5 Das Gesicht des Hüters

Luet saß da und beobachtete die Paviane. Das Weibchen, das sie wegen einer bläulichen Narbe auf dem Rücken für Rubjet hielt, war brünstig, und Luet verfolgte interessiert, wie die Männchen sich um sie bewarben. Dem Männchen, das am wütendsten tobte, Jobar — der auch so viel Zeit im Lager der Menschen verbrachte —, gelang es dabei kaum, Rubjets Aufmerksamkeit zu erlangen. Ganz im Gegenteil, je aggressiver er wurde, desto weniger Fortschritte machte er. Er zeigte seine Wut, trampelte und schnaubte, fletschte die Zähne und teilte sogar Faustschläge aus, um ein Männchen einzuschüchtern, das Rubjet umwarb. Jedesmal gab das Männchen, das er gerade einschüchterte, ziemlich schnell auf und lief davon — doch während Jobar sein Opfer verfolgte, machten andere Männchen sich an Rubjet heran. Und wenn Jobar dann von seinem ›Sieg‹ zu Rubjet zurückkehrte, stellte er fest, daß sich schon wieder andere Männchen an sie herangemacht hatten, und das Spiel begann von neuem.

Schließlich wurde Jobar wirklich wütend und griff ein Männchen ernsthaft an, biß es und zerrte an ihm. Es war ein Männchen, dem Volemak den Namen Salo gegeben hatte, weil es sich einmal im ganzen Gesicht mit Fett verschmiert hatte, als es Nahrung aus dem Kochfeuer stahl. Salo unterwarf sich sofort und zeigte Jobar sein Hinterteil, doch Jobar war zu wütend, um die Unterwerfung zu akzeptieren. Die anderen Männchen sahen — vielleicht sogar amüsiert — zu, wie Jobar sein Opfer verprügelte und kniff.

Salo gelang es schließlich, sich zu befreien. Heulend und jaulend lief er vor Jobar davon, der, noch immer tobend, ihm mit wahnsinniger Geschwindigkeit folgte und auf ihn einprügelte, wann immer er in seiner Reichweite war.

Dann tat Salo etwas sehr Außergewöhnliches. Er lief direkt zu einer jungen Mutter namens Ploxy, die noch ein Junges säugte, mit dem Salo oft spielte, und riß das Baby Ploxy aus den Armen. Ploxy heulte einmal verärgert auf, doch das Baby machte sich nichts daraus und schien sogar Spaß an der wilden Jagd zu haben — bis der noch immer tobende Jobar kam und wieder auf Salo einschlug.

Diesmal kreischte das Baby in Salos Armen jedoch vor Angst auf, und nun sahen die anderen Männchen nicht mehr selbstgefällig zu, sondern wurden augenblicklich wütend. Ploxy kreischte ebenfalls und rief um Hilfe, und nach einem Augenblick hatte sich die gesamte Pavianschar um Jobar versammelt, schrie ihn an und schlug auf ihn ein. Verwirrt und verängstigt versuchte Jobar, das Baby Salo aus den Händen zu reißen; vielleicht dachte er, wenn er das Baby hielt, wären alle anderen auf seiner Seite, doch Luet war klar, daß dies nicht funktionieren würde. Natürlich schlugen die anderen in dem Augenblick, in dem er nach dem Baby griff, geradezu brutal auf ihn ein, sonderten ihn von der Gruppe ab und jagten ihn davon. Mehrere Männchen verfolgten ihn über eine beträchtliche Entfernung und blieben dann in der Nähe, um ihn im Auge zu halten und zu verhindern, daß er zurückkam. Luet fragte sich, ob dies das Ende von Jobars Versuch war, sich der Gruppe anzuschließen.

Dann sah sie sich nach Salo um. Sie vermutete ihn irgendwo in der Nähe von Ploxy und dem Baby — doch dort war er nicht, obwohl die meisten anderen sich dort aufhielten, schnatterten und auf und ab sprangen und auch noch auf andere Weise zeigten, wie wütend sie waren.

Salo hingegen war in einem Gebüsch flußaufwärts von der Hauptgruppe. Er hatte Rubjet von den anderen weggelockt und bestieg sie gerade. Auf ihrem Gesicht lag ein überaus komischer, resignierter Ausdruck, der manchmal einem so starken Vergnügen — oder einer Wut — wich, daß sie die Augen verdrehte. Luet fragte sich, ob menschliche Gesichter unter ähnlichen Umständen dieselben beängstigend gegensätzlichen Mienen zeigten … eine gewisse zerstreute Intensität, die Vergnügen, aber auch Verwirrung bedeuten konnte.

Auf jeden Fall hatte der aggressive Jobar eine vernichtende Niederlage erlitten — und vielleicht sogar seinen Platz im Stamm verloren. Und der nicht besonders große Salo hatte zwar das Scharmützel verloren, aber die Schlacht und den Krieg gewonnen.

All das, weil Salo einer Mutter ein Baby weggenommen hatte.

»Glücklicher Salo«, sagte Nafai. »Ich habe mich schon gefragt, wer das Herz der schönen Rubjet gewinnen würde.«

»Er hat es mit Blumen geschafft«, sagte Luet. »Ich wollte nicht so lange hier draußen bleiben.«

»Ich habe nicht nach dir gesucht, weil du gebraucht wirst«, sagte Nafai, »sondern weil ich bei dir sein wollte. Bis zum Abendessen habe ich sowieso nichts mehr zu tun. Ich habe heute morgen mein Wild erlegt und das blutige Ding nach Hause geschleppt, um es meiner Gefährtin vor die Füße zu legen. Aber die war damit beschäftigt, sich zu übergeben, und ich mußte auf meine übliche Belohnung verzichten.«

»Ist es nicht furchtbar, daß ausgerechnet mir ständig schlecht ist?« sagte Luet. »Huschidh hat einmal gerülpst, und damit war die Sache für sie erledigt. Und Kokor hat versucht, sich zu übergeben, bringt es aber einfach nicht zustande, und jetzt bekommt sie nicht das Mitgefühl, an dem ihr so viel liegt, und ich bekomme es, obwohl ich es gar nicht haben will.«

»Wer hätte gedacht, daß es bei dem ersten Baby der Kolonie zu einem Rennen zwischen dir, Huschidh und Kokor kommt.«

»Das ist doch nur gut für dich«, sagte Luet. »Dann kannst du dir ein Kleinkind schnappen, falls es Probleme geben sollte.«

Nafai hatte Salos Strategie nicht beobachtet, und daher wußte er nicht, was sie meinte.

»Salo hat sich Ploxys Baby gegriffen.«

»Ah ja, das machen sie manchmal«, sagte Nafai. »Schedemei hat es mir erzählt. Die Männchen, die vom Stamm voll akzeptiert werden, freunden sich mit einem oder zwei Säuglingen an, bis die Kleinen sie schließlich mögen. Bei einem Kampf packen sie sich dann das Kleine, das nicht schreit, wenn sein Freund es ergreift. Das andere Männchen ist nicht sein Freund, und wenn es das Kleine dann angreift, schreit das Baby, und der ganze Stamm fällt über den armen Trottel her.«

»Oh«, sagte Luet. »Das war also Routine.«

»Ich habe es nie gesehen. Ich bin eifersüchtig, daß du es gesehen hast, ich aber nicht.«

»Und das ist der Lohn der Strategie«, sagte Luet und deutete auf Salo, der noch immer mit Rubjet zugange war.

»Und wo ist der Verlierer? Ich wette, ist war Jobar.« Luet zeigte bereits auf ihn, und natürlich war es Jobar, der sich verloren in einiger Entfernung herumtrieb, den Stamm zwar beobachtete, es aber nicht wagte, zu ihm zurückzukehren, weil zwei Männchen auf halber Strecke zwischen ihm und den anderen Wache hielten.

»Also freundest du dich lieber mit meinem Baby an«, sagte Luet. »Oder du wirst in unserem Stamm nie deinen Willen bekommen.«

Nafai legte die Hand auf Luets Bauch. »Es ist noch nicht größer geworden.«

»Das ist mir nur recht«, sagte Luet. »Also, weshalb bist du wirklich hierher gekommen?«

Er betrachtete sie konsterniert.

»Ich habe niemandem gesagt, daß ich die Paviane beobachten wollte, also konnte niemand wissen, daß ich hier bin«, sagte Luet. »Du hast mich also nicht gesucht, du wolltest allein sein.«

Er zuckte die Achseln. »Ich bin lieber bei dir.«

»Du bist so ungeduldig«, sagte Luet. »Die Überseele hat bereits gesagt, daß sie keine Eile hat — sie wird erst in einigen Jahren bei Vusadka für uns bereit sein.«

»Dieser Ort kann uns nicht ernähren«, sagte Nafai. »Es wird immer schwerer, Wild zu finden. Und wir sind diesem besiedelten Tal hinter den Bergen im Osten viel zu nah.«

»Auch darüber zerbrichst du dir nicht den Kopf«, sagte Luet. »Es macht dich verrückt, daß der Hüter der Erde dir keinen Traum geschickt hat.«

»Das stört mich überhaupt nicht«, sagte Nafai. »Mich stört nur, daß ihr mir das immer wieder unter die Nase reibt: daß ihr alle, du und Schuja und Vater und Muuzh und Durstig, diese Engel und Ratten gesehen habt, und ich nicht. Bedeutet das etwa, daß irgendein Computer, der um einen vielleicht hundert Lichtjahre entfernten Planeten kreist, mich irgendwie ein Jahrhundert vor meiner Geburt beurteilt hat und zum Schluß gekommen ist, ich sei nicht würdig, seine hübschen kleinen Zoo-Träume zu empfangen?«

»Du bist wirklich wütend«, sagte Luet.

»Ich will etwas tun, und wenn ich das schon nicht kann, dann will ich wenigstens etwas wissen«! rief Nafai. »Ich bin es leid, immer nur zu warten, und nichts geschieht. Es bringt mir auch nichts, mit dem Index zu arbeiten, weil Zdorab und Issib ihn ständig benutzen und viel vertrauter mit seiner Funktionsweise sind, als ich es bin …«

»Aber zu dir spricht er trotzdem deutlicher als zu allen anderen.«

»Er verrät mir zwar nichts, aber das mit großer Deutlichkeit. Einfach toll.«

»Und du bist ein guter Jäger. Das sagt sogar Elemak.«

»Das ist das einzige, wozu ich zu gebrauchen bin — etwas zu töten.«

Luet sah, wie der Schatten der Erinnerung an Gaballufix’ Tod über Nafais Gesicht glitt. »Wirst du dir das nie vergeben?«

»Doch. Sobald Gaballufix aus den Schlafhöhlen der Paviane kommt und mir erklärt, er habe seinen Tod nur vorgetäuscht.«

»Dir gefällt lediglich das Warten nicht«, sagte Luet. »Aber genauso ist es mit meiner Schwangerschaft. Ich hätte es gern hinter mir. Ich hätte gern das Baby. Aber es dauert seine Zeit, und so warte ich.«

»Du wartest, aber du spürst die Veränderung in dir.«

»Weil ich alles erbreche, was ich essen.«

»Nicht alles«, sagte Nafai, »und du weißt genau, was ich meine. Ich spüre keine Veränderungen, ich bin völlig überflüssig …«

»Ohne dich hätten wir weniger zu essen.«

»Na schön, du hast gewonnen. Ich bin wichtig, ohne mich kommt ihr nicht aus, ich habe furchtbar viel zu tun, also muß ich glücklich sein.« Er ging davon.

Sie überlegte, ob sie ihn zurückrufen sollte, aber das wäre sinnlos gewesen. Er wollte unglücklich sein, und wenn sie ihn aufzuheitern versuchte, würde sie ihm nur einen Strich durch die Rechnung machen. Tante Rasa hatte ihr erst vor ein paar Tagen gesagt, es könne nicht schaden, sich daran zu erinnern, daß Nafai noch immer nur ein Junge war und sie nicht damit rechnen dürfe, er würde sich für sie als reifer Mann, als Turm der Stärke erweisen. »Ihr wart beide zu jung, um zu heiraten«, hatte Rasa gesagt, »aber die Ereignisse haben uns überrollt. Es hat sich gezeigt, daß du der Herausforderung gewachsen bist — und mit der Zeit wird auch Njef an ihr wachsen.«

Aber Luet war sich gar nicht so sicher, daß sie irgendeiner Herausforderung gewachsen war. Sie hatte schreckliche Angst davor, hier draußen in der Wildnis, weit von den Ärzten der Stadt entfernt, ein Kind zu bekommen. Sie wußte nicht, ob sie in ein paar Monaten überhaupt noch etwas zu essen haben würden — alles hing von ihrem Garten und den Jägern ab, und in dieser Hinsicht taugten nur Elemak und Nafai etwas, wenngleich auch Obring und Vas gelegentlich mit Pulsatoren loszogen. Der Kolonie konnte jederzeit die Nahrung ausgehen, und sie, Luet, würde bald ein Baby bekommen. Und was, wenn alle sich dann plötzlich entschieden, weiterziehen zu müssen? Schon jetzt war ihr ständig schlecht, und wenn sie dann noch auf einem schwankenden Kamel reiten mußte … da würde sie lieber Kamelkäse essen.

