Sie blieben länger als beabsichtigt in ihrem Lager in Mebbekews Tal an Elemaks Fluß. Zuerst mußten sie die Ernte abwarten. Dann war Luet aufgrund der Schwangerschaft so schwach, daß Rasa sich weigerte, die Reise zu beginnen und ihr Leben zu gefährden; und das, obwohl Schedemei vom Index erfahren hatte, welche Kräuter gegen ihre Übelkeit halfen, und man sie ihr regelmäßig verabreichte. Als Luets allmorgendliches Erbrechen dann endlich ein Ende nahm und sie wieder zu Kräften gekommen war, hatten alle drei Schwangeren — Huschidh, Kokor und Luet — so dicke Bäuche, daß das Reisen für sie sehr unbequem geworden wäre. Außerdem hatten die anderen mittlerweile nachgezogen: Sevet, Eiadh, Dol und auch Herrin Rasa waren nun ebenfalls schwanger. Keiner von ihnen ging es so schlecht, wie es Luet gegangen war, doch andererseits hatte auch keine von ihnen große Lust, ein Kamel zu besteigen, den ganzen Tag über zu reiten, abends ein Zelt aufzuschlagen und es am nächsten Morgen wieder abzubrechen, während sie nur von Zwieback, Dörrfleisch und getrockneten Melonen lebten.
Also blieben sie über ein Jahr lang in ihrem Lager, bis alle sieben Babies geboren waren. Nur zwei von ihnen bekamen Söhne. Volemak und Rasa nannten ihren Jungen Ojkib, nach Rasas Vater, und Elemak und Eiadh nannten ihren erstgeborenen Sohn Protschnu, was Ausdauer bedeutete. Eiadh ritt auf der Tatsache herum, daß lediglich ihr Gatte Elemak so männlich wie Volemak war und ihr einen Sohn geschenkt und Volemak überhaupt ja nur Söhne gezeugt hatte. Im großen und ganzen ignorierten die anderen ihre Prahlerei und erfreuten sich an ihren Töchtern.
Luet und Nafai nannten ihr kleines Mädchen Schveja, weil sie ihre beiden Eltern zu einer Seele zusammengenäht hatte. Huschidhs und Issibs Tochter war die erste der neuen Generation, und sie nannten sie einfach Dza, weil sie die Antwort auf alle Fragen ihres Lebens war. Kokor und Obring nannten ihre Tochter Krasata, ein Name, der Schönheit bedeutete und in Basilika groß in Mode gewesen war. Vas und Sevet nannten ihre Tochter Vasnaminanja, teils, weil der Name Erinnerung bedeutete, aber auch, weil er mit Vas’ Name verwandt war; sie riefen sie Vasnja. Und Mebbekew und Dol nannten ihre Tochter Basilikja, nach der Stadt, die sie beide liebten und von der sie träumten. Alle wußten, daß Meb sich für diesen Namen entschieden hatte, weil er ein ständiger Vorwurf an jene war, die ihn aus seiner rechtmäßigen Heimat verschleppt hatten, und daher griffen alle den Kosenamen auf, den Volemak sich für sie einfallen ließ, und nannten sie Sjelsika, was Mädchen vom Lande bedeutete. Dies verärgerte Meb natürlich, und er hörte nur auf, dagegen zu protestieren, als alle anderen über ihn lachten.
Ojkib und Protschnu, Schveja und Dza, Krasata, Vasnja und Sjelsika — an einem kühlen Morgen gut ein Jahr, nachdem ihre Eltern in Mebbekews Tal zusammengekommen waren, wurden die Babies locker in kühle Reisetücher gewickelt, die dann um die Schultern ihrer Mütter gewickelt wurden, so daß die Kiemen tagsüber, wenn sie hungrig wurden, trinken konnten. Die Frauen, von der kindlosen Schedemei abgesehen, halfen beim Auf- und Abbau der Zelte nicht mit, wenngleich man davon ausging, daß sie ihre Pflichten wieder aufnehmen würden, sobald die Kinder größer waren. Und die Männer, die nun von einem Jahr des Lebens in der Wüste kräftig, gebräunt und abgehärtet waren, schritten vor ihren Frauen auf und ab. Sie waren stolz auf die Babies und sich ihrer erhabenen Verantwortung bewußt, für Frauen und Kinder sorgen zu müssen.
Alle bis auf Zdorab natürlich, der so still und unauffällig wie immer war, und dessen Frau noch kinderlos war; die beiden schienen manchmal fast zu verschwinden. Sie waren die einzigen der Gruppe, die weder durch Blut oder Ehe mit Rasa und Volemak verwandt waren; sie waren die einzigen kinderlosen; sie waren beträchtlich älter als die anderen ihrer Generation, von Elemak einmal abgesehen; niemand hätte gesagt, daß sie nicht mit dem Rest der Gruppe gleichberechtigt wären, andererseits jedoch glaubte auch niemand, daß sie wirklich gleichberechtig waren.
Als die Gruppe sich zum Aufbruch vorbereitete, ging Luet mit der schlafenden Schveja in der Schlinge vor der Brust und einer überreifen Melone auf der Schulter zu der Herde der Paviane hinab, die ihren üblichen Beschäftigungen nachgingen. Die Affen schienen aufgeregt und nervös zu sein, was kaum verwunderte, wenn man den Tumult im Lager der Menschen berücksichtigte. Als Luet die Grenze ihres Reviers überschritt, sahen sie zu ihr hoch und beobachteten sie genau. Einige Weibchen kamen näher, um ihr Baby zu betrachten — sie hatte geduldet, daß sie Schveja berührten, wenngleich sie natürlich nicht zulassen konnte, daß sie mit ihr spielten, wie sie mit ihren eigenen Kindern spielten; Schveja war viel zu zerbrechlich für ihre groben Liebkosungen.
Aber Luet suchte ein Männchen und kein Weibchen, und sie hatte sich kaum von den neugierigen Weibchen entfernt, als er auch schon auftauchte — Jobar, der vor kaum einem Jahr ein Ausgestoßener gewesen und nun der beste Freund der ältesten Tochter der Matriarchin des Stammes war; er hatte soviel Prestige, wie ein Männchen in dieser Stadt der Frauen es bekommen konnte. Luet hielt die Melone so, daß Jobar sie sehen konnte. Dann wandte sie sich etwas ab, damit er sich nicht allzu sehr erschreckte, und warf sie auf einen Felsbrocken, und die Melone platzte auf.
Wie erwartet sprang Jobar erschrocken zurück. Als er jedoch sah, daß Luet keine Angst hatte, kam er neugierig näher. Nun konnte sie ihm zeigen, was er sehen sollte — das Geheimnis, das sie in dem Jahr, das sie hier verbracht hatten, so sorgfältig vor allen Pavianen verborgen hatten. Sie bückte sich, hob ein Stück Rinde mit genug Fruchtfleisch daran auf und aß geräuschvoll.
Ihr Schmatzen lockte auch die anderen herbei, doch es war Jobar — wie sie es erwartet hatte —, der ihrem Beispiel folgte und zu essen anfing. Er machte natürlich keinen Unterschied zwischen Fruchtfleisch und Rinde, und ihm schien beides gleich gut zu schmecken. Als er satt war, sprang er heulend und kreischend herum, bis andere – besonders junge Männchen — es ebenfalls wagten, die Frucht zu essen.
Luet trat langsam zurück, drehte sich dann um und ging davon.
Sie hörte leise Schritte hinter sich. Sie schaute zurück; Jobar folgte ihr. Damit hatte sie nicht gerechnet, aber andererseits hatte Jobar sie immer überrascht. Er war in der Tat intelligent und neugierig, und die Intelligenz der Paviane war überhaupt nur ein wenig geringer als die der Menschen, und ihre Neugier und ihr Eifer, etwas zu lernen, waren manchmal sogar größer.
»Komm mit, wenn du willst«, sagte Luet. Sie führte ihn bachaufwärts zum Garten, den die Paviane schon lange nicht mehr betreten durften. Dort befanden sich die letzten Melonen der dritten Ernte; einige waren schon reif, andere noch nicht. Jobar zögerte am Rand des Gartens, denn die Paviane hatten schon lange gelernt, diese unsichtbare Grenze zu respektieren. Sie lockte ihn jedoch weiter, und er betrat den Garten vorsichtig. Sie führte ihn zu einer reifen Melone. »Eßt sie, wenn sie so aussehen«, sagte sie. »Wenn sie so riechen.« Sie hielt ihm die noch an der Staude hängende Melone hin. Er schnüffelte daran, schüttelte sie und warf sie dann zu Boden. Nach einigen Versuchen brach sie auf. Dann nahm er einen Bissen und heulte sie glücklich an.
»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Luet. »Du mußt die ganze Lektion über aufpassen.« Sie hielt ihm eine andere Melone hin, eine unreife, und obwohl Jobar daran roch, durfte er sie nicht berühren. »Nein«, sagte sie. »Diese eßt ihr nicht. Der Samen ist noch nicht reif, und wenn ihr sie eßt, wenn sie so aussehen, werdet ihr nächstes Jahr keine Melonen haben.« Sie legte die unreife Melone hinter sich zu Boden und deutete auf die geplatzte reife, die in Stücken um Jobars Füße lag. »Eßt die reifen. Schedemei sagt, die Samen werden unbeschädigt durch euer Verdauungssystem rutschen und in euren Kothaufen gedeihen und sehr gut wachsen . Ihr könnt immer Melonen haben, wenn du den anderen beibringst, daß ihr nur die reifen essen dürft. Du mußt ihnen beibringen, daß sie warten müssen.«
Jobar betrachtete sie ruhig.
»Du verstehst kein einziges meiner Worte«, sagte sie. »Aber das heißt nicht, daß du die Lektion nicht verstehst, nicht wahr? Du bist ein kluger Kerl. Du kommst schon dahinter. Du bringst es den anderen bei, bevor du zu einem anderen Stamm weiterziehst, ja? Es ist das einzige Geschenk, das wir euch machen können, unser Mietzins dafür, daß wir euer Tal im vergangenen Jahr benutzen durften. Bitte nehmt es an und nutzt es gut.«
Er heulte einmal.
Sie erhob sich und ging davon. Die Reitkamele waren zum Aufsteigen bereit; die anderen warteten nur auf sie. »Ich habe Jobar nur den Garten gezeigt«, sagte sie. Natürlich verdrehte Kokor daraufhin die Augen, doch Luet achtete kaum darauf — wichtig waren Nafais Lächeln, Huschidhs Nicken und Volemaks »Gut gemacht!«.
Auf einen Befehl sprangen die Kamele auf. Sie waren mit Zelten und Vorräten beladen, mit Trockenbehältern und Kältetruhen voller Samen und Embryos, und mit — und das war am wichtigsten — nicht mehr sechzehn, sondern dreiundzwanzig Menschen. Wie Elemak erst gestern abend gesagt hatte, führte die Überseele sie besser zu ihrem Bestimmungsort, bevor die Kinder zu groß wurden, um zusammen mit ihrer jeweiligen Mutter auf einem Tier zu reiten, oder sie mußte unterwegs weitere Kamele für sie auftreiben.
Die ersten beiden Tage der Reise führten sie in nordöstliche Richtung, dieselbe Strecke entlang, die sie von Basilika aus genommen hatten. Doch es war schon ein Jahr her, daß sie hier vorbeigekommen waren, und fast nichts sah noch vertraut aus — oder zumindest nicht vertrauter als alles andere, da alle graubraunen Felsen und der gelbgraue Sand nach der ersten Stunde schon vertraut aussahen.
Spät am zweiten Nachmittag ritt Mebbekew ein kurzes Stück neben Elemak. »Wir sind schon an der Stelle vorbeigekommen, an der du ihn zum Tode verurteilt hast, oder?«
Elemak schwieg einen Augenblick lang. Dann: »Nein, wir werden überhaupt nicht an ihr vorbeikommen.«
»Ich habe gedacht, ich hätte sie gesehen.«
»Du hast dich geirrt.«
Sie ritten ein Stück schweigend weiter.
»Elemak«, sagte Mebbekew.
»Ja?« Es klang nicht so, als würde er das Gespräch genießen.
»Wer könnte uns aufhalten, wenn wir uns einfach unsere Zelte und Vorräte für drei Tage nehmen und nach Basilika zurückkehren?«
Manchmal hatte Elemak den Eindruck, daß Mebbekews Kurzsichtigkeit an Dummheit grenzte. »Anscheinend hast du vergessen, daß wir kein Geld haben. Ich kann dir versichern, es ist viel schlimmer, in Basilika arm zu sein als hier draußen, denn in Basilika gibt die Überseele keine Eidechsentitte um dein Überleben.«
»Ach, und hier draußen hat sie sich so wunderbar um uns gekümmert!« sagte Meb verächtlich.
»Wir waren über ein Jahr an einer wasserreichen Stelle, und nicht einmal sind Reisende oder Banditen oder durchgebrannte Pärchen oder Familien auf Urlaub in unsere Nähe gekommen.«
»Ich weiß, wir hätten genausogut auf einem anderen Planeten sein können. Auf einem unbewohnten! Ich kann dir sagen, als Dolja zu schwanger war, um sich noch großartig zu bewegen, kamen mir sogar die Pavianweibchen ziemlich attraktiv vor.«
Nie war Mebbekew ihm nutzloser denn jetzt vorgekommen. »Das überrascht mich nicht«, sagte Elemak.
Meb funkelte ihn an. »Ich habe doch nur gescherzt, Pißnelke.«
»Ich nicht«, sagte Elemak.
