf der Erde passiert ist?« sagte Issib. »Vielleicht hat der Hüter der Erde Dinge über das Universum erfahren, die wir nicht einmal ansatzweise begreifen können. Das würde mich gar nicht überraschen, denn die Überseele hat uns immer dann dumm gemacht, wenn wir versucht haben, über wirklich gehobene Physik nachzudenken. Vierzig Millionen Jahre lang haben wir eine Ohrfeige bekommen, wann immer wir unser Gehirn zu gut benutzt haben, aber in vierzig Millionen Jahren hat der Hüter der Erde, wer oder was auch immer das ist, sich vielleicht wirklich etwas nützliches Neues einfallen lassen. Einschließlich der Möglichkeit, Menschen über Lichtjahre hinweg Träume zu schicken.«
»Und das alles hast du von dem Index erfahren.«
»All das habe ich mit Zdorabs und Vaters Hilfe unter dessen heftigem Widerstand aus dem Index gezerrt«, sagte Issib. »Die Überseele spricht nicht gern über sich und versucht, uns vergessen zu machen, was wir über sie in Erfahrung gebracht haben.«
»Ich dachte, die Überseele würde mit uns zusammenarbeiten.«
»Nein«, sagte Issib. »Wir arbeiten mit ihr zusammen. Während sie versucht, uns davon abzuhalten, auch nur die winzigste Information zu erfahren, die nicht im direkten Zusammenhang mit den Aufgaben steht, die sie für uns vorgesehen hat.«
»Und wie hast du dann all das erfahren, was du mir gerade erzählt hast? Deine Kenntnisse über die Funktionsweise des Speichers der Überseele?«
»Entweder sind wir so gut und beharrlich um seine Verteidigungen herumgekommen, daß er schließlich aufhörte, uns Widerstand zu leisten, oder er ist zum Schluß gekommen, daß es sich tatsächlich um harmlose Informationen handelt.«
»Oder«, sagte Rasa.
»Oder?«
»Oder die Informationen sind falsch, und deshalb spielt es keine Rolle, ob du sie kennst oder nicht.«
Issib grinste sie an. »Aber die Überseele würde doch nicht lügen, oder, Mutter?«
Was sie zu einem Gespräch zurückbrachte, das sie geführt hatten, als Issib ein Kind gewesen war und Fragen über die Überseele gestellt hatte. Ah ja — warum halten die Männer die Überseele für einen er, und die Frauen für eine sie? Und Rasa hatte geantwortet, die Überseele würde den Männern gestatten, sie für männlich zu halten, damit sie sie problemloser verehren konnten. Und Issib hatte dieselbe Frage gestellt: Aber die Überseele würde doch nicht lügen, oder, Mutter?
Wie Rasa sich erinnerte, hatte sie diese Frage beim erstenmal nicht gut beantwortet, und jetzt würde sie sich nicht noch einmal mit dem Versuch in Verlegenheit bringen, sie erneut zu beantworten. »Ich habe dich bei deiner Arbeit gestört, als ich hier einfach so hereingeplatzt bin«, sagte sie.
»Keineswegs«, sagte Issib. »Vater hat gesagt, ich solle dir alles erklären, wonach du dich erkundigst.«
»Er hat gewußt, daß ich hierher kommen würde?«
»Er hat gesagt, es sei wichtig, daß du unsere Arbeit mit dem Index verstehst.«
»Und worin besteht deine Arbeit mit dem Index?«
»Ich will ihn dazu bringen, uns zu sagen, was wir wissen wollen, anstatt nur das zu verraten, was die Überseele uns verraten will.«
»Und kommst du damit weiter?«
»Ja und nein.«
»Was meinst du damit?«
»Wir finden viele Dinge heraus, aber die Frage bleibt bestehen, ob die Überseele möchte, daß wir davon erfahren oder nicht. Unserer Erfahrung zufolge bewerkstelligt die Überseele bei verschiedenen Menschen verschiedene Dinge.«
»Und wovon hängt das ab?«
»Genau das haben wir noch nicht herausgefunden«, sagte Issib. »Es gibt Tage, da der Index praktisch für mich singt — es ist, als würde er in meinem Kopf leben, und er beantwortet meine Fragen, noch bevor sie mir einfallen. Und dann gibt es Tage, an denen ich glaube, die Überseele wolle mich quälen und in die Irre führen.«
»Wonach suchst du an diesen Tagen?«
»Die gesamte Geschichte Harmonies steht mir weit offen. Ich kann dir den Namen einer jeden Person nennen, die zu diesem Fluß gekommen ist und daraus getrunken hat. Aber ich kann nicht herausfinden, wohin die Überseele uns führt oder wie wir zur Erde kommen werden oder auch nur, wo die ursprünglichen Siedler zum erstenmal den Fuß auf Harmonie gesetzt haben. Ebensowenig weiß ich, wo das Zentralgehirn der Überseele sich befindet.«
»Also bewahrt sie Geheimnisse vor dir«, sagte Rasa.