Natürlich bewirkte der Gedanke an Kamelkäse, daß ihre Übelkeit zurückkehrte, und sie wußte, daß sie sich diesmal wohl übergeben mußte. Sie kniete wieder nieder. Langsam war sie der Qualen überdrüssig, die die scharfe Säure erzeugte, die von ihrem Magen in ihren Mund emporstieg. Ihr Hals schmerzte, ihr Kopf schmerzte, und sie war das alles so furchtbar leid.

Sie fühlte, daß Hände sie berührten, ihr Haar von ihrem Gesicht wegstrich, es hochhob und festhielt, damit kein Erbrochenes darauf gelangte. Sie wußte, daß es Nafai war, und wollte sich bedanken; gleichzeitig wollte sie, daß er ging, es war so erniedrigend und schrecklich und peinlich, sich übergeben zu müssen, während jemand zusah. Aber er war ihr Mann. Er gehörte zu ihr, und sie konnte ihn nicht wegschicken. Wollte ihn nicht einmal wegschicken.

Schließlich kam nichts mehr heraus.

»Nicht sehr wirksam«, sagte Nafai, »wenn wir von der Menge ausgehen.«

»Bitte halte die Klappe«, sagte Luet. »Ich will nicht aufgeheitert werden; ich will, daß mein Baby schon zehn Jahre alt ist, damit ich mich an diese ganze Sache als amüsantes Ereignis aus meiner schon lange zurückliegenden Kindheit erinnern kann.«

»Dein Wunsch sei dir gewährt«, sagte Nafai. »Das Baby ist da und zehn Jahre alt. Natürlich ist es ein unglaublich widerwärtiges und verzogenes Gör, genau wie du es mit zehn Jahren gewesen bist.«

»War ich nicht.«

»Du warst schon Wasserseherin, und wir alle wissen, daß du die Erwachsenen ständig herumkommandiert hast.«

»Ich habe ihnen gesagt, was ich gesehen habe, mehr nicht!« Dann merkte sie, daß er lachte. »Zieh mich nicht auf, Nafai. Ich weiß, daß es mir später leid tun würde, aber trotzdem verliere ich vielleicht die Beherrschung und bringe dich um.«

Er nahm sie in die Arme, und sie mußte den Kopf wegdrehen, damit er sie nicht küßte. »Nicht«, sagte sie. »Ich habe einen ganz schrecklichen Geschmack im Mund. Das wird dir bestimmt nicht gefallen.«

Also hielt er sie nur fest, und nach einer Weile fühlte sie sich besser.

»Ich denke die ganze Zeit über den Hüter der Erde nach«, sagte Nafai.

Das würde ich auch tun, wenn ich nicht immer an das Baby denken müßte, pflichtete Luet ihm stumm bei.

»Ich überlege, ob er vielleicht nicht nur einfach ein Computer ist«, sagte Nafai. »Daß er uns vielleicht nicht durch hundert Jahre alte Träume ruft, sondern uns vielleicht kennt und nur … nur auf etwas wartet, bevor er zu mir spricht.«

»Auf die Nachricht, die nur du empfangen kannst.«

»Das wäre mir egal«, sagte Nafai. »Daß nur ich sie empfangen kann. Ich wäre auch mit Vaters Traum zufrieden, nur um zu wissen, wie es sich in meinem Kopf anfühlt. Wie das, was der Hüter macht, sich von dem unterscheidet, was die Überseele in mir macht. Ich will es wissen.«

Das weiß ich. Du beschäftigst dich immer wieder damit, Tag für Tag.

»Ich habe versucht, mit dem Hüter der Erde zu sprechen. So verrückt bin ich schon! Zeig mir, was du Vater gezeigt hast! Ich sage es immer wieder.«

»Und er ignoriert dich.«

»Er ist hundert Lichtjahre entfernt!« sagte Nafai. »Er weiß nicht, daß es mich gibt.«

»Nun ja … wenn du nur denselben Traum wie Volemak haben willst, warum bittest du die Überseele nicht, ihn dir zu geben?«

»Er kam nicht von der Überseele.«

»Aber sie hat die gesamte Erfahrung im Verstand deines Vaters doch aufgezeichnet, oder? Und sie kann sie aufrufen und dir zeigen. Und da du mit der Hilfe des Index alles viel deutlicher empfangen würdest …«

»Dann wäre es so, als würde ich es selbst erfahren«, sagte Nafai. »Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Wieso ist die Überseele nicht darauf gekommen?«

»Sie ist nicht sehr kreativ. Das weißt du doch.«

»Sie ist überhaupt nicht kreativ«, sagte Nafai. »Aber du bist es.« Er küßte sie auf die Wange, umarmte sie noch einmal und sprang auf. »Ich muß mit der Überseele sprechen.«

»Grüße sie von mir«, sagte Luet nachsichtig.

»Ich … oh, ich verstehe. Ich kann warten. Gehen wir gemeinsam zurück.«

»Nein, wirklich … das war kein Wink mit dem Zaunpfahl. Ich möchte noch eine Weile hier bleiben. Vielleicht bekomme ich ja mit, ob sie Jobar wieder aufnehmen.«

»Verpaß das Abendessen nicht«, sagte Nafai. »Du ißt für …«

»Zwei«, sagte Luet.

»Vielleicht sogar für drei!« sagte Nafai. »Wer weiß?«

Da sie wußte, daß er dies hören wollte, stöhnte sie theatralisch auf. Dann lief er los, das Tal entlang zum Lager.

Er ist wirklich noch ein Junge, wie Tante Rasa es gesagt hat. Aber was bin ich? Etwa seine Mutter? Wohl kaum — sie ist seine Mutter. Ich darf nicht mehr von ihm erwarten — er arbeitet hart und gut, und über die Hälfte des Fleisches, das wir essen, hat er beschafft. Und er ist freundlich und sanft zu mir — ich weiß nicht, wie Issib netter und zärtlicher sein kann als Nafai, ganz gleich, was Schuja sagt. Und ich bin seine Freundin — er kommt zu mir und bespricht Dinge mit mir, die er mit keinem anderen bespricht, und wenn ich etwas sagen will, hört er zu und antwortet, ganz im Gegensatz zu einigen der anderen Männer; zumindest behaupten deren Frauen das. Nach allen Maßstäben, von denen ich je gehört habe, ist er ein guter Ehemann und reif über seine Jahre hinaus — aber ich habe etwas anderes erwartet. Als ich ihn über den See der Frauen brachte, dachte ich, dies würde bedeuten, daß wir beide, er und ich, große und majestätische Dinge tun würden. Ich habe gedacht, wir würden wie ein König und eine Königin sein — oder zumindest wie eine Hohepriesterin und ihr Priester — und mit unseren mächtigen und achtunggebietenden Taten das Universum verändern. Statt dessen übergebe ich mich häufig, und er schmollt wie ein Fünfzehnjähriger, dem es wirklich etwas ausmacht, daß ein Computer von einer anderen Welt ihm keine Träume schickt.

Oh, ich bin zum Denken zu müde. Mir ist zu schlecht, als daß es mir etwas ausmacht. Vielleicht wird meine Vorstellung von unserer Ehe sich eines Tages verwirklichen. Aber vielleicht verwirklicht er sie auch mit seiner zweiten Frau, nachdem ich mich zu Tode gekotzt habe und im Sand verscharrt wurde.

Schedemei hatte ihr ganzes Leben mit dem Bewußtsein verbracht, daß die Leute sie für seltsam hielten. Zuerst, weil sie als Kind so intelligent gewesen war, weil sie sich für Dinge interessiert hatte, für die Kinder sich eigentlich nicht interessieren sollten. Die Erwachsenen warfen ihr seltsame Blicke zu. Und auch die anderen Kinder, doch manchmal lächelten die Erwachsenen und nickten zustimmend, was die Kinder nie taten. Schedemei hatte gedacht, dies würde bedeuten, als Erwachsene würde sie voll akzeptiert werden, doch das Gegenteil war der Fall. Als sie erwachsen wurde, bedeutete dies nur, daß alle anderen Kinder jetzt im gleichen Alter waren und sie als Erwachsene behandelten wie früher. Natürlich erkannte sie jetzt, was sie sah: Furcht, Groll, Neid.

Neid! Konnte sie denn etwas dafür, daß sie eine Genkombination bekommen hatte, die ihr ein ausgezeichnetes Gedächtnis gab, eine besondere Fähigkeit, Vorstellungen zu begreifen und verstehen, und einen Verstand, der Zusammenhänge erkannte, die kein anderer sah? Sie hatte es sich doch nicht ausgesucht, zu geistigen Turnübungen imstande zu sein, die kein anderer, den sie je getroffen hatte, bewältigen konnte. (Es gab Menschen, die genauso intelligent wie sie waren, vielleicht sogar noch intelligenter, aber sie lebten in weit entfernten Städten oder sogar auf anderen Kontinenten, und sie kannte sie nur durch die Veröffentlichungen ihrer Arbeiten, die die Überseele in allen Städten verteilte.) Sie hatte keine bösen Absichten. Und sie war ganz bestimmt nicht imstande, ihre Fähigkeiten mit den Neidischen zu teilen — sie konnte ihnen nur die Produkte ihrer Arbeit zugänglich machen. Die nahmen sie zwar gerne, doch verabscheuten sie Schedemei selbst dann noch, eben weil sie sie ihnen zugänglich gemacht hatte.

Die meisten Leute — und zu dieser Erkenntnis war sie schon vor langer Zeit gelangt — verehrten Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten gern aus der Ferne, zogen es aber vor, völlig Unfähige zu Freunden zu haben. Und den meisten wurde dieser Wunsch natürlich erfüllt.

Doch nun war sie auf Dauer mit dieser kleinen Gemeinschaft aus sechzehn Menschen verbunden und mußte sich Tag für Tag mit ihnen abgeben. Sie machte ihre Arbeit — sie jätete den Garten, holte Wasser, beobachtete tagsüber die Paviane, um dafür zu sorgen, daß sie ihr Revier nicht verließen und sich über die Vorräte hermachten. Sie sprang gern für Luet ein, wenn dieser wieder schlecht war, und übernahm ohne Beschwerden die Aufgaben, für die Sevet zu faul und Kokor zu schwanger und Dol sich einfach zu schade war. Und doch paßte sie nicht zu ihnen, wurde nicht akzeptiert, war nicht Teil der Gruppe, und es wurde von Tag zu Tag nur schlimmer.

Es half auch nicht, daß sie genau begriff, was hier vor sich ging. Die monogame Verbindung zwischen Gatte und Ehefrau löst bei den anderen den Drang aus, sich genauso zu verbinden. Das wußte sie, darüber hatte sie gelesen. Die alten Muster der Werbung und die lockeren und einfachen Freundschaften bewirkten, daß die Verheirateten sich jetzt unbehaglich fühlten, weil sie nichts um sich haben wollten, das die Stabilität der monogamen Ehebande bedrohte. Die Unverheirateten waren immer ein Unsicherheitsfaktor, waren immer frei und willkürlich und zwanglos und verspielt.

Sicher, genauso hätten sich einige von ihnen gern noch benommen — Schedemei sah, wie die Monogamie Mebbekew und Obring, Sevet und Kokor aufrieb. Aber sie spielten jetzt die Rollen der Ehepartner, vielleicht sogar noch aggressiver als diejenigen, die wirklich welche sein wollten. Auf jeden Fall führte dies dazu, daß Schedemei von den anderen in ihrer Umgebung jetzt noch stärker abgeschnitten war, als es je zuvor der Fall gewesen war. Nicht, daß man sie mied. Huschidh und Luet waren so freundlich wie eh und je, und Eiadh benahm sich auf ihre Art auch anständig, während Tante Rasa sich überhaupt nicht geändert hatte — sie würde sich nie ändern. Doch die Männer waren allesamt … ja, was, höflich? Und Dol, Sevet und Kokor behandelten sie nicht mehr eiskalt, sondern mit säurehafter Schärfe.

Am schlimmsten war, daß diese kleine Gemeinschaft allmählich eine Form annahm, die sie von allem ausschloß. Warum sagten sie nicht mehr: ›Die Männer tun dieses, und die Frauen jenes.‹ Nun hieß es: ›Die Ehefrauen können hier bleiben, während die Männer aufbrechen‹. Es trieb sie manchmal in den Wahnsinn, daß die Frauen sich immer als Ehefrauen bezeichneten, die Männer aber nie als Ehemänner — sie waren noch immer Männer. Und als wären sie so dumm wie die Paviane, schienen die anderen Frauen nie zu begreifen, wovon Schedemei sprach, wenn sie darauf hinwies.