»Also hast du deine Seele verkauft, was? Du bist jetzt Vatis kleiner Junge. Nafai senior.«
Mebbekews Groll gegen Nafai war nur natürlich — schließlich hatte Nafai ihn mehrmals bloßgestellt. Doch Elemak hatte schon vor geraumer Zeit den Entschluß gefaßt, Nafai zu ertragen, zumindest solange, wie er sich nichts herausnahm, so lange er nützlich war. Nur das interessierte Elemak jetzt noch — ob jemand etwas zum Überleben der Gruppe beitragen konnte. Und es würde nichts schaden, wenn Mebbekew sich daran erinnerte, um wie vieles Nafai nützlicher war als Meb selbst. »Wir haben ein Jahr lang zusammengelebt«, sagte Elemak. »Du hast in jeder Woche dieses Jahres Fleisch gegessen, das Nafai getötet hat, und du glaubst noch immer, er wäre nichts weiter als Vaters Liebling?«
»Oh, ich weiß, daß er mehr als das ist«, sagte Mebbekew. »Jeder weiß das. Die meisten von uns haben sogar begriffen, daß er wertvoller als du ist.«
Mebbekew mußte etwas in Elemaks Gesicht gesehen haben, denn er ließ sein Kamel sofort zurückfallen und blieb danach eine Weile direkt hinter Elemak.
Elemak wußte, daß Mebs kleine Beleidigung ihn erzürnen sollte — aber Elemak würde nicht mitspielen. Er wußte genau, was Mebbekew wollte: aus seiner Ehe heraus, fort vom Weinen seines Kindes, zurück in die Stadt mit ihren Bädern und anderen Einrichtungen, ihrer Küche und ihrer Kunst und — vor allem — ihrem endlosen Vorrat an unkomplizierten Frauen, die leicht mit Schmeicheleien herumzukriegen waren. Und wenn Mebbekew tatsächlich nach Basilika zurückkehren sollte, würde er sich dort wahrscheinlich so problemlos wie eh und je durchschlagen, ob er nun Geld hatte oder nicht; und dies galt auch für Dol, die dort als fast schon legendäre Kinderschauspielerin bestimmt ein gutes Auskommen finden würde. Für die beiden wäre Basilika viel besser als alles andere, was in absehbarer Zukunft vor ihnen lag.
Aber dieses Thema ist abgeschlossen, dachte Elemak. Es war abgeschlossen worden, als die Überseele einen solchen Narren aus mir machte. Die Botschaft war eindeutig — versuche, Nafai zu töten, und du torkelst und fummelst wie ein Halbgescheiter herum, der nicht einmal einen richtigen Knoten binden kann. Und nun mußte er nicht Nafai überwinden, um ihr Ziel zu ändern, sondern Vater. Nein, es gab für Elemak keinen Ausweg. Und außerdem konnte Basilika ihm nichts bieten. Im Gegensatz zu Meb begnügte er sich nicht damit, von einem Bett ins andere zu hüpfen und von jeder Frau zu leben, die ihn aufzunehmen bereit war. Er mußte einen gewissen Status haben, mußte wissen, daß die Männer zuhörten, wenn er sprach. Ohne Geld bestand daran/wenig Hoffnung.
Außerdem liebte er Eiadh und war stolz auf den kleinen Proja, und er schätzte das Wüstenleben auf eine Weise, die kein anderer, nicht einmal Vater, verstehen konnte. Und wenn er nach Basilika zurückkehrte, würde Eiadh ihren Ehevertrag irgendwann nicht mehr verlängern. Dann befand er sich erneut in der unmännlichen Lage, sich eine Frau suchen zu müssen, nur um in der Stadt bleiben zu dürfen. Das wäre unerträglich. So sollten Männer nicht leben — sie sollten sich ihrer Frauen und Kinder sicher sein. Er wollte nicht, daß seine Familie jetzt zerbrach. Er träumte nicht mehr von Basilika, wünschte sich zumindest nicht mehr, dort zu leben, weil die einzige würdige Lebensweise dort für ihn jetzt unerreichbar war.
Nur Meb und Dolja träumten noch immer von einer Rückkehr. Und da beide nutzlos waren, würde es der Gruppe nicht schaden, sie ziehen zu lassen.
Also brachte Elemak das Thema zur Sprache, als er und sein Vater die Lagerstelle für diese Nacht aussuchten. »Du weißt, daß Meb und Dolja noch immer nach Basilika zurückkehren wollen.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Volemak. »Sie haben so wenig Phantasie. Einige Leute haben in ihrem Leben nur ein einziges Ziel und können es kaum ertragen, dieses aufzugeben.«
»Du weißt auch, daß sie für uns fast wertlos sind.«
»Nicht so wertlos wie Kokor«, sagte Vater.
»Na ja, mit ihr kann niemand konkurrieren.«
»Keiner von ihnen ist völlig wertlos«, sägte Vater. »Sie erledigen vielleicht nicht ihre Arbeit, aber wir brauchen ihre Gene. Wir brauchen in unserer Gemeinschaft ihre Babies.«
»Unser Leben wäre viel einfacher … es gäbe viel weniger Konflikte und Ärger, wenn …«
»Nein«, sagte Volemak.
Elemak schäumte. Wie konnte Vater es wagen, ihn den Satz nicht einmal beenden zu lassen?
»Es ist nicht meine Entscheidung«, sagte Volemak. »Wenn es nach mir ginge, würde ich jeden zurückkehren lassen. Aber die Überseele hat diese Gruppe ausgewählt.«
Als Vater die Überseele erwähnte, schenkte Elemak ihm keine Aufmerksamkeit mehr. Dies bedeutete stets, daß der vernünftige Teil der Diskussion vorbei war.
Als sie das Lager aufschlugen, faßte Elemak den Entschluß, einfach nichts zu bemerken, falls Meb und Dolja sich während seiner Wache davonschleichen wollten. Sie würden ohne Schwierigkeiten zur Stadt finden — hier war die Wüste nicht mehr so herausfordernd, und wenn sie unbedingt in die Zivilisation zurückkehren wollten, bot sich in dieser Nacht die beste Gelegenheit für sie. Die allerdings so gut nun auch wieder nicht war — es bestand durchaus die Gefahr, Banditen in die Hände zu fallen. Vielleicht war sie nun noch größer geworden, da Muuzh in Basilika herrschte und primitive und unzivilisierte Männer aus der Stadt gejagt hatte. Vielleicht würde die Überseele auf sie aufpassen und ihnen helfen, nach Basilika zurückzukehren — vielleicht aber auch nicht. Was auch immer geschehen sollte, Elemak würde nicht versuchen, ihre Flucht zu verhindern, falls sie sich dazu entschließen sollten.
Aber sie taten es nicht. Elemak hielt sogar länger Wache als üblich, aber sie schlichen nicht aus ihrem Zelt, versuchten nicht, ein oder zwei Kamele zu stehlen. Schließlich weckte Elemak Vas, damit der ihn ablöste, und ging dann voll neuer Verachtung für Meb zu Bett. Hätte ich die Gruppe verlassen und irgendwo anders leben wollen, hätte ich meine Frau und mein Kind genommen und wäre gegangen. Aber nicht Mebbekew. Er läßt sich viel zu leicht etwas verbieten.
Am späten Morgen des dritten Tags der Reise erreichten sie die Stelle, von der aus sie, wollten sie nach Basilika zurückkehren, in nördliche Richtung reisen mußten. Elemak erkannte die Stelle, und Volemak natürlich auch. Aber sonst niemand; keiner ahnte, daß sie jetzt die letzte Hoffnung aufgaben, so etwas wie ihr altes Leben wieder aufzunehmen, wenn sie nun nach Osten weiterzogen, statt sich nach Norden zu wenden.
Elemak war gar nicht traurig darüber. Er war nicht wie Mebbekew — sein Leben hatte sich schon immer auf die Wüste konzentriert. Er war nur nach Basilika zurückgekehrt, um seine Waren zu verkaufen und sich eine Frau zu suchen, wenngleich er die Stadt natürlich immer genossen und sie auch für seine Heimat gehalten hatte. Aber der Begriff Heimat hatte ihm nie viel bedeutet — er kannte kein Heimweh, dachte nicht voller Sehnsucht oder unter Tränen daran. Nicht, bis Eiadh ihren Sohn geboren und er Proja in den Armen gehalten und den kräftigen, lauten Schrei des Jungen gehört und sein Lächeln gesehen hatte. Und von da an war sein Heim für ihn das Zelt gewesen, in dem Eiadh und Proja schliefen. Er brauchte Basilika nicht mehr. Er war in sich zu stark, um sich nach einer bestimmten Stadt zu sehnen, wie Meb es tat.
Doch wenn diese Karawane die nächsten Jahre über Elemaks Welt sein würde, mußte er seine Stellung in dieser kleinen Welt so dominant und wichtig wie möglich machen. In dem Tal, in dem Zdorabs Garten die Hälfte der Nahrung geliefert hatte und Nafai bei der Jagd genausogut wie Elemak selbst gewesen war, konnte Elemak seine Qualitäten nicht voll ausspielen, um seine Position als Anführer zu sichern. Doch nun, da sie wieder auf den Kamelrücken saßen, fragte sogar Vater ihn in vielen, vielen Punkten um Rat, und während die Überseele ihren ungefähren Weg bestimmte, legte Elemak den genauen Kurs fest. Er ließ den Blick über die Gruppe schweifen und sah, daß Eiadh ihn unablässig betrachtete, wenn sie nicht gerade das Baby fütterte. Die Reise hatte ihr in Erinnerung zurückgerufen, wie wichtig er für das Überleben der gesamten Gruppe war, und er erfreute sich an dem Stolz, den sie daraus zog.
Die Überseele hatte Vater folgendes mitgeteilt: Vorausgesetzt, sie fänden eine sichere Reiseroute und hätten ausreichend Vorräte, würden sie ihr Ziel in sechzig Tagen der gleichmäßigen Reise erreichen. Aber es kam natürlich nicht in Frage, sechzig Tage an einem Stück zu reisen. Die Babies würden die Hitze, Trockenheit und Unbeständigkeit nicht überstehen. Nein, sie mußten einen anderen sicheren Ort finden und erneut rasten. Und danach vielleicht eine weitere Pause einlegen. Und sie würden an jedem Ort wahrscheinlich so lange bleiben müssen, um eine Saat auslegen und abernten zu können, damit sie Nahrung für die nächste Etappe ihrer Reise hatten. Ein Jahr. Ein Jahr an jedem Ort, und vielleicht drei Jahre für eine Reise von sechzig Tagen. Und die ganze Zeit über würde in Wirklichkeit Elemak sie führen, und am Ende der Reise würden alle ihn als Anführer anerkennen, und Vater würde dann nicht mehr sein als das, was er eigentlich sein sollte — ein weiser alter Berater. Aber nicht der wahre Führer. Nicht mehr.
Der werde ich dann sein. Und wenn ich dann entscheide, daß ich die Gruppe zu dem Ort bringe, den die Überseele als Ziel genannt hat, werde ich sie dorthin führen, und sie werden diesen Ort sicher und rechtzeitig erreichen. Aber wenn ich dann eine andere Entscheidung treffe, kann die Überseele zur Hölle fahren.
Der Fluß Nividimu führte ganzjährig Wasser — er entsprang im zerklüfteten Ljudy-Gebirge, dessen Gipfel so hoch waren, daß sie im Winter von Schnee bedeckt wurden. Aber er führte nie viel Wasser, und dort, wo er steil ins Krutohn-Tal abfiel und auf die tiefe, heiße, trockene Wüste stieß, versickerte er im Sand und verschwand über viele Kilometer hinweg, bevor er schließlich das Reinigende Meer erreichte. Wegen des Nividimu führte der große nord-südliche Karawanenweg steil ins Ljudy-Gebirge hinauf und folgte dem Fluß dann wieder hinab, fast bis zu der Stelle, wo er verschwand. Der Nividimu war die sicherste Trinkwasserquelle zwischen Basilika im Norden und den Städten des Feuers im Süden. Vielleicht ein Dutzend Karawanen zogen pro Jahr am Ufer des Nividimu entlang, und so war fast damit zu rechnen gewesen, daß die Überseele sie anwies, eine Woche lang in den Ausläufern des Ljudy-Gebirges zu lagern, während eine nach Norden ziehende Karawane mit einer schweren Militäreskorte sich das Tal hinauf arbeitete und dann der gewundenen Straße aus dem Gebirge folgte.
Das Schlimmste an der Wartezeit war, daß sie keine Feuer machen durften. Die Militäreskorte, so erklärte der Index ihnen, hatte es geradezu darauf abgesehen, Feinde aufzuspüren. Sahen die Soldaten Rauch, würden sie augenblicklich vermuten, daß er von Banditen stammte, und keine Fragen stellen, um eventuell das Gegenteil herauszufinden, sondern sie alle sofort abschlachten. Also aßen sie ihren elenden Reiseproviant, saßen herum und wurden immer gereizter, während sie auf den Tag warteten, da Volemak ihnen die Entscheidung des Index mitteilte, die Reise nun fortsetzen zu können.
Als Elemak und Vas am zweiten Tag gemeinsam auf die Jagd gingen — denn Vas hatte ein gewisses Talent als Fährtenleser —, verloren sie den ersten Pulsator. Sie hätten Vas wohl keinen geben sollen, doch er hatte darum gebeten, und es wäre für ihn zu erniedrigend gewesen, hätten sie ihm die Waffe verweigert. Außerdem bestand immer die Möglichkeit, daß sie auf ein gefährliches Raubtier stießen, das sich die gleiche Beute ausgesucht hatte, und dann würde er den Pulsator zu seiner Verteidigung brauchen.
