7 Der Bogen

Der Verlust des Pulsators war ein solcher Schlag, daß weder Volemak noch Elemak versuchten, die Ruhe zu bewahren. Zumindest versuchten sie es erst, als die Situation fast schon außer Kontrolle geraten war. Da lagen die Bruchstücke des Pulsators auf einem Tuch, und neben ihnen die beiden vom Wasser beschädigten Waffen, die Elemak gerettet hatten. Zdorab saß vor ihnen, den Index auf dem Schoß, und las die Ziffern der beschädigten Teile vor. Fast alle anderen standen da — nur wenig waren ruhig genug, um zu sitzen — und warteten, sahen zu, schritten auf und ab und murmelten leise vor sich hin, während Zdorab herauszufinden versuchte, ob man mit den Einzelteilen der Waffe noch etwas anfangen konnte.

»Es ist sinnlos«, sagte er schließlich. »Selbst wenn wir alle Teile hätten, fehlt es uns an den notwendigen Werkzeugen, und um die herzustellen, müßten wir fünfzig Jahre lang die nötigen Technologien entwickeln.«

»Was hatte die Überseele doch für einen brillanten Plan«, sagte Elemak. »Sie hielt die gesamte Menschheit auf einem niedrigen technologischen Niveau — auf einem so niedrigen, daß wir zwar Pulsatoren herstellen können, aber nicht wissen, wie sie funktionieren, und sie auch nicht reparieren können, wenn sie kaputtgehen.«

»Das war nicht der Plan der Überseele«, sagte Issib.

»Ist das noch wichtig?« sagte Mebbekew. »Jetzt werden wir hier draußen sterben.«

Dol brach in Tränen aus, und diesmal schien es sich um echte zu handeln.

»Es tut mir leid«, sagte Nafai.

»Sicher doch, und wir alle freuen uns, daß du Gewissensbisse hast«, sagte Elemak. »Was hast du überhaupt an so einem gefährlichen Ort zu suchen gehabt? Du hattest den einzigen Pulsator, der uns noch geblieben war, und was hast du mit ihm gemacht?«

»Wir haben das Tier verfolgt«, sagte Nafai.

»Und wenn es von der Klippe gesprungen wäre, wärest du hinterher gesprungen?« fragte Volemak.

Nafai war wie am Boden zerstört, daß Vater es Elemak gleichtat und ihn heftig kritisierte. Und Elemak selbst war keineswegs schon damit fertig. »Ich will es mal klar und deutlich ausdrücken, mein lieber kleiner Bruder: Hättest du eine Entscheidung treffen können, ob du oder der Pulsator auf dem Felsvorsprung landen oder in die Tiefe stürzen, wäre es für alle besser gewesen, wenn der Pulsator gerettet worden wäre.«

Diese Ungerechtigkeit war fast unerträglich. »Nicht ich habe die ersten drei Pulsatoren verloren.«

»Aber nachdem wir sie verloren hatten, blieb uns ja noch einer, und die Lage war nicht ganz so ernst«, sagte Vater. »Du hast gewußt, daß es unsere letzte Waffe war, und bist trotzdem solch ein Risiko eingegangen.«

»Das reicht«, sagte Rasa. »Wir alle, auch Nafai, sind uns einig, daß es ein schrecklicher Fehler war, den Pulsator einem Risiko auszusetzen. Doch nun ist er kaputt, und er kann nicht repariert werden, und wir sind nun an diesem fremden Ort und wissen nicht, wie wir Tiere erlegen können, um Fleisch zu bekommen. Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, was wir jetzt tun können, statt die Schuld auf Nafais Schultern zu legen.«

Danke, Mutter, sagte Nafai stumm.

»Ist das nicht offensichtlich?« sagte Vas. »Die Expedition ist vorbei.«

»Nein, das ist nicht offensichtlich«, erwiderte Volemak scharf. »Die Überseele hat keine geringere Aufgabe, als Harmonie vor derselben Vernichtung zu bewahren, die vor vierzig Millionen Jahre über die Erde kam. Sollen wir das aufgeben, nur weil wir eine Waffe verloren haben?«

»Es ist nicht nur die Waffe«, sagte Eiadh. »Es ist das Fleisch. Wir brauchen Fleisch.«

»Und es geht nicht nur um eine ausgeglichene Ernährung«, fügte Schedemei hinzu. »Selbst wenn wir hier lagern und augenblicklich Pflanzen säen würden — was wir sowieso nicht könnten, weil dafür nicht die richtige Jahreszeit ist —, würden wir bereits an starker Unterernährung leiden, bis wir die Ernte einbringen und damit die grundlegenden Proteine bekommen könnten.«

»Was meinst du mit starker Unterernährung?« fragte Volemak.

»Einige Todesfälle aufgrund von Mangelerscheinungen, hauptsächlich unter den Kindern.«

»Das ist ja schrecklich!« jammerte Kokor. »Du hast praktisch mein Baby getötet!«

Ihr Schrei löste einen Chor des Jammerns aus. In diesem Getöse sagte Nafai stumm zur Überseele: Gibt es eine andere Möglichkeit?

›Hast du einen Vorschlag?‹

Nafai versuchte, sich eine Jagdwaffe einfallen zu lassen, die man aus den zur Verfügung stehenden Materialien bauen konnte. Ihm fiel ein, daß die Soldaten der Gorajni mit Speeren und Pfeil und Bogen bewaffnet gewesen waren. Ließen diese Waffen sich auch für die Jagd verwenden, oder waren sie nur in einem Krieg nützlich?

Der Gedanke kam in seinen Kopf: ›Alles, was einen Menschen töten kann, wird wahrscheinlich auch ein Tier töten. Willst du mit einem Speer jagen, brauchst du eine Gruppe, die das Tier zu dir treibt — ansonsten kommst du wahrscheinlich nicht nah genug heran, nicht einmal mit einer Armbrust.‹

Und was ist mit dem Pfeil und Bogen?

›Die Reichweite eines guten Bogens ist viermal größer als die eines Pulsators. Aber er ist nicht einfach herzustellen.«

Und was ist mit einem zweitklassigen Bogen, der nur dieselbe Reichweite wie ein Pulsator hat? Könntest du mir erklären, wie man so einen macht?

›Ja.‹

Und könnte ich damit ein Tier erlegen, oder dauert es zu lange, bis man richtig damit umgehen kann?

›Es dauert so lange, wie es dauert.‹

Eine bessere Antwort würde er von der Überseele wahrscheinlich nicht zu hören bekommen, und so schlecht war sie nicht einmal. Es bestand also zumindest noch Hoffnung.

Als Nafai seine Aufmerksamkeit wieder den anderen zuwandte, hatten sie Volemaks Geduld anscheinend erschöpft. »Glaubt ihr, ich hätte das so geplant?« fragte er. »Glaubt ihr, ich hätte die Überseele gebeten, uns an diesen schrecklichen Ort zu führen, damit wir in der Wüste Kinder bekommen und ziellos durch die Wildnis irren, ohne genug zu essen zu haben? Glaubt ihr, ich wäre nicht auch lieber in einem Haus mit einem richtigen Bett?«

Nafai erkannte, daß Volemak alle überrascht hatte, indem er in ihre Beschwerden einfiel. Aber es beruhigte sie kaum — einige sahen sogar verängstigt aus, weil die Säule ihrer Kraft plötzlich einen Riß zeigte. Und Elemak konnte kaum seine Verachtung für Vater verbergen. Es war nicht Volemaks stolzester Augenblick, das sah Nafai — und es war so unnötig. Hätte er der Überseele nur die Fragen gestellt, die Nafai gestellt hatte, wäre er beruhigt worden. Es gab eine Möglichkeit.

Vas ergriff wieder das Wort. »Ich sage euch, all das ist völlig überflüssig. Nafai und ich haben einen gefahrlosen Pfad den Berg hinab gefunden. Die Kamele können wir zwar nicht mitnehmen, aber wenn wir einfach an der Bucht entlang nach Dorova gehen, brauchen wir nur Vorräte und Wasser für einen Tag.«

»Die Kamele zurücklassen?« sagte Elemak. »Die Zelte?«

»Die Kältetruhen und Trockenbehälter?« fragte Schedemei.

»Dann bleiben einige eben zurück«, sagte Mebbekew, »und führen die Kamele durch die Berge. Ohne die Frauen und Kinder brauchen sie höchstens eine Woche, und bis dahin werden die anderen in der Stadt sein. Dann nur noch ein paar Monate, und wir sind wieder in Basilika. Oder wo auch immer die anderen hinwollen.«

Zustimmendes Gemurmel.

»Nein«, sagte Nafai. »Es geht nicht um uns, es geht um Harmonie, um die Überseele.«

»Niemand wurde gefragt, ob er sich freiwillig für diese edle Sache meldet«, sagte Obring, »und zumindest ich kann nichts mehr davon hören.«

»Die Stadt ist direkt da drüben«, sagte Sevet. »Wir könnten so schnell dort sein.«

»Narren«, sagte Elemak. »Nur, weil ihr die Stadt und den Strand sehen könnt, an dem entlang ihr wandern müßt, um sie zu erreichen, heißt das noch lange nicht, daß ihr sie leicht erreichen könnt. In einem einzigen Tag? Lächerlich! Ja, ihr seid im vergangenen Jahr stärker geworden, aber keiner von euch ist imstande, so weit zu laufen, vor allem nicht mit einem Baby auf dem Arm, ganz zu schweigen von dem Wasser und den Vorräten, die ihr mitnehmen müßtet. Es ist sehr mühsam, durch Sand zu gehen, und je schwerer ihr beladen seid, desto langsamer kommt ihr voran, und das bedeutet, daß ihr noch mehr Proviant mitnehmen müßt, weil euer Marsch länger dauert, und damit seid ihr noch schwerer beladen und kommt noch langsamer voran.«

»Dann sitzen wir hier in der Falle und müssen sterben?« jammerte Kokor.

»Ach, halt doch die Klappe!« sagte Sevet.

»Wir sitzen nicht in der Falle«, sagte Nafai, »und wir müssen die Expedition nicht aufgeben. Die Menschen haben auch schon Tiere getötet, bevor es Pulsatoren gab. Es gibt noch andere Waffen.«

»Willst du sie etwa erwürgen?« fragte Mebbekew. »Oder ihnen mit diesen Drahtschlingen, die Gaballufix benutzt hat, den Kopf abtrennen?«

Nafai versuchte, seinen Zorn über Mebbekews Spott im Zaum zu halten. »Ein Bogen. Pfeile. Die Überseele weiß, wie man sie macht.«

»Dann soll die Überseele sie machen«, sagte Obring. »Das heißt noch lange nicht, daß einer von uns damit auch umgehen kann.«

»Obring hat ausnahmsweise einmal recht«, sagte Elemak. »Man braucht Jahre der Übung, um ein guter Schütze zu werden. Was glaubst du, weshalb ich Pulsatoren gekauft habe? Bogen sind besser — sie haben eine höhere Reichweite, ihnen kann nicht die Energie ausgehen, und sie beschädigen das Fleisch nicht so sehr. Aber ich weiß nicht, wie man mit einem umgeht, geschweige denn, wie man einen herstellt.«

»Ich auch nicht«, sagte Nafai. »Aber die Überseele kann es mir beibringen.«

»In einem Monat vielleicht«, sagte Elemak. »Aber den haben wir nicht.«

»In einem Tag«, sagte Nafai. »Laßt mir bis morgen abend Zeit. Wenn ich bis dahin kein Fleisch gebracht habe, stimme ich mit Vas und Meb überein, daß wir nach Dorova müssen, zumindest für eine Weile.«

»Wenn wir nach Dorova gehen, ist es das Ende dieser törichten Expedition«, sagte Meb. »Dann kriegt man mich auf keinen Kamelrücken mehr, abgesehen vom Ritt nach Hause.«

Mehrere pflichteten ihm bei.

»Gebt mir einen Tag, und ich erkläre mich einverstanden«, sagte Nafai. »Wir haben noch genug Proviant, und das ist ein guter Ort zum Warten. Einen Tag.«

»Reine Zeitverschwendung«, sagte Elemak. »Das wirst du nie schaffen.«

»Dann kann es ja nicht schaden, wenn ich es euch beweisen will. Aber ich sage, ich schaffe es, wenn die Überseele mir hilft. Das nötige Wissen ist in ihrem Speicher. Und Wild findet man hier problemlos.«

»Ich werde dir eine Fährte suchen«, sagte Vas.

»Nein!« sagte Luet. Nafai sah sie verblüfft an — sie hatte bislang gar nichts gesagt. »Nafai wird es allein versuchen. Er und die Überseele. So muß es sein.« Dann sah sie ruhig und eindringlich zu ihm auf.

Sie weiß etwas, dachte Nafai. Dann erinnerte er sich an die Gedanken, die ihm an diesem Morgen auf dem Berg gekommen waren — daß Vas ihn umbringen wollte, den Absturz verursacht hatte. Hatte die Überseele zu ihr deutlich gesprochen? Waren meine Ängste berechtigt? Will sie mich deshalb allein losschicken?

»Also brichst du morgen früh auf?« fragte Volemak.