Natürlich merkten sie es, zumindest die klügeren, doch sie wollten kein großes Aufheben darum machen, weil … weil sie alle so ehefrauenhaft wurden. All diese Jahre in Basilika, wo die Frauen ihre Identität nicht aufgeben mußten, um einen Ehemann zu bekommen, und nun, nach sechs Wochen im Lager, benahmen sie sich wie nomadische Stammesfrauen! Die Kodierung, verheiratet durch das Leben zu gehen, muß so tief in unseren Genen liegen, daß wir sie nie überwinden können, dachte Schedemei. Aber ich wünschte, ich könnte dieses Gen finden. Ich würde es mit einer Maurerkelle ausgraben, ich würde es mit einer heißen Kohle ausbrennen, die ich mit den bloßen Fingern halte. Die-. Absurdität der Vorstellung, sich mit Hilfe so stumpfer Instrumente mit Genen zu befassen, störte sie nicht. Ihre Wut darüber, wie unfair die Dinge doch waren, ging über jene Vernunft hinaus.

Ich wollte nicht heiraten, noch lange nicht, und selbst wenn ich geheiratet hätte, wäre es nur ein Einjahresvertrag gewesen, gerade so lange, daß ich schwanger geworden wäre, und dann hätte ich den Ehemann fortgeschickt, ihm nur noch seine natürlichen Rechte bezüglich des Kindes gewährt. In meinem Leben war kein Platz für eine Verbindung mit einem Mann. Und falls ich geheiratet hätte, dann jedenfalls keinen schwächlichen Archivar ohne Rückgrat, der in einer Truppe, die nur aus Herren bestand, freiwillig den Diener spielte.

Schedemei hatte das Lager mit dem Vorsatz betreten, das beste aus einer schlimmen Lage zu machen, doch je öfter sie Zdorab sah, desto weniger mochte sie ihn. Sie hätte ihm vielleicht vergeben können, wie er in diese Gesellschaft gekommen war — Nafai hatte ihn überlistet, den Index aus der Stadt zu bringen, und ihn dann gezwungen, den Eid abzulegen, sie in die Wüste zu begleiten. Man konnte einem Mann verzeihen, sich zu einer Zeit der Anspannung und Unsicherheit und Überraschung so unmännlich verhalten zu haben. Doch als sie hier eintraf, hatte sie herausgefunden, daß Zdorab eine so entwürdigende Rolle übernommen hatte, daß sie sich schämte, zur selben Spezies wie er zu gehören. Er erledigte nicht nur alle Aufgaben, die kein anderer übernehmen wollte — die Latrinen abdecken, neue graben, Issibs Ausscheidungen beseitigen, kochen, waschen. Eigentlich respektierte sie hilfsbereite Menschen — sie waren ihr unter Garantie lieber als faule Subjekte wie Meb und Obring, Kokor, Sevet und Dol. Nein, sie empfand eine solche Verachtung für Zdorab wegen der Einstellung, mit der er all diese Arbeiten erledigte. Er bot sich nicht an, sie zu tun, zog nicht einmal in Betracht, die eine oder andere abzulehnen; er tat einfach so, als wäre es ganz natürlich, daß er die schlechtesten Arbeiten im Lager ausführte, und erledigte diese Aufgaben dann so still, so unsichtbar, daß schon bald alle es als gegeben hinnahmen, daß Zdorab die widerwärtigen oder unerträglich langweiligen Aufgaben übernahm.

Er ist ein natürlicher Diener, dachte Schedemei. Der geborene Sklave. Ich hätte nie gedacht, daß es solch einen Menschen gibt, aber es gibt ihn, und es ist Zdorab, und die anderen haben entschieden, daß er mein Gatte sein soll!

Schedemei verstand einfach nicht, wieso die Überseele Zdorab durch den Index einen so leichten Zugang zu ihrem Speicher bot. Außer, auch die Überseele wollte einen Diener haben. Vielleicht hat die Überseele das am liebsten — Menschen, die sich wie Diener benehmen. Sind wir alle deshalb hier draußen — um der Überseele zu dienen? Um ihre Arme und Beine zu sein, damit sie zur Erde zurückkehren kann? Wir alle sind Sklaven … bis auf mich.

Zumindest hatte Schedemei sich dies die ganzen Wochen über gesagt, bis ihr dann endlich klar wurde, daß auch sie allmählich in die Dienstbotenkategorie fiel. Es kam ihr an diesem Tag in den Sinn, als sie Wasser vom Bach zum Lager trug, damit Zdorab kochen und waschen konnte. Sie hatte diese Aufgabe bislang gemeinsam mit Huschidh und Luet erledigt, doch nun war Luet zu schwach, weil sie sich ständig übergeben mußte — sie hatte Gewicht verloren, und das war schlecht für das Kind —, und Huschidh pflegte sie, und so mußte Schedemei die Arbeit allein bewältigen. Sie wartete darauf, daß Rasa bemerkte, daß sie das Wasser ganz allein schleppte, und dann sagte: »Sevet, Dol, Eiadh, legt euch die Schultertrage auf und holt Wasser her! Übernehmt euren entsprechenden Anteil an der Arbeit!« Doch Rasa sah, daß Schedemei das Wasser jetzt jeden Tag allein schleppte, sah, wie sie es an Sevet und Kokor vorbei trug, die dort saßen und sich unterhielten, während sie so taten, als würden sie Kamelhaare zu Tauen flechten, und Tante Rasa sagte kein Wort.

Hast du vergessen, wer ich bin? wollte sie schreien. Weißt du nicht mehr, daß ich die größte Wissenschaftlerin Basilikas in dieser Generation bin? Seit zehn Generationen?

Aber sie kannte die Antwort und mußte es deshalb nicht rufen. Tante Rasa hatte es vergessen, weil dieses Lager eine neue Welt war, in der es keine Rolle mehr spielte, was man in Basilika oder irgendwo sonst gewesen war. In diesem Lager war man entweder eine Ehefrau, oder man war keine, und wenn man keine war, war man nichts.

Und deshalb machte sie sich an diesem Tag, nachdem sie ihre Arbeit erledigt hatte, auf die Suche nach Zdorab. Ob nun Diener oder nicht, er war der einzige Mann, der noch zur Verfügung stand, und sie war es leid, in dieser unendlich kleinen Nation eine Bürgerin zweiter Klasse zu sein. Die Ehe würde bedeuten, daß sie sich der neuen Ordnung unterwarf; sie war gleichbedeutend mit einer weiteren Art von Knechtschaft, und für ihren Ehemann würde sie lediglich Verachtung empfinden. Aber das wäre noch immer besser, als einfach zu verschwinden.

Natürlich bekam sie eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, was er mit ihrem Körper anstellen würde. Sie mußte ständig daran denken, daß Luet sich ununterbrochen übergab — das ist das Resultat, wenn man sich von Männern behandeln läßt, als wäre man eine Bank, in der sie ihren schwachen kleinen Samen deponieren können.

Nein, so empfinde ich eigentlich gar nicht, dachte Schedemei. Ich bin nur wütend. Das Teilen von genetischem Material ist elegant und wunderschön; es ist mein Leben. Die Anmut, mit der Eidechsen sich paaren; das Männchen besteigt das Weibchen und hält sich an ihm fest, und sein langer, schlanker Penis umschlingt das Weibchen und sucht die Öffnung und ist dabei so geschickt und flink wie der Arm eines Pavian. Der Tanz der Tintenfische, deren Armspitzen sich berühren; das Erzittern der Lachse, wenn sie die Eier und dann den Samen auf den Grund des Baches fallen lassen; das alles ist wunderschön, gehört zum Ballett des Lebens.

Aber die Weibchen haben immer irgendeine Wahl. Zumindest die starken Weibchen, die klugen. Sie geben ihre Eier dem Männchen, das ihnen die beste Überlebensaussicht bietet — dem starken Männchen, dem dominanten, aggressiven, intelligenten Männchen, aber keinem sich duckenden Sklaven. Ich will nicht, daß meine Kinder Sklavengene haben. Es wäre besser, gar keine Kinder zu haben, als jahrelang zu beobachten, wie sie aufwachsen und sich immer mehr wie Zdorab benehmen, so daß ich mich schon schäme, wenn ich sie sehe.

Deshalb fand sie sich vor der Tür des Indexzeltes wieder, bereit, hineinzugehen und Zdorab eine Art Halbehe vorzuschlagen. Weil sie solche Verachtung für ihn empfand, sollte es eine Ehe ohne Sex und ohne Kinder sein. Und weil er so verachtenswert war, rechnete sie damit, daß er sich einverstanden erklärte.

Er saß auf dem Teppich, die Beine übereinander geschlagen, den Index auf dem Schoß, die Hände auf der Kugel ruhend, die Augen geschlossen. Er verbrachte jeden freien Augenblick mit dem Index — aber da er nur so wenige Freizeit hatte, war er gar nicht so oft hier. Meistens war Issib bei ihm, doch am Spätnachmittag hütete Issib den Garten — der lange Arm seines Stuhls war ziemlich wirksam, wenn es darum ging, die Paviane daran zu hindern, sich an den Melonen gütlich zu tun, und er hatte mit ihm schon Vögel aus der Luft geschlagen. Zu dieser Zeit war Zdorab allein mit dem Index, und der einzige Respekt, den die Gruppe ihm erwies, bestand darin, ihn dann in Ruhe zu lassen — vorausgesetzt, das Abendessen köchelte bereits vor sich hin, und niemand sonst wollte den Index benutzen. In diesem Fall wurde Zdorab dann beiläufig verscheucht.

Als sie ihn dort mit geschlossenen Augen sitzen sah, hätte sie fast geglaubt, daß er mit dem großen Verstand der Überseele kommunizierte. Aber dafür hatte er natürlich nicht den nötigen Grips. Er prägte sich wahrscheinlich nur die Haupteinträge des Index ein, damit er Wetschik oder Nafai oder Luet oder Schedemei helfen konnte, die Informationen zu finden, die sie suchten. Selbst bei dem Index war Zdorab nicht mehr als ein Diener.

Er sah auf. »Willst du den Index benutzen?« fragte er nachsichtig.

»Nein«, sagte sie. »Ich will mit dir sprechen.«

Erschauderte er? Eine schnelle, unwillkürliche Bewegung seiner Schultern? Nein, er hatte nur mit den Achseln gezuckt, mehr nicht.

»Ich habe erwartet, daß du mich irgendwann sprechen willst.«

»Alle erwarten es, und deshalb bin ich bis jetzt noch nicht zu dir gekommen.«

»Na schön«, sagte er. »Und warum jetzt?«

»Weil ersichtlich ist, daß in dieser Gemeinschaft die Unverheirateten im Lauf der Zeit immer mehr in Vergessenheit geraten werden. Du magst damit zufrieden sein, ich aber nicht.«

»Mir ist nicht aufgefallen, daß du in Vergessenheit gerätst«, sagte Zdorab. »Bei den Beratungen hört man auf deine Stimme.«

»Sie hören mir geduldig zu«, sagte Schedemei. »Aber ich habe keinen Einfluß.«

»Niemand hat Einfluß«, sagte er. »Dies ist die Expedition der Überseele.«

»Ich habe mir schon gedacht, daß du es nicht verstehst«, sagte Schedemei. »Stelle dir diese Gemeinschaft einmal als Pavianherde vor. Du und ich, wir werden immer weiter an den Rand der Herde getrieben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir nichts mehr sind.«

»Aber das spielt doch nur eine Rolle, wenn man unbedingt jemand sein will.«

Schedemei konnte kaum glauben, daß er es mit solchen Worten ausdrückte. »Ich weiß, daß du völlig ohne Ehrgeiz bist, Zdorab, aber ich habe nicht vor, als Mensch einfach so zu verschwinden. Und mein Vorschlag ist ganz einfach. Wir lassen einfach von Tante Rasa die Zeremonie durchführen, wir teilen ein Zelt, und das ist es dann auch schon. Niemand muß wissen, was zwischen uns geschieht. Ich will keine Kinder von dir haben, und mir liegt nicht besonders viel an deiner Gesellschaft. Wir schlafen einfach in einem Zelt und werden nicht mehr an den Rand der Herde gedrängt. So einfach ist das. Einverstanden?«

»Na schön«, sagte Zdorab.

Sie hatte damit gerechnet, daß er dies sagte, daß er mitspielte. Aber wie er es gesagt hatte … Etwas sehr Unterschwelliges schwang in seinen Worten mit.

»Du hast es so haben wollen«, sagte sie.

Er sah sie verständnislos an.

»Du hast es von Anfang an so haben wollen.«

Und wieder etwas in seinem Blick …

»Und du hast Angst.«

Plötzlich blitzte es in seinen Augen wütend auf. »Jetzt hältst du dich für Huschidh, was? Du glaubst zu wissen, wie die Menschen zusammenpassen.«

Sie hatte noch nie gesehen, daß er wütend geworden war. Nicht einmal unterschwelligen Zorn hatte sie bemerkt, und ganz bestimmt keine heiße, aufblitzende Verachtung, wie sie sie jetzt erlebte. Sie hätte nie vermutet, daß es in Zdorab so eine Seite gab. Aber deshalb konnte sie ihn noch lange nicht besser leiden. Sein Verhalten erinnerte sie an das wütende Knurren eines geprügelten Hundes.