Vas war normalerweise nicht unbeholfen. Doch als er mit dem Rücken zur Wand über einen schmalen Felsvorsprung ging, stolperte er, und als er sich abfing, rutschte ihm der Pulsator aus der Hand. Er prallte auf einem Felsvorsprung ab, segelte dann in die Luft und fiel in eine Schlucht. Vas und Elemak hörten nicht einmal, wie er unten aufschlug. »Es hätte genausogut mich erwischen können«, sagte er immer wieder, als er die Geschichte an diesem Abend erzählte.
Elemak brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, daß es für alle besser gewesen wäre, wenn es ihn und nicht den Pulsator getroffen hätte. Sie hatten schließlich nur vier dieser Waffen und würden sich keine neuen besorgen können —
und irgendwann würden die Pulsatoren die Fähigkeit verlieren, sich im Sonnenlicht wieder aufzuladen, und deshalb hatte Elemak befohlen, zwei der Waffen stets an einem dunklen Ort aufzubewahren. Nachdem sie nun einen Pulsator verloren hatten, mußten sie eine der Ersatzwaffen für die Jagd benutzen.
»Warum seid ihr überhaupt auf die Jagd gegangen?« fragte Volemak, dem klar war, welche Bedeutung der Verlust des Pulsators für die Zukunft haben könnte. Er richtete die Frage an Elemak, weil der die Entscheidung getroffen hatte, an diesem Tag zwei Pulsatoren mit in die Wüste zu nehmen.
Elemak antwortete so kalt, daß man deutlich heraushörte, er sei der Ansicht, Volemak habe nicht das Recht, seine Entscheidung in Frage zu stellen. »Um Fleisch zu bekommen«, sagte er. »Die Frauen kommen nicht mit Zwieback und Trockenfleisch aus.«
»Aber wir hätten das Fleisch nicht braten können. Was hast du dir vorgestellt? Hätten sie es etwa roh essen sollen?« fragte Volemak.
»Ich wollte es mit dem Pulsator garen«, sagte Elemak. »Es wäre zwar nicht ganz durchgebraten gewesen, aber …«
»Es wäre auch eine Energieverschwendung gewesen, die wir uns kaum leisten können«, sagte Volemak.
»Wir brauchen das Fleisch«, sagte Elemak.
»Hätte ich dem Pulsator hinterherspringen sollen?« fragte Vas garstig.
»Das hat niemand verlangt«, sagte Elemak verächtlich. »Es geht doch gar nicht mehr um dich.«
Huschidh verfolgte das Gespräch schweigend, wie sie es eigentlich immer tat, wenn es einen Konflikt gab. Sie beobachtete, wie die Fäden, die die Menschen miteinander verbanden, sich zu verändern begannen. Sie wußte, daß es die Linien, die sie zwischen den Menschen sah, gar nicht gab, daß sie einfach eine visuelle Metapher waren, die ihr Verstand bildete — eine Art halluzinatorisches Diagramm. Aber die Auskünfte, die sie über Beziehungen und Treue und Haß und Liebe gaben, waren echt, so echt wie die Felsen und der Sand und die Büsche in ihrer Umgebung.
Vas war die Anomalie dieser Gemeinschaft, und das von Anfang an. Niemand haßte ihn, niemand verabscheute ihn. Aber er wurde auch von niemandem geliebt. Niemand brachte ihm große Treue entgegen, und er empfand auch keine für irgendeinen anderen. Abgesehen von der starken Verbindung zwischen ihm und Sevet und der noch seltsameren zwischen ihm und Obring. Sevet brachte ihrem Gatten Vas nur wenig Liebe oder Respekt entgegen — sie hatten nur dem Namen nach eine Ehe geführt, die ihnen beiden Vorteile gebracht hatte, und es gab keine besonderen Treuebande zwischen ihnen und auch keine große Liebe oder Freundschaft. Doch er empfand sehr stark für sie — ein Gefühl, das Huschidh nicht verstand, das sie nie zuvor gesehen hatte. Und seine Verbindung mit Obring war ganz ähnlich, nur etwas schwächer. Was eigentlich nicht der Fall hätte sein dürfen, da Vas gar keinen Grund für eine so enge Verbindung mit Obring hatte. Denn schließlich hatte man Obring mit Sevet im Bett erwischt, an jenem Abend, an dem Kokor die beiden überraschte und ihre Schwester fast getötet hätte. Warum also gab es diese starke Beziehung zwischen Vas und Obring? Ihre Stärke — die Huschidh an der Dicke des Stranges erkannte, der die beiden miteinander verband — kam der der besten Ehen in ihrer Gemeinschaft gleich, etwa der von Volemak und Rasa oder den Gefühlen, die Elemak für Eiadh hegte, oder dem wachsenden Band zwischen Huschidh selbst und ihrem geliebten Issib, ihrem hingebungsvollen und freundlichen und brillanten Issib, dessen Stimme die Musik war, die all ihre Freuden begleitete …
Dieses Gefühl — soviel wußte sie immerhin — brachte Vas weder Sevet noch Obring entgegen — und allen anderen gegenüber schien er fast nichts zu empfinden. Aber warum Sevet und Obring und sonst niemand? Nichts verband sie, abgesehen von ihrem ehemaligen Ehebruch …
War das vielleicht die Verbindung? Der Ehebruch selbst? War Vas’ starke Verflechtung mit ihnen eine Besessenheit, die mit ihrem Betrug an ihm zu tun hatte? Aber das war absurd. Er hatte die ganze Zeit über von Sevets Affären gewußt; sie hatten in dieser Hinsicht eine ungezwungene Ehe geführt. Und Huschidh hätte die Verbindung zwischen ihnen zu deuten gewußt, würde sie aus Haß oder Zorn bestehen — davon hatte sie schon genug gesehen.
Sogar jetzt, da Vas mit allen anderen durch einen Faden der Scham verbunden sein müßte, durch den Drang, Besserung zu versprechen oder ihre Zustimmung zu bekommen, konnte sie fast nichts wahrnehmen. Es war ihm völlig gleichgültig. Er wirkte sogar irgendwie zufrieden.
»Wir hätten es uns durchaus leisten können, das Fleisch zu braten«, sagte Sevet, »wenn wir noch alle vier Pulsatoren hätten.«
Es erstaunte Huschidh, daß Vas’ eigene Frau seinen Fehler zur Sprache brachte.
Aber es war keine Überraschung, als Kokor es ihrer Schwester gleichtat und noch direkter vorging. »Du hättest eben aufpassen müssen, wohin du trittst, Vas«, sagte sie.
Vas wandte sich um und betrachtete Kokor mit leichter Verachtung. »Vielleicht könnte ich lernen, vorsichtig und tüchtig vorzugehen, indem ich deinem Beispiel folge.«
Solche Streitigkeiten fingen viel zu schnell an und dauerten normalerweise viel zu lange. Man brauchte keine Entwirrerin wie Huschidh zu sein, um zu wissen, wohin dieser Zwist führen würde, wenn man zuließ, daß er sich fortsetzte. »Schluß damit«, sagte Volemak.
»Ich werde nicht die Schuld auf mich nehmen, daß wir kein gebratenes Fleisch haben«, sagte Vas sanft. »Wir haben noch drei Pulsatoren, und es ist nicht meine Schuld, daß wir kein Feuer machen können.«
Elemak legte eine Hand auf Vas’ Schulter. »Vater macht mich dafür verantwortlich, und das mit Recht. Ich habe eine falsche Entscheidung getroffen. Wir hätten nie zwei Pulsatoren mit auf die Jagd nehmen dürfen. Du würdest es schon merken, würden wir dir die Schuld dafür geben, daß wir kein Fleisch haben.«
»Ja, wir würden dich essen«, sagte Obring.
Einige lachten über den Witz, wenn auch nur, um die Spannung zu lösen; aber Vas war wütend darüber, daß die scherzhafte Bemerkung von Obring gekommen war. Huschidh sah, daß die seltsame Verbindung zwischen ihnen flackerte und dicker wurde. Sie wirkte wie eine schwarze Trosse, die Vas mit Obring vertäute.
Huschidh beobachtete sie in der Hoffnung, daß ihr Streit so lange anhalten würde, bis sie endlich verstand, welche Beziehung es zwischen ihnen gab, doch in diesem Augenblick ergriff Schedemei das Wort. »Es besteht kein Grund, das Fleisch nicht roh zu essen, falls das Tier erst vor kurzer Zeit getötet wurde und gesund war«, sagte sie. »Wir können die Oberfläche vor dem Verzehr einfach ein wenig versengen, um die Gefahr einer Infektion zu verringern, ohne dafür zuviel Energie zu verbrauchen. Und wenn jemand krank werden sollte, haben wir genug Antibiotika dabei, und selbst, wenn wir die nicht mehr hätten, könnten wir notfalls aus den zur Verfügung stehenden Kräutern welche herstellen.«
»Rohes Fleisch«, sagte Kokor voller Abscheu.
»Ich weiß nicht, ob ich das essen kann«, sagte Eiadh.
»Du mußt es einfach länger zerkauen«, sagte Schedemei. »Oder in ganz kleine Stücke schneiden.«
»Schon allein wegen des Geschmacks«, sagte Eiadh.
»Schon allein wegen der Vorstellung«, sagte Kokor erschaudernd.
»Es ist nur eine psychologische Barriere«, sagte Schedemei, »die du leicht überwinden kannst, wenn du an das Wohl deines Babies denkst.«
»Ich begreife nicht, wie eine Frau, die kein Baby hat, uns vorschreiben kann, was gut für uns ist«, schnappte Kokor.
Huschidh sah, wie sehr Kokors Worte Schedemei schmerzten. Das war eine der größten Sorgen, die Huschidh sich über ihre Gruppe machte. Schedemei isolierte sich immer mehr von den Frauen. Huschidh sprach ziemlich oft mit Luet darüber, und sie hatten versucht, eine Lösung zu finden, doch das war nicht einfach, weil Schedemei eine Barriere aufgebaut hatte — sie hatte sich eingeredet, keine Kinder haben zu wollen, doch da sie sich intensiv mit allen Babies der Gruppe beschäftigte, wußte Huschidh, daß Schedemei ihren Wert unterbewußt an der Tatsache maß, daß sie keine Kinder hatte. Und wenn ein kurzsichtiges, gefühlloses kleines Spatzenhirn wie Kokor ihr ihre Kinderlosigkeit vorwarf, sah Huschidh, daß Schedemeis Zusammenhalt mit der Gruppe fast völlig verschwand.
Und die Stille nach Kokors Bemerkung war auch nicht gerade förderlich. Die meisten von ihnen schwiegen, weil man so auf eine unaussprechliche gesellschaftliche Plumpheit reagierte — man war gerade so lange still, daß derjenige, der die beleidigende Äußerung getan hatte, das Schweigen als Tadel auffaßte, und fuhr dann fort, als wäre nichts gesagt worden. Aber Huschidh war sich nicht sicher, wie Schedja die Stille auffaßte. Schließlich kannte Schedja sich mit gesellschaftlichen Gepflogenheiten nicht besonders gut aus, und sie war sich ihrer Kinderlosigkeit unbarmherzig bewußt. So mußte die Stille für sie zweifellos bedeuten, daß alle anderen Kokor zustimmten, aber zu höflich waren, es so kraß auszudrücken. Eine weitere Verletzung, eine weitere Narbe auf Schedemeis Seele.
Gäbe es nicht die intensive Freundschaft zwischen Schedemei und Zdorab und die wesentlich geringere, die Luet und Huschidh mit Schedja gebildet hatten, und Schedjas Liebe und Respekt für Rasa, hätte die Frau gar keinen positiven Zusammenhang mit der Gruppe mehr. Dann gäbe es nur noch Neid und Groll.
Schließlich brach Luet das Schweigen. »Wenn unsere Babies Fleisch brauchen, werden wir es natürlich essen, ob nun gebraten oder gekocht. Aber ich frage mich … steht es so schlecht um unsere Vorräte, daß wir nicht mal eine Woche ohne Fleisch auskommen?«
Elemak betrachtete sie kalt. »Du kannst dein Kind behandeln, wie du willst. Unseres wird immer Milch zu trinken bekommen, die spätestens alle drei Tage mit tierischem Protein aufgefrischt wird.«
»Ach, Elemak, dann muß ich rohes Fleisch essen?« fragte Eiadh.
»Ja«, sagte Elemak.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Nafai. »Du wirst keinen Unterschied spüren.«
Alle drehten sich zu ihm um. Seine Bemerkung war einfach lächerlich. »Besten Dank«, sagte Eiadh. »Ich glaube, ich kann durchaus feststellen, ob Fleisch roh oder gebraten ist.«
»Wir alle sind hier, weil wir für die Überseele mehr oder weniger empfänglich sind«, sagte Nafai. »Also habe ich die Überseele gerade gefragt, ob sie den Geschmack rohen Fleisches für uns akzeptabel machen kann. Uns glauben machen kann, daß damit alles in Ordnung ist. Und sie hat gesagt, ja, sie könne das, vorausgesetzt, wir widersetzen uns nicht. Wenn wir also nicht ständig darüber nachdenken, daß wir rohes Fleisch essen, kann die Überseele uns so weit beeinflussen, daß wir kaum etwas davon merken.«
Einen Augenblick lang erwiderte niemand etwas darauf. Huschidh erkannte, daß Nafais fast beiläufige Beziehung zu der Überseele für einige ziemlich entnervend war — nicht zuletzt für Volemak selbst, der mit der Überseele oder dem Index nur sprach, wenn er mit ihnen allein war.