»Nein«, sagte Nafai. »Heute noch. Ich hoffe, den Bogen noch heute fertigstellen zu können, damit ich den morgigen Tag für die Jagd habe. Schließlich könnten meine ersten Schüsse ja weit daneben gehen.«

»Das ist doch lächerlich«, sagte Meb. »Für wen hält Nafai sich? Für einen der Helden von Pjiretsiss?«

»Ich halte mich für denjenigen, der diese Expedition nicht scheitern läßt!« rief Nafai. »Und wenn ich mich nicht von einem zerstörten Pulsator aufhalten lasse, kannst du den Schnodder in deiner Nase wetten, daß ich mich auch von dir nicht aufhalten lassen werde.«

Meb sah ihn an und lachte. »Ich nehme die Wette an, Njef, mein lieber kleiner Bruder. Und der Schnodder in meiner Nase sagt, daß du es nicht schaffen wirst.«

»Abgemacht.«

»Aber wir haben noch nicht ausgemacht, was du mir gibst, wenn du scheiterst.«

»Das spielt keine Rolle«, sagte Nafai. »Ich werde nicht scheitern.«

»Aber wenn du scheiterst … dann bist du mein persönlicher Diener.«

Viele der Gruppe reagierten mit Hohn auf seine Worte. »Schnodder gegen Knechtschaft«, sagte Eiadh verächtlich. »Genau das habe ich von dir erwartet, Meb.«

»Er muß die Wette ja nicht annehmen«, sagte Meb.

»Begrenze die Zeit«, erwiderte Nafai. »Sagen wir — einen Monat.«

»Ein Jahr. Ein Jahr, in dem du tust, was ich dir befehle.«

»Das ist widerlich«, sagte Volemak. »Ich verbiete es.«

»Du hast bereits zugestimmt, Nafai«, sagte Mebbekew. »Wenn du jetzt einen Rückzieher machst, stehst du als Eidbrecher vor uns.«

»Du kannst entscheiden, was ich bin, wenn ich dir das Fleisch vor die Füße lege, Meb, und ein Eidbrecher werde ich nicht sein, soviel steht fest.«

Und so wurde es abgemacht. Nafai blieb bis zum morgigen Sonnenuntergang Zeit, Fleisch zu beschaffen.

Er verließ sie, eilte ins Küchenzelt und nahm sich, was er brauchte — Zwieback, getrocknete Melonen und Trockenfleisch. Dann lief er zur Quelle, um seine Feldflasche aufzufüllen. Da er sein Messer bei sich trug, war das alles, was er brauchte.

Luet holte ihn dort ein, als er neben dem Teich kniete und die Flasche ins Wasser tauchte, um sie zu füllen.

»Wo ist Schveja?« fragte er.

»Bei Schuja«, antwortete sie. »Ich wollte mit dir sprechen. Statt dessen hatten wir diese … Versammlung.«

»Und ich wollte auch mit dir sprechen«, sagte er. »Aber die Dinge sind uns aus der Kontrolle geraten, und jetzt haben wir keine Zeit mehr.«

»Hoffentlich hast du noch Zeit, um das hier zu nehmen«, sagte sie.

In ihrer Hand lag eine Rolle Zwirn.

»Wie ich gehört habe, funktioniert ein Bogen nicht ohne eine Sehne«, sagte sie. »Und die Überseele sagt, daß dieser Zwirn dafür am besten geeignet ist.«

»Du hast sie gefragt?«

»Sie schien der Ansicht zu sein, du wolltest ohne den Faden loslaufen, und das hättest du ziemlich schnell bedauert.«

»Das hätte ich, ja.« Er nahm die Rolle und steckte sie ein. Dann beugte er sich zu ihr hinab und küßte sie. »Du gibst immer auf mich acht.«

»Wenn ich kann«, sagte sie. »Nafai, als du weg warst, hat die Überseele mit mir gesprochen. Sehr deutlich.«

»Und?«

»War Vas in deiner Nähe, als du gestürzt bist?«

»Ja.«

»Hätte er den Sturz herbeiführen können? Zum Beispiel, indem er deinem Fuß einen Stoß gab?«

Nafai erinnerte sich augenblicklich an diesen schrecklichen Moment, als er auf dem Felsen ins Rutschen gekommen war. Sein Fuß war nach innen geglitten, auf den anderen zu. Hätte der Fuß nicht einfach hinabrutschen müssen, wenn lediglich die Reibung nicht mehr stark genug gewesen wäre?

»Ja«, sagte Nafai. »Die Überseele hat versucht, mich zu warnen, aber …«

»Aber du hast gedacht, es wäre deine eigene Furcht, und sie ignoriert.«

Nafai nickte. Sie wußte, wie die Stimme der Überseele sich anhörte — wie die eigenen Gedanken, wie die eigenen Ängste.

»Ihr Männer!« sägte sie. »Habt immer Angst davor, Angst zu haben. Wißt ihr nicht, daß Angst das wichtigste Werkzeug ist, mit dem die Evolution eine Spezies am Leben hält? Und doch ignoriert ihr sie, als wolltet ihr sterben.«

»Na ja, ich komme nicht dagegen an, was die Testosterone mit mir machen. Wenn ich keine hätte, würde es dir auch nicht so sehr gefallen, mit mir verheiratet zu sein.«

Sie lächelte. Aber das Lächeln währte nicht lange. »Die Überseele hat mir noch etwas gesagt«, fuhr sie fort. »Vas hat vor …«

Doch in diesem Augenblick kamen Obring und Kokor hinüber geschlendert:. »Hast du es dir anders überlegt, kleiner Bruder?« fragte Kokor.

»Wenn ich mir etwas überlege, dann auch richtig«, sagte Nafai.

»Ich wollte dir nur viel Glück wünschen«, sagte Kokor. »Ich hoffe wirklich, daß du einen schäbigen kleinen Hasen nach Hause bringst. Denn stell dir mal vor, du würdest keinen mitbringen … dann müßten wir in eine Stadt ziehen und gebratenes Fleisch essen, und das wäre doch einfach schrecklich, meinst du nicht auch?«

»Irgendwie habe ich den Eindruck, daß dein Herz nicht hinter deinen freundlichen Worten steht«, sagte Nafai.

»Wäre ich der Ansicht, du hättest auch nur den Hauch einer Chance«, sagte Obring, »würde ich dir den Arm brechen.«

»Wenn jemand wie du mir den Arm brechen könnte«, sagte Nafai, »hätte ich wirklich keine Chance.«

»Bitte«, sagte Luet. »Haben wir nicht schon genug Schwierigkeiten? «

»Freundliche kleine Friedensstifterin«, sagte Kokor. »Du siehst zwar nicht gut aus, aber vielleicht wirst du ja in Würde alt.«

Nafai kam nicht dagegen an. Kokors Beleidigungen waren so kindisch, ähnelten so sehr dem, was unter Schulkindern als Klugheit durchging, daß er unwillkürlich lachen mußte.

Kokor gefiel dies nicht besonders. »Lache, soviel du willst«, sagte sie. »Aber ich kann mich wieder zu Wohlstand singen, und Mutter hat in Basilika noch immer einen Haushalt, den ich erben kann. Was kann dein Vater dir hinterlassen? Und was für einen Haushalt wird deine kleine Waisenfrau in Basilika für dich gründen?«

Luet trat vor und sah Kokor an. Nafai bemerkte zum erstenmal, daß sie etwa gleich groß waren, was bedeutete, daß Luet im vergangenen Jahr gewachsen war. Sie ist wirklich noch ein Kind, dachte er.

»Koja«, sagte Luet. »Du vergißt, mit wem du sprichst. Du glaubst vielleicht, Nafai sei lediglich dein jüngerer Bruder. Doch in Zukunft wirst du dich hoffentlich daran erinnern, daß er der Gatte der Wasserseherin ist.«

»Und was für eine Rolle spielt das hier schon?« antwortete Kokor trotzig.

»Hier gar keine. Aber falls wir nach Basilika zurückkehren, liebe Koja, frage ich mich, wie deine Karriere verlaufen würde, wenn alle wissen, daß du der Feind der Wasserseherin bist.«

Kokor erbleichte. »Das würdest du nicht tun.«

»Nein«, sagte Luet. »Das würde ich nicht tun. Ich habe meinen Einfluß nie auf diese Weise eingesetzt. Und außerdem kehren wir nicht nach Basilika zurück.«

Nafai hatte Luet noch nie so gebieterisch gesehen. Er war jedoch lange genug in Basilika gewesen, um Ehrfurcht vor dem Titel der Wasser Seherin zu empfinden. Man vergaß schnell, daß die Frau, die er jeden Abend in sein Bett nahm, dieselbe Frau war, deren Träume, deren Worte in Basilika nur flüsternd wiedergegeben wurden. Einmal war sie unter großem Risiko zu ihm gekommen, hatte die Stadt mitten in der Nacht verlassen, um ihn zu wecken und vor einer Gefahr zu warnen, die seinem Vater drohte — und in dieser Nacht hatte sie sich nicht im geringsten anmerken lassen, daß sie sich ihrer erhabenen Rolle in der Stadt bewußt war. Einmal hatte sie ihn, als er von Gaballufix’ Männern gejagt wurde, zum See der Frauen hinabgeführt, zu dem kein Mann gehen, den kein Mann lebend verlassen durfte. Und selbst, als sie jenen gegenübertrat, die ihn, Nafai, getötet hätten, hatte sie nicht mit diesem Tonfall, sondern ruhig und sachlich gesprochen.

Und dann dämmerte es Nafai — Luet umgab sich nicht mit dieser hochmütigen Würde, weil sie ein Teil von ihr war. Sie benahm sich so, weil Kokor sich so benommen hätte, hätte sie auch nur den geringsten Fetzen von Macht gehabt. Luet sprach mit Nafais Halbschwester in einer Sprache, die diese verstand. Und die Nachricht kam an. Kokor zupfte an Obrings Ärmel, und die beiden gingen.

»Du bist sehr gut darin«, sagte Nafai. »Ich kann kaum erwarten, zu hören, daß du mit Schveja so sprichst, wenn sie dich zum erstenmal ärgert.«

»Ich habe vor, Schveja zu einer Frau zu erziehen, bei der man diese Stimme niemals anwenden muß.«

»Ich wußte nicht einmal, daß du diese Stimme hast.«

Luet lächelte. »Ich auch nicht.« Sie küßte ihn erneut.

»Du wolltest mir etwas über Vas sagen.«

»Etwas, das Huschidh gesehen, aber nicht verstanden hat; die Überseele hat es mir erklärt. Vas hat nicht vergessen, daß Sevet ihn mit Obring betrogen und damit öffentlich erniedrigt hat.«

»Ach nein?«

»Die Überseele sagt, er habe vor, sie zu ermorden.«

Nafai lachte spöttisch auf. »Vas? Er war doch die Ruhe selbst. Mutter hat gesagt, sie habe noch nie jemanden gesehen, der so gut mit einer schlechten Nachricht fertig wird.«

»Ich vermute, er spart sich seine Rache für später auf«, sagte Luet. »Wir haben jetzt jede Menge Indizien, die darauf hindeuten, daß Vas keineswegs so ruhig und kooperativ ist, wie es den Anschein hat.«

»Ach ja?« fragte Nafai. »Meb und Dol, Obring und Kokor, sie klagen und jammern, daß sie in die Stadt zurückkehren wollen. Vas hingegen nicht. Er nimmt es ruhig auf, scheint mitzumachen und zerstört dann die Pulsatoren, damit wir zurückkehren müssen.«

»Du mußt eingestehen, es war ein kluger Plan.«

»Und wenn er mich dabei zufällig tötet … na ja, dann habe ich eben Pech gehabt. Da kommt mir der Gedanke — wäre Gaballufix so subtil vorgegangen wie Vas, wäre er jetzt König von Basilika.«

»Nein, Nafai. Er wäre tot.«

»Wieso?«

»Weil die Überseele dir befohlen hätte, ihn zu töten, um den Index zu bekommen.«

Nafai starrte sie fassungslos an. »Du wirfst mir das vor?«

Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich erinnere dich daran, damit du nicht vergißt, wie stark du bist. Du.bist skrupelloser und klüger als Vas, wenn du weißt, daß du dem Plan der Überseele dienst. Und jetzt geh, Nafai! Du hast nur noch ein paar Stunden Tageslicht. Du wirst Erfolg haben.«

Solange die Berührung ihrer Hand auf seiner Wange in der Erinnerung seiner Haut noch lebte und ihre Stimme noch in seinem Ohr und ihr Vertrauen und ihre Ehre noch heiß in seinem Herzen waren, kam er sich tatsächlich wie einer der Helden von Pjiretsiss vor. Besonders wie Velikoduschnu, der das lebende Herz des Gottes Zaveest aß, damit die Bürger von Pjiretsiss in Frieden leben konnten, statt sich ständig miteinander zu verschwören, um den anderen zu übervorteilen und jene, die Erfolg gehabt hatten, zu vernichten. Die Illustration jener Version der Geschichte, die Nafai gelesen hatte, zeigte Velikoduschnu, wie er den Kopf in die aufklaffende Brusthöhle des Gottes rammte, obwohl Zaveest den Helden mit seinen langen Fingernägeln abwehrte. Es war eins der stärksten Bilder seiner Kindheit, das Bild eines Mannes, der seine fürchterlichen Schmerzen ignorierte, um das Böse zu verzehren, das sein Volk zugrunde richtete.

Das macht einen Helden aus, dachte Nafai, das macht einen guten Menschen aus, und solange er Gaballufix nur für Zaveest halten konnte, war es gut und richtig, ihn getötet zu haben.

Aber diese Idee half ihm nur einen Augenblick lang; dann kehrte das Entsetzen zu ihm zurück, Gaballufix ermordet zu haben, während dieser betrunken und hilflos auf der Straße lag. Und ihm wurde klar, daß diese Erinnerung, diese Schuld, diese Schande, dieses Entsetzen — daß dies alles vielleicht der Tortur gleichkam, von Zaveest den Rücken aufgerissen zu bekommen.

Egal. Stecke es dorthin zurück, wohin es gehört, ins Gedächtnis, nicht in die vorderste Front der Gedanken. Ja, ich bin derjenige, der Gaballufix getötet hat, aber ich bin auch derjenige, der einen Bogen machen und ein Tier töten und es vor morgen abend zurückbringen muß — oder die Überseele kann von vorn anfangen.