»Mir ist es wirklich gleichgültig«, sagte sie, »ob du mit mir schlafen willst oder nicht. Ich habe mich nie für Männer attraktiv gemacht — so etwas tun Frauen, die der Welt außer zwei Brüsten und einem Uterus nichts zu bieten haben.«

»Ich habe dich immer wegen deiner Arbeiten über die Genetik geschätzt«, sagte Zdorab. »Besonders wegen deiner Studie über genetische Abweichung bei sogenannten stabilen Spezies.«

Darauf hatte sie keine Antwort. Ihr war nie in den Sinn gekommen, daß jemand aus dieser Gruppe ihre wissenschaftlichen Veröffentlichungen gelesen, geschweige denn verstanden hätte. Sie alle hielten sie für eine Wissenschaftlerin, die wertvolle genetische Veränderungen erzeugen konnte, die man dann in fernen Städten verkaufen konnte — das war die Beziehung, die sie jahrelang mit Wetschik und seinen Söhnen gehabt hatte.

»Wenngleich ich bedauert habe, daß du damals noch keinen Zugang zu den genetischen Aufzeichnungen im Index hattest. Da er die genauen genetischen Kodes enthält, die die verschiedenen Spezies hatten, als sie die Schiffe von der Erde verließen, hätte er mehrere deiner Auffassungen bestätigen können.«

Sie war wie vor den Kopf geschlagen. »Der Index enthält solche Informationen?«

»Ich habe sie vor ein paar Jahren gefunden. Der Index wollte sie mir nicht geben. Mittlerweile kenne ich den Grund. Einiges der genetischen Informationen in seinem Speicher könnte man militärisch nutzen — man könnte Seuchen damit erzeugen. Aber es gibt Möglichkeiten, einige seiner Vorsichtsmaßnahmen zu umgehen. Ich habe sie gefunden. Ich war mir aber nie sicher, was die Überseele davon hält.«

»Und das sagst du mir erst jetzt?«

»Du hast mir nicht gesagt, daß du deine Forschungen fortsetzen willst«, sagte Zdorab. »Du hast diese Forschungsergebnisse vor Jahren veröffentlicht, als du frisch aus der Schule kamst. Es war dein erstes ernsthaftes Projekt. Ich nahm an, du wärst zu anderen Themen übergegangen.«

»Du benutzt den Index also für genetische Forschungen?«

Zdorab schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wozu dann? Was hast du gerade studiert, als ich das Zelt betrat?«

»Die wahrscheinlichen Muster der Kontinentalverschiebung auf der Erde.«

»Auf der Erde? Die Überseele hat derart spezifische Informationen über die Erde?«

»Die Überseele wußte nicht, daß sie diese Information hatte. Ich mußte sie ihr gewissermaßen entlocken. Der Überseele sind nämlich ziemlich viele Dinge verborgen. Aber der Index hat den Schlüssel. Die Überseele war bei einigen Dingen, die ich in ihren Speichern gefunden habe, ziemlich verblüfft.«

Schedemei war so überrascht, daß sie lachen mußte.

»Du hältst das wohl für lustig«, sagte Zdorab. Er klang keineswegs amüsiert.

»Nein, ich wollte nur …«

»Es überrascht dich, daß ich außer dem Backen von Brot und dem Begraben von Fäkalien noch zu etwas anderem zu gebrauchen bin.«

Er hatte ihre vorhergehende Einstellung so genau getroffen, daß sie wütend wurde. »Es überrascht mich, daß du weißt, daß du nicht nur dazu imstande bist.«

»Du hast keine Ahnung, was ich von mir oder anderen weiß oder halte. Und du hast auch nicht versucht, es herauszufinden«, sagte Zdorab. »Du bist hier hereingekommen wie die oberste Göttin aller Pantheons und hast dich herabgelassen, mir die Ehe anzubieten, solange ich dich nicht anfasse, und erwartest auch noch, daß ich dankbar akzeptiere. Nun ja, das habe ich getan. Und du kannst mich weiterhin behandeln, als gäbe es mich gar nicht, das stört mich nicht weiter.«

Sie hatte sich noch nie zuvor in ihrem Leben so geschämt. Obwohl sie nicht ausstehen konnte, daß alle anderen Zdorab behandelten, als wäre er gar nicht da, hatte sie ihn genauso behandelt. Und über seine Gefühle hatte sie keinen Gedanken verschwendet, als wären sie völlig unwichtig. Doch nachdem sie ihn nun mit ihrem geringschätzigen Eheangebot erzürnt hatte, war sie der Ansicht, ihm Unrecht zugefügt zu haben und es wiedergutmachen zu müssen. »Es tut mir leid«, sagte sie.

»Mir nicht«, sagte Zdorab. »Wir vergessen dieses Gespräch einfach, heiraten heute abend und müssen dann nicht mehr miteinander sprechen-Einverstanden?«

»Du magst mich wirklich nicht«, sagte Schedemei.

»Als ob es dich, auch nur einen Augenblick lang gekümmert hätte, ob ich oder ein anderer dich mag, solange wir dich nur nicht von deiner Arbeit abhalten.«

Schedemei lachte. »Du hast recht.«

»Anscheinend lernen wir beide uns jetzt besser kennen, aber dabei hat einer von uns mehr geleistet als der andere.«

Sie nickte und akzeptierte den Tadel. »Natürlich werden wir uns wieder unterhalten müssen.«

»Ach ja?«

»Du mußt mir zeigen, wie ich an diese Informationen über die Erde herankomme.«

»Die genetischen Daten?«

»Und die Kontinentalverschiebung. Du vergißt, daß ich Samen mitführe, die einige auf der Erde ausgestorbene Spezies ersetzen sollen. Ich muß die Form der Landmassen kennen. Und noch viel mehr.«

Er nickte. »Das kann ich dir zeigen. Solange dir klar ist, daß ich dir nur vierzig Millionen Jahre alte Extrapolationen anbieten kann. Vielleicht ist das alles hinfällig — ein kleiner Fehler am Anfang hätte mittlerweile riesige Ausmaße angenommen.«

»Du weißt doch, ich bin Wissenschaftlerin«, sagte sie.

»Und ich Bibliothekar«, sagte Zdorab. »Ich zeige dir gern, wie du an die Informationen über die Erde herankommst. Gewissermaßen durch die Hintertür — ich fand einen Weg durch die Informationen über die Landwirtschaft, über die Schweinezucht, so unglaublich es klingt. Deine Art von Arbeit trägt dazu bei, daß man sich für einfach alles interessiert. Komm, nimm mir gegenüber Platz und lege die Hand auf den Index. Ich hoffe, du bist für ihn empfänglich.«

»Einigermaßen«, sagte Schedemei. »Wetschik und Nafai haben mir alles erklärt, und ich habe bereits Informationen nachgeschlagen. Hauptsächlich arbeite ich jedoch mit meinem Computer. Ich war der Ansicht, bereits alles zu wissen, was der Index über mein Spezialgebiet enthält.«

Sie nahm ihm gegenüber Platz, er legte den Index zwischen sie, und beide beugten sich vor, stützten die Ellbogen auf den Knien ab und legten die Hände auf die goldene Kugel. Ihre Hände berührten die seinen, aber er zog sie nicht zurück, und sie zitterten auch nicht. Es waren einfach kühle, ruhige Hände, als habe er die Berührung gar nicht bemerkt.

Sie vernahm augenblicklich die Stimme des Index, die Zdorabs Fragen beantwortete und die Namen von Pfaden und Dateien und Unterdateien im,Speicher der Überseele nannte. Doch noch während die Namen aufklangen, verlor sie den Faden, denn seine Finger berührten die ihren. Nicht, daß sie etwas für ihn empfand; sie störte, daß er nichts für sie empfand. Er wußte seit über einem Monat, daß sie seine Frau werden würde oder man dies zumindest von ihnen erwartete; er hatte sie beobachtet, das hatte er ganz bestimmt. Und doch konnte sie nicht einmal einen Funken von Begierde feststellen. Er hatte ihr Verbot von sexuellen Beziehungen zwischen ihnen ohne einen Anflug von Bedauern hingenommen. Und er ertrug ihre Berührung, ohne das geringste Anzeichen von sexueller Spannung zu zeigen.

Schedemei war sich nie häßlicher und weniger begehrenswert vorgekommen als in diesem Augenblick. Es war absurd t — noch vor ein paar Minuten hatte sie solche Verachtung für diesen Mann empfunden, daß ihr schlecht geworden wäre, hätte er irgendein sexuelles Interesse an ihr gezeigt. Aber er war jetzt nicht mehr derselbe, er war jetzt eine viel interessantere Person, eine intelligente Person mit einem Verstand und einem Willen, und obwohl sie ihm nicht unbedingt große Liebe oder auch nur sexuelles Verlangen entgegenbrachte, hatte sie soviel neuen Respekt für ihn, daß sein völliger Mangel an Begehren für sie schmerzhaft war.

Eine neue Wunde an der gleichen alten Stelle, die den zerbrechlichen Schorf und die alten Narben aufriß, und sie blutete erneut wegen der Schande, eine Frau zu sein, die kein Mann haben wollte.

»Du bist unaufmerksam«, sagte Zdorab.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

Er erwiderte nichts darauf. Sie öffnete die Augen. Er sah sie an.

»Nichts«, sagte sie und wischte die Träne weg, die an ihrer unteren Wimper hing. »Ich wollte dich nicht ablenken. Können wir von vorn anfangen?«

Aber er sah nicht wieder auf den Index. »Es ist nicht so, daß ich dich nicht begehre, Schedemei.«

Was? War ihr Herz nackt, daß er durch ihre Vortäuschungen und direkt in die Quelle ihres Schmerzes sehen konnte?

»Ich begehre überhaupt keine Frau.«

Sie brauchte einen Augenblick lang, bis sie begriffen hatte. Dann lachte sie. »Du bist ein Zhop.«

»Das ist wirklich ein altes Wort für den menschlichen Anus«, sagte Zdorab ruhig. »Manche wären verletzt, wenn man sie mit so einem Ausdruck belegt.«

»Aber niemand ahnt etwas«, sagte sie.

»Ich habe mich peinlich darum bemüht, daß niemand etwas ahnt«, sagte Zdorab, »und ich lege mein Leben in deine Hände, indem ich es dir verrate.«

»Ach, so dramatisch ist das doch nicht.«

»Zwei meiner Freunde wurden in der Hundestadt getötet.«

In der Hundestadt mußten die Männer wohnen, die in Basilika keine Frau hatten; es war verboten, daß ledige Männer in der Stadt wohnten oder auch nur über Nacht dort blieben.

»Einer wurde von einem Mob ergriffen. Die Leute hatten gehört, daß er ein Zhop war, ein Päderast. Sie hingen ihn an den Füßen an einem Fenster im ersten Stock auf, schnitten seine Geschlechtsteile ab und schlitzten ihn dann mit Messern auf. Der andere wurde von einem Mann hereingelegt, der so tat, als wäre er … einer von uns. Er wurde verhaftet, aber auf dem Weg zum Gefängnis hatte er einen Unfall. Und es war ein überaus seltsamer Unfall. Er unternahm einen Fluchtversuch, und irgendwie rutschte er aus, und beim Fallen lösten sich irgendwie seine Hoden und wurden in seine Kehle gedrückt, wahrscheinlich mit einem Besenstil oder mit einem Speergriff, und er erstickte daran, bevor jemand ihm zu Hilfe eilen konnte.«

»So etwas haben sie getan?«

»Oh, ich verstehe sogar, warum. Basilika war ein schwieriger Ort für Männer. Verstehst du, wir haben einen angeborenen Drang zur Dominanz, aber in Basilika mußten wir uns mit der Tatsache abfinden, daß wir keine Kontrolle hatten, außer, wir hatten Einfluß auf eine Frau. Die Männer, die außerhalb der Mauern in der Hundestadt lebten, waren allein durch die Tatsache, daß sie nicht in der Stadt lebten, als Männer zweiter Klasse gebrandmarkt, als Männer, die die Frauen nicht haben wollten. Die Männer aus der Hundestadt lebten mit der ständigen Unterstellung, keine richtigen Männer zu sein, einer Frau kein Vergnügen bereiten zu können. Ihre Identität als Männer stand in Frage. Und so hat die Furcht und der Haß auf Zhops« — er sprach das Wort mit versengender Verachtung aus — »Ausmaße erreicht, von denen ich nirgendwo sonst gehört habe.«

»Diese Freunde waren deine … waren sie deine Liebhaber?«

»Der eine, den man verhaftet hat — er war seit einigen Wochen mein Liebhaber, und er wollte die Beziehung fortsetzen, aber das ließ ich nicht zu. Ich hatte Angst, wenn wir weitermachten, würden die Leute vermuten, was es mit uns auf sich hatte. Um unser Leben zu retten, weigerte ich mich, ihn wiederzusehen. Er ging direkt von mir in die Falle. Du siehst also, Nafai und Elemak sind nicht die einzigen, die schon jemanden getötet haben.«