»Du hast die Überseele gebeten, unsere Nahrung für uns schmackhaft zu machen?« fragte Issib.
»Wir wissen aus Erfahrung, daß die Überseele ziemlich gut darin ist, die Leute dumm zu machen«, sagte Nafai. »Wir beide haben es gemeinsam erlebt, Issja. Warum soll die Überseele uns also nicht ein wenig dumm machen, was den Geschmack des Fleisches betrifft?«
»Mir gefällt die Vorstellung nicht, daß die Überseele in meinem Verstand herummurkst«, sagte Obring.
Meb sah Obring an und grinste. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Du bist auch ohne ihre Hilfe dumm genug.«
Als Nafai am nächsten Tag ein Noljen nach Hause brachte — ein kleines, rotwildähnliches Tier, das kaum einen halben Meter Schulterhöhe hatte —, nahmen sie es aus, sengten es mit dem Pulsator an und aßen es dann, vorsichtig zuerst, bis sie merkten, daß rohes Fleisch entweder gar nicht so schlecht war oder die Überseele gute Arbeit geleistet hatte, sie unempfänglich für den Unterschied zu machen. Von nun an würden sie, wann immer es nötig war, auch ohne ein Feuer auskommen.
Aber die Überseele konnte ihnen keinen neuen Pulsator als Ersatz für den verlorenen beschaffen.
Sie verloren zwei weitere Pulsatoren, als sie den Nividimu überquerten. Es war ein dummer, überflüssiger Verlust. Die Kamele wagten sich nur zögernd an die Überquerung, obwohl die Furt breit und flach war, und als man sie hinübertrieb, gab es einige Rempeleien. Wären alle Lasten kompetent und sorgfältig festgebunden worden, hätte sich keine gelöst und ihren Inhalt in das eiskalte Wasser verstreut.
Elemak stellte erst nach ein paar Minuten fest, daß es sich um das Kamel handelte, das die beiden Pulsatoren trug; er mußte sich erst darauf konzentrieren, die anderen Kamele sicher ans Ufer zu bringen, bevor er versuchen konnte, die Last zu bergen. Als er die Pulsatoren fand — in einem Beutel und zusätzlich in Stoff gehüllt —, hatten sie eine Viertelstunde im Wasser gelegen. Pulsatoren waren haltbar, aber nicht zum Gebrauch unter Wasser bestimmt. Ihre Versiegelungen waren durchdrungen worden, und ihr Mechanismus würde schnell korrodieren. Er barg die Pulsatoren natürlich in der Hoffnung, daß sie vielleicht nicht rosten würden, wußte aber, daß die Aussicht darauf nur gering war.
»Wer hat dieses Kamel beladen?« fragte Elemak.
Niemand schien sich daran erinnern zu können, es beladen zu haben.
»Das ist das Problem«, sagte Volemak. »Das Kamel hat sich offenbar selbst beladen, konnte aber keine Knoten binden.«
Alle lachten nervös. Elemak wirbelte zu seinem Vater herum, wollte ihn geißeln, daß er über eine so ernste Situation einen Witz machte. Als er jedoch Volemaks Blick bemerkte, hielt er inne, denn er sah, daß auch Volemak die Sache sehr ernst nahm. Also nickte Elemak seinem Vater zu und setzte sich, um zu zeigen, daß er Volemak die Angelegenheit regeln lassen wollte.
»Wer auch immer dieses Kamel beladen hat, kennt seine Verantwortung«, sagte Volemak. »Und ich kann es ganz einfach herausfinden — ich muß nur den Index fragen. Aber es wird keine Bestrafung geben, denn damit können wir nichts gewinnen. Sollte ich es einmal für nötig halten, werde ich enthüllen, wessen Achtlosigkeit uns unsere Sicherheit gekostet hat, doch bis dahin wird ihm trotz seiner feigen Weigerung, für seine Tat einzustehen, nichts passieren.«
Noch immer meldete sich niemand.
Volemak sagte nichts mehr, sondern nickte Elemak zu, der aufstand und den letzten Pulsator hochhob. »Das ist der Pulsator, den wir am öftesten benutzt haben«, sagte er. »Daher ist seine Ladung am schwächsten, und doch sind wir auf ihn angewiesen, um uns Fleisch zu beschaffen. Er könnte noch ein paar Jahre halten — Pulsatoren haben durchaus so lange überdauert —, doch wenn dieser nicht mehr funktioniert, haben wir keinen anderen mehr.«
Er ging zu Nafai und hielt ihm den Pulsator hin. Nafai nahm ihn behutsam entgegen.
»Du bist der Jäger«, sagte Elemak. »Du kannst ihn am besten nutzen. Aber gib auf ihn acht. Unser Leben und das unserer Kinder hängt davon ab, wie du deine Pflicht erfüllst.«
Nafai nickte.
Elemak wandte sich den anderen zu. »Wenn jemand sieht, daß der Pulsator in irgendeiner Gefahr ist, muß er sofort sprechen oder handeln, um ihn zu schützen. Aber abgesehen von diesem Fall wird lediglich Nafai den Pulsator anfassen. Wir werden ihn nicht einmal benutzen, um unser Fleisch anzubraten. Wenn wir während gefährlicher Streckenabschnitte Fleisch essen, essen wir es roh. Und jetzt durchqueren wir das Tal, bevor wir hier noch entdeckt werden.«
Am späten Nachmittag erreichten sie die Stelle, an der die Karawanen entweder nach Süden zu den bewohnten Tälern zogen, in denen die Städte Dovoda und Nieschtchy sich zwischen der Wüste und dem Meer ans karge Leben klammerten, oder nach Südosten zum Razorjat-Gebirge und dann hinab zu den nördlichen Ausläufern des Tals der Feuer. Volemak führte sie ins Gebirge. Aber mehr als nur einem kam in den Sinn, daß sie, wenn sie gen Süden nach Dovoda oder Nieschtchy gezogen wären, dort Pulsatoren und anständige Vorräte hätten kaufen können. Und sie hätten andere Gesichter gesehen und andere Stimmen gehört. Kaum einer von ihnen .wünschte sich nicht, den Städten wenigstens einen Besuch abzustatten.
Doch Volemak führte sie in die Hügel hinauf, wo sie in dieser Nacht lagerten, ohne ein Feuer zu entfachen, aus Angst, es könne von einem Bewohner der fernen Städte gesehen werden.
Von da an kamen sie nur langsam voran, denn der Index warnte Volemak, daß drei Karawanen durch das Tal der Feuer in nördliche Richtung zogen, zwei davon aus den Städten des Feuers und eine aus den Städten der Sterne, die noch weiter südlich lagen. Für die meisten von ihnen waren dies Namen aus einer Legende, Städte, die noch älter und höherstöckig waren als Basilika. Geschichten von uralten Helden schienen immer mit den Sätzen »Es war einmal in den Städten der Sterne« oder »So geschah es in alten Zeiten in den Städten des Feuers« anzufangen. Und viele von ihnen hofften: Vielleicht führt die Überseele uns dorthin, in die großen, alten Städte der Legenden.
Um den Karawanen auszuweichen, mußten sie jedoch abseits der Straßen reisen. In der Wüste war dies kein Problem gewesen — die Straße war kaum vom Rest der Wüste zu unterscheiden gewesen, und es spielte keine Rolle, welchem Weg man genau folgte. Doch hier spielte es eine große Rolle, denn das Terrain war seltsam und schwieriger und verwirrender als an irgendeinem anderen Ort auf Harmonie. Sie kamen aus den Bergen hinab und sahen sofort, daß es sich um eine grünere Gegend handelte; fast überall wuchsen Gras, Sträucher, Büsche und sogar ein paar Bäume. Aber es war auch felsig und zerklüftet, und das Land war seltsam abgestuft, als hätte jemand tausend Tische von verschiedener Größe und Höhe zusammengestellt, so daß jede Oberfläche eben war, aber keine genauso hoch wie die nächste. Und zwischen den Grasflächen befanden sich Klippen, von denen einige nur etwa einen Meter hoch waren, andere aber hundert oder fünfhundert Meter.
Und die Seltsamkeiten wurden noch größer, als sie ins Tal der Feuer hinabzogen, denn dort gab es Stellen, wo Schächte in der Erde oder Spalten in einer Klippe einen bemerkenswerten Gestank absonderten. Die meisten von ihnen verzogen das Gesicht und versuchten, durch den Mund zu atmen, doch Elemak und Volemak nahmen den Gestank sehr ernst und schlugen oft Umwege ein, die die Öffnungen mieden, aus denen das Gas kam. Erst, als Zdorab herausfand, daß der Index ihnen — zumindest bei Tageslicht – unverzüglich Spektralanalysen der Gase zur Verfügung stellen konnte, waren sie festzustellen imstande, welche Gase — und demzufolge auch welcher Gestank — für sie ungefährlich waren.
Noch furchterregender — wenngleich Elemak ihnen versicherte, daß sie keine so große Gefahr darstellten — waren die Rauchlöcher und die offenen Flammen. Sie sahen sie schon aus einigen Kilometern Entfernung — entweder dicke Rauchsäulen oder helle Flammen — und hielten nach einiger Zeit geradewegs auf sie zu, besonders, nachdem Schedemei ihnen versichert hatte, daß sie nicht explodieren würden. Wenn sie ihr Lager in der Nähe einer offenen Flamme aufschlugen, nutzten sie das Feuer, um Fleisch zu braten und sogar frisches Brot zu backen, wenngleich nur Zdorab, Nafai und Elemak bereit waren, diese Aufgabe zu übernehmen, da sie in die Nähe der Flammen laufen und das Fleisch und die Brotlaibe dort liegen lassen mußten, wo die Hitze stark genug war, das Fleisch zu garen — was natürlich bedeutete, daß die Hitze auch die Köche garen würde, wenn sie nicht schnell wieder zurückeilten. Alle halfen, das Wild, das Nafai getötet hatte, zu zerlegen und die Portionen auf Spieße zu stecken. Dann feuerten sie Nafai, Zdorab und Elemak an, die abwechselnd zum Feuer liefen, einen Fleischspieß auf den Boden legten und wieder zurückliefen. Das Fleisch zu holen, war natürlich noch schwerer, da sie die heißen Spieße aufheben mußten, statt die kühlen abzulegen, und manchmal qualmte ihre Kleidung, wenn sie zurückkamen.
»Nur unser Schweiß verdampft«, beharrte Nafai, als Luet ihm sagte, sie würde ihr Fleisch lieber roh essen und dafür ihren Gatten behalten.
Doch so viele brauchbare Feuer gab es auch wieder nicht, da sie nur selten neben Wasserquellen lagen, und oft mußten sie ihre Nahrung kalt zu sich nehmen.
Das Tal der Feuer war von prachtvoller Schönheit, doch es war auch furchterregend, an jeder Wegbiegung mit den Auswirkungen der schrecklichen Kräfte konfrontiert zu werden, die in dem Planeten tobten, auf dem sie lebten — so starke Kräfte, daß sie feste Felsschichten Hunderte von Metern hochschieben konnten.
Prachtvoll, furchterregend, aber auch lästig, wie sie merkten, als sie zu einer Stelle kamen, wo die Strecke, die sie gewählt hatten, in eine Sackgasse führte — ein tiefer, heißer See, der auf beiden Seiten von fünfhundert Meter hohen Klippen umgeben war. Sie konnten den See nicht überqueren und auch nicht umgehen. Volemak und Elemak entschlossen sich, umzukehren und eine andere Route zu nehmen, die noch weiter von der Karawanenstraße entfernt war und näher am Meer verlief, auch wenn dies einen Verlust von mehreren Tagesreisen bedeutete.
»Hätte die Überseele das nicht sehen können?« fragte Mebbekew ziemlich scharf.
»Der Index hat mir diesen See gezeigt«, sagte Volemak. »Deshalb haben wir diesen Weg eingeschlagen. Die Überseele konnte uns allerdings nicht sagen, daß wir ihn auf keiner Seite umgehen können.«
»Dann haben wir mindestens drei Reisetage verschwendet?« jammerte Kokor.
»Wir haben Dinge gesehen, von denen man in Basilika nicht einmal träumt«, erwiderte Herrin Rasa.
»Außer in Alpträumen«, sagte Kokor.
»Einige Künstler haben solche Anblicke aufgenommen und in Lieder umgesetzt«, sagte Rasa. »Was mich daran erinnert, daß wir schon über ein Jahr lang kein Lied von dir oder Sevet mehr gehört haben, außer, wenn ihr euren Kindern vorsingt. Und von Eiadh auch nicht — sie bekam nie die Chance, eine Karriere als Sängerin zu beginnen, aber sie hat die schönste Stimme.«
Huschidh hätte ihr sagen können, daß es vergebene Liebesmühe war. Bis sich zwischen den Frauen etwas änderte, würde es keinen Gesang geben. Es lag natürlich an dem alten Streit zwischen Sevet und Kokor. Sevet konnte oder wollte nicht mehr singen, eine Folge der Verletzung, die Kokor ihr zugefügt hatte, als sie sie mit Obring im Bett erwischt und ihr auf den Kehlkopf geschlagen hatte. Und solange Sevet nicht sang, wagte Kokor nicht zu singen — sie fürchtete Sevets Rache. Und Eiadh war von den beiden älteren Mädchen, die — besonders Sevet — in Basilika ziemlich berühmt gewesen waren, hoffnungslos eingeschüchtert worden. Kokor hatte deutlich gemacht, daß sie, solange sie nicht singen konnte, Eiadhs elende Stimme nicht hören wollte, die sie sowieso für eine Verhöhnung der Musik hielt. Was unfair war — Eiadh hatte Talent, und Kokor mochte ihre Stimme zwar dünn nennen, aber jeder andere Kritiker hätte sie glockenklar genannt. Doch wann immer Eiadh singen wollte, verzog Kokor das Gesicht und tat so, als wäre es unerträglich, und so hatte Eiadh bald den Mut verloren und es nicht mehr versucht. Es würde also keine Lieder über die beeindruckende Erhabenheit des Tals der Feuer geben.