Obring duckte sich durch die Tür von Vas’ und Sevets Zelt. Es war das erstemal, daß er mit Sevet allein war, seit Kokor die beiden in Basilika erwischt hatte, wie sie sich im Bett vergnügten. Und da Vas ebenfalls im Zelt war, war er auch eigentlich gar nicht richtig mit ihr allein. Aber in gewisser Hinsicht bedeutete die Tatsache, daß Vas dieses Treffen gebilligt hatte, vielleicht, daß die lange Kälteperiode vorbei war.

»Nett, daß du vorbeischaust«, sagte Vas.

Es lag so viel Ironie in seiner Stimme, daß Obring klar wurde, er mußte einen Fehler begangen haben, für den Vas ihn nun tadelte. Oh — vielleicht hatte er zu lange gebraucht, um hierher zu kommen. »Du hast gesagt, ich solle ohne Kokor kommen, und ich kann nicht einfach davonmarschieren. Wißt ihr, sie fragt mich immer, wohin ich gehe. Und dann beobachtet sie mich, um sich zu vergewissern, daß ich auch die Wahrheit gesagt habe.«

Sevets Lippen kräuselten sich, und Obring wußte, sie genoß die Vorstellung, daß er dermaßen eng an Kokor gefesselt war. Doch wenn jemand seine Zwangslage verstehen müßte, dann Sevet — stand sie nicht unter Vas’ unbarmherziger Aufsicht? Nein, vielleicht nicht — Vas war nicht so nachtragend wie Kokor. Er war an diesem Abend vor über einem Jahr nicht einmal wütend geworden. Also hatte Sevet vielleicht nicht so sehr gelitten wie Obring.

Doch als er Sevet nun betrachtete, konnte er sich kaum daran erinnern, wieso er so versessen darauf gewesen war, sie zu besitzen. Ihr Körper hatte seit den alten Tagen beträchtlich an Reiz verloren. Zweifellos hatte das Kind das seine dazugetan — der dicke Bauch, die zu vollen Brüste —, aber es wurde auch an ihrem Gesicht deutlich, eine gewisse Verbissenheit, ein grimmiger Zug um die Augen. Sie war keine schöne Frau. Andererseits jedoch hatte Obring wohl kaum ihren Körper geliebt. Es hatte zum einen Teil an ihrem Ruhm als eine der führenden Sängerinnen Basilikas gelegen, und zum anderen daran — gestehe es dir ein, Obring, alter Knabe —, daß sie Kojas Schwester war. Schon damals hatte Obring es seiner hübschen, aufreizenden, verächtlichen Frau heimzahlen, ihr zeigen wollen, daß er eine bessere Frau bekommen konnte, wenn er es nur wollte. Zweifellos hatte er nichts dergleichen bewiesen, denn Sevet hatte bestimmt nur aus ähnlichen Gründen mit ihm geschlafen – wäre er nicht Kokors Mann gewesen, hätte sie nicht einmal Speichel verschwendet, um ihn anzuspucken. Beide hatten sie es darauf angelegt, Kokor zu verletzen, und es war ihnen gelungen, und seitdem mußten sie dafür bezahlen.

Und doch waren sie nun hier — auf Vas’ Initiative zusammengekommen. Und es hatte den Anschein, daß die Dinge sich jetzt etwas besserten und Obring vielleicht einmal bei etwas beteiligt wurde, das diese elende Gruppe durchführte, die so sehr von Volemaks und Rasas Kindern beherrscht wurde.

»Es ist an der Zeit, dieser dummen Expedition ein Ende zu bereiten, meint ihr nicht auch?« sagte Vas.

Obring lachte verbittert auf. »Das hat man schon einmal versucht, und da hat Nafai einen seiner kleinen Zaubertricks abgezogen.«

»Einige von uns haben nur den richtigen Augenblick abgewartet«, sagte Vas. »Aber das ist jetzt die letzte Chance — die letzte vernünftige zumindest. Dorava ist von hier aus deutlich zu sehen. Wir brauchen keinen Elemak, der uns dorthin führt. Gestern habe ich einen Weg den Berg hinab gefunden. Es ist nicht einfach, aber wir können es schaffen.«

»Wir?«

»Du, Sevet und ich.«

Obring sah zu ihrem Baby hinüber, Vasnja, das auf dem Bett schlief. »Ein Baby mitnehmen? Mitten in der Nacht?«

»Der Mond scheint, und ich kenne den Weg«, sagte Vas. »Und wir nehmen das Baby nicht mit.«

»Ihr nehmt das …«

»Komm mir doch nicht dumm, Obring — denke ein wenig nach. Wir wollen uns nicht von der Gruppe trennen, wir wollen, daß die ganze Gruppe die Expedition aufgibt. Wir tun dies nicht für uns, wir tun dies für sie, um sie vor sich selbst zu retten — vor den absurden Plänen der Überseele. Wir gehen nach Dorova, damit sie uns folgen müssen. Wir können keine Kinder mitnehmen, weil sie uns aufhalten und unter der Reise leiden würden. Also lassen wir sie zurück. Dann müssen sie Sevet und mir Vasnja bringen, und dir Kokor und Krassja. Aber sie werden den langen Weg nehmen, also wird den Kindern nichts passieren.«

»Das ist … irgendwie logisch«, sagte Obring.

»Wie nett von dir, es einzugestehen«, sagte Vas.

»Wenn Nafai also ohne Fleisch zurückkehrt, brechen wir in dieser Nacht auf?«

»Bist du wirklich so dumm zu glauben, daß sie sich an die Vereinbarung halten werden?« sagte Vas. »Nein, sie werden eine andere Entschuldigung finden, um die Expedition fortzusetzen — und bringen unsere Kinder in Gefahr und führen uns immer weiter von der letzten Hoffnung auf ein anständiges Leben fort. Nein, Brija, mein Freund, wir warten auf nichts. Wir zwingen sie zum Handeln, bevor Nafai und die Überseele einen weiteren Trick abziehen können.«

»Und … wann brechen wir auf? Nach dem Abendessen?«

»Sie würden es bemerken, uns folgen und sofort aufhalten«, sagte Vas. »Also melde ich mich heute abend für die Spätwache, und du meldest dich für die letzte Wache. Eine Weile, nachdem ich meine Wache angetreten habe, wecke ich Sevet und kratze dann an deinem Zelt. Kokor wird glauben, du stehst lediglich auf, um deine Wache anzutreten, und sofort wieder einschlafen. Der Mond spendet uns Licht. Wir werden schon Stunden unterwegs sein, bevor jemand uns vermißt.«

Obring nickte. »Klingt gut.« Dann sah er Sevet an. Ihr Gesichtsausdruck war so undurchdringlich wie eh und je. Er wollte diese Maske durchdringen, und wenn es nur ein wenig war. Daher sagte er: »Aber werden deine Titten nicht wund, wenn du das Baby zurückläßt, obwohl du es eigentlich stillen müßtest?«

»Huschidh produziert genug Milch für vier Babies«, sagte Sevet. »Dazu wurde sie geboren.«

Ihre Worte waren kaum freundlich, aber immerhin hatte sie etwas gesagt. »Ich bin dabei«, sagte Obring.

Doch dann kam ihm ein Gedanke. Ein Zweifel, der Vas’ Motiv betraf. »Aber warum ich?«

»Weil du keiner von ihnen bist«, sagte er. »Dir ist die Überseele gleichgültig, du haßt dieses Leben und du läßt dich nicht von irgendwelchen törichten Vorstellungen über Familientreue beeindrucken. Wen sonst könnte ich mitnehmen? Gingen Sevet und ich allein, würden sie sich vielleicht entschließen, unser Baby zu behalten und die Reise fortzusetzen. Wir brauchen jemanden, der uns begleitet und eine weitere Familie auseinanderreißt, und wen außer dir gibt es da? Die einzigen anderen, die in Frage kämen, wären entweder Zdorab und Schedemei, und die haben keine Kinder und würden uns nichts nützen, oder Huschidh und Luet, und die stehen dicker mit der Überseele als sonst jemand. Ach ja, und Dol natürlich, aber die ist — Gott allein weiß, warum — Mebbekew dermaßen zugetan und außerdem ein so feiges Faultier, daß sie sowieso nicht mitgehen würde und wir sie auch gar nicht dabeihaben wollen. Und damit bleibst nur du übrig, Obring. Und glaube mir, ich frage dich nur, weil du mir nicht ganz so widerwärtig bist wie Dolja.«

Das war ein Motiv, dem Obring Glauben schenken konnte. »Ja, ich bin dabei«, sagte er.

Schedemei wartete, bis sie sah, daß Zdorab zu Volemaks Zelt ging. Er wollte sich natürlich den Index borgen — da das Kochen dieser Tage verboten war, hatte er viel Zeit für seine Studien. Also entschuldigte sie sich bei den anderen Frauen, die mit ihr Wäsche wuschen, und bat Huschidh, ihre und Zdorabs Sachen von den Sträuchern zu nehmen, wenn sie trocken waren. Als Zdorab durch die Zelttür trat, den Index im sicheren Griff unter dem Arm, wartete Schedemei auf ihn.

»Willst du allein sein?« fragte Zdorab.

»Ich wollte mit dir sprechen«, sagte Schedemei.

Zdorab setzte sich und stellte den Index beiseite, damit sie nicht annahm, er könne es kaum abwarten, ihn zu benutzen — obwohl sie natürlich wußte, daß es genauso war.

»Dorova ist unsere letzte Chance«, sagte Schedemei. »Um in die Zivilisation zurückzukehren.«

Zdorab nickte — keine Zustimmung, nur ein Zeichen, daß er verstand.

»Zodja, wir gehören nicht hierher«, sagte sie. »Wir sind nicht Teil dieser Gruppe. Für dich bedeutet es ein Leben der endlosen Knechtschaft, für mich eins, in dem all meine Arbeit verschwendet ist. Wir haben ein Jahr lang mitgemacht — wir haben ihnen gut gedient. Du hast Nafai geschworen, ihn zu begleiten, weil er dich nicht nach Basilika zurückkehren lassen konnte. Hättest du Alarm geschlagen, hätten die Soldaten ihn gefaßt. Nun, dazu wird es jetzt wohl kaum noch kommen, meinst du nicht auch?«

»Ich bleibe nicht wegen meines Eides hier, Schedja.«

»Ich weiß«, sagte sie und brach dann in Tränen aus, obwohl sie es unbedingt hatte vermeiden wollen.

»Glaubst du, ich würde nicht sehen, wie du hier leidest?« sagte er. »Wir dachten, es würde reichen, daß wir heiraten, aber dem war nicht so. Du willst zu ihnen gehören, und das kannst du nicht, solange du kein Kind hast.«

Es machte sie wütend, daß er so ruhig dozierte — er hatte sie beobachtet und war zu einem Schluß gekommen, worin ihr »Problem« bestand, doch er irrte sich. Oder er hatte zumindest nur halbwegs recht. »Es geht nicht darum, daß ich zu ihnen gehören will«, sagte sie wütend. »Es geht um mein Leben. Hier bin ich niemand — ich bin keine Wissenschaftlerin, ich bin keine Mutter, ich bin nicht einmal dir eine gute Dienerin, ich kann die Tiefen des Index nicht sondieren, weil ich die Stimme nicht so deutlich höre. Ich ertappe mich dabei, wie ich deine Weisheit verbreite, wenn ich mich mit anderen unterhalte, weil niemand die Dinge, die ich weiß, auch nur ansatzweise versteht — und wenn ich die anderen mit ihren Babies sehe, will ich selbst eins haben. Ich bin versessen auf eins, nicht, damit ich wie sie sein kann, sondern weil ich zum Netz des Lebens gehören will. Ich will meine Gene weitergeben, ich will ein Kind aufwachsen sehen, das ein Gesicht hat, das zur Hälfte das meine ist. Kannst du das nicht verstehen? Ich bin nicht wie du, was Fortpflanzung betrifft, behindert, ich bin von meiner biologischen Identität abgeschnitten, weil ich hier in dieser Gruppe gefangen bin, und wenn ich nicht herauskomme, werde ich sterben und keine Rolle auf der Welt gespielt haben.«

Als sie mit ihrer leidenschaftlichen Rede fertig war, herrschte tiefe Stille in ihrem Zelt. Was denkt er? Was hält er von mir? Ich weiß, ich habe ihn verletzt — ich habe ihm gesagt, ich würde die Ehe mit ihm hassen, was gar nicht stimmt, weil er ein wahrer Freund ist — wem sonst könnte ich je mein Herz so ausschütten, wenn nicht ihm?