»Ich glaube, sie kann es uns nicht sagen«, erwiderte Issib. »Ich glaube, sie würde es gern sagen, kann es aber nicht. Ein Schutzsystem, das von Anfang an eingebaut wurde, um zu verhindern, daß jemand die Kontrolle über die Überseele erlangt und sie benutzt, um Harmonie zu beherrschen.«
»Also müssen wir ihr blindlings folgen und wissen noch nicht einmal, wohin sie uns führt?«
»So in etwa sieht es aus«, sagte Issib. »Das ist wieder mal so ein Augenblick im Leben, da nicht alles so läuft, wie man es sich vorstellt, und man trotzdem damit leben muß.«
Rasa betrachtete Issib genauso ruhig, wie er sie musterte, und wußte, er wollte sie daran erinnern, daß nichts von dem, was die Überseele im Augenblick ihr zufügte, so bedrückend war wie Issibs Leben in einem schadhaften Körper.
Das weiß ich doch, törichter Junge, dachte sie. Ich weiß ganz genau, daß dein Leben schrecklich ist und du dich darüber nur sehr wenig beschwerst. Aber das war nicht zu verhindern, und daran läßt sich nichts ändern. Vielleicht ist die Weigerung der Überseele, uns zu erklären, was nun geschehen wird, ebenfalls nicht zu verhindern, und ändern läßt sich vielleicht auch nichts daran, und in diesem Fall werde ich versuchen, es genauso geduldig zu ertragen wie du. Aber falls ich etwas daran ändern kann, werde ich es tun — und ich werde mich nicht von dir dazu bringen lassen, etwas zu akzeptieren, das ich vielleicht nicht akzeptieren muß.
»Was die Überseele uns nicht verraten kann, wenn wir danach fragen«, sagte Rasa, »finden wir vielleicht durch Hinterlist heraus.«
»Was glaubst du, woran Zdorab und ich hier arbeiten?«
Ah! Also war Issib doch nicht so fatalistisch eingestellt. Aber dann kam ihr ein anderer Gedanke in den Sinn. »Und was glaubt dein Vater, woran ihr hier arbeitet?«
Issib lachte. »Daran jedenfalls nicht«, sagte er.
Natürlich nicht. Volemak würde nicht dulden, den Index zu benutzen, um die Überseele zu unterwerfen. »Ah! Also ist die Überseele nicht die einzige, die den anderen nicht verrät, was sie tut.«
»Und was verrätst du, Herrin Mutter?« fragte Issib.
Was für eine interessante Frage. Sage ich Volemak, was Issib hier versucht, und gehe ich damit das Risiko ein, daß Volja versucht, seinem Sohn die Benutzung des Index zu verbieten?
Was sie zu der Entscheidung zurückbrachte, die sie früher an diesem Tag getroffen hatte. Sollte sie Volemak erzählen, was in der Wüste geschehen war — daß Elemak über Nafai die Todesstrafe verhängt hatte? Das könnte ebenfalls schreckliche Konsequenzen haben. Hatte sie das Recht, diese Konsequenzen zu verursachen, indem sie es sagte? Andererseits … hatte sie das Recht, Volemak wichtige Informationen vorzuenthalten?
Issib wartete ihre Antwort nicht ab. »Weißt du«, sagte er, »die Überseele weiß bereits, was wir hier versuchen, und hat uns nicht daran gehindert.«
»Oder sie hat es so gut gemacht, daß ihr gar nicht mitbekommen habt, daß sie es macht«, sagte Rasa.
»Wenn die Überseele keine Veranlassung sieht, es Vater zu verraten … ist es dann so dringend, daß du es ihm unbedingt verraten mußt?«
Rasa dachte einen Augenblick lang darüber nach. Issib glaubte, es ginge hier nur um sein Geheimnis, doch sie mußte eine Entscheidung über beide treffen. Dies war schließlich die Expedition der Überseele, und wenn jemand das menschliche Verhalten kannte und verstand, dann die Überseele. Sie wußte, was in der Wüste geschehen war, genau wie sie wußte, was Issib und Zdorab mit dem Index zu bewirken versuchten.
Denn genau das versuchten Zdorab und Issib zu umgehen — die Macht der Überseele, alle Entscheidungen zu treffen, etwas zu sagen oder zu verschweigen. Ich will nicht, daß die Überseele entscheidet, was ich wissen darf und was nicht — und doch stehe ich hier und überlege, ob ich meinen Gatten genauso behandeln soll, wie die Überseele mich behandelt. Aber die Überseele wußte wirklich besser als Rasa, ob Volemak über diese Dinge informiert werden sollte.
»Ich verabscheue solche Dilemmas zutiefst«, sagte Rasa.
»Also?«
»Also werde ich später darüber entscheiden«, sagte sie.
»Das ist auch eine Entscheidung«, sagte Issib.
»Das weiß ich, mein kluger Erstgeborener«, sagte Rasa. »Aber das heißt nicht, daß es eine permanente Entscheidung ist.«
»Du hast dein Brot nicht aufgegessen«, sagte Issib.
»Weil dieser Kamelkäse darauf ist.«
»Ein wirklich übles Zeug, nicht wahr?« sagte Issib. »Und du kannst dir nicht vorstellen, welche Verstopfung du davon bekommst.«
»Ich kann kaum abwarten, es zu erfahren.«
»Deshalb ißt keiner von uns das Zeug«, sagte Issib.