Doch es gab noch eine andere Dichtkunst und eine andere Künstlerin. Und Huschidh und Luet waren das Publikum, als Schedemei über die Kräfte der Natur schwärmte. »Zwei große Landmassen, früher ein einziger Kontinent, aber jetzt geteilt«, sagte sie. »Sie drückten gegeneinander. Stellt euch vor, ihr legt eure Hände nebeneinander auf den Tisch und drückt sie zusammen. Doch dann beginnen sie, sich in entgegengesetzte Richtungen zu drehen; das Zentrum war dort, wo sich eure Daumen berühren. Nun drücken sie an den Fingerspitzen gegeneinander, schieben sich ineinander, während sie sich an den Handballen voneinander entfernen.«
Schedemei erklärte dies, während sie in Luets Zelt auf dem Teppich saß und die Babies der beiden auf ihren Knien saßen. Sie hatte die Arme um die Kleinen gelegt und die Handflächen ausgestreckt, um ihre Worte zu verdeutlichen. Die Babies schienen fasziniert zu sein — etwas am Klang oder der Intensität von Schedemeis Stimme zog alle Kinder ihrer Gruppe an, denn Huschidh beobachtete regelmäßig, daß sie aufmerksam zuhörten, wenn die Wissenschaftlerin sprach. Schedemei konnte ein aufgeregtes Kleinkind oftmals auch dann beruhigen, wenn der eigenen Mutter dies nicht möglich war — was bedeutete, daß Kokor und Sevet aus Eifersucht, vorgeführt zu werden, Schedemei niemals in die Nähe ihrer Kinder ließen und Dol ihre kleine Sjelsika stets bei Schedemei ablud, damit sie sich um sie kümmerte, oft so lange, bis Dols Brüste so wund wurden, daß sie ihr Kind zurückholen und stillen mußte.
Doch es hatte den Anschein, daß nur Luet und Huschidh Schedemeis Gesellschaft suchten, und selbst bei ihnen mußten die Babies als Entschuldigung herhalten. ›Könntest du auf unsere Kleinen aufpassen, während wir baden?‹ Und so saß Schedja auf dem Teppich von Luets Zelt, während die beiden Schwestern sich den Schmutz der mehrtägigen Reise von den Rücken rubbelten und sich die Haare wuschen.
»Der Druck an den Fingerspitzen hat die hohen Berge im Norden aufgeworfen«, sagte Schedemei. »Und die Trennung an den Handballen hat das Reinigende Meer und dann die See des Rauchs geschaffen. Das Tal der Feuer ist die Erhebung in der Mitte. Eines Tages, wenn dieser Prozeß abgeschlossen ist, wird Potokgavan im Meer versinken, und das Tal der Feuer wird eine Insel in einem immer größer werdenden Ozean sein. Es wird der prachtvollste und einsamste Ort auf ganz Harmonie sein, der Ort, an dem der Planet am lebendigsten und gefährlichsten und schönsten ist.«
Schveja, Luets Tochter, erzeugte tief in der Kehle ein gurgelndes Geräusch. Es klang wie ein Knurren.
»Genau, Vejevnija«, sagte Schedemei, ihren eigenen Kosenamen für Schveja benutzend. »Ein Ort für wilde Tiere wie dich.«
»Und was ist mit den Daumen?« fragte Huschidh. »Was geschieht dort?«
»Die Daumen, der Drehpunkt, das Zentrum — das ist Basilika«, sagte Schedemei. »Das stabile Herz der Welt. Es gibt andere Kontinente, aber nirgendwo ist das Wasser so heiß und kalt und tief oder das Land so alt und unveränderlich. Basilika ist der Ort, wo Harmonie am friedlichsten ist.«
»Geologisch gesprochen«, sagte Huschidh.
»Was sind schon die kleinen Störungen durch die Menschheit?« fragte Schedemei. »Die kleinste Zeiteinheit, die überhaupt eine Rolle spielt, ist die Generation. Nicht die Minute, nicht die Stunde, nicht der Tag, nicht einmal das Jahr. Die kommen und gehen und sind in einem Augenblick schon wieder vorbei. Aber die Generation — mit ihr kommen die wahren Veränderungen, mit ihr lebt eine Welt wirklich.«
»Also ist die Menschheit tot, da wir ja vierzig Millionen Jahre lang keine Evolution gehabt haben?« fragte Luet.
»Sind diese Kinder etwa keine Evolution?« fragte Schedemei. »Es kommt zu Zeiten einer genetischen Belastung zur biologischen Artbildung, wenn eine Spezies — kein einzelnes Individuum, nicht einmal ein Stamm — Gefahr läuft, vernichtet zu werden. Dann wird die gewaltige Vielzahl der Möglichkeiten innerhalb der Spezies bis auf jene wenigen Variationen ausgesiebt, die einen besonderen Überlebensvorteil bieten. Eine Spezies scheint sich also über Millionen von Jahren hinweg nicht zu verändern, doch dann, wenn die Notwendigkeit entsteht, kommt es ganz plötzlich zu einer Veränderung. In Wirklichkeit waren diese Veränderungen jedoch schon die ganze Zeit über vorhanden — sie wurden schlicht und einfach nur nicht isoliert und aufgedeckt.«
»Das hört sich nach einem wunderbaren Plan an«, sagte Luet.
»Ich weiß — und so haben die Frauen es doch immer gelehrt, nicht wahr? Der Plan der Überseele. Die Muster einer Generation: Paarung, Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt, Aufzucht, das Heranreifen und dann die nächste Paarung — alles der Plan der Überseele. Aber wir wissen es besser, nicht wahr? Die Maschine im Himmel ist lediglich ein Ausdruck des Willens der Menschheit — ein Teil des Grundes, warum wir seit vierzig Millionen Jahren keine Notwendigkeit zur Artbildung mehr gehabt haben. Ein Werkzeug, das so viele Variationen wie möglich in uns hervorrufen soll, ohne daß wir jemals imstande sind, uns selbst und unsere Welt zu zerstören, wie wir es auf der Erde getan haben. Haben Nafai und Issib nicht genau das herausgefunden? Sind wir nicht genau deshalb hier? Weil es kein Plan der Überseele ist, sondern die Überseele die Fähigkeit verliert, die Menschheit im Zaum zu halten. Doch ich bin unwillkürlich der Ansicht, daß es vielleicht gut wäre, die Überseele verwelken und sterben zu lassen. In den nachfolgenden Generationen würde es aufgrund der unausweichlichen, schrecklichen Belastung, die dann auf die Menschheit zukäme, vielleicht zu einer neuen Artbildung kommen.« Sie beugte sich zu der kleinen Dza hinab und blies ihr ins Gesicht, womit sie das Mädchen immer zum Lachen brachte. »Vielleicht bist du diese neue Entwicklung«, sagte Schedemei. »Nicht wahr, Dazjitnikija?«
»Du liebst Kinder sehr«, sagte Luet mit sehnsüchtigem Tonfall.
»Ich liebe anderer Leute Kinder«, sagte Schedemei. »Ich kann sie den Eltern einfach zurückgeben und habe dann Zeit für meine Arbeit. Für euch, ihr Armen, hört es nie auf.«
Aber Huschidh ließ sich nicht täuschen. Nicht, daß Schedemei nicht meinte, was sie sagte — ganz und gar nicht. Schedja war es sehr ernst mit ihrer Entscheidung, keine Kinder zu bekommen. Es war ihr wirklich lieber so — oder zumindest glaubte sie das.
Huschidh war jedoch davon überzeugt, daß die starke Verbindung zwischen Schedemei und allen Babies im Lager in Wirklichkeit auf der unbewußten Reaktion der Kleinkinder auf Schedemeis unwiderstehlichen Drang beruhte. Sie wollte Kinder haben! Sie wollte Teil der großen Weitergabe der Generationen auf der Welt sein. Aber da war noch mehr. Während Huschidh beobachtete, wie die Liebe zwischen Schedemei und Zdorab zu einer der stärksten Freundschaften wuchs, die sie je gesehen hatte, wurde ihre Überzeugung immer stärker, daß Schedemei ein Kind von Zdorab haben wollte, und Huschidh sehnte sich geradezu danach, daß dieser Wunsch in Erfüllung ging.
Sie hatte sogar die Überseele gefragt, warum Schedemei nicht schwanger wurde, doch die Überseele hatte ihr nicht geantwortet — und Luet hatte gesagt, als sie gefragt habe, habe sie die eindeutige Antwort bekommen, es ginge sie nichts an, was zwischen Zdorab und Schedemei sei.
Vielleicht geht es uns wirklich nichts an, dachte Huschidh, aber das heißt noch lange nicht, daß wir Schedemei nicht wünschen könnten, alles zu haben, was sie braucht, um wirklich glücklich zu sein. Hatte die Überseele diese Menschen nicht zusammengeführt, weil all ihre Gene nützlich waren? War es möglich, daß die Überseele sich geirrt hatte und entweder Zdorab oder Schedemei steril waren? In diesem Fall wäre dies fürchterlich ungeschickt von ihr gewesen.
Selbst jetzt erklärte Schedemei, daß nicht sie, sondern Zdorab die geologische Geschichte des Tals der Feuer ausfindig gemacht hatte. »Er spielt auf dem Index wie auf einem Musikinstrument. Er hat schon Dinge herausgefunden, von denen nicht einmal die Überseele ahnte, daß sie sie wußte. Dinge, die nur die Uralten, die sich zuerst hier niedergelassen haben, verstanden haben. Sie haben der Überseele ihr Gedächtnis, ihren Speicher, gegeben, sie aber dann so programmiert, daß sie diese Daten nicht mehr finden konnte. Zdorab hat jedoch Hintertüren gefunden, verborgene Pfade, die seltsamen Verbindungen, die zu so vielen, vielen Geheimnissen führen.«
»Ich weiß«, sagte Huschidh. »Issib ist manchmal ungeheuer erstaunt über ihn, obwohl Issja selbst nicht schlecht ist, wenn es darum geht, dem Index etwas zu entlocken.«
»Oh, allerdings, das weiß ich«, sagte Schedemei. »Zdorab sagt ständig, daß Issib der wirkliche Forscher ist.«
»Und Issib sagt, das läge nur daran, daß er mehr Zeit hat, da er sonst ja zu nichts zu gebrauchen ist«, sagte Huschidh. »Beide scheinen Gründe gefunden zu haben, warum der andere viel besser ist. Ich glaube, sie sind gute Freunde geworden.«
»Ich weiß«, sagte Schedemei. »Issib sieht, was für ein guter Mann Zdorab in Wirklichkeit ist.«
»Das wissen wir alle«, sagte Luet.
»Wirklich?« fragte Schedemei. »Manchmal habe ich den Eindruck, daß alle anderen ihn nur für einen Dienstboten halten.«
»Er ist unser Koch, weil er darin am besten ist«, sagte Huschidh. »Und unser Bibliothekar, weil er auch darin am besten ist.«
»Ja, aber nur wenige von uns interessieren sich für seine Fähigkeiten als Archivar; die meisten legen nur Wert auf seine kulinarischen Künste.«
»Und auf seine Gartenarbeit«, sagte Luet.
Schedemei lächelte. »Seht ihr? Aber er bekommt dafür nur wenig Respekt.«
»Von einigen«, sagte Huschidh. »Aber andere respektieren ihn sehr.«
»Ich weiß, daß Nafai ihn respektiert«, sagte Luet. »Und ich respektiere ihn auch.«
»Und ich, und Issib — und auch Volemak, das weiß ich«, sagte Huschidh.
»Und sind das nicht alle, auf die es ankommt?«
»Ich sage ihm das ja auch«, erwiderte Schedemei, »aber er besteht darauf, den Diener zu spielen.«
Huschidh sah, daß Schedemei zumindest in diesem Augenblick kurz davor stand, endlich einmal jemandem ihr Herz auszuschütten, etwas, was sie weder vor noch während der Reise je getan hatte. Sie wußte jedoch nicht, wie sie sie dazu ermutigen sollte — sollte sie sie mit einer Frage anstacheln oder Schweigen bewahren, um sie nicht zu drängen?
Sie bewahrte Schweigen.
Und Schedemei ebenfalls.
Bis Schedemei schließlich laut schnüffelte und die Nase an Schvejas Windel hielt. »Hat unser kleines Scheißerchen wieder eine neue Ladung produziert?« fragte sie. »Jetzt zahlt es sich aus, daß ich nur Tante bin. Mama Luet, dein Baby braucht dich.«
Sie lachten — weil sie natürlich wußten, daß Schedemei durchaus eine Windel wechseln konnte. Es war nur ein Scherz, daß sie das Baby der Mutter zurückgab, wenn es lästig wurde.
Nein, nicht nur ein Scherz. Auch ein sehnsüchtiges Bedauern. Schedemei rief sich damit in Erinnerung zurück, daß sie in Wirklichkeit nicht zur Gemeinschaft der Frauen gehörte, wie Zdorab nicht zu der der Männer. Huschidh wußte, sie war nahe daran gewesen, etwas Wichtiges zu erzählen … und dann war der Augenblick verstrichen.