»Ich hätte nichts sagen sollen«, flüsterte sie. »Aber ich habe die Lichter der Stadt gesehen, und ich dachte — wir beide könnten in eine Welt zurückkehren, die uns schätzt.«

»Diese Welt hat mich auch nicht mehr geschätzt als die andere«, sagte Zdorab. »Und vergiß nicht — wie könnte ich jemals den Index aufgeben?«

Begriff er denn nicht, was sie vorschlug? »Nimm ihn mit«, sagte sie. »Wir können den Index nehmen und um die Bucht eilen. Wir haben keine Kinder, die uns aufhalten. Sie können uns nicht einholen. Mit dem Index hast du ebensoviel Wissen zu verkaufen wie ich — wir können uns den Weg aus Dorova zurück in die weite Welt im Norden kaufen, bevor sie diese Karawane in Bewegung setzen können, um uns zu jagen. Sie brauchen den Index nicht — siehst du denn nicht, wie Luet und Nafai und Volemak und Huschidh ohne die Hilfe des Index mit der Überseele sprechen?«

»Sie brauchen ihn in Wirklichkeit nicht, und deshalb sind wir in Wirklichkeit keine Diebe, wenn wir ihn mitnehmen.«

»Doch, natürlich sind wir Diebe«, sagte Schedemei. »Aber Diebe, die anderen stehlen, was diese in Wirklichkeit gar nicht brauchen, können mit ihrem Verbrechen etwas leichter leben als Diebe, die den Armen das Brot vom Mund wegstehlen.«

»Ich weiß nicht, ob die Größe eines Verbrechens entscheidend ist, ob der Verbrecher damit leben kann«, sagte Zdorab. »Ich glaube, es liegt an der natürlichen Güte der Person, die das Verbrechen begeht. Mörder leben mit ihren Morden oft leichter als ehrliche Menschen mit einer kleinen Lüge.«

»Und du bist so ehrlich …«

»Ja, das bin ich«, sagte Zdorab. »Und du auch.«

»Für uns beide ist jeder Tag, den wir mit dieser Gruppe verbringen, eine Lüge.« Es war schrecklich, dies zu sagen, und doch war sie so verzweifelt auf eine Veränderung aus, auf irgendeine, daß sie ihm alles an den Kopf schleuderte, was ihr in den Sinn kam.

»Ist dem so? Ist es eine sehr große Lüge?« Zdorab schien weniger verletzt als … nachdenklich zu sein. »Huschidh hat mir neulich gesagt, du und ich, wir beide hätten mit die engsten Verbindungen in dieser Karawane. Wir sprechen über alles. Wir haben gewaltigen Respekt voreinander. Wir lieben einander — das hat sie gesehen, und ich glaube ihr. Es stimmt doch, oder?«

»Ja«, flüsterte Schedemei.

»Was also ist die Lüge? Die Lüge ist, daß ich bei der Fortpflanzung dein Partner bin. Das ist alles. Und wenn diese Lüge zur Wahrheit würde und du ein Kind in deinem Bauch hättest, wärst du wieder heil, nicht wahr? Die Lüge würde nicht mehr an deinem Herzen zerren, weil du dann wärst, was du jetzt nur zu sein scheinst: eine Ehefrau und ein Teil dieses Netzes des Lebens.«

Sie betrachtete sein Gesicht und suchte Spott darauf, fand aber keinen. »Bist du dazu imstande?«

»Ich weiß es nicht. Es hat mich nie so sehr interessiert, daß ich es versucht hätte, und ich hätte sowieso keine bereitwillige Partnerin dafür gehabt. Aber wenn ich in meiner Phantasie kleine Befriedigungen finden kann, müßte ich auch dazu imstande sein — schließlich mache ich ja meiner liebsten Freundin ein Geschenk der Liebe. Nicht, weil ich es begehre, sondern weil sie es so sehr verlangt.«

»Aus Mitleid«, sagte sie.

»Aus Liebe«, sagte er. »Mehr Liebe, als diese anderen Männer empfinden, die Nacht für Nacht ihre Frauen bespringen aus einem Drang heraus, der nicht tiefer geht als das Verlangen, sich zu kratzen oder die Blase zu entleeren.«

Sie hatte nie in Betracht gezogen, was er ihr gerade angeboten hatte — für sie ein Kind zu zeugen. War seine Neigung nicht sein Schicksal?

»Zeigt die Liebe nicht ihr Gesicht«, fuhr er fort, »wenn sie die Bedürfnisse des geliebten Partners befriedigt, einzig und allein um dieses Partners willen? Welcher dieser Gatten kann das schon für sich beanspruchen?«

»Aber … stößt der Körper einer Frau euch nicht ab?«

»Einige vielleicht. Die meisten jedoch stehen ihm einfach … gleichgültig gegenüber. Wie ein ›normaler‹ Mann einem anderen gegenüber. Aber ich kann dir verraten, was du tun mußt, um meine Begierde zu wecken; und wenn du mir diese … Treulosigkeit verzeihst, kann ich vielleicht an Partner aus meiner Vergangenheit denken, um dir ein Kind zu schenken.«

»Aber, Zdorab … ich will nicht, daß du mir ein Kind schenkst«, sagte sie. Sie wußte nicht genau, wie sie es erklären sollte, da dieser Gedanke ihr gerade erst gekommen war, doch die Worte kamen klar und deutlich über ihre Lippen. »Ich will, daß wir ein Kind haben.«

»Ja«, sagte er. »Das ist auch meine Absicht. Ich werde unserem Kind ein Vater sein — das muß ich nicht vortäuschen. Meine Vorliebe ist ja keineswegs erblich. Wenn wir einen Sohn bekommen, muß er nicht unbedingt … wie ich sein.«

»Ach, Zodja«, sagte sie, »weißt du nicht, daß ich mir wünsche, unsere Söhne wären in vielerlei Hinsicht genau wie du?«

»Söhne?« sagte er. »Versuche nicht, Fische zu fangen, bevor du am Meer bist, meine liebe Schedja. Wir wissen nicht, ob uns dies ein einziges Mal gelingt, geschweige denn so oft, wie es nötig ist, daß du tatsächlich ein Kind empfängst. Vielleicht ist es ja für uns beide so schrecklich, daß wir es nie wieder versuchen wollen.«

»Aber du wirst es einmal versuchen?«

»Ich werde es versuchen, bis wir Erfolg haben oder du mir sagst, daß wir den Versuch beenden sollen.« Er beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Wange. »Am schwersten wird dabei für mich sein, daß ich dich in meinem Herzen für meine liebste Schwester halte. Mit dir zu schlafen, kommt mir vielleicht wie Inzest vor.«

»Ach, versuche, nicht so zu empfinden«, sagte sie. »Mit diesem Problem müssen wir uns nur befassen, wenn sich ein Kind von Luet in ein Kind von Huschidh verliebt — doppelte Vettern ersten Grades! Du und ich, wir sind genetisch weit entfernt voneinander.«

»Und uns doch so nah«, sagte er. »Hilf mir, dies für dich zu tun. Wenn es uns gelingt, wird es uns so viel Freude bringen . Doch welche Freude könnte es uns je bringen, wenn wir davonlaufen, uns von unseren Freunden davonstehlen, uns trennen, der Überseele trotzen? Nein, das ist die beste Möglichkeit, Schedja. Bleib bei mir!«

Nafai fand das Holz problemlos — die Überseele wußte genau, welche Vegetation in dieser Gegend wuchs und welche Hölzer die Bogenmacher anderer Städte und Kulturen benutzten. Die Überseele konnte Nafais Händen allerdings keine Geschicklichkeit eingeben. Nicht, daß Nafai unnatürlich unbeholfen gewesen wäre. Aber er hatte nie mit Holz gearbeitet oder mit Messern, abgesehen vom Ausnehmen und Zerlegen von Wild. So ruinierte er zwei fast fertiggestellte Bogen. Inzwischen brach der Abend herein, und der Bogen verursachte ihm solche Probleme, daß er noch keinen einzigen Pfeil hergestellt hatte.

Du kannst nicht in einer Stunde lernen, wozu andere ein ganzes Leben brauchen.

Sprach die Überseele in seinem Verstand, als dieser Gedanke kam? Oder war es die Stimme der Verzweiflung?

Nafai saß mutlos auf einem flachen Stein. Das dritte Stück Bogenholz lag auf seinen Knien, und in der Hand hielt er ein eben erst gewetztes und scharfes Messer. Aber er wußte kaum mehr darüber, wie man Holz bearbeitete, als am Anfang — er hatte lediglich einen Katalog von Möglichkeiten erstellt, wie Messer abgleiten und Holz beschädigen konnten oder wie Holz an den falschen Stellen oder im falschen Winkel zersplitterte. Er war nicht mehr so frustriert gewesen, seit die Überseele ihm Vaters Traum eingegeben und ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatte.

Als er an dieses Erlebnis dachte, erschauderte er. Doch dann wurde ihm klar, daß darin auch eine gewisse Möglichkeit lag …

»Überseele«, flüsterte er. »Es gibt auf dieser Welt meisterliche Bogenmacher. In diesem Augenblick schnitzt bestimmt einer davon ein Stück Holz in die richtige Form.«

›Keiner mit so primitiven Werkzeugen, wie sie dir zur Verfügung stehen‹, sagte die Überseele in seinem Verstand.

»Dann suche einen und gib ihm die Idee ein, einen Bogen mit einem einfachen Messer zu schnitzen. Und dann versetze seine Gedanken, seine Bewegungen in meinen Geist. Gib mir das richtige Gefühl dafür.«

›Es wird dich in den Wahnsinn treiben.‹

»Suche in deinen Speichern einen Bogenmacher, einen, der immer so gearbeitet hat — in vierzig Millionen Jahren muß es doch einen gegeben haben, der das Gefühl des Messers geliebt hat, der einen Bogen schnitzen konnte, ohne dabei zudenken.«

›Ah … ohne zu denken … reine Gewohnheit, reiner Reflex …‹

»Vater hat sich in seinem Traum so eindringlich auf alles konzentriert — deshalb konnte ich es nicht ertragen, seine Erinnerungen in meinem Verstand zu haben. Aber ein Bogenmacher, der mit den Händen arbeitet, ohne dabei nachzudenken … Gib mir dessen Geschick ein. Laß mich wissen, wie es sich anfühlt, damit auch ich diese Reflexe habe.«

›Ich habe so etwas noch nie versucht. Ich wurde nicht zu diesem Zweck entworfen. Vielleicht treibt es dich trotzdem in den Wahnsinn. »Vielleicht bringt es uns aber einen Bogen«, sagte Nafai. »Und wenn es mir nicht gelingt, einen Bogen zu schnitzen, ist diese Expedition vorbei.«

›Ich werde es versuchen. Gib mir Zeit. Es dauert eine Weile, in all den Jahren des menschlichen Lebens auf Harmonie einen Mann zu finden, der so unbekümmert gearbeitet hat …‹

Also wartete Nafai. Eine Minute, zwei Minuten. Und dann überkam ihn ein seltsames Gefühl. Ein Prickeln, eigentlich nicht in seinen Armen, sondern in der Vorstellung, die er selbst von seinen Armen hatte. Der Drang, die Muskeln zu bewegen, sich an die Arbeit zu machen. Es ist soweit, dachte Nafai, die Erinnerung der Muskeln, der Nerven, und ich muß lernen, sie zu empfangen, meinen Körper von den Händen und Fingern, Gelenken und Armen eines anderen Menschen führen zu lassen.

Er verlagerte das Messer in seiner Hand, bis es sich bequem anfühlte. Und dann zog er das Messer über die Oberfläche des Holzes, drang nicht mit der Klinge ein, bekam nur ein Gefühl für den Schößling. Und dann endlich wußte er — oder besser gesagt, fühlte er —, wann das Holz die Klinge einlud, in seine Oberfläche einzudringen, die dünne Rinde abzuschälen. Er zog das Messer durch das Holz, wie ein Fisch sich durch das Meer bewegte, fühlte den Widerstand des Holzes und lernte davon, fand die harten Stellen, die weichen und arbeitete um sie herum, gab nach, wo zuviel Druck das Holz zersplittern lassen würde, griff hart zu, wo das Holz nach der Disziplinierung durch die Klinge schrie.

Die Sonne war untergegangen, und der Mond ging gerade auf, als er fertig war. Aber der Bogen war glatt und wunderschön.

Grünes Holz, also wird es seine Spannkraft nicht lange behalten.

Woher weiß ich das? dachte Nafai und lachte dann über sich. Woher habe ich irgend etwas davon gewußt?

Wir können die Schößlinge sammeln, die wir brauchen, und aus einem Teil sofort Bögen machen, andere aber aufbewahren, damit sie altern und die Bögen, die wir später daraus anfertigen werden, auch halten. Es gibt auf unserem Weg nach Süden genug Wälder, die unseren Zwecken genügen. Wir müssen nicht einmal hier verweilen, um Holz zu sammeln.

Vorsichtig entrollte er ein Ende der Schnur, die Luet ihm gegeben hatte, und befestigte sie an dem dafür vorgesehenen schmalen Haken, den er an dem einen Ende des Bogens geschnitzt hatte. Dann zog er die Schnur den Bogen entlang zum anderen Ende, schlang sie um den anderen Haken und befestigte sie auch dort. Die Schnur war so straff, daß sie ständig unter Spannung stand und nicht wackeln würde, wenn er einen Pfeil abschoß, sondern sich augenblicklich wieder strammzog, so daß der Pfeil auch sein Ziel finden würde. Es fühlte sich richtig an, als hätte er es schon tausendmal getan, und er verknotete geschickt die Schnur und schnitt den überschüssigen Rest ab.

»Wenn ich darüber nachdenke, was ich tue«, flüsterte er der Überseele zu, »kann ich es nicht mehr.«

›Weil es ein Reflex ist‹, kam die Antwort in seinen Sinn. ›Er geht tiefer als Gedanken.‹

»Aber werde ich mich daran erinnern? Es den anderen beibringen können?«

›Du wirst dich an einen Teil davon erinnern. Du wirst Fehler machen, aber es wird dir wieder einfallen, denn jetzt ist das Wissen auch tief in deinem Verstand. Du kannst vielleicht nicht erklären, was du tust, aber die anderen können dich beobachten und so lernen.‹

Der Bogen war fertig. Er nahm die Schnur wieder ab und begann mit den Pfeilen. Die Überseele hatte ihn zu einem Ort geführt, an dem viele Vögel nisteten — dort gab es jede Menge Federn. Und die kurzen, geraden Pfeilschäfte machte er aus dem harten Schilfrohr, das um einen Teich wuchs. Und die Pfeilspitzen aus dem Obsidian, das aus der Seite eines Hügels bröckelte. Er sammelte alles ein, ohne eine Ahnung zu haben, was er damit anfangen wollte; doch nun strömte das Wissen einfach aus seinen Fingern, ohne je sein Bewußtsein zu erreichen. Bei Anbruch der Dämmerung würde er den Bogen und die Pfeile haben und vielleicht noch ein paar Stunden schlafen können. Dann würde das Tageslicht und seine wirkliche Probe kommen: Er mußte seine Beute aufspüren, verfolgen, töten und nach Hause bringen.