Der Schmerz und die Trauer, die er zeigte, schienen tiefer als alles andere zu sein, was Schedemei je wahrgenommen hatte. Zum erstenmal wurde ihr klar, wie behütet ihr Leben als Wissenschaftlerin gewesen war. Sie hatte nie eine so enge Beziehung zu jemandem gehabt, daß sie wegen seines Todes so starke Gefühle gehabt hätte, und das nach so langer Zeit. Falls es schon so lange her war. , »Wie lange ist es her?«

»Ich war zwanzig. Vor neun Jahren. Nein, vor zehn. Ich hatte ganz vergessen, ich bin ja jetzt dreißig.«

»Und der andere?«

»Ein paar Monate, bevor ich … die Stadt verließ.«

»Er war auch dein Liebhaber?«

»O nein, er war in dieser Hinsicht nicht wie ich. Er hatte ein Mädchen in der Stadt, aber er wollte es geheimhalten, und deshalb hat er nicht darüber gesprochen — sie führte eine schlechte Ehe und zählte die Tage bis zu ihrem Ende, und deshalb sprach er nie über sie. So kam es überhaupt erst zu den Gerüchten, er sei ein Zhop. Er starb, ohne es ihnen zu verraten.«

»Das ist wohl … tapfer und galant.«

»Es war unglaublich dumm«, sagte Zdorab. »Er hat mir nie geglaubt, als ich ihm erzählte, wie schrecklich es in Basilika für Männer wie mich war.«

»Du hast ihm erzählt, was du bist?«

»Ich hielt ihn für einen Mann, der ein Geheimnis für sich behalten konnte. Es hat sich herausgestellt, daß dem so war. Ich glaube irgendwie … daß er an meiner Stelle gestorben ist. Damit ich noch lebte, als Nafai kam, um den Index aus der Stadt zu bringen.«

Das ging so weit über alles hinaus, was sie je erlebt hatte — über alles, was sie sich je hatte vorstellen können! »Warum bist du denn dort geblieben? Warum bist du nicht an einen Ort gezogen, der nicht so … schrecklich ist?«

»Zuerst einmal … es mag zwar Orte geben, die nicht so schlecht sind, aber ich kenne keinen, in dem jemand wie ich wirklich sicher wäre. Und zweitens war der Index in Basilika. Nun, da der Index hier draußen ist, hoffe ich, daß die Stadt bis auf die Grundmauern niederbrennt. Ich wünschte, Muuzh hätte jeden einzelnen der herumstolzierenden Männer aus der Hundestadt getötet.«

»Der Index war so wichtig für dich, daß du bei ihm bleiben wolltest?«

»Ich erfuhr von seiner Existenz, als ich noch ein kleiner Junge war. Nur eine Geschichte, es gäbe da eine Zauberkugel, und wenn man die in der Hand hielt, könnte man mit Gott sprechen, und er mußte einem jede Frage beantworten, die man stellte. Wie schön, dachte ich. Und dann sah ich ein Bild des Index der Palwaschantu, und er sah genauso aus, wie ich mir diese Zauberkugel vorgestellt hatte.«

»Aber das ist kein Beweis«, sagte Schedemei. »Das ist der Traum eines Kindes.«

»Das weiß ich. Das wußte ich auch damals schon«, sagte Zdorab. »Doch stellte ich fest, ohne es zu wollen, begann ich mich vorzubereiten, und zwar auf den Tag, da ich die Zauberkugel haben würde. Ich dachte darüber nach, welche Fragen es wert sind, daß man Gott um ihre Beantwortung bittet. Und noch immer, ohne es zu wollen, traf ich Entscheidungen, die mich näher und näher zu Basilika führten, zu dem Ort, in dem die Palwaschantu ihren heiligen Index aufbewahrten. Gleichzeitig half mir die Tatsache, ein fleißiger junger Mann zu sein, meinen … Defekt zu verbergen. Mein Vater hat immer gesagt: ›Du mußt die Bücher jetzt mal beiseite legen, losziehen und dir Freunde suchen! Such dir eine Freundin! Wie willst du je heiraten, wenn du keine Mädchen kennenlernst?‹ Als ich nach Basilika kam, schrieb ich ihm immer über meine Freundinnen, und er fühlte sich gleich viel besser, wenngleich er mir immer wieder sagte, daß die Ehegebräuche in Basilika schrecklich und gegen die Natur wären. Er konnte wirklich nichts ausstehen, das gegen die Natur war.«

»Das muß weh getan haben«, sagte Schedemei.

»Eigentlich nicht«, sagte Zdorab. »Es ist gegen die Natur. Ich bin von diesem Baum des Lebens abgeschnitten, den Volemak gesehen hat, ich gehöre nicht zu der Kette — ich bin eine genetische Sackgasse. Ich glaube, ich habe einmal in der Arbeit einer Genetikstudentin gelesen, die Vermutung sei nicht unvernünftig, Homosexualität könne ein Mechanismus sein, mit dem die Natur schadhafte Gene ausmerzt. Der Organismus könne eine ansonsten nicht feststellbare genetische Schwäche erkennen, und dadurch werde ein Mechanismus ausgelöst, der das Wachstum des Hypothalamus hemmt, so daß Wesen mit starkem Sexualtrieb, aber der Unfähigkeit entstehen, sich auf das andere Geschlecht zu fixieren. Eine Art selbstschließende Wunde im Genpool. Wir seien, so stand es in dem Artikel, der Ausschuß der Menschheit.«

Schedemei errötete zutiefst — ein Gefühl, das sie nur selten hatte und gar nicht mochte. »Das war eine Studentenarbeit. Ich habe sie nie außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde veröffentlicht. Es war eine Spekulation.«

»Ich weiß«, sagte er.

»Wie hast du sie überhaupt gefunden?«

»Als mir klar wurde, daß man von mir erwartete, dich zu heiraten, habe ich alles gelesen, was du veröffentlicht hast. Ich wollte herausfinden, was ich dir sagen kann und was nicht.«

»Und zu welchem Schluß bist du gekommen?«

»Daß ich meine Geheimnisse lieber für mich behalte. Deshalb habe ich nie mit dir gesprochen, und deshalb war ich so erleichtert, daß du mich nicht haben wolltest.«

»Aber jetzt hast du es mir gesagt.«

»Weil ich sah, es hat dich verletzt, daß ich dich nicht haben wollte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Du bist mir nicht wie jemand vorgekommen, der die Liebe eines verachtenswerten Wurms wie mich haben will.«

Es wurde immer schlimmer. »War meine Einstellung so offensichtlich?«

»Überhaupt nicht«, sagte er. »Ich habe mein Wurmdasein absichtlich kultiviert. Ich habe schwer daran gearbeitet, das unauffälligste, verachtenswerteste, rückgratloseste Wesen zu werden, das die Mitglieder dieser Gruppe jemals kennen werden.«

Als sie nun daran dachte, was mit seinen beiden Freunden geschehen war, begriff sie. »Tarnung«, sagte sie. »Wenn du alleinstehend bleiben wolltest, ohne daß jemand ahnt, was du bist, mußtest du geschlechtslos sein.«

»Rückgratlos.«

»Aber Zdorab, wir sind nicht mehr in Basilika.«

»Wir tragen Basilika in uns. Sieh dir die Männer hier an. Sieh dir zum Beispiel Obring und Meb an: Ihr außerordentlicher Mangel an irgendwelchen Talenten verdammt sie dazu, in jeder Hackordnung, die man sich vorstellen kann, ganz unten zu stehen. Beide sind aggressiv und doch feige — sie sehnen sich danach, oben zu stehen, haben aber nicht den gesunden Menschenverstand, die großen Männer anzugreifen und von ihrem Podest zu holen. Deshalb sind sie dazu verdammt, Männern wie Elemak und Volemak und sogar Nafai zu folgen, obwohl er der jüngste ist, denn sie können keine Risiken eingehen. Stell dir nur vor, welche Wut sich in ihnen aufgestaut haben muß. Und dann stell dir vor, was sie tun würden, würden sie erfahren, daß ich das gräßliche Ding bin; das Verbrechen gegen die Natur; der unmännliche Mann; das perfekte Abbild von dem, was zu sein sie befürchten.«

»Volemak würde nicht zulassen, daß sie dir etwas tun.«

»Volemak wird nicht ewig leben«, sagte Zdorab. »Und ich vertraue mein Geheimnis nicht jenen an, die es nicht bewahren können.«

»Bist du dir bei mir ganz sicher?« fragte Schedemei.

»Ich habe mein Leben in deine Hände gelegt«, sagte Zdorab. »Aber nein, ich bin mir deiner gar nicht so sicher. Aber ob es dir nun gefällt oder nicht, wir wurden zusammengefügt. Also bin ich ein kalkuliertes Risiko eingegangen. Ich habe es dir gesagt, damit ich eine Person hier habe, die ich nicht belügen muß. Damit eine Person weiß, daß das, was ich zu sein scheine, nur ein Vorwand ist.«

»Ich werde dafür sorgen, daß sie dich nicht mehr so … so achtlos behandeln.«

»Nein!« rief Zdorab. »Nein, das darfst du nicht. Die Dinge werden für uns beide besser sein, sobald wir erst verheiratet sind — in dieser Hinsicht hast du recht. Aber du mußt dich damit abfinden, daß ich unsichtbar bleibe — so unsichtbar wie möglich. Glaube mir, ich weiß am besten, wie man damit umgeht — du hast es dir nicht vorstellen können, das hast du selbst gesagt, also mische dich nicht in meine Überlebensstrategie ein und versuche nicht, alles in Ordnung zu bringen, weil du mich damit letztlich nur töten würdest. Verstehst du das? Du bist brillant, einer der klügsten Geister unserer Zeit, aber über diese Situation weißt du überhaupt nichts, du bist hoffnungslos unwissend, du wirst alles zerstören, was du berührst, also laß die Hände davon.«

Er sprach mit unglaublicher Vehemenz und Kraft. Sie hätte nicht gedacht, daß er dazu imstande war. Sie verabscheute es, so heftig zurechtgewiesen zu werden. Aber als sie darüber nachdachte, statt aus dem Bauch heraus zu reagieren, wurde ihr klar, daß er recht hatte. Daß sie, zumindest im Augenblick, wirklich keine Ahnung hatte und es am besten war, ihn die Dinge so handhaben zu lassen, wie er es für das beste hielt.

»Na schön«, sagte sie. »Ich werde nichts sagen, ich werde nichts unternehmen.«

»Niemand erwartet, daß du stolz darauf bist, meine Ehefrau zu sein«, sagte Zdorab. »Im Gegenteil, sie alle werden es für ein edles Opfer halten. Wenn du meine Frau wirst, verlierst du also nicht an Status. Sie werden sich sogar für eine Art Heldin halten.«

Sie lachte verbittert. »Zdorab, dafür habe auch ich mich gehalten.«

»Ich weiß«, sagte er. »Aber so habe ich es nicht gesehen. Ich habe sogar darauf gehofft … Stell dir vor, ich habe das Recht, jede Nacht mit dem schärfsten wissenschaftlichen Verstand auf dem Planeten Harmonie allein in einem Zelt zu sein … jede Nacht … und wir können uns die ganze Zeit über unterhalten!«

Es war so bezaubernd schmeichelnd und gleichzeitig, aus Gründen, die sie noch nicht ganz erfassen konnte, irgendwie tragisch.

»Das ist in gewisser Hinsicht auch eine Ehe, meinst du nicht auch? Wir werden zwar keine Kinder haben, wie die anderen, aber wir werden Gedanken haben. Du kannst mich unterrichten, du kannst mit mir über deine Arbeit sprechen, und wenn ich etwas nicht verstehe, werde ich mich mit Hilfe des Index weiterbilden, bis ich dir folgen kann. Das verspreche ich dir. Und vielleicht kann ich dir einiges über die Dinge erzählen, die ich im Index gefunden habe.«

»Das wäre sehr nett.«

»Wir können also Freunde sein«, sagte er. »Und damit wäre unsere Ehe besser als die der meisten anderen. Kannst du dir vorstellen, worüber Obring und Kokor sprechen?«

Sie lachte. »Glaubst du, sie sprechen überhaupt miteinander?«

»Und Mebbekew und Dol, die beide schauspielern und insgeheim einander zutiefst verabscheuen?«

»Nein, ich glaube nicht, daß Dol Mebbekew haßt. Ich vermute, sie glaubt wirklich an die Rolle, die sie spielt.«

»Wahrscheinlich hast du recht. Aber sie sind doch einfach schrecklich, meinst du nicht auch? Und sie werden Kinder bekommen!«

»Entsetzlich.«

Sie lachten lange und laut, bis Tränen über ihre Wangen liefen.

Die Tür wurde geöffnet. Es war Nafai.