Als Luet ihr Baby säuberte, sah Schedemei zu, und Huschidh wiederum beobachtete sie. Nun, am Ende des Bades, trug Luet nur ein leichtes Hemd, und ihr mütterlicher Körper — schwere Brüste, ein von der nur einige Monate zurückliegenden Geburt noch lockerer und voller Bauch — zeichnete sich durch den Stoff ab, als sie niederkniete und sich über ihr Baby bückte. Was sieht Schedemei, wenn sie Luet ansieht, deren Figur einmal so schlank und knabenhaft war, wie Schedemeis es noch immer ist? Wünscht sie sich diese Verwandlung?
Doch anscheinend hatten Schedemeis Gedanken eine ganz andere Richtung genommen. »Luet«, sagte sie, »als wir gestern an diesem See waren … hat er dich nicht an den See der Frauen in Basilika erinnert?«
»O ja«, sagte Luet.
»Du warst dort die Wasserseherin«, sagte Schedemei. »Wolltest du dich nicht auf der Mitte des Sees treiben lassen und träumen?«
Luet zögerte einen Augenblick lang. »Wir hatten kein Boot«, sagte sie. »Und nichts, woraus wir eins hätten machen können. Und das Wasser war zu heiß, um darin zu schwimmen.«
»Wirklich?« fragte Schedemei.
»Ja«, sagte Luet. »Nafai hat es nachgeprüft. Du weißt, er hat ja auch den See der Frauen durchquert.«
»Aber hast du dir nicht gewünscht, wenigstens für eine kleine Weile, wieder die Person sein zu können, die du einmal gewesen bist?«
Die Sehnsucht in Schedemeis Stimme war so stark, daß Huschidh augenblicklich begriff. »Aber Luet ist doch noch dieselbe Person«, sagte sie. »Sie ist noch immer die Wasserseherin, obwohl sie ihre Tage jetzt auf dem Rücken eines Kamels und ihre Nächte in einem Zelt und jede Stunde mit einem Baby an der Brustwarze verbringt.«
»Ist sie also die Wasserseherin?« fragte Schedemei. »Sie war es — aber ist sie es noch? Oder sind wir alle nichts mehr als das, war —wir jetzt tun? Sind wir in Wirklichkeit nicht stets nur das, wofür die Leute, mit denen wir zusammenleben, uns halten!«
»Nein«, sagte Huschidh. »Sonst würde das doch bedeuten, daß ich in Basilika nur die Entwirrerin war und Luet nur die Wasserseherin und du nur eine Genetikerin. Und das stimmt so doch auch nicht. Es ist immer etwas über und hinter und unter der Rolle, die wir in den Augen der anderen spielen. Sie mögen glauben, daß wir nur das Drehbuch sind, das wir spielen, aber wir müssen es nicht glauben.«
»Aber wer sind wir dann?« fragte Schedemei. »Wer bin ich?«
»Immer eine Wissenschaftlerin«, sagte Luet, »weil du dich noch immer in jeder freien Stunde mit der Wissenschaft beschäftigst.«
»Und unsere Freundin«, sagte Huschidh.
»Und diejenige in unserer Gruppe, die am besten versteht, wie etwas funktioniert«, fügte Luet hinzu.
»Und Zdorabs Frau«, sagte Huschidh. »Ich glaube, das ist für dich am wichtigsten.«
Zu ihrer Überraschung und Bestürzung bestand Schedemeis Antwort nur darin, Dza auf den Teppich zu legen und aus dem Zelt zu laufen. Huschidh erhaschte nur einen kurzen Blick auf ihr Gesicht, sah jedoch, daß sie weinte. Daran bestand kein Zweifel. Sie weinte, weil Huschidh gesagt hatte, es bedeute ihr mehr als alles andere, Zdorabs Frau zu sein. So benahm sich eine Frau, wenn sie an der Liebe ihres Mannes zweifelte. Aber wie konnte sie zweifeln? Offensichtlich drehte sich doch Zdorabs ganzes Leben um sie. Alle wußten, es gab keine besseren Freunde in der Gruppe als Zodja und Schedja — von Luet und Huschidh einmal abgesehen, und sie waren Schwestern, so daß sie kaum zählten. Was also stimmte zwischen Zdorab und Schedemei nicht, daß eine so starke Frau bei diesem Thema so zerbrechlich war? Ein Geheimnis! Huschidh hätte gern die Überseele gefragt, wußte aber, daß sie immer dieselbe Antwort bekommen würde — Schweigen. Oder aber die Antwort, die Luet bekommen hatte — kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.
Das Beste und das Schlechteste an ihrer Umkehr und der anderen Strecke, die sie in Richtung Süden einschlugen, war, daß sie das Meer sehen konnten. Insbesondere die Dorova-Bucht, einen östlichen Ausläufer des Reinigenden Meeres. Und in klaren Nächten — und alle Nächte waren klar — konnten sie auf der anderen Seite dieser Bucht die Stadt Dorova sehen.
Es war keine Stadt wie Basilika, das wußten sie alle. Es war ein schäbiges Nest am Rande der Wüste, in dem sich Gesindel und Schieber, Versager und Diebe, gewalttätige Männer und Frauen herumtrieben. Sie sagten sich dies immer wieder und erinnerten sich an Geschichten über Wüstenstädte und daran, daß sie keinen Besuch wert waren, nicht einmal, wenn es sich um die letzte Stadt auf ganz Harmonie gehandelt hätte.
Abgesehen davon, daß Dorova die letzte Stadt auf der Welt war — jedenfalls auf ihrer Welt. Die letzte, die sie je sehen würden. Es war die Stadt, die sie vor über einer Woche hätten besuchen können, als Volemak sie vom Nividimu in die Berge hinaufführte und damit die letzte Hoffnung löschte, in die Zivilisation zurückzukehren — oder die letzte Gefahr, je nach Standpunkt.
Nafai sah, wie andere diese Lichter betrachteten, wenn sie sich in der Nacht zusammenfanden. Ihnen war kalt, sie wagten nicht, ein Feuer anzuzünden, und die in Decken gehüllten Kleinkinder schmatzten, wenn sie gestillt wurden, während sie selbst kaltes Wasser tranken und an Trockenfleisch, Zwieback und getrockneten Melonen nagten. Und Obring stiegen Tränen in die Augen — Tränen! Und was war die Stadt schon für ihn? Höchstens ein Ort, wo er einen draufmachen konnte. Tränen! Und Sevet ging es nicht besser mit ihrem starren, einfachen Blick und dem steinernen Ausdruck auf dem Gesicht. Sie hatte ein Baby an der Brust, und sie konnte nur an eine Stadt denken, die so klein und schmutzig war, daß sie sie vor zwei Jahren nicht einmal betreten hätte. Hätte man ihr für einen Auftritt dort das Zwanzigfache ihres üblichen Honorars geboten, hätte sie nur höhnisch darüber geschnaubt — und nun konnte sie den Blick nicht von der Stadt abwenden.
Aber zum Glück konnten sie sie lediglich betrachten. Sie konnten sie sehen, aber sie hatten kein Boot, um die Bucht zu überqueren, und keiner von ihnen war ein so guter Schwimmer, daß er die vielen Kilometer ohne Boot hätte zurücklegen können. Außerdem befanden sie sich nicht am Strand, sie waren mindestens einen Kilometer über ihm, am Rand einer zerklüfteten, schroffen Neigung, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie nun eine Klippe oder ein Hang war. Vielleicht bekämen sie die Kamele dort hinab, aber das war keineswegs sicher. Selbst dann hätten sie noch mit den Kamelen mehrere Tage am Ufer entlang reisen müssen, und ohne die Tiere würden sie kein Trinkwasser haben und es überhaupt nicht schaffen. Nein, niemand würde sich von der Gruppe absondern können und es nach Dorova schaffen. Das wäre nur möglich gewesen, wenn sie alle gingen, und selbst dann hätten sie wahrscheinlich die gesamte Strecke, die sie schon zurückgelegt hatten, umkehren müssen, also eine Reise von mindestens anderthalb Wochen, und wahrscheinlich wären sie dann irgendwann auf eine der Karawanen aus dem Süden gestoßen. Aber das war sowieso ein bedeutungsloses Gedankenspiel, weil Vater niemals umkehren würde.
Und doch mußte Nafai unentwegt darüber nachdenken, wie gern diese Leute zu dieser Stadt gezogen wären.
Wie gern er dorthin gezogen wäre.
Ja, das war das Problem. Das störte ihn. Er wollte auch in die Stadt. Nicht wegen der Dinge, wegen denen sie dorthin wollten; zumindest vermutete er, daß sie deshalb dorthin wollten. Nafai begehrte keine andere Frau als Luet; sie waren eine Familie, und daran würde sich nichts ändern, ganz gleich, wo sie lebten, das hatte er schon vor geraumer Zeit beschlossen. Nein, Nafai wollte ein weiches Bett, in das er Schveja legen konnte. Eine Schule, die sie aufnehmen würde. Ein Haus für Luet und Schveja und die Kinder, die vielleicht noch kommen würden. Nachbarn und Freunde — Freunde, die er sich selbst aussuchen konnte, und nicht diese zufällige Ansammlung von Leuten, von denen er die meisten nicht besonders gut leiden konnte. Das bedeuteten diese Lichter für ihn — und statt dessen befand er sich auf einer Wiese, die sich trügerisch zum Meeresufer neigte. Wenn man einfach die Augen zusammenkniff, sah man nicht mehr, daß man sich einen Kilometer über dem Meeresspiegel befand, konnte man sich einfach einreden, daß man nur diese Wiese hinabschlenderte und dann mit einem Boot über die Bucht fuhr, und man war zu Hause, die Reise war vorbei, man konnte baden und in einem richtigen Bett schlafen, und wenn man aufwachte, war das Frühstück bereits zubereitet, und neben einem lag seine Frau, und dann hörte man das leise Geräusch, mit dem die kleine Tochter aufwachte, und man schlüpfte aus dem Bett und nahm sie aus der Wiege und brachte sie ihrer Mutter, die schläfrig eine Brust aus dem Nachthemd zog und den Mund des Babys dagegen drückte, das sich dann auf dem Bett gegen ihre Armbeuge schmiegte. Und man legte sich neben sie und lauschte dem Schmatzen und Saugen des Babys, und man hörte die Vögel, die vor dem Fenster sangen und die Geräusche des Morgens in der nicht fernen Straße, die Händler, die riefen, was sie alles zu verkaufen hatten: Eier, Beeren, Sahne, süßes Brot und Kuchen.
Überseele, warum hast du uns nicht in Ruhe gelassen? Warum konntest du nicht noch eine Generation warten? Vierzig Millionen Jahre, und du konntest nicht warten, damit Luets und meine Urgroßkinder dieses große Abenteuer erleben? Warum hast du Issib und mich nicht herausfinden lassen, wie ,man eine dieser wunderbaren alten Flugmaschinen baut, damit wir uns in ein paar Stunden problemlos dorthin begeben können, wohin wir wollen? Zeit, mehr brauchen wir wirklich nicht. Zeit, um zu leben, bevor wir unsere Welt verlieren.
Hör auf zu jammern, sagte die Überseele in Nafais Verstand. Vielleicht war es aber auch gar nicht die Überseele. Vielleicht war es nur Nafais Gefühl, sich bereits zu sehr gehen gelassen zu haben.
Es war Morgen, kurz vor der Dämmerung. Sie befanden sich an der Quelle, deren Namen der Index mit Schazer angegeben hatte, obwohl Nafai nicht begriff, wieso jemand einem so obskuren Ort einen Namen gegeben hatte und wieso die Überseele sich überhaupt daran erinnerte. Vas hatte die letzte Nachtwache gehabt und Nafai danach geweckt, damit sie gemeinsam auf die Jagd gingen. Vor drei Tagen hatten sie zum letzten Mal Fleisch gegessen, und diese Lagerstelle war gut, so daß sie sich notfalls zwei Tage für die Jagd Zeit lassen konnten. Vas würde also versuchen, ein Tier oder zumindest eine Fährte ausfindig zu machen; Nafai folgte ihm, und wenn die Beute in der Nähe wäre, würde sich alles wie immer abspielen: Er schlich sich heran, bis er das Tier sah. Dann nahm er den kostbaren Pulsator, zielte sorgfältig, versuchte zu vermuten, in welche Richtung das Tier sich bewegen würde, wie weit und wie schnell, und dann drückte er auf den Abzug, und der Lichtstrahl würde ein Loch in das Herz des Tieres brennen und die Wunde versengen, so daß sie nicht blutete, abgesehen von einem heißen, nassen Rauch, der den Sand und die Felsen befleckte, auf die er sich rot und schwarz legte.
Nafai war der Sache überdrüssig. Aber es war seine Pflicht, und als Vas leise am Stoff des Zeltes kratzte, dort, wo Nafais Kopf lag, erwachte Nafai sofort — falls er nicht schon wach gewesen war und am Rand eines Traums getrieben hatte —, stand auf und zog sich an, ohne Luet oder Schveja zu wecken, nahm den Pulsator aus seinem Kasten und begab sich zu Vas in die frostige Dunkelheit hinab.
Vas nickte ihm zur Begrüßung zu — sie versuchten, Gespräche zu vermeiden, um die Babies nicht unnötig zu wecken —, und sie gingen los, dem Hang entgegen. Nicht in Richtung Stadt, aber trotzdem zum Meer hinab. Nafai wäre normalerweise zur Jagd niemals hügelabwärts gegangen, da sie die erlegte Beute dann hügelaufwärts zum Lager tragen mußten. Aber diesmal wollte er hinab. Obwohl er ihre Suche niemals aufgeben würde und nicht einmal im Traum daran dachte, Vater oder die Überseele zu betrügen, sehnte sich ein Teil von ihm nach dem Meer und nach dem, was hinter dem Meer lag; und so nickte er, als Vas zum Hang deutete.