Und wenn es mir gelingt … was dann? Ich werde der Held sein, triumphierend ins Lager zurückkehren mit dem Blut meiner Beute an meinen Händen, auf meiner Kleidung. Ich werde derjenige sein, der Fleisch beschaffen konnte, als es keinem anderen möglich war. Ich werde dafür sorgen, daß die Expedition fortgesetzt wird. Ich werde Velikoduschnu sein, der Retter meiner Familie und Freunde, und alle werden wissen, daß ich, als sogar mein Vater vor der Reise zurückschreckte, eine Möglichkeit fand, sie fortzusetzen, und wenn wir zwischen den Sternen reisen und der Fuß eines Menschen wieder den Boden der Erde betritt, dann wird es mein Triumph sein, weil ich diesen Bogen gemacht habe, diese Pfeile, und weil ich den Frauen Fleisch brachte …

Dann, mitten in seinem eingebildeten Triumph, ein anderer Gedanke: Von da an wird man mich für alles verantwortlich machen, was schiefgeht. Mir wird man jedes Unglück auf unserer Reise zuschieben. Es wird meine Expedition sein, und selbst Vater wird mich als Führer anerkennen. An diesem Tag wird Vater unwiederbringlich geschwächt werden. Wer wird uns dann führen? Bis jetzt wäre die Antwort klar gewesen: Elemak. Wer könnte ihn schon herausfordern? Wer würde einem anderen folgen, abgesehen von den wenigen, die alles tun, was die Überseele verlangt? Doch wenn ich nun als Held zurückkehre, werde ich imstande sein, Elemak herauszufordern. Nicht, ihn zu überwältigen. Nur herausfordern. Ich werde lediglich stark genug sein, um die Gruppe zu zerreißen. Ganz gleich, wer gewinnt, es wird nur zu Verbitterung führen, vielleicht sogar zu Blutvergießen. Wenn die Expedition Erfolg haben will, darf ich es nicht dazu kommen lassen.

Also kann ich nicht als Held zurückkehren. Ich muß eine Möglichkeit finden, das Fleisch zurückzubringen, das wir zum Überleben brauchen, ohne dabei — Vaters Position zu schwächen.

Und während er darüber nachdachte, setzten seine Finger und Hände die Arbeit fort, fanden unweigerlich das geradeste Schilf und kerbten es für die Sehne ein, schnitten geschickt Spiralen für die Federn und brachten am anderen Ende die kleinen Pfeilspitzen aus Obsidian an.

Zdorab lag erschöpft und schwitzend neben Schedemei. Die schiere körperliche Anstrengung hätte es fast zunichte gemacht. Wie konnte ihr — und in gewisser Weise auch ihm — etwas, das ihnen beiden so wenig Vergnügen bereitete, so wichtig sein? Und doch hatten sie es geschafft, trotz des anfänglichen Desinteresses seines Körpers. Ihm fiel etwas ein, das ein alter Geliebter von ihm einmal gesagt hatte — letztlich konnten Männer sich mit jedem Geschöpf paaren, das lange genug stillhielt und nicht allzu heftig biß. Vielleicht war dem wirklich so …

Er hatte jedoch irgendwo in seinem Hinterstübchen gehofft, daß, wenn er endlich einmal mit einer Frau geschlafen hatte, irgendein Teil seines Gehirns, irgendeine Drüse in seinem Körper aufwachen und er denken würde: Aha, so geht das also. Dann wäre die Zeit seiner Isolation vorbeigewesen, und sein Körper würde seinen Platz im Plan der Natur kennen. Aber die Wahrheit sah so aus, daß die Natur keinen Plan hatte. Sie bestand nur aus einer Reihe von Zufällen. Eine Spezies funktionierte wenn sich genug ihrer Mitglieder so eifrig und oft reproduzierten, daß sie erhalten blieb; da spielte es keine Rolle, wenn ein unbedeutender Prozentsatz — mein Prozentsatz, dachte Zdorab verbittert – seine Fortpflanzungspflichten vernachlässigte. Die Natur ließ sich nicht mit einem Kindergeburtstag vergleichen; der Natur war es egal, ob alle teilnahmen. Zdorabs Leiche würde vom Kreislauf der Natur verarbeitet werden, ob seine Gene sich nun vorher reproduziert hatten oder nicht.

Und dennoch. Und dennoch. Obwohl sein Körper keine besondere Freude von Schedemeis empfangen hatte, empfand er Freude auf einer anderen Ebene. Denn er hatte ihr tatsächlich ein Geschenk gemacht. Am Ende hatte die schiere Reibung und Stimulation der Nerven gesiegt und den Reflex ausgelöst, der eine Million hoffnungsvolle halbe zukünftige Menschen in eine Umgebung abgesondert hatte, die sie den einen oder die zwei Tage am Leben erhalten würde, die sie für ihr Rennen zu der anderen Hälfte benötigten, der All-Mutter, dem Unendlichen Ei. Was interessierte es sie schon, ob Zdorab Lust an Schedemei empfunden oder nur seine Pflicht erfüllt hatte, während er sich verzweifelt Phantasien über einen anderen Liebhaber — den eines fortpflanzungsmäßig irrelevanten Geschlechts — hingegeben hatte? Ihr Leben spielte sich auf einer anderen Ebene ab, und auf genau dieser Ebene wurde das große Netz des Lebens, das Schedemei so sehr verehrte, zusammengeflochten.

Ich habe mich schließlich doch noch in diesem Netz verfangen, aus Gründen, die kein Gen planen konnte; ich wurde bei meiner Geburt mit Schmieröl eingerieben, damit ich auf ewig durch dieses Netz schlüpfen konnte, doch ich habe mich trotzdem darin verfangen, ich habe mich entschieden, mich fangen zu lassen, und wer kann behaupten, daß ich nicht der bessere Vater bin, denn ich habe aus reiner Liebe gehandelt und nicht aus einem angeborenen Instinkt heraus, der mich im Griff hielt. Man kann sogar sagen, daß ich gegen meinen Instinkt gehandelt habe. Das hat doch etwas für sich. Ein Held der Kopulation, ein wahrer Umleger, wenn die anderen es nur wüßten. Jeder kann sein Boot bei gutem Wetter ans Ufer steuern; mir ist dies gelungen, indem ich gegen den Wind gesegelt, gegen die Flut gerudert habe.

Hoffentlich schaffen die kleinen Scheißkerle es zum Ei. Schedemei hat gesagt, es wäre für sie eine gute Zeit, ihren Kampf ums Überleben aufzunehmen. Hoffentlich erreicht einer von ihnen — ein starker und stämmiger — sein mikroskopisches Ziel, durchdringt diese Zellwand, vereinigt seine spiralförmige Desoxyribonukleinsäure mit der ihren und wird schon bei unserem ersten Versuch zu einem Baby, so daß ich dies nicht noch einmal durchmachen muß.

Aber wenn ich es noch einmal tun muß, werde ich es auch tun. Für Schedemei.

Er griff nach ihr, fand ihre Hand. Sie wachte nicht auf, aber trotzdem schloß ihre Hand sich leicht um die seine.

Luet konnte nicht schlafen. Sie mußte ständig an Nafai denken, machte sich Sorgen um ihn. Die Überseele versuchte vergeblich, sie zu beruhigen: Er macht sich gut, alles wird in Ordnung kommen.

Erst lange nach Anbruch der Dunkelheit, lange, nachdem Schveja nach dem letzten Stillen eingeschlafen war, fand auch Luet etwas Schlaf.

Aber er war nicht erholsam. Sie träumte von Nafai, der über schmale Simse glitt und auf steile Felsen kletterte; manchmal hielt er einen Bogen in der Hand, manchmal einen Pulsator, doch in ihrem Traum wurde der Felsen immer steiler, bis er sich schließlich nach innen bog und Nafai wie ein Insekt an der Unterseite einer Klippe klebte und schließlich den Halt verlor und abstürzte …

Und sie wurde halbwegs wach, begriff, daß es ein Traum gewesen war, drehte ungeduldig ihr verschwitztes Kissen um und versuchte, wieder einzuschlafen.

Bis ein Traum kam, in dem Nafai nicht starb. Statt dessen war er in einem Raum, der vor Silber leuchtete, vor Chrom, vor Platin, vor Eis. In ihrem Traum lag er auf einem Eisblock, und die Wärme seines Körpers schmolz sich hinein, und er sank immer tiefer, bis er in dem Eis lag und es sich über ihm schloß und wieder gefror. Was ist das für ein Traum? dachte sie. Und dann: Ich weiß, daß ich träume. Bedeutet dies, daß ich wach bin? Und warum hört der Traum nicht auf, wenn ich wach bin?

Er hörte nicht auf. Statt dessen sah sie, daß Nafai nicht starr in dem Eis lag, sondern immer tiefer sank. Nun neigten sich sein Rücken und die Hinterbacken, die Waden und Fersen, die Ellbogen und Fingerspitzen und der Hinterkopf dem Grund des Eisblocks entgegen, und sie dachte: Was hält das Eis einfach so mitten in der Luft? Warum hält es nicht auch Nafai fest? Sein Körper rutschte immer tiefer, und dann fiel er hinaus, stürzte vielleicht einen Meter tief auf den glänzenden Boden. Er öffnete die Augen, als habe er geschlafen, während er durch das Eis glitt. Er rollte sich unter dem Block hervor, aus dessen Schatten hinaus, und als er sich ins Licht erhob, sah sie, daß sein Körper nicht mehr so wie früher war. Dort, wo das Licht auf ihn fiel, leuchtete seine Haut hell, als wäre sie mit einer hauchdünnen Schicht desselben Materials überzogen, aus dem auch die Wände bestanden. Wie eine Rüstung. Wie eine neue Haut. Sie funkelte so … Und dann erkannte sie, daß diese Schicht nicht das Licht reflektierte, sondern selbst ausstrahlte. Was auch immer er jetzt trug, es zog seine Energie aus Nafais Körper, und wann immer er an einen Teil seines Körpers dachte, ihn bewegte oder auch nur ansah, funkelte er hell auf.

Sieh ihn an, dachte Luet. Er ist zu einem Gott geworden, nicht nur zu einem Helden. Die Überseele leuchtet aus ihm. Er ist der Körper der Überseele.

Aber das ist Unsinn. Die Überseele ist ein Computer und braucht keinen Körper aus Fleisch und Blut. Ganz im Gegenteil — in einem menschlichen Körper würde sie ihr gewaltiges Gedächtnis verlieren und ihre lichtschnelle Geschwindigkeit.

Dennoch funkelte Nafais Körper vor Licht, wenn er sich bewegte, und sie wußte, daß er den Körper der Überseele trug, obwohl es nicht den geringsten Sinn für sie ergab.

In dem Traum sah sie, daß er zu ihr kam und sie umarmte, und als sie ihn berührte, umschloß die funkelnde Rüstung, die er trug, nun auch sie, so daß auch sie Licht ausstrahlte. Ihre Haut fühlte sich nun so lebendig an, als wäre jeder Nerv mit dem moleküldünnen Material, das sie wie Schweiß umgab, verbunden worden. Und ihr wurde klar: Überall dort, wo es funkelt, wurde tatsächlich ein Nerv mit dieser Lichtschicht verbunden. Sie löste sich von Nafai, und die neue Haut blieb bei ihr, obwohl sie nicht durch das Eis geglitten war, von dem er sie bekommen hatte. Ich trage jetzt seine Haut, dachte sie, und: Auch ich trage nun den Körper der Überseele, und ich lebe jetzt zum erstenmal.

Was hat dieser Traum nur zu bedeuten?

Doch da sie die Frage in einem Traum stellte, bekam sie auch nur eine Traumantwort: Sie sah, wie der Traum-Nafai und ihr Traum-Ich miteinander schliefen, so leidenschaftlich, daß sie vergaß, daß es nur ein Traum war, und sich in der Ekstase verlor. Und als sie sich gepaart hatten, sah sie, wie der Bauch ihres Traum-Ichs wuchs, bis ein Baby zwischen ihren Beinen hervorglitt und leuchtend in Nafais Arme rutschte, denn auch das Kind war mit der neuen Haut überzogen und lebendig vor Licht. Ah, das Kind war schön, so schön.

»Wach auf!‹

Sie hörte es wie eine Stimme, so klar und deutlich war es.

›Wach auf!‹

Sie setzte sich kerzengerade auf, hielt nach dem Sprecher Ausschau, versuchte die Stimme zu erkennen, die in ihrem Gedächtnis verweilte.

›Stehauf.‹

Es,war gar keine Stimme. Es war die Überseele. Aber warum unterbrach die Überseele ihren Traum, wenn die Überseele ihn ihr doch geschickt hatte?

›Steh auf, Wasserseherin, steh leise auf und gehe im Mondschein zu dem Ort, an dem Vas seine Frau und seinen Rivalen töten will! Auf dem Felsvorsprung, der Nafai das Leben gerettet hat, mußt du auf sie warten.‹

Aber ich bin zu schwach, um ihn aufzuhalten, wenn er Mord in seinem Herzen hat.