»Ich habe in die Hände geklatscht«, sagte er, »aber ihr habt mich nicht gehört. Dann habe ich gehört, daß ihr lacht, und ich dachte, ich dürfte hereinkommen.«

Beide wurden augenblicklich wieder ernst. »Natürlich«, sagte Zdorab.

»Wir haben nur über unsere Ehe gesprochen«, sagte Schedernei.

Schedemei sah, daß die Erleichterung sich auf Nafais Gesicht ausbreitete, als wäre gerade der Schatten einer Wolke vorbeigezogen. »Ihr wollt also tatsächlich heiraten.«

»Wir waren nur so stur, zu warten, bis es unser eigener Wille war«, sagte Zdorab.

»Das glaube ich euch gern«, sagte Nafai.

»Eigentlich«, sagte Zdorab, »sollten wir jetzt zu Rasa und Volemak gehen, und außerdem willst du ja den Index benutzen.«

»Ja, aber erst, wenn ihr fertig seid.«

»Er wird ja noch hier sein«, sagte Schedemei, »wenn wir ihn wieder benutzen wollen.« Und sie hatten das Zelt schon verlassen und gingen — ja, wohin?

Zdorab nahm sie bei der Hand und führte sie zum Kochfeuer. »Dol sollte auf das Essen aufpassen«, sagte er, »aber sie läßt es immer wieder unbeaufsichtigt. Sie braucht eben ihr kleines Nickerchen. Aber das spielt keine Rolle — ich ließ Jobar einmal den Kochtopf berühren, und er muß den anderen erklärt haben, wie es sich anfühlte, denn die Paviane wagen sich nicht mehr in seine Nähe, selbst wenn es so gut riecht wie jetzt.«

Es roch wirklich gut.

»Wo hast du das Kochen gelernt?«

»Mein Vater war Koch«, sagte Zdorab. »Damit hat er die Familie ernährt. Er hat so viel verdient, daß er es sich leisten konnte, mich zum Studium nach Basilika zu schicken, und ich habe viel von ihm gelernt. Er wäre stolz auf das, was ich unter diesen erbärmlichen Umständen zustande bringe.«

»Bis auf den Kamelkäse.«

»Ich glaube, ich habe Kräuter gefunden, mit denen ich ihn verbessern kann«, sagte Zdorab und hob den Deckel des Kochtopfs hoch. »Ich probiere es heute abend aus — es ist doppelt so viel Käse darin wie üblich, aber niemand wird wohl etwas dagegen haben.« Er zog den großen Kochlöffel heraus, und sie sah, wie dickflüssig und zäh die Masse davon hinabtropfte.

»Hm«, machte sie. »Ich kann es kaum erwarten.«

Er hörte die Ironie in ihrer Stimme. »Na ja, ich kann ja verstehen, daß du allen Speisen gegenüber mißtrauisch bist, die so aussehen, als wäre Käse darin, aber wir haben Käse jahrelang gern gegessen und verabscheuen ihn erst seit ein paar Monaten, und daher müßte ich euch wieder für den Käse einnehmen können, wenn ich es richtig anstelle. Und wir werden den Käse brauchen — die stillenden Mütter, die wir bald haben werden, können auf so gutes tierisches Protein einfach nicht verzichten.«

»Du hast alles genau durchdacht«, sagte sie.

»Ich habe eben viel Zeit zum Nachdenken«, sagte er.

»Gewissermaßen«, sagte sie, »bist du der Anführer dieser Gruppe.«

»Gewissermaßen«, sagte er, »wiederholst du das lieber nicht vor den anderen, oder sie werden glauben, du hättest den Verstand verloren.«

»Aber du entscheidest doch, was und wann wir essen, wo wir uns erleichtern, was wir im Garten anpflanzen, und du führst uns durch den Index …«

»Aber wenn ich es richtig anstelle, fällt es niemandem auf«, sagte er.

»Du übernimmst die Verantwortung für uns alle. Und du wartest nicht einmal darauf, daß man dir sagt, was zu tun ist.«

»Das machen alle guten Menschen«, sagte er. »Das macht es aus, ein guter Mensch zu sein. Und ich bin ein guter Mensch, Schedja.«

»Das weiß ich mittlerweile«, sagte sie. »Und ich hätte es auch schon vorher wissen müssen. Ich habe alles, was du getan hast, für Schwäche gehalten — aber ich hätte wissen müssen, daß es Klugheit und Stärke war, die du freigebig mit uns allen teilst — sogar mit denen, die es nicht verdient haben.«

Und nun traten endlich Tränen in seine Augen. Nur ein leichtes Schimmern, aber sie sah es und wußte, auch er wußte, daß sie es sah. Ihr kam in den Sinn, daß ihre Ehe viel mehr sein würde als Heuchelei. Sie konnte eine echte Freundschaft sein, und zwar eine zwischen den beiden Personen, die am wenigsten erwartet hatten, auf dieser Reise Freunde und Gefährten zu finden.

Er rührte den Eintopf um, setzte den Deckel wieder darauf und hing den Löffel an die Seite des Topfes.

»Das hier ist wahrscheinlich der sicherste Ort, an dem wir uns unterhalten können, wenn wir nicht gestört oder belauscht werden wollen«, sagte sie. »Denn niemand wird freiwillig zur Kochstelle kommen — aus Angst, er müsse sofort eine Arbeit übernehmen.«

Zdorab kicherte. »Ich werde immer froh über deine Gesellschaft sein, während ich hier arbeite, solange du berücksichtigst, daß das Kochen eine Kunst ist und ich mich manchmal tatsächlich darauf konzentrieren muß.«

»Ich hoffe, ich kann dir so interessante und anregende Dinge erzählen, daß dir die Suppe manchmal mißlingt.«

»Wenn du das zu oft machst, werden sie uns bitten, uns wieder scheiden zu lassen.«

Sie lachten, und dann klang ihr Gelächter erneut in Schweigen aus.

»Warum erzähle ich es nicht Tante Rasa?« fragte Schedemei. »Sie wird bestimmt noch heute abend die Hochzeitsfeier ausrichten wollen. Sie wird noch erleichterter sein, als Nafai es war.«

»Und wir wollen es so öffentlich wie möglich machen«, sagte Zdorab.

Sie begriff. »Alle sollen sehen, daß wir eindeutig Mann und Frau sind.« Und das unausgesprochene Versprechen: Ich werde niemandem sagen, daß wir keineswegs Mann und Frau sind.

Schedemei wandte sich um, doch Zdorabs Stimme hielt sie zurück. »Schedja«, sagte er.

»Ja?«

»Bitte nenne mich Zodja.«

»Natürlich«, sagte sie, obwohl sie seinen Kosenamen noch nie gehört hatte. Niemand benutzte ihn.

»Und noch etwas«, sagte er.

»Der Artikel, den du als Studentin veröffentlicht hast – du hast dich geirrt. Bezüglich des genetischen Ausschusses.«

»Ich habe doch ausdrücklich erklärt, daß es nur eine Spekulation ist …«

»Nein, ich meine, ich weiß, du hast dich geirrt, denn ich weiß jetzt, was wir sind. Die uralte Wissenschaft, die Wissenschaft der Erde, die ich mit Hilfe des Index studiert habe, hat es herausgefunden. Es ist kein interner Mechanismus des menschlichen Körpers. Keine genetische Sache. Entscheidend ist die Höhe des männlichen Hormonspiegels im Blutkreislauf der Mutter zu dem Zeitpunkt, da der Hypothalamus zu wachsen beginnt und aktiv ausgeprägt wird.«

»Aber das wäre doch rein zufällig«, sagte Schedemei. »Es hätte gar nichts zu bedeuten, wäre einfach ein unglücklicher Umstand, daß für diese paar Tage der Hormonspiegel niedrig ist …«

»Eine Laune der Natur«, sagte Zdorab. »Ein Zufall. Es hat nichts zu bedeuten, bis auf die Tatsache, daß wir verkrüppelt geboren werden.«

»Wie Issib.«

»Wenn Issib sieht, wie ich gehe, was ich mit meinen Händen bewerkstellige, würde er vielleicht gern mit mir tauschen«, sagte Zdorab. »Aber wenn ich ihn mit Huschidh sehe, und wenn ich sehe, daß sie schwanger ist und die anderen ihm deshalb wirklich Respekt zollen, daß sie ihn als einen der ihren anerkennen, dann gibt es Augenblicke — aber wirklich nur einige —, da ich gern mit ihm tauschen würde.«

Obwohl ihr solche leidenschaftlichen Gesten eigentlich fremd waren, drückte Schedemei impulsiv seine Hände. Doch nun kam es ihr angemessen vor. Freundlich. Und so ließ sie sich hinreißen, und er erwiderte die Geste, also war es in Ordnung. Dann ging sie schnell davon, um Herrin Rasa zu suchen.

Wer hätte sich vorstellen können, dachte sie, daß die Enthüllung, daß mein zukünftiger Mann ein Zhop ist, sich als so wunderbare Nachricht erweist und er dadurch für mich erhöht wird. Die Welt steht dieser Tage wirklich auf dem Kopf.

Als Schedemei und Zdorab gegangen waren und Nafai allein im Indexzelt war, zögerte er nicht. Er nahm den Index — der von ihren Händen noch warm war —, hielt ihn sich vors Gesicht und sprach fast wütend zur Überseele. »Die ganze Zeit über hast du mir gesagt, Vaters Traum vom Baum wäre nicht von dir gekommen, aber du hast nie erwähnt, daß sich seine ganze Erfahrung in deinen Speichern befindet.«

»Das stimmt«, sagte der Index. »Es wäre nachlässig von mir, ein so wichtiges Ereignis nicht aufzuzeichnen.«

»Und du hast gewußt, wie gern ich einen Traum vom Hüter der Erde gehabt hätte. Du hast es gewußt]«

»Ja«, sagte der Index.

»Warum hast du mir dann nicht den Traum meines Vaters gegeben?«

»Weil es der deines Vaters war«, sagte der Index.

»Er hat ihn erzählt — er ist kein Geheimnis mehr! Ich will sehen, was er gesehen hat!«

»Das ist keine gute Idee.«

»Ich bin es leid, daß du ständig entscheidest, was eine gute Idee ist und was nicht. Du warst der Ansicht, es sei eine ausgezeichnete Idee, Gaballufix zu töten.«

»Das war es auch.«

»Für dich. Du hast kein Blut an deinen Händen.«

»Ich habe deine Erinnerung daran. Und ich habe dir in der Wüste geholfen, als Elemak dich töten wollte.«

»Du … du hast mein Leben gerettet, weil du meine Gene in unserem kleinen Genpool haben willst.«

»Ich bin ein Computer, Nafai. Erwartest du, daß ich dein Leben rette, weil ich dich mag? Meine Motive sind wesentlich verläßlicher als menschliche Gefühle.«

»Ich will nichts davon hören! Ich will einen Traum vom Hüter.«

»Genau. Und wenn ich den Traum deines Vaters in deinen Verstand eingebe, bekommst du damit noch lange nicht einen Traum vom Hüter, sondern lediglich einen Speicherbericht von mir.«

»Ich will diese Erdgeschöpfe sehen, die die anderen gesehen haben. Die Ratten und Engel.«

»Die sie für Erdgeschöpfe halten.«

»Ich will den Geschmack der Frucht des Baumes in meinem Mund haben!«

Noch während Nafai dies sagte — während seine Lippen stumm die Wörter bildeten und in seinem Verstand ein Wutschrei erklang —, wußte er, daß er sich kindisch benahm. Aber er wollte es so sehr, wollte unbedingt wissen, was sein Vater wußte, wollte sehen, was Luet sah, was Huschidh sah, sogar, was General Muuzh und Luets seltsame Mutter, Durstig, sahen. Er wollte es wissen, nicht nur hören, was sie erzählten, sondern wirklich wissen, wie es aussah, wie es sich anfühlte, wie es klang, roch und schmeckte. Und er wollte es so sehr, daß er es forderte, obwohl er wußte, daß er sich kindisch benahm.

Und da die Überseele es nicht für wünschenswert hielt, daß der Mann, den sie als späteren Führer der Gruppe bezeichnet hatte, so wütend war und damit unvorhersagbar reagieren könnte, gab sie ihm, was er verlangte.

Es brach ganz plötzlich über ihn herein, während er noch den Index hielt. Die Dunkelheit, die Vater beschrieben hatte, der Mann, der ihn aufgefordert hatte, ihm zu folgen, der endlose Marsch. Aber da war noch etwas, etwas, das Vater nicht erwähnt hatte — ein schrecklich störendes Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung war, daß etwas ungewollt war. Mit einer mächtigen Unterströmung durchflossen ihn undenkbare Gedanken. Dies war nicht nur eine Wildnis, sondern eine geistige Hölle, und er konnte es nicht ertragen, in ihr zu verweilen.

»Überspringe diesen Teil«, sagte er zum Index. »Bringe mich weiter, hole mich hier heraus.«

Augenblicklich hörte der Traum auf.