Als sie sich ein gutes Stück vom Lager entfernt und den Rand des Hügels erreicht hatten, blieben sie stehen und pinkelten, und dann begann der schwierige Abstieg in das Steingewirr, das nach unten führte. Da die Sonne hinter ihnen aufging, lag der gesamte Hang vor ihnen in den Schatten. Aber Vas war der Fährtenleser, und Nafai hatte schon vor langem erkannt, daß er sowohl gut darin als auch stolz auf seine Fertigkeiten war und es daher besser war, wenn er in dieser Hinsicht nicht versuchte, mit ihm zu konkurrieren.
Der Abstieg war nicht einfach, wenngleich die Dunkelheit sich mit jedem verstreichenden Augenblick hob, denn die Dämmerung schien den Himmel von einem Horizont zum anderen viel schneller zu erhellen, als es in Basilika je der Fall gewesen war. Lag es an der geographischen Breite? An der trockenen Wüstenluft? Woran auch immer es liegen mochte, er konnte etwas sehen, aber er machte lediglich ein Durcheinander von Klippen und Abhängen aus, von Felsvorsprüngen und —ausläufern, die selbst die behendesten Tiere vor Schwierigkeiten stellten. Was für ein Geschöpf willst du hier finden, Vas? Was für ein Tier könnte hier leben?
Aber das waren schlicht und einfach Nafais ganz normale Zweifel — er befürchtete das Schlimmste, obwohl er wußte, daß es hier genug Vegetation gab und sie keine Schwierigkeiten haben würden, Wild zu finden. Es würde nur nicht so einfach sein, es nach Hause zu schaffen. Nicht zuletzt deshalb hatte Elemak stets einen Jäger und einen Fährtensucher gemeinsam ausgeschickt, entweder Nafai und Vas oder damals, als sie noch mehr als einen Pulsator gehabt hatten, Elemak als Jäger und Obring als Fährtensucher. Wenn sie erfolgreich waren, kamen sie nach Hause, und beide Männer trugen je ein halbes Tier auf den Schultern. Das war jedoch öfter bei Nafai und Vas der Fall, teils, weil Nafai der beste Schütze war, teils, weil Obring sich nie lange genug auf das Fährtensuchen konzentrieren konnte, um gute Arbeit zu leisten, und Elemak letztlich beide Aufgaben zugleich erledigen mußte.
Vas hingegen konnte sich sehr gut konzentrieren und sah Dinge, die sonst niemandem auffielen. Vas konnte ein und dieselbe Beute stundenlang unbarmherzig verfolgen. Wie ein Kampfhund, der zuschnappte und nicht mehr losließ. Das war ebenfalls ein Grund für Nafais größeren Erfolg — Vas führte ihn unweigerlich zu der Beute. Der Rest des Erfolgs ging jedoch auf Nafais Konto. Niemand sonst konnte sich so leise an ein Tier anschleichen; niemand sonst zielte so ruhig und sicher. Sie waren ein gutes Gespann, obwohl sie sich nie im Leben hätten träumen lassen, einmal erfolgreiche Jäger zu sein. Der Gedanke wäre ihnen gar nicht in den Sinn gekommen.
Vas fand in der Tat kurz darauf eine kleine Spur. Nafai hatte schon lange aufgegeben, all die Dinge sehen zu wollen, die Vas sah — wie so oft wäre er nicht einmal darauf gekommen, daß es sich um die Spur eines Tieres handelte. Nafai folgte Vas einfach und hielt die Augen nach Raubtieren offen, die vielleicht zum Schluß kommen konnten, daß Menschen entweder eine Bedrohung oder aber eine Mahlzeit waren. Die Spur des Tieres führte immer tiefer den Hang hinab, und irgendwann am Morgen konnte Nafai eine einfache und leichte Strecke zum Ufer ausmachen. Aus Gründen, auf die er nicht besonders stolz war, wollte er diesen Pfad hinabgehen und zumindest die Füße im Wasser der Dorova-Bucht baden. Aber Vas schlug diesen Weg nicht ein, sondern führte sie statt dessen eine zunehmend steilere und gefährlichere Klippe entlang.
Warum sollte ein Tier diesen Weg wählen? fragte Nafai sich. Um was für ein Tier handelte es sich? Aber natürlich sagte er nichts; es war eine Sache des Stolzes, während der Jagd völliges Schweigen zu bewahren.
Gerade, als sie die gefährlichste Stelle des Weges erreicht hatten, an der sie ohne den geringsten Halt eine glatte Felsoberfläche überqueren mußten und nur die Reibung verhinderte, daß sie fünfzig Meter oder tiefer hinabstürzten, blieb Vas stehen und deutete auf die andere Seite des Felsens. Das waren schlechte Nachrichten. Es bedeutete, daß Nafai den Felsen mit gezogenem und schußbereitem Pulsator überqueren mußte — mehr noch, daß er von diesem Hang aus zielen und schießen mußte.
Doch nachdem sie schon so viel Zeit investiert hatten, konnten sie nicht einfach aufhören und von vorn anfangen, nur weil sie auf eine Schwierigkeit gestoßen waren.
Und in diesem Augenblick kam ihm der Gedanke: Geh nicht weiter. Vas will dich töten.
Das ist dumm, dachte Nafai. Es ist eine Sache, vor dem Abhang Angst zu haben — ich bin nur ein Mensch. Aber wenn Vas mich töten wollte? Sobald ich ihm über den Vorsprung folge, braucht er nur einmal zusammenzucken und mir einen kleinen Stoß geben.
Geh keinen Schritt weiter.
Und die Familie bekommt kein Fleisch, weil ich plötzlich Bammel kriege? Kommt nicht in Frage.
Nafai schluckte seine Furcht herunter und ging weiter. Er krümmte den Körper ein wenig, um die Füße so stark wie möglich zu belasten und demzufolge mit den Sohlen seiner Kletterstiefel die Stärkstmögliche Reibung zu erzielen. Doch er spürte, daß sie trotzdem zu sehr nachgaben — dieses Teilstück war wirklich sehr gefährlich, und es war fast unmöglich, von hier aus zu schießen.
Er erreichte die Stelle, von der aus er die gesamte Fläche überblicken konnte, die ihm zuvor verborgen gewesen war, blieb stehen und hielt nach dem Tier Ausschau, sah es aber nicht. So etwas war öfter der Fall — besonders, wenn sie schweigend jagten. Vas hatte ihn vielleicht zu einem Tier mit guter natürlicher Tarnung geführt, und wenn es sie dann bemerkte, sah oder roch, erstarrte es und wurde fast völlig unsichtbar. Manchmal dauerte es eine Weile, bis das Tier sich bewegte und Nafai es sah. Es handelte sich also wieder um eins dieser Wartespiele. Nafai war es zwar nicht angenehm, daß er auf diesem glatten Felsen ausharren mußte, doch er war nun gut sichtbar, und wenn er jetzt weiterging, würde das Tier davonlaufen, und sie mußten von vorn anfangen.
Er bewegte vorsichtig die Hände, so daß sein gesamtes Gewicht auf den Beinen und der Hand ohne Pulsator lag. Dann hob er die Waffe, um auf alles zielen zu können, was sich auf dem Berg vor ihm bewegte. War das Tier in jenem Gebüsch? Vielleicht hinter einem Felsen, dessen Deckung es jeden Augenblick verlassen würde.
Es war nicht einfach, ruhig auf diesem glatten Felsen zu stehen. Nafai war stark und hatte schon öfter lange regungslos ausgeharrt, aber noch nie in solch einer Körperstellung. Schweiß tropfte seine Stirn hinab. Da er mit Staub von seinem Gesicht vermischt war, würde er gnadenlos brennen, sollte er ihm in die Augen geraten. Doch er konnte ihn nicht abwischen, ohne das Tier zu verjagen.
Ein Tier, das ich noch nicht einmal gesehen habe.
Vergiß das Tier! Verlasse sofort diesen Felsen!
Nein, so schwach bin ich nicht. Ich brauche die Nahrung für meine Familie — ich werde nicht umkehren und sagen, daß es heute kein Fleisch gibt, weil ich Angst hatte, ruhig auf einem Felsen zu stehen.
Er hörte, daß Vas sich hinter ihm bewegte. Das war dumm — warum tat er das?
Um mich zu töten.
Warum konnte er diese Vorstellung nicht abschütteln? Nein, Vas kam zu ihm, weil er gemerkt hatte, daß Nafai das Tier noch nicht ausgemacht hatte, und es ihm zeigen wollte. Aber wie wollte er das zustande bringen? Nafai konnte sich nicht zu ihm umdrehen, und Vas kam nicht an ihm vorbei.
O nein. Vas würde mit ihm sprechen.
»Es ist zu gefährlich«, sagte Vas. »Du wirst ausrutschen.«
Und während er dies sagte, ließ die Reibung, die Nafais rechten Fuß an Ort und Stelle hielt, plötzlich nach. Der Fuß glitt nach innen, er konnte die abrupte Bewegung nicht mit dem linken Fuß ausgleichen und kam ins Rutschen. Es mußte in Wirklichkeit sehr schnell gegangen sein, aber ihm kam es wie eine Ewigkeit vor; er versuchte, sich mit der Hand und mit dem Griff des Pulsators irgendwo festzuhalten, doch beide glitten einfach so über den Felsen und verlangsamten seinen Sturz kaum. Und dann wurde der Felsen steiler, und er rutschte nicht mehr, er fiel. Er fiel hinab und wußte, daß er sterben würde.
»Nafai!« schrie Vas. »Nafai!«
Luet war am Bach und wusch Kleidung, als plötzlich ein klarer Gedanke in ihren Verstand kam: ›Er ist nicht tot.‹
Nicht tot? Wer ist nicht tot? Warum sollte er tot sein?
›Nafai ist nicht tot. Er wird nach Hause kommen.‹
Sie wußte sofort, daß die Überseele zu ihr sprach, sie beruhigte. Aber sie wollte sich nicht beruhigen lassen. Es erleichterte sie zwar, daß Nafai in Ordnung war, aber nun mußte sie wissen, verlangte sie zu erfahren, was geschehen war.
›Er ist gestürzte Wie ist er gestürzt?
›Er ist von einem Felsen abgeglitten.‹
Nafai ist trittsicher. Warum ist er abgeglitten? Was verschweigst du mir?
›Ich habe beobachtet, wie Vas zu Sevet und Obring steht. Ununterbrochen beobachtet. Er hat Mord in seinem Herzen‹
Hat Vas etwas mit Nafais Sturz zu tun?
›Erst, als sie den glatten Felsen betraten, erkannte ich den Plan in seinem Kopf. Er hat bereits die ersten drei Pulsatoren zerstört. Ich wußte, daß er auch den letzten vernichten will, habe mir aber keine Sorgen gemacht, weil es Alternativen gab. Ich habe erst im letzten Augenblick in seinem Verstand gesehen, daß er den vierten Pulsator vernichten wollte, indem er Nafai an einen gefährlichen Ort führt, um ihm dort einen Stoß zu geben, damit er fällt.‹
Du hast diesen Plan vorher nicht in seinem Kopf gesehen?
›Als sie den Berg hinabgingen, dachte er die ganze Zeit über an einen Weg zum Meer. Wie er zur Bucht hinab kommt, um nach Dorova zu gehen. Nur daran dachte er, während er Nafai hinter einer Beute herführte, die es gar nicht gab. Vas hat eine beträchtliche Konzentrationsfähigkeit. Er hat bis zum letzten Augenblick an nichts anderes als den Weg zum Meer gedacht.‹
Hast du Nafai nicht gewarnt?
›Er hat mich gehört, aber nicht begriffen, daß es meine Stimme war. Er dachte, es wäre seine eigene Furcht, und kämpfte gegen sie an.‹
Also ist Vas ein Mörder.
›Vas ist, was er ist. Er wird alles tun, um sich dafür zu rächen, daß Obring und Sevet ihn in Basilika betrogen haben.‹
Aber er wirkt so ruhig.
›Er kann sehr kalt sein.‹
Und was jetzt? Was nun, Überseele?
›Ich werde ihn beobachten …‹
Das hast du schon die ganze Zeit über getan, und trotzdem hast du uns nie auch nur den geringsten Hinweis gegeben. Du hast gewußt, was Vas vorhatte. Huschidh hat sogar die starke Verbindung zwischen ihm und Sevet und Obring gesehen, und du hast ihr nie gesagt, was sie zu bedeuten hat.
›So wurde ich programmiert. Um zu beobachten. Ich darf mich erst einmischen, wenn meine Pläne gefährdet werden. Wer wäre noch frei, würde ich jeden schlechten Menschen davon abhalten, schlechte Dinge zu tun? Wie könnten die Menschen dann noch Menschen sein? Also lasse ich sie ihre Pläne schmieden und beobachte sie. Oftmals überlegen sie es sich anders, ohne daß es meiner Einmischung bedarf.‹
Hättest du Vas nicht aufhalten können, indem du ihn dumm und vergeßlich machst?
›Ich habe es dir doch gesagt. Er hat eine starke Konzentrationsfähigkeit‹
Was nun? Was nun?
›Ich werde ihn beobachten.‹
Hast du es Volemak gesagt?
›Ich habe es dir gesagt.‹
Soll ich es jemandem sagen?