›Es genügt, daß du dort bist. Aber du mußt dort sein, und du.mußt sofort gehen, denn er hält jetzt Wache und glaubt, daß er und Sevet als einzige wach sind … er wird bald an Obrings Zelt kratzen, und dann wird es zu spät sein, dann wirst du es nicht mehr unbeobachtet zu dem Felsen schaffen‹

Luet glitt durch die Türöffnung ihres Zelts. Sie war so schläfrig, daß sie sich noch immer wie in einem Traum vorkam.

Warum muß ich den Berg hinab? fragte sie verwirrt. Warum kann ich nicht einfach Obring und Sevet sagen, was Vas für sie vorgesehen hat?

›Wenn sie dir glauben, ist Vas als Mitglied dieser Gruppe erledigt. Und wenn sie dir nicht glauben, wird Vas dein Feind sein, und du wirst nie wieder sicher sein. Vertraue mir. Mach es auf meine Weise, und alle werden leben, alle werden leben.‹

Bist du dir da sicher?

›Natürlich.‹

Du kannst die Zukunft genausowenig voraussagen wie ich. Wie sicher bist du dir?

›Die Aussichten auf Erfolg betragen vielleicht sechzig Prozent.«

Oh, wunderbar. Und was ist mit den vierzig Prozent Aussichten auf Mißerfolg?

›Du bist eine so intelligente Frau, du wirst improvisieren, du wirst es schon schaffen.‹

Ich wünschte, ich hätte so viel Vertrauen zu mir, wie du in mich zu setzen scheinst.

›Der einzige Grund dafür, daß du nicht dieses Vertrauen hast, besteht darin, daß du dich nicht so gut kennst, wie ich dich kenne.‹

Du kannst meine Gedanken lesen, liebe Überseele, aber du kannst mich nie kennen, denn du kannst einfach nicht so fühlen, wie ich fühle, oder so denken, wie ich denke.

›Glaubst du etwa, das wüßte ich nicht, du prahlerischer Mensch? Mußt du mich deshalb verspotten? Geh den Berg hinab! Sei dabei vorsichtig. Der Pfad ist im Mondlicht zwar gut zu sehen, aber trügerisch. Obring ist jetzt wach; du hast es gerade noch rechtzeitig geschafft. Nun bleibe ihnen voraus, so weit, daß sie dich nicht hören oder sehen können.‹

Elemak hatte bemerkte, daß Sevet und Obring zusätzliche Wasserflaschen an sich genommen hatten. Er wußte sofort, was dies zu bedeuten hatte — sie beabsichtigten, nach Dorova zu fliehen. Andererseits konnte er einfach nicht glauben, daß diese beiden den Plan ausgearbeitet hatten — sie sprachen nicht einmal privat miteinander, wenn auch nur, weil Kokor dafür sorgte, daß sie dazu keine Gelegenheit bekamen. Nein, es war noch jemand darin verwickelt, jemand, der bei solchen Täuschungen geschickter vorging, so daß Elemak dessen Diebstahl einer zusätzlichen Wasserflasche nicht bemerkt hatte.

Und dann, kurz vor Anbruch der Nacht, meldete Vas sich freiwillig für die verhaßte Spätwache, die vorletzte vor dem Morgen. Obring hatte bereits die letzte Wache übernommen. Man mußte kein Genie sein, um sofort zu wissen, daß sie während Vas’ Wache aufbrechen wollten. Narren! Glaubten sie etwa, es mit zwei Wasserflaschen pro Person den Berg hinab und über den wasserlosen Sand des Strandes um die Bucht herum zu schaffen? Nicht, wenn sie ihre Kinder mitnahmen.

Sie werden ihre Kinder nicht mitnehmen.

Der Gedanke war so empörend, daß Elemak es fast nicht geglaubt hätte. Doch dann wurde ihm klar, daß es stimmen mußte. Sein Abscheu vor Obring verdoppelte sich. Aber Vas … er konnte kaum glauben, daß Vas so etwas tun würde. Der Mann liebte seine Tochter abgöttisch. Er hatte sie sogar nach sich benannt — würde er sie nun herzlos zurücklassen?

Nein! Nein, er hat nicht die Absicht, sie zurückzulassen. Obring würde sein Baby im Stich lassen, ja. Obring würde auch Kokor verlassen — er hatte sie während ihrer Ehe ständig betrogen. Aber Vas würde sein Baby nicht im Stich lassen. Er muß ein anderes Motiv haben. Er hat gar nicht vor, mit Sevet und Obring zur Stadt zu fliehen. Ganz im Gegenteil. Er wird uns sagen, daß Sevet und Obring zur Stadt flohen, als er sich nach seiner Wache schlafen legte. Daß er ihnen den Berg hinab gefolgt ist, um sie aufzuhalten, doch nur noch ihre zerschmetterten Leichen fand, am Fuß einer Klippe.

Woher weiß ich das alles? fragte Elemak sich. Warum ist mir das alles so klar? Und trotzdem bezweifelte er es nicht.

Also meldete er sich für die mittlere Wache, und nachdem er an deren Ende Vas geweckt hatte und in sein Zelt zurückgekehrt war, zwang er sich, nicht einzuschlafen, obwohl er sich hinlegte und die Augen schloß und schwer atmete, als schliefe er, für den Fall, daß Vas nach ihm sah. Aber nein, Vas kam nicht. Er kam nicht, und er ging auch nicht zu Obrings Zelt. Die Zeit schleppte sich dahin, und schließlich schlief Elemak gegen seinen Willen ein. Vielleicht nur einen Augenblick lang. Aber er mußte geschlafen haben, denn er schreckte aus dem Schlaf hoch, und sein Herz hämmerte beunruhigt. Etwas … ein Geräusch. Er setzte sich in der Dunkelheit auf und lauschte. Er hörte, daß neben ihm Eiadh und Proja atmeten; sonst konnte er kaum etwas vernehmen. So leise wie möglich stand er auf, ging zur Tür seines Zelts und trat hinaus. Vas hielt nicht mehr Wache, und sonst auch niemand.

Leise, ganz leise, ging er zu Vas’ Zelt. Er ,war fort, und Sevet auch — aber das Baby Vasnaminanja lag noch dort. Elemaks Herz füllte sich mit Zorn über diese ungeheuerliche Tat. Was auch immer Vas beabsichtigte — entweder wollte er seine Tochter im Stich lassen oder die Mutter des Kindes töten —, es war unaussprechlich.

Ich werde ihn finden, dachte Elemak, und dann wird er dafür bezahlen. Ich weiß, daß uns auf dieser Reise Narren begleiten, Narren und Dummköpfe und Schwächlinge, aber ich habe nicht gewußt, daß auch ein so grausamer Mensch darunter ist. Ich habe nie gewußt, daß Vas zu so etwas fähig ist. Ich glaube, ich habe Vas nie richtig gekannt. Und ich werde ihn auch nicht kennenlernen, denn sobald ich ihn finde, wird er sterben.

Es war so leicht, sie den Berg hinab zu führen. Sie hatten völliges Vertrauen in ihn. Das war der Lohn dafür, daß er über ein Jahr lang so getan hatte, als würde ihm ihr Betrug an ihm nichts ausmachen. Hätte er — einmal abgesehen davon, daß er Obring ziemlich kühl behandelte — auch nur einen Funken Zorn gezeigt, hätte nicht die geringste Aussicht bestanden, daß der Mann ihm so sehr vertraute, daß er sich nun wie ein Mastschwein zum Schlachter führen ließ. Doch Obring vertraute ihm tatsächlich, und Sevet auf ihre verdrossene Art ebenfalls.

Der Pfad selbst war ziemlich schwierig — mehr als einmal mußte er ihnen bei problematischen Stellen helfen. Doch im Mondschein sahen sie nicht, wie gefährlich er war, und wann immer es verzwickt wurde, wartete er und half ihnen. Er nahm ganz vorsichtig Sevets Hand und führte sie ein besonders steiles Stück hinab oder zwischen zwei Felsen hindurch. Oder er flüsterte: »Siehst du den Ast, an dem du dich festhalten mußt, Obring?« Und Obring antwortete »Ja!« oder nickte, ich sehe ihn, ich komme damit klar, Vas, denn ich bin ein Mann. Wie lachhaft. Was für einen Streich spiele ich diesem Obring, der so pathetisch stolz darauf ist, Teil dieses großen Plans zu sein. Wie werde ich weinen, wenn wir die Leichen schließlich wieder den Berg hinauftragen. Wie werden die anderen um mich weinen, wenn ich meine kleine Tochter in den Armen halte, ihr von ihrer toten Mutter erzähle, und daß sie jetzt nur noch mich hat. Eine Halbwaise — aber nach ihrem Vater benannt. Und ich werde sie so erziehen, daß kein Wesenszug ihrer betrügerischen Mutter in ihr verbleibt. Sie wird eine ehrenhafte Frau sein, wird nie einen guten Mann betrügen, der ihr alles verziehen hätte, nur nicht, daß sie ihren Körper dem Mann ihrer eigenen Schwester gibt, diesem verachtenswerten, schleimigen kleinen gesellschaftlichen Emporkömmling. Du hast zugelassen, daß er seine kleine Blechdose in dich entleert, Sevet, meine Liebe, und deshalb werde ich dich töten.

»Hier ist die Stelle, an der Nafai und ich übersetzen wollten«, flüsterte er ihnen zu. »Seht ihr, wie wir über diesen kahlen Felsen gehen mußten, der nun im Mondschein leuchtet?«

Obring nickte.

»Aber der Felsvorsprung, der sein Leben gerettet hat, ist der wirkliche Pfad«, sagte Vas. »Wir müssen noch eine schwierige Stelle überwinden — es geht vielleicht zwei Meter tief hinab —, doch dann können wir gefahrlos an der Klippe entlanggehen, und danach erreichen wir das flache Reststück, das direkt zum Strand führt.«

Sie folgten ihm an der Stelle vorbei, von der aus er stumm Nafais Kampf beobachtet hatte. Nun würde er ihnen auf den Felsvorsprung hinabhelfen. Doch er würde ihnen nicht folgen. Statt dessen würde er Obring gegen den Kopf treten und ihn hinabstürzen. Dann würde Sevet alles begreifen. Dann würde Sevet wissen, weshalb er sie hierher geführt hatte. Und sie würde ihn — endlich — um Vergebung bitten. Sie würde ihn um Verständnis anflehen, sie würde weinen und schluchzen. Und seine Antwort würde darin bestehen, die schwersten Steine zu nehmen, die es hier gab, und sie auf sie zu werfen, bis sie den Felsvorsprung entlanglief. Er würde sie zu der schmalen Stelle treiben und so lange Steine werfen, bis sie stolperte oder von einem Treffer aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Dann würde sie fallen und schreien, und er würde das Geräusch hören und für immer in seinem Herzen bewahren.

Dann würde er natürlich den richtigen Pfad hinabsteigen und ihre Leichen finden, dort, wo der Pulsator gelegen hatte. Sollte einer von ihnen noch leben, würde er ihm das Genick brechen, notfalls auch beiden — es würde niemanden überraschen, wenn sie sich bei solch einem Sturz das Genick gebrochen hatten. Aber er bezweifelte, daß sie überleben würden. Es ging tief hinab. Der Pulsator war völlig zerstört worden. Diese lästige kleine Pißnelke Nafai wäre genauso zerschmettert worden, wäre er nicht auf dem von oben unsichtbaren Vorsprung gelandet. Ach was, Nafai war nur ein Ärgernis — Vas war es gleichgültig, ob er lebte oder starb, solange nur alle Pulsatoren vernichtet wurden und sie in die Zivilisation zurückkehren mußten. Und nun hatte er sogar vor ihrer Rückkehr Gelegenheit zu seiner Rache, und niemand würde ihn verdächtigen. »Ich vermute, sie haben gehört, daß ich ihnen folgte, denn sie gingen viel zu schnell, besonders, wenn man bedenkt, daß es dunkel war. Und dann sah ich, daß sie auf diesen Felsvorsprung zuhielten. Ich wußte, wie gefährlich er war, ich rief ihnen eine Warnung zu, aber sie haben mich wohl nicht verstanden. Oder sie wollten mich nicht hören. Gott stehe mir bei, aber ich habe sie geliebt! Die Mutter meines Kindes!« Ich werde sogar eine Träne um sie vergießen, und sie werden mir glauben. Was bleibt ihnen anderes übrig? Jeder weiß, daß ich ihren Ehebruch schon vor langem verziehen und vergeben habe.

Ich bin kein sehr fordernder Mann. Ich verlange von anderen keine Perfektion. Ich tue meine Arbeit und komme mit allen zurecht. Aber wenn jemand mich wie einen Wurm behandelt, als würde es mich gar nicht geben, als würde ich einfach keine Rolle spielen, nein, dann vergebe ich nicht, niemals, nie, dann warte ich einfach die richtige Gelegenheit ab, und dann werden sie feststellen: Ich spiele eine Rolle, und mich zu verachten war der schlimmste Fehler ihres Lebens. Das wird Sevet denken, wenn die Steine sie treffen und sie nirgendwo hin fliehen kann, nur in den Abgrund und ihren Tod: Wäre ich ihm doch nur treu gewesen, dann würde ich leben und könnte meine Tochter großziehen.

»Hier«, sagte er. »Das ist die Stelle, an der wir uns auf den tieferen Vorsprung hinablassen müssen.«

Sevet war eindeutig mulmig zumute, und Obring setzte eine Maske der Tapferkeit auf, die seine Furcht so deutlich zeigte, als hätte er sich in die Hose gemacht und gejammert. Was er ja auch bald tun würde. »Kein Problem«, sagte er.

»Sevet zuerst«, sagte Vas.

»Warum ich?« fragte sie.