Rasa funkelte ihn an. »Und warum liegt davon so viel in der Kältetruhe?«
»Weil wir es den Pavianen geben. Sie halten es für Süßigkeiten.«
Rasa betrachtete ihr halb aufgegessenes Butterbrot. »Ich habe Pavianfutter gegessen.« Dann lachte sie. »Kein Wunder, daß Jobar in das Zelt gekommen ist! Er hat gedacht, ich würde ihm etwas zu fressen machen!«
»Dann warte mal ab, bis du ihm tatsächlich ein Stück Käse gibst und er daraufhin versucht, mit deinem Bein zu kopulieren.«
»Ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.«
»Natürlich habe ich bislang nur gesehen, wie er es bei Vater und Zdorab macht. Vielleicht ist er zhop und ignoriert dich einfach.«
Rasa lachte, aber Issibs grausamer kleiner Scherz über die Möglichkeit, der Pavian könne homosexuell sein, machte sie nachdenklich. Was, wenn die Überseele jemanden in ihre Gemeinschaft gebracht hatte, der seiner Zeugungspflicht nicht nachkommen konnte? Und dann ein anderer Gedanke — hatte die Überseele ihr diese Idee eingegeben? War es eine Warnung?
Sie erschauderte und legte die Hand auf den Index. Verrate es mir, sagte sie stumm. Ist einer aus unserer Gemeinschaft zur Fortpflanzung unfähig? Wird eine der Ehefrauen enttäuscht werden?
Aber der Index antwortete ihr nicht.
Es war später Nachmittag, und der einzige, der Wild getötet hatte, war Nafai, was Mebbekew unerträglich ärgerte. Also war Nafai besser darin, verstohlen Felsen hinaufzuklettern — na und? Also konnte Nafai mit einem Pulsator zielen, als wäre er mit dem Ding in der Hand geboren worden — das alles bewies, daß Elemak die Waffe hätte abfeuern sollen, als er draußen in der Wüste die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Draußen in der Wüste. Als wären sie nicht noch immer in der Wüste. Obwohl dieser Ort im Vergleich zu einigen Ländereien, durch die sie gezogen waren, in der Tat üppig war. Das Grün des Tals, in dem sie wohnten, war für die Augen wie ein Trank kühlen Wassers — er hatte vor ein paar Minuten von einem Vorgebirge einen Blick auf die Bäume erhascht, und es war ein wirklich köstlicher Anblick, solch eine Erleichterung nach dem öden Hellgrau und Gelb der Felsen und des Sandes und dem gräulichen Grün der Wüstenpflanzen, die Elemak stets benennen mußte, wenn er sie sah, als interessiere es jemanden, daß er jede Pflanze, die hier wuchs, mit ihrem vollen Namen kannte. Vielleicht hatte Elemak tatsächlich Vettern unter den Wüstenpflanzen. Es hätte Mebbekew kaum überrascht, wenn irgendein entfernter Vorfahr Elemaks sich irgendwann auf seinen Wanderungen mit einem stachligen grauen Busch gepaart hätte. Vielleicht habe ich heute auf einen Vetter Eljas gepinkelt. Das wäre nett — damit habe ich eindeutig gezeigt, was ich von Leuten halte, die die Wüste lieben.
Ich habe den Hasen nicht einmal gesehen; wie hätte ich dann auf ihn zielen sollen? Natürlich hat Nafai ihn erschossen — er hat ihn gesehen. Natürlich hatte Mebbekew mit dem Pulsator geschossen, weil alle anderen es auch getan hatten. Aber dann hatte sich herausgestellt, daß doch nicht alle anderen geschossen hatten. Nur Vas, der zu tief gezielt und den Pulsator sowieso auf eine zu diffuse Streuung eingestellt hatte, und Nafai, der das Ding tatsächlich getroffen und ein rauchendes kleines Loch in seinen Kopf gebrannt hatte. Und natürlich Mebbekew, der auf nichts Besonderes gezielt hatte, und danach hatte Elemak gesagt: »Guter Schuß, Nafai. Du zielst zu tief und unruhig, Vas, und stelle den Strahl schmaler. Und du, Mebbekew, wolltest du versuchen, mit deinem Pulsator einen Hasen auf diesen Felsen zu malen? Das ist kein Zeichenkur s. Versuche, auf denselben Planeten zu zielen, auf dem die Beute sich befindet.«
Dann waren Elemak und Nafai hinabgegangen, um den Hasen zu holen.
»Es wird spät«, hatte Mebbekew gesagt. »Können wir anderen nicht schon nach Hause gehen? Müssen wir unbedingt hier warten, bis ihr den Mümmelmann gefunden habt?«
Da hatte Elemak ihn kalt angesehen. »Ich dachte, du wolltest lernen, wie man einen Hasen häutet und ausnimmt. Aber du wirst wahrscheinlich niemals in die Verlegenheit kommen, dieses Wissen anzuwenden.«
Oh, sehr klug, Elemak. So erzeugt man bei seinen armen, sich abmühenden Schülern Selbstvertrauen. Wenigstens habe ich geschossen, im Gegensatz zu Obring, der seinen Pulsator handhabt, als wäre er der Fimmel eines anderen Mannes. Aber Meb hatte nichts davon gesagt, Elemak nur angefunkelt und dann gefragt: »Dann kann ich also gehen?«
»Glaubst du, du wirst den Weg finden?« fragte Elemak.
»Natürlich«, sagte Mebbekew.