»Nicht aus dem Traum«, sagte Nafai ungeduldig. »Überspringe einfach den langweiligen Teil.«

»Der Hüter hat den langweiligen Teil nicht grundlos geschickt. Er gehört genauso zu dem Traum wie alles andere.«

»Springe zum Ende weiter, wo wirklich etwas passiert.«

»Das ist Betrug, aber ich werde es tun.« Nafai konnte es nicht ausstehen, wenn der Index so sprach. Er hatte gelernt, daß die Menschen Widerstand, dem dann Einverständnis folgte, als Hänselei interpretierten, und daher hänselte er sie nun, indem er natürliches Verhalten simulierte. Da Nafai jedoch wußte, daß er von einem Computer und nicht von einem Menschen gehänselt wurde, kam ihm dieses Verhalten keineswegs lustig, sondern nur langweilig vor. Doch als er sich darüber beschwerte, erwiderte der Index lediglich, daß alle anderen ihren Spaß daran hatten und Nafai kein Spielverderber sein solle.

Der Traum kehrte zurück, und augenblicklich stürzte er in die Dunkelheit. Der Marsch, der Rücken des ihn führenden Mannes und diese schreckliche geistige Unterströmung, die so schmerzhaft und ablenkend war. Aber dann hörte er die Stimme seines Vaters, die den Mann bat, ihm etwas zu erklären, ihn aus der Dunkelheit zu führen. Nur — es war nicht die Stimme seines Vaters. Es war eine fremde Stimme, die Nafai noch nie gehört hatte, obwohl er sie im Geiste als die seine wahrnahm, während Vater dachte, es sei seine Stimme, obwohl sie eigentlich ganz anders klang. Es dauerte eine Weile, bis Nafai begriff, daß für seinen Vater die eigene Stimme so und nicht anders klang. In einem Traum hörte Vater natürlich nicht die Stimme, die alle anderen hörten. Er hörte die Stimme, die er auch sonst hörte, wenn er sprach. Aber es war nicht einmal diese Stimme, sie war viel jünger, es war die Stimme, die er für die seine hielt, als sich seine Identität als Mann ausprägte. Tiefer als seine wirkliche Stimme, männlicher und jünger.

Aber Nafai konnte einfach nicht die starke Überzeugung abschütteln, daß es sich um seine eigene Stimme zu handeln schien und nicht die Vaters, obwohl seine eigene Stimme auch etwas anders klang. Und dann wurde Nafai klar, daß der Index ihm natürlich seine Aufzeichnung von Volemaks Erlebnissen in diesem Traum abspielte; daher waren sämtliche Sinneswahrnehmungen bereits von Volemaks Bewußtsein gefiltert worden und nun unentwirrbar mit seinen Auslegungen verbunden.

Und das war auch die Erklärung für diese Unterströmung, diese ablenkenden, bedeutungslosen, verwirrenden, erschreckenden Gedanken. Es handelte sich um Vaters Bewußtsein, das sich ständig entwickelte und begriff und interpretierte und auf den Traum reagierte. Gedanken, die Vater nicht einmal bewußt wahrgenommen hatte, weil sie noch nicht an die Oberfläche gekommen waren — darunter auch Gedankenfetzen wie: ›Das ist ein Traum‹, und ›Das kommt von der Überseele‹, und ›Ich bin in Wirklichkeit tot‹, und ›Das ist kein Traum‹. Alle möglichen gegensätzlichen Gedanken wirbelten durcheinander und legten sich aufeinander. Als Vater diese Gedanken gehabt hatte, stiegen sie aus seinem Unterbewußtsein empor, und sein Wille sortierte sie aus, und die Gedanken gehorchten seinem Willen und wurden beendet, sobald er zu einem anderen Gedanken übergehen wollte. Doch in Nafais Verstand, der ja nur eine Wiedergabe des Geschehens sah, reagierten die Gedanken nicht auf seinen Willen und überlagerten sein eigenes Bewußtsein.

Vater hatte es aufgegeben, sich an den Mann zu wenden, und schrie nun der Überseele etwas zu, bettelte sie an. Es war erniedrigend, die Furcht, die Beklemmung, das Winseln in Vaters Stimme zu hören. Er hatte erzählt, daß er die Überseele gebeten hätte, aber Nafai hatte noch nie gehört, daß sein Vater so demütig zu jemandem sprach, und es war, als würde er beobachten, wie sein Vater auf die Toilette ging oder etwas anderes Widerwärtiges tat. Er konnte es nicht ertragen, seinen Vater so zu sehen. Ich bespitzle ihn. Ich sehe ihn, wie er sich in seinen schlimmsten Augenblicken sieht, aber ich sehe nicht den Mann, den er der Welt präsentiert, seinen Söhnen. Ich stehle ihm sein Ich, und das ist falsch, das ist eine ganz schreckliche Tat. Andererseits jedoch … vielleicht sollte ich wissen, wie mein Vater wirklich ist, wie schwach er ist. Ich kann mich nicht auf ihn verlassen, er jammert der Überseele etwas vor, er bettelt wie ein kleines Kind um Hilfe …

Und dann fiel ihm ein, wie er selbst den Index angebettelt hatte, ihm Vaters Traum zu zeigen, und ihm wurde klar, daß selbst die tapfersten und stärksten Männer im Geiste solche Augenblicke erleben mußten. Aber niemand wußte von ihnen, weil sie nur in ihren Träumen und Alpträumen vorkamen. Ich habe dies nur erfahren, weil ich Vater bespitzle.

Er wollte den Index gerade bitten, den Traum zu beenden, doch just in diesem Augenblick veränderte dieser sich, und plötzlich befand Nafai sich auf der Wiese, die Vater beschrieben hatte. Er wollte sofort den Baum suchen, doch er konnte natürlich erst zu ihm hinübersehen, als Vater in dem Traum zu ihm hinübersah, und machte ihn erst aus, als Vater ihn ausmachte.

Nun sah Vater ihn, und er war wunderschön und eine große Erleichterung nach all der Dunkelheit und Öde. Doch Nafai verspürte nicht nur seine eigene Erleichterung, sondern die seines Vaters legte sich darüber, und daher war es gar keine Erleichterung, sondern nur eine noch größere Anspannung, zu der sich Verwirrung und Orientierungslosigkeit gesellten. Und noch verschlimmert wurde alles, weil Vater nicht ganz normal zu dem Baum ging, sondern plötzlich vor ihm stand. Er dachte, er würde zu dem Baum gehen, aber er war von einem Augenblick zum anderen einfach dort.

Nafai spürte Vaters Begierde auf die Frucht, und seine Freude über ihren Geruch, doch da ihm wegen der plötzlichen Bewegung hin zum Baum schon etwas übel war und er wegen der ständigen Unterströmung von Vaters Gedanken leichte Kopfschmerzen hatte, löste der Geruch in ihm keine Begierde aus. Statt dessen wurde ihm schlecht davon. Vater hob den Arm, pflückte eine Frucht und kostete sie. Nafai fühlte, daß Vater sie köstlich fand, und einen Augenblick lang, als der Geschmack in Nafais Verstand drang, war sie auch köstlich, überwältigend köstlich auf eine Art und Weise, die Nafai sich nicht hätte vorstellen können. Doch sofort wurde die Erfahrung von Vaters Reaktion darauf überlagert, von dessen Assoziationen bezüglich des Geschmacks und Geruchs; seine Reaktionen waren so stark, Vater wurde von dem Geschmack dermaßen überwältigt, daß seine Gefühle außer Kontrolle gerieten und Nafai sie nicht mehr verkraften konnte. Es war körperlich schmerzhaft. Er hatte entsetzliche Angst. Er rief dem Index zu, mit dem Traum aufzuhören.

Er hörte auf, und Nafai ließ sich einfach seitlich auf den Teppich fallen, keuchte und schluchzte und versuchte, den Wahnsinn aus seinem Verstand zu drängen.

Und nach einer Weile war er wieder in Ordnung, denn der Wahnsinn war verschwunden.

»Siehst du nun, wie problematisch es für mich ist, klar und deutlich mit Menschen zu kommunizieren?« sagte die Stimme in seinem Kopf, »Ich muß meine Gedanken sehr klar und deutlich bilden, und selbst dann glauben die meisten Menschen noch, sie hörten lediglich ihre eigenen Gedanken. Nur der Index ermöglicht mir eine wirklich klare Kommunikation mit den meisten Menschen. Abgesehen von dir und Luet — mit euch beiden kann ich besser als mit allen anderen sprechen.« Die Stimme des Index verstummte einen Augenblick lang. »Ich dachte eine Zeitlang, du würdest verrückt werden. In deinem Kopf hat sich nichts Angenehmes ereignet.«

»Du hast mich gewarnt.«

»Nun ja, ich habe dich nicht vor allem gewarnt, weil ich nicht wußte, daß es passieren würde. Ich habe noch nie einem Menschen den Traum eines anderen eingegeben. Ich glaube, ich werde es auch nie wieder tun, selbst wenn sich jemand sehr aufregt, weil ich nein sage.«

»Ich stimme mit deiner Entscheidung überein.«

»Und es war sehr unfreundlich von dir, deinen Vater auf diese Art und Weise zu beurteilen. Er ist ein sehr starker und mutiger Mann.«

»Ich weiß. Hättest du zugehört, wüßtest du, daß ich von selbst darauf gekommen bin.«

»Ich war mir nicht sicher, ob du dich daran erinnerst. Das menschliche Gedächtnis ist sehr unzuverlässig.«

»Laß mich in Ruhe!« sagte Nafai. »Ich will im Augenblick weder mir dir noch mit sonst jemandem sprechen.«

»Dann lasse den Index los. Du kannst jederzeit gehen.«

Nafai nahm die Hände vom Index, rollte sich auf den Bauch, erhob sich auf die Knie und dann auf die Füße. In seinem Kopf drehte sich alles. Ihm war schwindlig und schlecht.

Er taumelte aus dem Zelt. Draußen standen Issib und Mebbekew. »Wir gehen gerade zum Abendessen«, sagte Issib. »Hattest du eine gute Sitzung mit dem Index?«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte Nafai. »Ich fühle mich nicht gut.«

Mebbekew johlte auf. In Nafais Ohren klang es fast wie das Heulen der Paviane. »Erzähl mir doch nicht, daß Nafai sich vor der Arbeit drücken will, indem er behauptet, ihm sei ständig schlecht. Aber das hat bei Luet so gut funktioniert, daß er es jetzt auch mal versucht, was?«

Nafai machte sich nicht einmal die Mühe, Meb zu antworten. Er taumelte einfach weiter zu seinem Zelt. Ich muß schlafen, dachte er. Das brauche ich jetzt, Schlaf.

Doch als er das Zelt betreten und sich aufs Bett gelegt hatte, wurde ihm klar, daß er unmöglich schlafen konnte. Er war zu aufgewühlt, zu mitgenommen, sein Kopf drehte sich, und er konnte nicht klar denken, aber auch nicht aufhören, etwas zu denken.

Dann gehe ich eben auf die Jagd, dachte Nafai. Ich suche ein hilfloses, kleines Tier, töte es, reiße ihm die Haut ab und die Eingeweide heraus, und dann fühle ich mich bestimmt besser, weil ich nun mal so ein Mensch bin. Oder mir wird vielleicht schlecht, wenn mir der Geruch der Eingeweide in die Nase steigt, und ich muß mich übergeben und fühle mich dann besser.

Niemand sah ihn, als er das Lager verließ — hätten sie ihn gesehen, unsicher schwankend und einen Pulsator in der Hand, hätten sie ihn wahrscheinlich aufgehalten. Er durchquerte den Bach und ging die Hügel auf der anderen Seite hinauf. In dieser Richtung hatten sie noch nie gejagt — dort schliefen die Paviane in Höhlen, und wenn man zu weit in diese Richtung ging, kam man den Dörfern in dem Tal namens Luzha so nah, daß man vielleicht einem ihrer Bewohner über den Weg lief. Aber Nafai konnte noch immer nicht klar denken. Er erinnerte sich nur daran, daß er einmal auf der anderen Seite des Baches gewesen und dort etwas Wunderbares geschehen war, und in diesem Augenblick wollte er unbedingt, daß etwas Wunderbares geschah. Oder er starb. Was auch immer.

Ich hätte warten sollen, sagte er sich immer und immer wieder, als er wieder klar genug denken konnte, um zu wissen, was er dachte. Hätte der Hüter der Erde mir einen Traum schicken wollen, hätte er mir einen geschickt. Und wenn nicht, hätte ich warten sollen. Es tut mir leid. Ich wollte mir nur über etwas Klarheit verschaffen, aber ich hätte warten sollen. Jetzt kann ich das Warten ertragen, aber jetzt wirst du mir keinen Traum mehr schicken, denn ich habe betrogen, genau, wie der Index es gesagt hat. Ich habe betrogen, und daher bin ich nicht berechtigt, einen Traum zu bekommen. Eigentlich bin ich jetzt sogar wertlos. Indem ich darauf bestand, daß die Überseele mir den Traum vorspielen soll, habe ich mein Gehirn ruiniert, und jetzt werde ich bis zu meinem Lebensende krank im Kopf sein, und weder du noch die Überseele, noch Luet, noch sonst jemand werden mich noch brauchen können, und ich könnte einfach irgendwo von einer Klippe springen und sterben.