»Weil wir beide dich sicherer hinablassen können«, sagte Vas. Und hauptsächlich, weil ich dann Obring gegen den Kopf treten kann, sobald ich ihn hinabgelassen habe, und du dann schon auf dem Felsvorsprung gefangen bist, wo du alles sehen, aber nichts mehr tun kannst.

Es würde funktionieren. Sevet kauerte sich am Rand des Vorsprungs nieder und wollte sich schon umdrehen, damit die beiden Männer sie hinablassen konnten. Und dann erklang diese andere Stimme, diese unerwartete, schreckliche Stimme.

»Die Überseele verbietet dir, dort hinabzusteigen, Sevet.«

Sie alle drehten sich um, und dort stand sie, im Mondschein strahlend. Ihr weißes Gewand flatterte ein wenig im Wind, der dort unten stärker wehte.

Wie konnte sie es wissen? dachte Vas. Wie konnte sie wissen, daß sie hierher kommen würde? Ich dachte, die Überseele wäre damit einverstanden — einfache Gerechtigkeit! Hätte die Überseele nicht gewollt, daß er dies tat, hätte sie ihn doch schon längst aufhalten können. Warum ausgerechnet jetzt, so dicht vor dem Ziel? Nein, er würde sich nicht aufhalten lassen! Es war zu spät. Nun würden drei Leichen auf dem Grund der Schlucht liegen statt nur zwei. Und er würde nicht wieder den Berg hinaufsteigen, sondern die drei Wasserflaschen nehmen und nach Dorova fliehen. Er würde dort ankommen und schon längst wieder weg sein, bevor man ihn unter Anklage stellen konnte. Und in Seggidugu oder Potokgavan, wohin auch immer er dann ging, würde er alles abstreiten. Es gab keine Zeugen, und keiner dieser Leute hatte einen herausragenden Ruf. Er würde seine Tochter verlieren — aber das war die gerechte Strafe dafür, Luet getötet zu haben. Alles würde seinen Ausgleich finden. Er würde dem Universum keine Rache schuldig bleiben, und das Universum würde ihm keine Rache schuldig bleiben. Alles würde ausgeglichen und gerecht und gut sein.

»Du kennst mich, Sevet«, sagte Luet. »Ich spreche als Wasserseherin zu dir. Wenn du auf diesen Vorsprung hinabsteigst, wirst du dein Kind nie wiedersehen, und in den Augen der Überseele gibt es für eine Mutter kein größeres Verbrechen als das, ihr Kind aufzugeben.«

»Wie deine Mutter dich und Huschidh aufgegeben hat?«

sagte Vas. »Erspare uns deine Lügen über Verbrechen in den Augen der Überseele. Die Überseele ist ein Computer, den ein paar alte Vorfahren darauf programmiert haben, auf uns aufzupassen, mehr nicht — das sagt sogar dein eigener Gatte, nicht wahr? Meine Frau ist nicht so abergläubisch, daß sie dir Glauben schenken würde.«

Nein, nein, er hätte nicht so viel sagen sollen. Er hätte handeln müssen. Er hätte drei Schritte machen und die schwache Frau von dem Sims stoßen sollen. Sie konnte ihm keinen Widerstand leisten. Wenn die anderen dann sahen, daß er einen Mord begangen hatte, würden sie ihm nur um so bereitwilliger gehorchen und sich auf den Weg machen — in die Sicherheit, in die Stadt, wie sie glaubten. Es war dumm, mit ihr zu streiten. Er war dumm!

»Die Überseele hat euch drei ausgesucht, zu ihrer Gruppe zu gehören«, sagte Luet. »Ich sage euch, wenn ihr jetzt auf diesen Vorsprung steigt, wird keiner von euch mehr das Tageslicht sehen, kein einziger.«

»Eine Prophezeiung?« sagte Vas. »Ich wußte nicht, daß auch so etwas zu deinen zahlreichen Talenten gehört.« Töte sie jetzt! schrie er innerlich, doch sein Körper gehorchte ihm einfach nicht.

»Die Überseele sagt mir, daß Nafai seinen Bogen und die Pfeile gemacht hat und sie geradeaus fliegen und ihr Ziel finden. Diese Expedition wird fortgesetzt, und ihr werdet sie mit uns fortsetzen«, sagte sie. »Wenn ihr jetzt zurückkehrt, werden eure Töchter nie erfahren, daß ihr sie einmal im Stich gelassen habt. Die Überseele wird das Versprechen erfüllen, das sie euch gegeben hat — ihr werdet ein Land des Überflusses erben, und eure Kinder werden eine große Nation bilden.«

»Wann hat man mir solche Versprechungen gemacht?« sagte Obring. »Für Volemaks Söhne mag das zutreffen, ja – aber nicht für mich. Für mich geht es nur darum, Befehle auszuführen und mich anschreien zu lassen, wenn ich nicht alles so tue, wie König Elemak es sagt.«

»Hör auf zu jammern«, sagte Vas. »Siehst du nicht, daß sie uns alle umgarnen will?«

»Die Überseele hat mich hierher geschickt, um euer Leben zu retten«, sagte Luet.

»Das ist eine Lüge«, sagte Vas. »Und du weißt, daß es gelogen ist. Mein Leben war keinen Augenblick lang in Gefahr.«

»Ich sage dir, hättest du deinen Plan ausgeführt, Vas, hättest du keine fünf Minuten mehr gelebt.«

»Und wie wäre dieses Wunder geschehen?« fragte Vas.

Und in diesem Augenblick erklang hinter ihm Elemaks Stimme, und er wußte, daß alles verloren war.

»Ich hätte dich getötet«, sagte Elemak. »Mit bloßen Händen.«

Vas wirbelte herum, wütend und — ausnahmsweise — nicht imstande, seinen Zorn im Zaum zu halten. Warum sollte er ihn auch mäßigen? Nun, da Elemak hier war, war er so gut wie tot — warum sollte er seine Verachtung also nicht offen äußern? »Das würdest du?« schrie er. »Glaube ja nicht, du wärst mir gewachsen! Du warst mir nie gewachsen! Ich habe ständig deine Pläne durchkreuzt! Und du bist nie darauf gekommen, hast es nicht einmal vermutet. Du Narr, du brüstest dich, daß nur du unsere Karawane führen kannst. Und wer hat getan, was du nicht tun konntest, damit wir endlich umkehren?«

»Umkehren? Du hast doch nicht …« Doch da hielt Elemak inne, und Vas sah, wie das Verständnis in seine Augen trat. Jetzt wußte Elja, wer die Pulsatoren zerstört hatte. »Ja«, sagte Elemak. »Es sieht dir hinterlistigem Feigling ähnlich, uns alle in Gefahr zu bringen, meine Frau und meinen Sohn, und wir sind dir nicht auf die Schliche gekommen, weil keinem von uns in den Sinn gekommen ist, daß jemand aus unserer Gruppe so gemein und abscheulich sein könnte, absichtlich die …«

»Das reicht«, unterbrach Luet ihn. »Sag nichts mehr, oder es wird Anklagen geben, mit denen man sich offen befassen muß, während sie jetzt noch im stillen geregelt werden können.«

Vas begriff sofort. Luet wollte nicht, daß Elemak offen äußerte, Vas habe die Pulsatoren zerstört, nicht vor Obring und Sevet, oder er würde bestraft werden müssen. Und sie wollte nicht, daß er bestraft wurde. Sie wollte nicht, daß er getötet wurde. Luet war die Wasserseherin; sie sprach für die Überseele; und das bedeutete, daß die Überseele ihn nicht sterben lassen wollte.

›Das stimmt.‹

Der Gedanke war so klar wie eine Stimme in seinem Kopf.

›Ich will, daß du lebst. Ich will, daß Luet lebt. Ich will, daß Sevet und Obring leben. Zwinge mich nicht, mich zu entscheiden, wer von euch sterben muß.‹

»Kommt wieder hinauf«, sagte Elemak. »Alle drei.«

»Ich will nicht zurückgehen«, sagte Obring. »Dort erwartet mich nichts. Ich gehöre in die Stadt.«

»Ja«, sagte Elemak, »in einer Stadt kannst du deine Schwäche und Faulheit und Feigheit und Dummheit hinter feinen Kleidern und ein paar Scherzen verbergen, und die Leute halten dich für einen Mann. Aber mach dir keine Sorgen – dafür bleibt noch genug Zeit. Wenn Nafai scheitert und wir in die Stadt zurückkehren …«

»Aber sie. sagt, er habe seinen Bogen gemacht«, erwiderte Obring.

Elemak schaute zu Luet hinüber und schien die Bestätigung in ihren Augen zu sehen. »Auch wenn man es geschafft hat, einen Bogen zu machen, kann man noch lange nicht damit umgehen«, sagte er. »Wenn er Fleisch nach Hause bringt, weiß ich, daß die Überseele wahrhaftig bei ihm und stärker ist, als ich es je für möglich gehalten habe. Aber das wird nicht geschehen, Wasserseherin. Dein Gatte wird sein Bestes geben, aber er wird scheitern. Nicht, weil er nicht gut genug, sondern weil es unmöglich ist. Und wenn er scheitert, kehren wir nach Norden und in die Stadt zurück. Du hättest dies nicht tun müssen.«

Vas hörte zu und verstand die wahre Bedeutung des Gesagten. Ob Elemak nun tatsächlich glaubte oder nicht, Nafai würde scheitern, sprach er so, daß Sevet und Obring dachten, es würde sich um nichts weiter als einen Fluchtversuch zur Stadt handeln. Er beabsichtigte nicht, ihnen zu sagen, daß Vas sie hatte töten wollen.

Oder er wußte es vielleicht nicht. Vielleicht wußte Luet es nicht. Als sie gesagt hatte, alle drei würden sterben, wenn sie auf den Vorsprung hinabstiegen, hatte sie vielleicht gemeint, Elemak würde sie töten, um ihre Flucht zu verhindern. Vielleicht war es noch immer ein Geheimnis.

»Geht den Weg wieder hinauf, den ihr gekommen seid«, sagte Elemak. »Dann wird es keine Bestrafung geben. Wir haben noch Zeit genug bis zum Morgen. Keiner außer uns muß erfahren, was geschehen ist.«

»Ja«, sagte Obring. »Natürlich, es tut mir leid, vielen Dank.«

Er ist so schwach, dachte Vas.

Obring ging an Elemak vorbei und stieg den Pfad hinauf. Sevet folgte ihm stumm.

»Geh schon voraus, Luet«, sagte Elemak. »Du hast heute nacht gute Arbeit geleistet. Ich erspare es mir, die Wasserseherin zu fragen, wie sie wissen konnte, daß sie vor ihnen hier sein mußte. Ich sage nur, hättest du sie nicht aufgehalten, hätte es in dieser Nacht Tote gegeben.«

Waren die anderen außer Hörweite? fragte Vas sich. Oder meinte Elemak noch immer, daß er sie getötet hätte — daß er sie eingeholt und für ihren Fluchtversuch bestraft hätte?

Luet ging an ihnen vorbei und folgte den anderen den Berg hinauf. Vas und Elemak waren allein.

»Was hattest du vor?« fragte Elemak. »Wolltest du sie hinabstoßen, während du sie auf den Vorsprung hinabläßt?«

Also wußte er es.

»Wenn du einem von ihnen etwas getan hättest, hätte ich dich auseinandergenommen.«

»Ach ja?« sagte Vas.

Elemaks Hand schoß vor, packte ihn an der Kehle und drückte ihn gegen die Felswand hinter ihm. Vas zerrte an Elemaks Arm, dann an seiner Hand, versuchte, die Finger zurückzubiegen. Er bekam keine Luft, und es tat weh. Elemak wollte ihn nicht nur einschüchtern, wollte nicht nur seine Macht demonstrieren, er wollte ihn töten, und Vas geriet in Panik. Gerade, als er nach Elemaks Augen kratzen, ihn irgendwie zwingen wollte, ihn loszulassen, legte Elemak die andere Hand um Vas’ Hoden und drückte zu. Der Schmerz war unbeschreiblich, und doch konnte er nicht schreien oder auch nur stöhnen, weil Elemak seinen Hals zuschnürte. Er mußte würgen, und einem Teil seiner Magensäure gelang es tatsächlich, sich an der Einschnürung vorbeizukämpfen; er schmeckte es im Mund. Das ist der Tod, dachte er.

Elemak drückte ein letztesmal zu, sowohl am Hals als auch an den Hoden, als wolle er ihm beweisen, daß er längst nicht seine gesamte Kraft aufgebracht hatte. Dann ließ er ihn los.

Vas keuchte und jammerte. Der Schmerz zwischen seinen Beinen war, falls dies überhaupt möglich war, noch schlimmer geworden, und auch sein Hals schmerzte, als er Luft einsog.

»Ich habe das nicht vor den anderen getan«, sagte Elemak, »weil ich will, daß du nützlich bleibst. Ich will dich nicht vor den anderen zerbrechen oder erniedrigen. Aber ich will, daß du dich an eins erinnerst. Wenn du deinen nächsten Mord planst, wird Luet dich beobachten, Luet und die Überseele. Und was für dich noch wichtiger ist: Ich werde dich beobachten. Ich lasse dich jetzt keinen Millimeter mehr von der Leine, Vasja, mein Freund. Wenn ich irgendeinen Hinweis entdecke, daß du eine weitere Sabotage oder einen weiteren spitzfindigen kleinen Mord planst, werde ich nicht abwarten, wie die Dinge sich entwickeln, dann komme ich einfach mitten in der Nacht zu dir und breche dir den Hals. Du weißt, du kannst mich nicht aufhalten. Solange ich lebe, wirst du keine Rache nehmen, weder an Sevet und Obring noch an mir. Ich werde dir keinen Eid abverlangen, denn dein Schwur ist Pisse aus deinem Mund. Ich erwarte einfach, daß du mir gehorchst, denn du bist ein verschlagener kleiner Feigling, der schreckliche Angst vor Schmerzen hat, und du wirst dich mir nie, nie wieder entgegenstellen, weil du dich immer daran erinnern wirst, wie du dich jetzt fühlst, in diesem Augenblick.«

Vas hörte all das und wußte, daß Elemak recht hatte, er würde sich ihm nie mehr entgegenstellen, weil er es nicht ertragen konnte, den Schmerz und die Furcht, die er gerade durchgestanden hatte, noch einmal zu erleiden.