»Bestimmt«, sagte Elemak. »Dann geh schon vor, und wer dich begleiten will, kann das ruhig tun.«
Aber niemand wollte ihn begleiten. Elemak hatte ihnen Angst eingejagt, daß Mebbekew sich verirren würde. Nun, er hatte sich nicht verirrt. Er war einfach in die richtige Richtung gegangen und hatte ihre Spur ziemlich problemlos zurückverfolgt, und als er auf den Kamm dieses Hügels geklettert war, nur um ganz sicherzugehen, lag das Tal genau dort, wo er es erwartet hatte. Ich bin nicht völlig unfähig, o kluger älterer Bruder. Nur weil ich mich nicht ein paar Dutzendmal wie du durch die Wüste geschwitzt und hübsche Pflanzen von einer Stadt zur anderen geschleppt habe, heißt das noch lange nicht, daß ich keinen Orientierungssinn habe.
Wenn er nur genau gewußt hätte, wann und wo er sich den Umhang und den Hosenboden aufgerissen hatte … Er konnte es wirklich nicht ausstehen, wenn seine Bekleidung nicht einwandfrei war, und diese Stücke waren nun schweißgetränkt und staubverkrustet. Er würde nie wieder sauber werden.
Er kam zum Rand der Schlucht und sah in der Erwartung hinab, die Zelte zu erblicken. Aber es war kein Zelt in Sicht.
Einen Augenblick lang geriet er in Panik. Sie sind ohne mich aufgebrochen, dachte er. Sie sind ganz schnell zurückgekehrt, haben das Lager abgebrochen und mich zurückgelassen, und das alles nur, weil ich diesen blöden Hasen nicht gesehen habe.
Dann wurde ihm klar, daß er sich einfach ein Stück flußabwärts vom Lager befand. Die Zelte waren oben links von ihm. Und natürlich war er viel zu nah am Meer. Hätte das Reinigende Meer einen Wellengang, wie es ihn am Ufer der Erdgebundenen See gab, hätte er hier die Brandung hören können. Und da waren die Paviane, die am Fluß und am Ufer lebten und ihre elende Nahrung mit den Wurzeln und Beeren und Pflanzen und Insekten und warzigen kleinen Tieren aufbesserten.
Wie bin ich nur hierher gelangt? Soviel zu meinem Orientierungssinn.
Ach, ja. Wir sind heute morgen diesen Weg hinabgegangen, nachdem wir Vaters faule Frau schlafend im Lager zurückgelassen haben, und alle anderen Frauen auch —besonders meine völlig nutzlose, dumme, faule Frau —, die sich noch vor den Zelten und im Garten rekelten. Das ist der einzige Teil unserer Strecke, den ich verpaßt habe, nur diese Abzweigung, ist ja toll, ich habe meinen guten Orientierungssinn nicht verloren.
Aber er hatte einen wirklich üblen Geschmack im Mund, und er wollte gegen etwas treten, er wollte etwas zerbrechen, er wollte jemanden verletzen.
Und da waren die Paviane, direkt unter ihm, dumme, hundeähnliche Tiere, die sich für Menschen hielten. Ein Weibchen reckte den roten Hintern in die Höhe, und die Männchen prügelten aufeinander ein und versuchten, mal schnell zum Stoßen zu kommen. Arme, blöde Männchen. So verbringen wir unser Leben.
Könnte genausogut hier in die Schlucht hinabsteigen und durch das Tal zum Lager gehen. Und vielleicht krieg ich unterwegs dann freie Schußbahn auf irgendein Männchen, das ihr gerade das Loch stopft. Es würde doch glücklich sterben, oder? Und Nafai wäre nicht der einzige, der sich rühmen Könnte, ein Tier erlegt zu haben.
Nachdem Mebbekew sich ein Knie aufgeschürft hatte und mehrmals ausgerutscht war, begriff er auf etwa halbem Weg den schroffen Hang hinab, daß er die Paviane um so schlechter sehen konnte, je tiefer er kam. Schon jetzt nahmen ihm Steine und Büsche die Sicht auf einige, darunter auch diejenigen, die sich prügelten, das Weibchen zu besteigen. Doch ein kleineres Tier war genau in seinem Blickfeld, und es war auch beträchtlich näher als die anderen. Es bot ein wesentlich leichteres Ziel.
Meb rief sich in Erinnerung zurück, was Elemak ihnen zuvor beigebracht hatte, und legte den Ellbogen auf einen Findling, als er zielte. Trotzdem zitterten seine Hände auch weiterhin, und je mehr er sich bemühte, sie ruhig zu halten, desto stärker schien der Pulsator auf und ab zu hüpfen. Und als er mit dem Finger auf den Feuerknopf drückte, versetzte auch diese schwache Bewegung der Waffe einen Stoß, und aus einem Busch, der über sechs Meter von dem Pavian entfernt war, auf den er gezielt hatte, schoß ein kleiner Rauchstrahl hervor. Der Pavian mußte etwas gehört haben, denn er fuhr herum, betrachtete den brennenden Busch kurz und wich dann verängstigt zurück.
Aber nicht lange. Einen Augenblick später näherte er sich wieder und beobachtete die Flamme, als könne er ihr ein Geheimnis entnehmen. Der Busch war trocken, aber nicht abgestorben, und so brannte er nur langsam und unter großer Rauchentwicklung. Meb zielte erneut, diesmal ein wenig nach rechts, um die Bewegung zu kompensieren, die der Knopfdruck verursachen würde. Er stellte auch fest, daß seine Hände diesmal etwas ruhiger waren, und erinnerte sich nun an Elemaks Worte, wie wichtig es sei, sich zu entspannen. Also … nun verfuhr Mebbekew genau, wie Elemak es erklärt hatte, und dieser Pavian würde bald nur noch Geschichte sein.