Die Sonne ging gerade unter, als ihm klarwurde, daß er nicht die geringste Ahnung hatte, wo er sich befand oder wie weit er marschiert war. Er wußte nur, daß er auf einem Felsen auf der Kuppe eines Hügels saß — und kilometerweit zu sehen war, für den Fall, daß ein Räuber nach einem Opfer oder ein Jäger nach Beute Ausschau hielt. Und obwohl er den Kopf in den Händen hielt und zu Boden sah, war er sich bewußt, daß jemand ihm gegenüber saß. Jemand, der noch nichts gesagt hatte, ihn aber eindringlich musterte.

Sag etwas, dachte Nafai. Oder töte mich und bringe es hinter dich.

»Uuh. Uuh-uuh«, sagte der Fremde.

Da sah Nafai auf, denn er kannte die Stimme. »Jobar«, sagte er.

Jobar schaukelte ein wenig hin und her und heulte noch ein paarmal, offensichtlich vor Freude, erkannt worden zu sein.

»Ich habe nichts für dich zu essen«, sagte Nafai.

»Uuh«, sagte Jobar fröhlich. Weil er vom Stamm verstoßen worden war, war er wahrscheinlich schon dankbar, daß jemand ihn erkannt hatte.

Nafai hielt ihm eine Hand hin, und Jobar kam kühn vorwärts und legte eine Vorderpfote hinein.

Und in diesem Augenblick war Jobar kein Pavian mehr. Statt dessen sah Nafai ihn als Tier mit Flügeln, mit einem Gesicht, das gleichzeitig wilder und intelligenter als das eines Pavians war. Die eine Schwinge bog und streckte sich wieder, die andere aber nicht, denn sie war die Hand, die Nafai in der seinen hielt. Das schwingenbewehrte Geschöpf, das Jobars Platz eingenommen hatte, sagte etwas zu ihm, aber Nafai verstand die Sprache nicht. Das Geschöpf — der Engel, Nafai wußte, daß es sich darum handelte — sagte erneut etwas, und nun verstand Nafai verschwommen, daß es sich um eine Warnung handelte. Er befand sich in Gefahr.

»Was soll ich tun?« fragte Nafai.

Aber der Engel sah sich um und wurde immer aufgeregter. Als er es dann anscheinend gewaltig mit der Angst zu tun bekommen hatte, ließ er seine Hand los, sprang in den Himmel und flog, kreiste jedoch weiterhin über ihm.

Nafai hörte ein Geräusch. Etwas scharrte hart über Felsen. Er sah hinab und machte aus, was das Geräusch verursacht hatte. Ein halbes Dutzend größerer, wilderer Geschöpfe. Die Ratten aus den Träumen, die die anderen gehabt hatten. Sie waren schwerer und sahen stärker aus als die Paviane, und Nafai wußte aus Erzählungen anderer Wüstenreisender, daß Paviane weitaus stärker als ausgewachsene Männer waren. Ihre Zähne waren größer und schärfer, aber die Hände — denn es waren Hände, keine Klauen — sahen in der Tat schrecklich aus, denn viele davon hielten wurfbereite Steine.

Nafai dachte an seinen Pulsator. Wie viele von ihnen kann ich töten, bevor sie mich mit einem Stein treffen und zu Boden werfen? Zwei? Oder drei? Aber es war besser, kämpfend zu sterben, als sich ohne Widerstand töten zu lassen.

Besser? Warum war es besser? Es war doch schon schlimm genug, daß einer sterben mußte. Was ist damit gewonnen, wenn ich einige von ihnen töte, abgesehen davon, daß sie meinen Tod dann für um so gerechtfertigter halten?

Also legte er den Pulsator vor sich auf den Boden, verschränkte die Hände auf den Knien und wartete.

Sie warteten ebenfalls. Ihre Arme waren noch immer wurfbereit. Der Engel kreiste noch immer über ihnen, ein stummer Zeuge, von gelegentlichen hohen Schreien einmal abgesehen.

Dann merkte Nafai plötzlich, daß er etwas in der Hand hielt. Er öffnete sie und sah, daß es sich um eine Frucht handelte. Er erkannte sie augenblicklich als eine der Früchte vom Baum des Lebens. Er hob sie an die Lippen und probierte sie, und ah!, es war, wie Vater gesagt hatte: die ausgezeichnetste Wahrnehmung, die er sich nur vorstellen konnte. Doch diesmal gab es keine Ablenkung, keine Verwirrung, keine Disharmonie wie vor kurzem, als er im Traum seines Vaters von der Frucht gekostet hatte; er hatte inneren Frieden gefunden, war geheilt.

Ohne darüber nachzudenken, nahm er die Frucht von den Lippen und bot sie der Ratte direkt vor ihm an.

Die Ratte sah auf seine Hand hinab, dann wieder zu Nafais Gesicht, dann zu der Frucht.

Nafai überlegte, ob er die Frucht auf den Boden legen sollte, damit die Ratte sie selbst aufheben konnte, aber dann wurde ihm klar, es wäre falsch, daß die Frucht mit dem Boden in Berührung käme und wie verfaultes Fallobst aufgehoben würde. Man sollte sie aus der Hand entgegennehmen. Diese Frucht sollte man immer vom Baum selbst pflücken oder von der Hand eines anderen überreicht bekommen.

Die Ratte schnüffelte, kam näher und schnüffelte erneut. Und dann nahm sie Nafai die Frucht aus der Hand, nahm sie an die Lippen und biß davon ab. Saft spritzte aus der Frucht, und ein Teil davon traf Nafai ins Gesicht, doch er bekam kaum etwas davon mit, einmal davon abgesehen, daß er sich die Lippen leckte, als der Saft sie berührte. Denn er konnte den Blick nicht von der Ratte nehmen. Sie hockte wie erstarrt da, bewegte sich nicht, und der Saft der Frucht tropfte von ihren Mundwinkeln hinab. Habe ich sie vergiftet? dachte Nafai. Habe ich sie mit dieser Frucht irgendwie getötet? Das wollte ich nicht.

Nein, die Ratte war von der Frucht nicht vergiftet, sondern lediglich betäubt worden. Nun knurrte sie dringlich und huschte zu ihrem nächsten Gefährten, der die Frucht mit den Zähnen aus ihrem Mund nahm. Und so wurde diese eine Frucht weitergereicht, jede Ratte nahm sie direkt aus dem Mund des Vorgängers in den eigenen, einmal im Kreis herum, bis sie wieder bei der ersten angelangte. Und die trat vor und hielt Nafai den Mund hin, in dem noch der Rest der Frucht zu sehen war.

Nafais Gesicht war keineswegs so spitz wie das der Ratten, und so mußte er die Hand ausstrecken und die Frucht damit ergreifen. Aber er steckte sie sofort in den Mund; wahrscheinlich würde sie jetzt abscheulich schmecken, doch er wußte, er mußte es tun. Zu seiner Erleichterung hatte der Geschmack der Frucht sich nicht verändert. Wenn überhaupt, dann war er jetzt süßer, weil er sie mit all den anderen geteilt hatte.

Er kaute, er schluckte. Erst da schluckten auch die Ratten den Saft und die Fruchtstücke in ihrem Mund herunter.

Sie kamen und legten die Steine, die sie als Waffen hatten benutzen wollen, vor seine Füße. Sie bildeten vor ihm eine Pyramide. Vierzehn Steine. Dann verschwanden die Ratten im Gänsemarsch zwischen den Felsen.

Augenblicklich stieß der Engel hinab. Er kreiste über ihm, zwitscherte wie verrückt und flatterte heftig, bis er dann schwer auf Nafais Schultern landete und ihn mit seinen Schwingen einhüllte.

»Hoffentlich soll das bedeuten, du bist .glücklich«, sagte Nafai.

Der Engel antwortete nicht, sondern flog davon.

Dann erhob Nafai sich und sah, daß er nicht auf der Kuppe eines felsigen Hügels stand, sondern auf einer Wiese neben einem Baum, und neben ihm war ein Fluß, und neben dem Fluß ein Weg mit einem eisernen Geländer. Er sah alles, was sein Vater gesehen hatte, einschließlich des Gebäudes auf dem anderen Flußufer.

Und dann, als er erwartete, daß der Traum endete — denn er wußte, daß es ein Traum war —, veränderte dieser sich. Er sah sich selbst, wie er inmitten einer riesigen Menge von Menschen und Engeln und Ratten stand, und sie alle beobachteten, wie ein helles Licht aus dem Himmel hinabkam. Er wußte, daß sie gewartet hatten. Sie alle hatten gewartet, und nun war er da: der Hüter der Erde.

Nafai wollte sich ihm nähern, wollte das Gesicht des Hüters der Erde sehen. Aber das Licht war zu grell. Er sah, daß er vier Gliedmaßen hatte, konnte aber nur die Gestalt erkennen, vier Gliedmaßen und einen Kopf, doch darüber hinaus blendete ihn das Licht einfach, als wäre der Hüter ein kleiner Stern, eine Sonne, die zu hell war, als daß man hineinschauen konnte, ohne sich die Augen zu verbrennen.

Schließlich “mußte Nafai die Augen schließen, sie zukneifen, weil er den Schmerz nicht mehr ertragen konnte. Aber als er sie wieder öffnete, wußte er, nun würde er nah genug sein und das Gesicht des Hüters sehen können.

»Uuh.«

Er starrte in Jobars Gesicht.

»Selber uuh«, flüsterte Nafai.

»Uuh-uuh.«

»Es ist fast dunkel«, sagte Nafai. »Aber du bist ziemlich hungrig, nicht wahr?«

Jobar setzte sich erwartungsvoll auf die Hinterbeine.

»Mal sehen, ob ich was für dich finden kann.«

Es war nicht schwer, nicht einmal im Dämmerlicht, weil die Hasen auf dieser Seite des Tals noch nicht selten geworden waren. Als die Nacht sich schließlich senkte, zerrte Jobar noch immer an dem Kadaver, verschlang jeden Fetzen davon und brach schließlich mit einem Stein den Schädel des Hasen auf, um an das weiche Gehirn heranzukommen. Jobars Hände und Gesicht waren blutverschmiert.

»Wenn du auch nur einen Funken Verstand hast«, sagte Nafai, »läufst du jetzt schnell mit dem Rest des Fleisches und all dem Blut auf dir nach Hause, damit sich irgendein Weibchen mit dir anfreundet und dich mit ihrem Baby spielen läßt, damit du dich mit ihm anfreunden kannst und ein richtiges Stammesmitglied wirst.«

Es war unwahrscheinlich, daß Jobar ihn verstand, aber das war auch gar nicht nötig. Er versuchte bereits, den Kadaver des Hasen vor Nafai zu verbergen, um davonlaufen und ihn stehlen zu können. Nafai machte es ihm ein wenig leichter, indem er sich ein paar Schritte entfernte, damit Jobar die Gelegenheit nutzen konnte. Er hörte das Scharren von Jobars Füßen und sagte stumm zu ihm: Kauf dir mit diesem Hasenblut, was du dir damit kaufen kannst, mein Freund. Ich habe das Gesicht des Hüters der Erde gesehen, und es war dein Gesicht.

Doch er bedauerte diesen respektlosen Gedanken augenblicklich und sprach stumm zum Hüter der Erde — oder zur Überseele oder zu niemandem; er wußte es nicht. Danke, daß du es mir gezeigt hast, sagte er. Danke, daß du mich hast sehen lassen, was Vater und alle anderen gesehen haben. Danke, daß ich einer derjenigen sein darf, die es wissen.

Und wenn mir nun jemand helfen könnte, den Rückweg zu finden …

Ob ihm nun die Überseele half oder lediglich sein Gedächtnis; und seine Fähigkeiten als Spurenleser, er fand im Mondschein den Weg zum Lager. Luet hatte sich Sorgen gemacht — und Mutter und Vater und die anderen auch. Sie hatten Schedemeis und Zdorabs Hochzeit verschoben, denn es wäre falsch gewesen, sie an einem Abend zu feiern, an dem Nafai vielleicht in Gefahr war. Da er nun jedoch zurück war, konnte die Hochzeit stattfinden, und niemand fragte ihn, wohin er gegangen war oder was er getan hatte, als wüßten sie, daß es zu seltsam oder wunderbar oder schrecklich war, um erzählt zu werden.

Erst später an diesem Abend, als er mit Luet im Bett lag, erzählte er es. Zuerst, daß er Jobar gefüttert hatte, und dann den Traum.

»Es hat den Anschein, als wären heute abend alle zufriedengestellt worden«, sagte Luet.

»Du auch?« fragte er.

»Du bist zu Hause«, sagte sie, »und ich bin zufrieden.«

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