›Vas wird es abstreiten. Nafai weiß nicht einmal, daß er das Opfer eines Möchtegern-Mörders war. Ich habe es dir gesagt, weil ich nicht vorherzusagen wage, was Vas nun tun wird.‹
Und was kann ich tun?
›Du bist der Mensch. Du bist diejenige, die Dinge denken kann, die deine Programmierung überschreiten.‹
Nein, ich glaube dir nicht. Ich glaube dir nicht, daß du keinen Plan hast.
›Sollte ich einen Plan haben, gehört dazu, daß du deine eigenen Entscheidungen triffst.‹
Huschidh. Ich muß es meiner Schwester sagen.
›Sollte ich einen Plan haben, gehört dazu, daß du deine eigenen Entscheidungen triffst.«
Soll das heißen, ich darf mich nicht mit Huschidh beraten, weil es dann nicht mehr meine Entscheidung wäre? Oder heißt es, das Gespräch mit Huschidh ist eine der Entscheidungen, die ich treffen muß?
›Sollte ich einen Plan haben, gehört dazu, daß du deine eigenen Entscheidungen über deine Entscheidungen triffst.‹
Und dann fühlte sie, daß sie wieder allein war; die Überseele sprach nicht mehr mit ihr.
Die Kleider lagen neben dem Bach im Gras, bis auf Schvejas Gewand, das sie gerade gewaschen hatte; dies hielt sie noch immer in den Bach, und ihre Hände waren mittlerweile eiskalt, weil sie sie während des gesamten Gesprächs mit der Überseele nicht bewegt hatte.
Ich muß mit Huschidh sprechen. Das ist also die erste Entscheidung, die ich treffe. Ich werde mit Huschidh und Issib sprechen.
Doch zuerst muß ich diese Kleider waschen. Sonst merken die anderen, daß etwas nicht in Ordnung ist. Ich glaube, das ist die richtige Entscheidung — die anderen sollen nicht merken, daß etwas nicht stimmt, zumindest jetzt noch nicht.
Schließlich ist Nafai in Ordnung. Zumindest ist Nafai nicht tot. Aber Vas ist in seinem Herzen ein Mörder. Und Obring und Sevet droht Gefahr von ihm. Ganz zu schweigen von Nafai, sollte Vas jemals befürchten, Nafai könne ihn vielleicht durchschaut haben. Ganz zu schweigen von mir, wenn Vas klar wird, daß ich es ebenfalls weiß.
Wieso hat die Überseele es nur so weit kommen lassen? Ist sie nicht für all das hier verantwortlich? Weiß sie nicht, daß sie schreckliche Menschen mit auf diese Reise genommen hat? Wie konnte sie nur zulassen, daß wir so viele Monate lang mit einem Mörder reisen und lagern; über ein Jahr lang, und wer weiß, wie lange die Reise noch dauern wird?
Natürlich, weil sie gehofft hat, er würde sich doch nicht zu einem Mord entschließen. Weil sie allen Menschen erlauben muß, Menschen zu sein, sogar jetzt. Besonders jetzt.
Aber nicht, wenn es darauf hinausläuft, meinen Gatten zu töten. Das geht zu weit, Überseele. Du bist ein zu großes Risiko eingegangen.. Wäre er gestorben, hätte ich dir nie verziehen. Ich hätte mich geweigert, dir weiterhin zu dienen.
Von der Überseele kam keine Antwort. Sie kam statt dessen aus ihrem eigenen Herzen: Es kann jederzeit zum Tod eines Individuums kommen. Es ist nicht die Aufgabe der Überseele, dies zu verhindern. Die Überseele hat die Aufgabe, den Tod einer ganzen Welt zu verhindern.
Nafai lag benommen im Gras. Da die Klippe sich vorwölbte, war der Felsvorsprung von oben nicht sichtbar gewesen. Nachdem er den Felsen ein paar Meter hinabgerutscht war, war er nur fünf oder sechs Meter tief gestürzt. Das hatte ihm die Luft aus den Lungen getrieben und ihn das Bewußtsein verlieren lassen. Doch bis auf eine Prellung der Hüfte, auf der er gelandet war, war er unverletzt. Wäre der Felsvorsprung nicht gewesen, wäre er hundert Meter oder noch tiefer abgestürzt und mit Sicherheit gestorben.
Ich kann nicht fassen, daß ich es überlebt habe. Ich hätte nie versuchen sollen, das Tier aus dieser Position zu töten. Ich war dumm. Es war richtig, Angst zu haben. Ich hätte auf meine Angst hören sollen. Wir hätten das Tier zwar verloren, aber wir können jederzeit eine andere Beute aufspüren und töten. Wir können aber nicht einen anderen Vater für Schveja finden, einen anderen Gatten für Luet, einen anderen Jäger, der für andere Aufgaben nicht gebraucht wird.
Oder einen anderen Pulsator.
Er sah sich um und stellte fest, daß die Waffe nicht auf dem Felsvorsprung lag. Er konnte sie nirgendwo sehen. Er mußte sie bei seinem Sturz losgelassen haben, und sie mußte irgendwo aufgeprallt sein. Aber wo war sie?
Er kroch zum Rand des Simses und sah hinüber. Unter ihm ging es bis auf ein paar kleine Felsvorsprünge steil hinab — wenn der Pulsator auf diese gestürzt war, war er abgeprallt und noch tiefer gefallen. Der Pulsator mußte also auf dem Grund der Schlucht liegen, doch von hier oben aus konnte Nafai ihn nicht sehen — er lag im Gebüsch. Oder in jenen Baumgipfeln?
»Nafai!« Vas rief nach ihm.
»Ich bin hier!« rief Nafai.
»Gott sei Dank! Bist du verletzt?«
»Nein«, sagte Nafai. »Aber ich liege auf einem Felsvorsprung. Ich glaube, ein begehbarer Pfad führt nach Süden. Ich bin etwa zehn Meter unter dir. Kannst du auch nach Süden gehen? Vielleicht brauche ich deine Hilfe. Unter mir geht es steil bergab, und es ist unmöglich, zu dir hinaufzuklettern.«
»Hast du den Pulsator?« fragte Vas.
Natürlich mußte er sich nach der Waffe erkundigen. Nafai lief vor Scham rot an. »Nein, ich muß ihn bei meinem Sturz fallen gelassen haben«, sagte er. »Wenn du ihn da oben nirgendwo siehst, muß er auf dem Grund der Schlucht liegen.«
»Hier ist er nicht — du hattest ihn in der Hand, als du gefallen bist.«
»Dann liegt er unten. Geh in südliche Richtung«, sagte Nafai.
Doch er mußte feststellen, daß es einfacher war, darüber zu sprechen, am Rand eines Abgrundes entlang zu gehen, als es tatsächlich zu tun. Er hatte sich bei dem Sturz nicht ernsthaft verletzt, doch der Schreck hatte etwas in ihm bewirkt — er konnte sich kaum aufrappeln aus Angst vor dem steil abfallenden Rand, aus Angst vor dem Sturz.
Ich bin nicht gefallen, weil ich das Gleichgewicht verloren habe, dachte Nafai. Ich bin gefallen, weil schlicht und einfach die Reibung nicht ausreichte, um mir auf dieser gefährlichen Stelle Halt zu geben. Bei diesem Felsvorsprung ist es etwas ganz anderes. Hier kann ich sicher stehen.
Also stand er auf, den Rücken den Felsen zugewandt, atmete tief durch und sagte sich, er müsse sich jetzt nur noch in Bewegung setzen, in südliche Richtung über den Felsvorsprung, um die Ecke, weil dort vielleicht ein Weg nach oben führte. Doch je mehr er sich dies sagte, desto mehr konzentrierte sein Blick sich auf den nicht einmal einen Meter von seinen Füßen entfernten Abgrund jenseits des Felsvorsprungs. Wenn ich mich nur ein wenig vorbeuge, werde ich fallen. Und wenn ich jetzt falle, werde ich hundert Meter tief stürzen.
Nein, sagte er sich, so darf ich nicht denken, oder ich werde nie wieder zu etwas zu gebrauchen sein. Ich habe solche Felsvorsprünge schon hundertmal bewältigt. Sie sind nichts. Sie sind kein Problem. Und es würde mir helfen, wenn ich zur Felswand sehe und nicht zum Abgrund, der zum Meer hinabführt.
Er drehte sich um und trat vorsichtig den Felsvorsprung entlang, drückte sich dabei aber fester gegen die Klippe, als er es früher getan hätte. Aber sein Selbstvertrauen wuchs mit jedem Schritt, den er tat.
Als er die Biegung umrundete, sah er, daß der Vorsprung dort auslief — aber jetzt waren es nur noch zwei Meter von diesem Vorsprung bis zum nächsten über ihm, und von dort aus konnte er problemlos zu der Stelle hinaufklettern, die Vas und er kaum eine Stunde zuvor entlanggegangen waren. »Vas!« rief er. Er ging weiter, bis er direkt unter dem anderen Vorsprung stand. Er konnte ihn fast erreichen, wenn er die Arme ausstreckte, aber er konnte sich nirgendwo festhalten, und die Kante zerbröckelte bereits und wirkte nicht besonders zuverlässig. Es war sicherer, wenn Vas ihm half. »Vas, ich bin hier! Ich brauche dich!«
Aber er hörte nichts von Vas. Und dann erinnerte er sich an den Gedanken, der ihm gekommen war, als er den gefährlich glatten Felsen überqueren wollte: Geh nicht weiter! Vas will dich töten.
Hatte es sich dabei vielleicht um eine Warnung von der Überseele gehandelt?
Absurd?
Nafai wartete nicht auf Vas’ Antwort. Statt dessen streckte er die Arme so weit aus, wie er nur konnte, und grub die Finger dann in den lockeren, grasbewachsenen Boden. Er glitt mehrmals aus, doch indem er stetig krabbelte und immer wieder die Finger in den Boden grub, bekam er die Schultern über den Rand des Vorsprungs, und dann war es relativ einfach, ein Bein hinaufzuschwingen und sich in Sicherheit zu ziehen. Er rollte sich auf den Rücken und blieb einen Augenblick lang liegen, vor Erleichterung keuchend. Er konnte kaum glauben, daß er so kurz nach dem Sturz etwas so Gefährliches getan hatte — hätte er den Halt verloren, während er auf den oberen Vorsprung kletterte, hätte der untere ihn wohl kaum aufgefangen. Er hatte den Tod riskiert — aber er hatte es geschafft.
Nun tauchte Vas auf. »Ah«, sagte er. »Du bist schon oben. Komm, hier entlang! Wir kehren auf dem gleichen Weg zurück.«
»Ich muß den Pulsator suchen.«
»Er wird zerbrochen und nutzlos sein«, sagte Vas. »So einen tiefen Fall kann er nicht überstanden haben.«
»Ich kann nicht zurückgehen und einfach sagen, daß ich den Pulsator nicht mehr habe«, erwiderte Nafai. »Daß ich ihn verloren habe. Er ist da unten, und selbst, wenn er in vierzig Stücke zerbrochen ist, werde ich diese Einzelteile nach Hause bringen.«
»Macht es einen Unterschied, ob du den Pulsator verloren oder zerbrochen hast?« fragte Vas.
»Ja«, sagte Nafai. »Ich zeige ihnen lieber die Überreste, als daß sie sich ewig fragen, ob ich ihn, wenn ich nur richtig nachgesehen hätte, nicht doch noch gefunden hätte. Begreifst du nicht, daß es um den Fleischvorrat unserer Familien geht?«
»Doch, das begreife ich«, sagte Vas. »Und nachdem du es jetzt so ausgedrückt hast, ist mir natürlich klar, daß wir nach ihm suchen müssen. Komm, hier entlang — hier führt ein Pfad hinab.«
»Ich weiß«, sagte Nafai. »Direkt zum Meer.«
»Ach ja?« fragte Vas.
»Dort hinab, und dann nach links — siehst du?«
»Oh, jetzt sehe ich es auch.«
Nafai schämte sich, daß er den Weg zum Meer entdeckt, Vas aber nicht einmal daran gedacht hatte.
Doch statt zum Meer zu gehen, kletterten sie zu dem Unterholz hinab, in das der Pulsator gefallen sein mußte. Sie fanden ihn schon nach kurzer Suche: Er in der Mitte durchgebrochen. Mehrere kleine Bestandteile lagen hier und da in den Büschen verstreut, und einige würden sie wahrscheinlich niemals finden. Es bestand nicht die geringste Hoffnung, den Pulsator reparieren zu können.
Dennoch steckte Nafai alle Einzelteile, ob nun groß oder klein, in den Tragriemen, den er eigens für den Pulsator angefertigt hatte, und band ihn zu. Dann machten er und Vas sich wieder an den langen Aufstieg. Nafai schlug vor, daß Vas voranging, da dieser sich den Weg besser eingeprägt hatte, und Vas erklärte sich sofort einverstanden. Nafai ließ nicht die leiseste Andeutung fallen, er wolle nicht, daß Vas hinter ihm ging, wo er ihn nicht im Auge behalten konnte.
Überseele, war das eine Warnung von dir?
Er bekam keine Antwort, zumindest keine direkte. Statt dessen stellte sich bei ihm der klare Gedanke ein, er solle nach der Rückkehr zum Lager mit Luet sprechen. Und das hätte er sowieso getan, besonders nach einem Erlebnis wie diesem, bei dem er dem Tod so nahe gewesen war. Und so vermutete er, daß es sein eigener Gedanke gewesen war und die Überseele gar nicht zu ihm gesprochen hatte.