Gerade, als er die Waffe auslösen wollte, ließ ein scharfes Knacken nur einen Meter von seinem Kopf entfernt ihn zusammenzucken. Sein Schuß ging weit daneben, als er sich zu der Stelle umdrehte, von der das Geräusch gekommen war. Eine kleine Pflanze, die in einem Felsspalt ein paar Meter über seinem Kopf wuchs, war völlig verbrannt, und Rauch erhob sich von der Stelle. Da Meb gerade gesehen hatte, was mit dem Busch ein paar Meter neben dem Pavian passiert war, begriff er sofort, was geschehen sein mußte. Jemand hatte mit einem Pulsator auf ihn geschossen. Banditen waren erschienen — das Lager war in Gefahr, und er würde sterben, ganz allein, weil den Banditen keine andere Wahl blieb, als ihn zu töten, damit er keinen Alarm schlug. Aber ich werde keinen Alarm schlagen, dachte er. Laßt mich einfach leben, und ich verstecke mich hier und bin ganz still, bis alles vorbei ist, aber bringt mich nicht um …
»Was soll das? Wieso schießt du auf Paviane?«
Mit einem Scheppern kleiner Steine glitt Nafai das letzte Stück des Hangs hinab und kam auf dem Stein zum Stehen, auf dem auch Meb gelandet war. Meb sah mit einigem Vergnügen, daß auch Nafai hinabgerutscht war, genau wie er. Doch dann wurde ihm klar, daß Nafai dies irgendwie gelungen war, ohne die Kontrolle zu verlieren, und daß er auf den Füßen und nicht auf dem Hintern auf dem Stein aufgekommen war.
Erst jetzt begriff Meb, daß Nafai auf ihn geschossen und ihn nur um ein paar Meter verfehlt hatte. »Wolltest du mich umbringen?« rief er. »Du bist kein so guter Schütze, daß du auf Menschen zielen solltest!«
»Wir töten die Paviane nicht«, sagte Nafai. »Sie sind wie Menschen — was ist dir nur in den Sinn gekommen?«
»Ach ja? Und seit wann sitzen Menschen da und graben nach Maden und wollen jede Frau besteigen, die einen roten Hintern hat?«
»Das beschreibt ziemlich gut das Leben, das du führst, Meb«, sagte Nafai. »Glaubst du etwa, wir würden Pavianfleisch essen?«
»Das war mir scheißegal«, sagte Meb. »Ich war nicht auf das Fleisch aus, ich wollte das Vieh töten. Du bist nämlich nicht der einzige, der schießen kann.«
Als Meb diese Worte sprach, kam ihm in den Sinn, daß er und Nafai jetzt allein waren und niemand zusah. Und Meb hatte einen Pulsator. Es könnte ein Unfall sein. Ich wollte doch gar nicht abdrücken. Ich habe nur Schießübungen gemacht, und Nafai ist aus dem Nichts aufgetaucht. Ich habe ihn nicht gehört, ich habe mich auf das Schießen konzentriert. Bitte, bitte, verzeih mir, Vater, es ist so schrecklich! Mein eigener Bruder! Ich habe den Tod verdient. Oh, ich verzeihe dir, mein Sohn. Laß mich einfach um meinen jüngsten Sohn trauern, dem man bei einem schrecklichen Jagdunfall die Eier abgeschossen hat, woraufhin er dann verblutet ist. Warum vögelst du nicht ein wenig deine Frau, während ich hier weine?
Das wäre doch mal was! Vater wünscht Mebbekew tatsächlich einmal etwas, was er wirklich will!
»Man verschwendet kein Pulsatorfeuer auf sinnlose Schüsse«, sagte Nafai. »Das hat Elemak gesägt — sie halten nicht ewig. Und wir essen keine Paviane. Auch das hat Elemak gesagt.«
»Elemak kann meinetwegen in eine Flöte furzen und behaupten, es wäre eine Melodie. Das heißt noch lange nicht, daß ich mich daran halten werde.« Ich halte den Pulsator in der Hand. Ich habe ihn schon halbwegs auf Nafai gerichtet. Ich kann ihnen zeigen, wie ich erschrocken herumfuhr, und irgendwie ging der Pulsator los und schoß Nafai die Brust weg. Aus dieser Nähe zerfetzt der Schuß ihn vielleicht vollständig und verspritzt kleine Nafai-Stücke in alle Richtungen. Ich komme sowieso schon mit Blut auf meiner Kleidung nach Hause.
Dann spürte er, daß ein Pulsator gegen seinen Kopf gedrückt wurde. »Gib mir deine Waffe«, sagte Elemak.
»Warum?« fragte Meb. »Ich hätte es nicht getan.«
»Du hast schon auf den Pavian geschossen«, sagte Nafai unerwartet. »Wenn du ein besserer Schütze wärest, wäre er schon erledigt.« Also hatte Nafai natürlich wieder einmal völlig falsch verstanden, was Meb mit seinem Satz gemeint hatte. Aber Elemak hatte es verstanden.
»Ich sagte, gib mir deinen Pulsator, mit dem Griff zuerst.«
Meb seufzte dramatisch und gab Elemak die Waffe. »Machen wir doch eine große Sache daraus, ja. Ich darf nicht mal auf einen Pavian schießen, aber du darfst allen deinen Brüdern einen Pulsator an den Kopf halten, wenn du dazu Lust hast, und dagegen ist nicht mal was einzuwenden.«
Elemak war nicht besonders erfreut, daß Meb ihn an seinen Vorschlag erinnerte, Nafai in der Wüste wegen Meuterei hinzurichten. Aber er drückte den Pulsator weiterhin gegen Mebs Schläfe, als er zu Nafai sagte: »Ich will nie wieder sehen, daß du deinen Pulsator auf einen anderen Menschen richtest.«
»Ich habe nicht auf ihn gezielt. Ich habe auf die Pflanze über seinem Kopf gezielt und sie auch getroffen.«
»Ja, du bist ein hervorragender Schütze. Aber was, wenn du hättest niesen müssen? Oder gestolpert wärest? Dann hättest du vielleicht mit einer kleinen Bewegung deines Fingers deinem Bruder den Kopf abgeschossen. Also ziele nie auf eine andere Person oder in deren Nähe. Hast du mich verstanden?«
»Ja«, sagte Nafai.
Oh, ja, ja, großer Bruder Elemak, ich schleime mich auch bei dir ein, wie ich mich immer bei Papa eingeschleimt habe. Meb hätte am liebsten gekotzt.
»Aber es war ein guter Schuß«, sagte Elemak.
»Danke.«
»Und Meb kann von Glück sprechen, daß du ihn gesehen hast und nicht ich, denn ich hätte auf seinen Fuß gezielt, und dann hätte ein Stumpf ihn auf ewig daran erinnert, daß man nicht auf Paviane schießt.«
Es war nicht richtig, daß Elemak ihn ausgerechnet vor Nafai so herunterputzte. Oh, und da kamen natürlich Vas und Obring, sie müssen natürlich mitbekommen, daß Elemak ihm solche Verachtung entgegenbringt und ihn vor Nafai fertigmacht. »Also sind Paviane plötzlich heilige Tiere?« fragte Meb.
»Wir töten sie nicht, und wir essen sie nicht«, sagte Elemak.
»Warum nicht?«
»Weil sie keinen Schaden anrichten, und sie zu essen wäre wie Kannibalismus.«
»Jetzt verstehe ich«, sagte Meb. »Du bist einer derjenigen, die Paviane für Zaubertiere halten. Sie haben irgendwo hier in der Nähe einen Topf Gold versteckt, ach was, jeder Stamm hat so einen Topf versteckt, und wenn wir wirklich nett zu ihnen sind und sie füttern, und wenn sie einen dann ratzekahl gefressen und einem auf der Suche nach noch mehr Fressen das Haus auseinandergenommen haben, dann laufen sie zu ihrem Versteck und bringen dir den Topf Gold.«
»Schon mehr als nur ein verirrter Wanderer wurde in der Wüste von Pavianen in Sicherheit gebracht.«
»Klar doch«, sagte Meb. »Das heißt also, wir lassen sie ewig leben? Ich will dir mal ein Geheimnis verraten, Elja. Irgendwann werden sie sowieso sterben. Warum also nicht jetzt, und wir können unsere Zielübungen machen? Ich sage ja nicht, daß wir sie essen müssen oder so.«
»Und ich sage, für dich ist die Jagd vorbei. Ich behalte deinen Pulsator.«
»Na toll«, sagte Meb. »Soll ich der einzige Mann ohne Waffe sein?«
»Die Pulsatoren sind zur Jagd da. Nafai wird ein guter Jäger werden, du aber nicht.«
»Woher willst du das denn wissen? Heute war doch unser erster richtiger Übungstag.«
»Du wirst kein Jäger werden, weil du, solange ich lebe, keinen Pulsator mehr in der Hand halten wirst.«
Das traf Mebbekew bis ins Herz. Elemak nahm ihm jede Würde, und weshalb? Wegen eines blöden Pavians. Wie konnte Elja ihm das antun? Und das auch noch vor Nafai. »Oh, jetzt kapiere ich«, sagte Meb. »So zeigst du König Nafai deine Verehrung.«
Es folgte eine kurze Pause, in der Meb sich fragte, ob er Elja vielleicht einen Funken zu weit getrieben hatte und Elemak ihn diesmal töten oder zu Brei schlagen würde. Dann sagte Elemak: »Nafai, kehre mit dem Hasen zum Lager zurück. Zdorab wird ihn in die Kältetruhe legen wollen, bis er morgen früh den Eintopf zubereitet.«
»Ja«, sagte Nafai. Augenblicklich hastete er den Hügel zum Talboden hinab.
»Ihr könnt ihm folgen«, sagte Elemak zu Vas und Obring, die gerade den Hang hinabgerutscht waren. Beide waren auf dem Hintern gelandet.
Vas erhob sich und staubte sich ab. »Tu nichts Dummes, Elja«, sagte er. Dann drehte er sich um und folgte Nafai.
Da Meb vermutete, daß diese Worte von Vas die einzige Unterstützung waren, die er bekommen würde, entschloß er sich, das Beste daraus zu machen. »Wenn du im Lager bist, sag meinem Vater, daß ich tot bin, weil Eljas kleiner Unfall mit dem Pulsator gar kein Unfall war.«
»Ja, sag Vater das«, sagte Elemak. »Es wird ihm beweisen, was er schon lange vermutet hat … daß Meb nämlich seinen lieben, kleinen Verstand verloren hat.«
»Ich werde ihm vorerst gar nichts sagen — außer, ihr beide kehrt nicht sofort zum Lager zurück«, sagte Vas. »Komm, Obring.«
»Ich bin nicht dein Hündchen«, sagte Obring.
»Na gut, dann bleibe«, sagte Vas.
»Und was soll ich dann tun?« fragte Obring.
»Wenn du das fragen mußt, kommst du besser mit«, sagte Vas. »Wir wollen uns doch nicht in diesen kleinen Familienstreit einmischen.«
Meb wollte nicht, daß sie gingen. Er wollte Zeugen bei dem, was auch immer Elja vorhatte. »Elemak ist nur abergläubisch!« rief er ihnen nach. »Er glaubt an diese alten Geschichten, daß der ganze Stamm zurückkommt und einem die Kinder stiehlt, wenn man einen Pavian tötet! Eiadh muß schwanger sein, mehr steckt nicht dahinter. Kommt zurück, und wir gehen alle zusammen zum Lager.«
Aber sie kamen nicht zurück.
»Hör zu, es tut mir leid«, sagte Meb. »Wieso machst du eine so große Sache daraus? Ich habe den Pavian doch gar nicht getroffen.«
Elemak beugte sich näher zu ihm. »Du wirst nie wieder einen Pulsator in die Hand nehmen.«
»Nafai hat auf mich geschossen«, sagte Meb. »Du nimmst mir den Pulsator weg, weil ich auf einen Pavian geschossen habe, und Nafai schießt auf mich und darf seinen behalten?«
»Man tötet keine Tiere, die man nicht essen will. Auch das ist ein Gesetz der Wüste. Aber du weißt, warum ich dir den Pulsator abnehme, und es liegt nicht an dem Pavian.«
»Woran dann?«
»Es hat dir in den Fingern gejuckt«, sagte Elemak. »Du wolltest Nafai töten.«
»Ach, jetzt kannst du auch schon meine Gedanken lesen?«
»Ich kann deinen Körper lesen, und Nafai ist auch kein Narr. Er weiß ebenfalls, was du vorgehabt hast. Begreifst du denn nicht, daß er dir in der Sekunde, da du den Pulsator gehoben hättest, den Kopf abgeschossen hätte?«
»Dazu hat er nicht den Mumm.«
»Vielleicht nicht«, sagte Elemak. »Und vielleicht hast du ihn auch nicht. Aber du wirst die Gelegenheit nicht bekommen.«
Das war das Dümmste, das Meb je gehört hatte. »Vor ein paar Tagen hast du noch versucht, ihn zu fesseln und in der Wüste zurückzulassen, damit die Tiere ihn fressen.«
»Vor ein paar Tagen habe ich noch gedacht, ich könnte uns zur Zivilisation zurückbringen«, sagte Elemak. »Aber dazu wird es jetzt nicht mehr kommen. Wir sitzen hier draußen fest, ob es uns nun gefällt oder nicht, und wenn Eiadh noch nicht schwanger ist, wird sie es bald sein.«
»Falls du herausfindest, wie man das macht.«
Er stellte fest, daß er es etwas zu weit getrieben hatte, denn Elemak holte mit dem linken Arm aus und schlug ihm mit der Handfläche auf die Nase.
»Gaah! Aah!« Mebbekew faßte sich an die Nase, und als er die Hände wieder herunternahm, waren sie blutverschmiert. »Du Scheißkerl! Jungfrauensoße!«
»Ja, genau«, sagte Elemak. »Es gefällt mir, wenn der Schmerz dich beredsam macht.«
»Jetzt ist meine Kleidung blutverschmiert!«
»Das hilft dir nur, dir die Illusion zu nehmen, ein Mann zu sein«, sagte Elemak. »Jetzt hör mir zu, und höre mir gut zu, denn ich meine es ernst. Beim nächsten Mal werde ich dir die Nase brechen, und ich werde sie dir jeden Tag von neuem brechen, wenn ich herausfinde, daß du gegen jemanden Ränke schmiedest. Ich habe einmal versucht, mich von dieser widerwärtigen Sache zu lösen, konnte es aber nicht, und du weißt, wieso.«
»Ja, weil die Überseele mit Stricken besser umgehen kann als ich«, sagte Meb.
»Also stecken wir in der Sache drin, und unsere Frauen werden Kinder bekommen, und sie werden als unsere Kinder aufwachsen. Kapierst du das? Diese Gemeinschaft, diese sechzehn Leute, die wir hier haben, das wird die gesamte Welt sein, in der unsere Kinder aufwachsen werden. Und es wird keine Welt werden, in der kleine Taugenichtse wie du Leute ermorden, weil sie keine Paviane schießen dürfen. Hast du mich verstanden?«
»Klar«, sagte Meb. »Es wird eine Welt sein, in der große, starke Männer wie du Freude haben werden, weil sie die anderen verprügeln dürfen.«
»Wenn du dich benimmst, wird dich niemand verprügeln«, sagte Elemak. »Aber ich dulde keinen Mord. Punktum. Denn ganz gleich, für wie klug du dich hältst, ich werde vor dir dort sein, auf dich warten und dich auseinandernehmen. Hast du mich verstanden, mein kleiner Schauspielerfreund?«
»Ich habe verstanden, daß du dich bei Nafai einschleimen willst«, sagte Mebbekew und rechnete damit, daß Elemak ihn erneut schlug. Statt dessen kicherte Elja.
»Vielleicht«, sagte Elemak. »Vielleicht tue ich das. Im Augenblick zumindest. Aber Nafai schmeichelt sich auch bei mir ein, falls du das noch nicht mitbekommen haben solltest. Vielleicht schließen wir sogar Frieden. Was denkst du darüber?«
Ich denke, wo dein Gehirn sein sollte, hast du Kamelnieren, und deshalb ist dein Geschwätz nur heiße Pisse im Staub. »Friede wäre einfach wunderbar, mein lieber, freundlicher, sanfter, älterer Bruder.«
»Vergiß nicht, was ich gesagt habe«, sagte Elemak, »und ich werde versuchen, deine netten Worte wahr zu machen.«
Rasa sah, wie sie nacheinander nach Hause kamen — Nafai zuerst, mit einem Hasen in der Faust, voller Freude, daß es ihm gelungen war, ein Tier zu töten, obwohl er natürlich, wie es ihm ähnlich sah, vergeblich versuchte, seinen Stolz zu verbergen. Dann Obring und Vas, die müde und gelangweilt und verschwitzt und entmutigt aussahen. Und schließlich Elemak und Mebbekew, selbstgefällig und vergnügt, als hätten sie den Hasen erlegt, als wären sie Mitverschwörer bei der Eroberung des Universums. Ich werde sie nie verstehen, dachte Rasa. Keine zwei Männer hätten verschiedener sein können — Elemak so stark, kompetent, ehrgeizig und brutal, Mebbekew so schwach, fadenscheinig, lüstern und verschlagen —, und doch schienen sie immer über dieselben Scherze zu lachen und vom selben erhabenen Gipfel der persönlichen Klugheit auf alle anderen hinabzusehen. Rasa sah ein, daß Nafai mit seiner Unfähigkeit, seine Freude über seine Leistungen zu verbergen, andere Menschen verärgern konnte, doch zumindest bewirkte er nicht, daß andere Leute sich schmutzig und klein vorkamen, nur weil er in ihrer Nähe war, wie es bei Mebbekew und Elemak der Fall war.
Nein, ich bin unfair, mahnte Rasa sich. Ich erinnere mich an diese Dämmerung in der Wüste. Ich erinnere mich daran, daß der Pulsator auf Nafais Kopf gerichtet war. Ich werde Elemak dies nie verzeihen. Will ich die Sicherheit meines jüngsten Sohnes gewährleisten, muß ich ihn während unserer Reise ständig im Auge behalten. Das ist das Gute an Mebbekew — er ist so feige, daß man von ihm kaum etwas zu befürchten hat.
»Ich weiß, ihr habt Hunger«, sagte Volemak. »Aber es ist noch zu früh zum Abendessen, und wir können die Zeit gut nutzen. Ich werde euch den Traum erzählen, der mir letzte Nacht gekommen ist.«
Sie hatten sich natürlich bereits versammelt, und nun saßen sie auf den flachen Steinen, die Zdorab und Volja vor ein paar Tagen zu diesem Zweck hierher geschleppt hatten — damit sie alle zu den Mahlzeiten und Versammlungen sitzen konnten.
»Ich weiß nicht, was er bedeutet«, sagte Volemak, »und ich weiß nicht, wofür er gut ist, aber ich weiß, daß er eine Rolle spielt.«
»Wenn er so wichtig ist«, sagte Obring, »warum erklärt die Überseele dir nicht einfach, was er zu bedeuten hat, und vereinfacht damit alles?«
»Weil, Schwiegersohn meiner Frau«, sagte Volemak, »der Traum nicht von der Überseele kam. Er ist darüber genauso verwirrt, wie ich es bin.«
Rasa stellte interessiert fest, daß Volja von der Überseele gelegentlich noch immer als männliche Person dachte. Nafai und Issib nannten sie zwar die Überseele, wußten aber, daß es sich bei ihr um einen Computer handelte, und hielten sie eigentlich für einen sächlichen Gegenstand. Volemak wußte dies zwar auch, hatte sich ihrer Denkweise aber noch nicht angeschlossen. Das gefiel ihr. Vielleicht lag es nur daran, daß er alt und einfallslos wurde, aber ihr gefiel, daß Volja noch immer von der Überseele dachte, wie die Männer Basilikas es früher getan hatten, statt sie für einen bloßen Computer zu halten und auch so von ihr zu sprechen — jedenfalls manchmal.
»Also fange ich jetzt an und erzähle den Traum offen und ehrlich«, sagte Volemak. »Und ich warne euch, denn da der Traum nicht von der Überseele kam, gibt er mir mehr Grund zur Freude — jedenfalls für Nafai und Issib —, aber gleichzeitig auch mehr Grund, um meine ersten Söhne Elemak und Mebbekew zu fürchten, denn wisset, ich glaubte, in meinem Traum eine dunkle und schreckliche Wildnis zu sehen.«
»Die kannst du auch sehen, wenn du hellwach bist«, murmelte Mebbekew. Rasa sah, daß Mebs Witz nur eine schwache Verkleidung seines Zorns war — es gefiel ihm nicht, auf diese Weise ausgesondert zu werden, bevor die Erzählung des Traums überhaupt begonnen hatte. Elemak gefiel es natürlich auch nicht — aber er wußte seine Zunge im Zaum zuhalten.
Volemak sah Mebbekew einen Augenblick lang ruhig an, um ihn zum Schweigen zu bringen, um ihm klarzumachen, daß er keine weitere Unterbrechung dulden würde. Dann begann er von vorn.