Aber ich werde dich hassen, Elemak. Und eines Tages! Eines Tages, wenn du alt und schwach und hilflos bist, werde ich die Dinge wieder ins Lot bringen. Ich werde Sevet und Obring töten, und du wirst mich nicht aufhalten können. Du wirst nicht einmal wissen, daß ich es war. Und dann werde ich eines Tages zu dir kommen und sagen, siehst du, ich habe es doch getan. Und du wirst wütend auf mich sein, und ich werde nur lachen, weil du dann hilflos bist. Und in deiner Hilflosigkeit wirst du fühlen, was ich gerade gefühlt habe, den Schmerz, die Furcht, die Panik, wenn du nicht mehr atmen, nicht einmal einen Schmerzensschrei ausstoßen kannst — oh, du wirst es fühlen Und wenn du dann sterbend dort liegst, werde ich dir sagen, wie der Rest meiner Rache aussieht — daß ich auch all deine Kinder töten werde. Und deine Frau und alle und jeden, den du liebst, und du kannst mich nicht aufhalten. Dann wirst du sterben, und erst dann werde ich zufrieden sein, weil ich weiß, daß dein Tod der schrecklichste war, den man sich nur vorstellen kann.

Aber es besteht kein Grund zu Eile, Elemak. Ich werde jede Nacht davon träumen. Ich werde nie vergessen. Du wirst vergessen. Bis zu dem Tag, an dem ich dich daran erinnere, ganz gleich, wie viele Jahre es auch dauern mag.

Als Vas wieder gehen konnte, zerrte Elemak ihn auf die Füße und schob ihn den Pfad hinauf, der zum Lager führte.

Bei Anbruch der Dämmerung waren alle wieder zurück, und nur diejenigen, die daran teilgenommen hatten, wußten von der Szene, die sich bei Mondschein auf halber Strecke den Berg hinab abgespielt hatte.

Die Sonne war gerade aufgegangen, als Nafai über die Wiese zum Lager schritt. Luet war wach und stillte Schveja, während Zdorab zum Frühstück Zwieback verteilte, den er mit in Zucker eingelegten Früchten bestrichen hatte. Luet sah auf, und da kam er, und das erste Sonnenlicht fing sich in seinem Haar. Sie dachte daran, wie er in ihrem seltsamen Traum ausgesehen hatte, in dem Licht seiner unsichtbaren Metallrüstung funkelnd. Was hatte das zu bedeuten? fragte sie sich. Und dann dachte sie: Was spielt es schon für eine Rolle, was es zu bedeuten hat!

»Warum kommst du zurück?« rief Issib, der auf seinem Stuhl saß und Dazja auf dem Schoß hatte, während Huschidh pinkeln war, oder was auch immer.

Als Antwort hob Nafai den Bogen mit der einen und fünf Pfeile mit der anderen Hand.

Luet sprang auf und lief zu ihm, das Baby noch immer haltend — wenngleich Schveja kurz darauf Luets Brust loslassen mußte und lautstark über all dieses Auf- und Abspringen protestierte, wo sie doch gerade hatte trinken wollen. Das Baby weinte ziemlich laut, doch Luet schenkte ihm keine Beachtung, während sie ihren Mann küßte und ihn mit der freien Hand an sich drückte.

»Du hast den Bogen«, sagte sie.

»Was ist schon ein Bogen?« fragte er. »Die Überseele hat mir erklärt, wie man ihn macht — dazu bedurfte es keinerlei Fertigkeiten. Aber was du zustande gebracht hast …«

»Du weißt es also?«

»Die Überseele hat es mir in einem Traum gezeigt — ich wachte auf, als er endete, und kam sofort zurück.«

»Also weißt du, daß wir nicht darüber sprechen.«

»Ja«, sagte er. »Nur untereinander. Also darf ich dir sagen, daß du eine großartige Frau bist, die stärkste, tapferste Person, die ich kenne.«

Sie hörte diese Worte gern von ihm, wenngleich sie wußte, daß sie nicht stimmten — sie war gar nicht tapfer gewesen, sondern hatte schreckliche Angst gehabt, daß Vas sie mit den anderen töten würde. Deshalb war sie so erleichtert gewesen, als Elemak kam, daß sie fast geweint hätte. All das würde sie ihm bald erzählen. Doch im Augenblick hörte sie seine Worte der Liebe und der Ehre gern und wußte es auch zu schätzen, daß er den Arm um sie legte, als sie zusammen zum Lager zurückgingen.

»Wie ich sehe, hast du den Bogen, aber kein Fleisch«, sagte Issib.

»Also hast du aufgegeben?« fragte Mebbekew hoffnungsvoll.

»Ich habe bis zum Sonnenuntergang Zeit«, sagte Nafai.

»Warum bist du dann hier?« fragte Elemak.

Alle waren mittlerweile aus den Zelten gekommen, scharten sich um sie und beobachteten sie.

»Ich bin gekommen, weil es keine Leistung ist, einen Bogen gemacht zu haben — das hätte die Überseele jedem von uns beibringen können. Jetzt brauche ich Vater. Er muß mir sagen, wo ich das Wild finde.«

Volemak war überrascht. »Und woher soll ich das wissen, Nafai? Ich bin kein Jäger.«

»Ich muß wissen, wo ich eine Beute finden kann, die so zahm ist, daß ich mich ganz nah an sie heranschleichen kann«, sagte Nafai. »Und wo es so viele Tiere gibt, daß ich mehr finde, wenn ich bei meinen ersten Versuchen nicht treffe.«

»Dann nimm Vas mit, damit er dir eine Fährte sucht«, sagte Volemak.

»Nein«, sagte Elemak schnell. »Nein, Nafai hat recht. Weder Vas noch Obring werden ihn heute morgen als Fährtensucher begleiten.«

Luet wußte genau, warum Elemak darauf bestand — aber Volemak war noch immer völlig verwirrt. »Dann soll Elemak dir sagen, wo man eine solche Beute findet.«

»Elemak kennt dieses Land nicht besser als ich«, sagte Nafai.

»Und ich kenne es überhaupt nicht«, sagte Volemak.

»Trotzdem«, sagte Nafai, »werde ich nur dort jagen, wohin du mich schickst. Dies ist zu wichtig, um es dem Zufall zu überlassen. Alles hängt davon ab, Vater. Sag mir, wo ich jagen soll, oder ich habe keine Hoffnung.«

Volemak stand schweigend da und betrachtete seinen Sohn. Luet begriff einfach nicht, warum Nafai dies tat – Volemak hatte ihm noch nie zuvor sagen müssen, wo er nach Wild suchen mußte. Und doch spürte sie, daß es sehr wichtig war — aus irgendeinem Grund hing der Erfolg der Expedition davon ab, daß Volemak entschied, wo die Jagd stattfinden würde.

»Ich werde den Index fragen«, sagte Volemak.

»Danke, Vater«, sagte Nafai. Er folgte seinem Vater in dessen Zelt.

Während sie warteten, betrachtete Luet die Gruppe. Was halten sie davon? Ihr Blick begegnete dem Elemaks. Er lächelte verkniffen. Sie erwiderte das Lächeln, wußte aber noch immer nicht, was er von der Sache hielt.

Huschidh klärte sie auf. »Dein Mann ist sehr klug«, flüsterte sie.

Luet drehte sich überrascht um — sie hatte gar nicht bemerkt, daß Huschidh neben sie getreten war.

»Als er mit dem Bogen und den Pfeilen zurückkam, wurde Volemak geschwächt. Er wurde schon gestern geschwächt, als Nafai darauf bestand, die Reise fortzusetzen. Daraufhin wurden alle Verbindungen schwächer, die diese Gruppe zusammenhalten. Ich sah es, als ich heute morgen aufstand — überall Risse. Wir standen am Rand des Chaos. Und noch etwas Schlimmeres zwischen Vas und Elemak — ein schrecklicher Haß, den ich nicht verstand. Doch Nafai hat die Befehlsgewalt nun seinem Vater zurückgegeben. Er hätte sie selbst nehmen und uns auseinanderreißen können, doch das tat er nicht — er hat sie zurückgegeben, und ich sehe schon, daß wir bereits in die alten Muster zurückfallen.«

»Manchmal, Schuja, wünsche ich mir, ich hätte deine Begabung statt meiner.«

»Meine ist manchmal angenehmer und praktischer«, sagte Huschidh. »Aber du bist die Wasser Seherin.«

Da Schveja an Luets Brust saugte und obszön schlürfte, als wolle sie so viel wie möglich trinken, bevor Luet wieder irgendwo hinlief, fiel es Luet schwer, ihre edle Berufung allzu ernst zu nehmen. Sie antwortete Huschidh mit Gelächter. Ihr Lachen wurde von den anderen gehört, die ihr leises Gespräch nicht hatten verstehen können, und viele drehten sich zu ihr um. Was war nur so amüsant, schienen sie sich zu fragen, an einem Morgen wie diesem, an dem über unsere gesamte Zukunft entschieden wird?

Nafai und Volemak traten aus dem Zelt. Volemaks Verwirrung hatte sich gelegt. Er hatte wieder das Kommando; er umarmte seinen Sohn, deutete gen Südosten und sagte: »Dort wirst du Beute finden, Nafai. Komm schnell zurück, und ich werde erlauben, daß das Fleisch gekocht wird. Sollen die Dorovjets sich doch fragen, wieso es auf der anderen Seite der Bucht eine neue Rauchsäule gibt. Bis sie hier eintreffen, um nachzusehen, sind wir längst wieder auf unserem Weg nach Süden.«

Luet wußte, daß viele diese zuversichtlichen Worte mit mehr Verzweiflung als Hoffnung vernahmen — aber ihre Sehnsucht nach der Stadt war eine Schwäche in ihnen und nichts, worauf sie stolz sein konnten, kein Verlangen, dem man nachgeben durfte. Vas’ Sabotage hatte ihnen vielleicht einen Rückschlag versetzt, aber wäre sie vollständig gelungen, hätte sie ihr Leben völlig bedeutungslos gemacht, jedenfalls im Vergleich zu dem, was sie bewerkstelligen würden, wenn Nafai Erfolg hatte.

Falls er Erfolg hatte!

Elemak wandte sich an Nafai. »Kannst du mit diesem Ding gut umgehen?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, sagte Nafai. »Ich habe es noch nicht versucht. Letzte Nacht war es zu dunkel. Ich weiß nur eins — ich kann damit nicht weit schießen. Ich habe noch nicht die richtigen Muskeln entwickelt, um einen Bogen zu spannen.« Er grinste. »Ich muß ein Tier finden, das sehr dumm ist, sehr langsam oder taub und blind und mich nicht wittert.«

Niemand lachte. Statt dessen standen alle da und sahen ihm nach, wie er ohne das geringste Zögern in genau die Richtung ging, die sein Vater ihm gewiesen hatte.

Von da an war es ein angespannter Morgen im Lager. Nicht die Anspannung von kaum im Zaum gehaltenen Streitigkeiten — die erlebten sie oft genug —, sondern die Anspannung des Wartens. Denn sie hatten nichts anderes zu tun, als sich um die Babies zu kümmern und sich zu fragen, ob Nafai gegen jede Wahrscheinlichkeit mit Pfeil und Bogen ein Tier erlegen konnte.

Die einzige Ausnahme von der allgemeinen verdrossenen Nervosität stellten Schedemei und Zdorab dar. Nicht, daß sie glücklich gewesen wären — sie waren ruhig wie immer und gingen ihrer Arbeit nach. Aber Luet stellte unwillkürlich fest, daß sie … nun ja, heute einander bewußter waren. Sie sahen sich ständig an, als könnten sie ein Geheimnis kaum für sich behalten.

Der Grund dafür dämmerte Luet erst spät am Morgen, als Schedemei die nackte Schveja hielt, während Luet das zweite Gewand und die Windel wusch, die ihre Tochter an diesem Morgen schon beschmutzt hatte. Schedemei konnte einfach nicht aufhören, mit Schveja zu kichern, während sie spielten, und während Luet sich Gedanken über Schedemeis ungewohnte gute Laune machte, wurde ihr klar: Schedemei muß schwanger sein. Endlich, nachdem alle schon vermutet hatten, sie sei steril, bekam Schedja ein Kind.

Und da sie nun einmal Luet war, zögerte sie nicht, die Frage offen zu stellen — schließlich waren sie ja allein, und keine Frau konnte vor der Wasserseherin ein Geheimnis bewahren, ob sie es nun wollte oder nicht.

»Nein«, sagte Schedemei verblüfft. »Ich meine … ich könnte schwanger sein, aber woher soll ich das so schnell wissen?«

Erst da kam es Luet zum erstenmal in den Sinn: Schedemei war bis jetzt nicht schwanger geworden, weil sie und Zdorab noch nie miteinander geschlafen hatten. Sie müssen aus Gründen der Bequemlichkeit geheiratet haben, um sich ein Zelt teilen zu können. Sie waren schon die ganze Zeit über Freunde gewesen. Und sie waren heute einander so bewußt, und Schedemei war heute so glücklich, weil sie in der letzten Nacht ihre Ehe zum erstenmal vollzogen haben mußten.

»Trotzdem herzlichen Glückwunsch«, sagte Luet.

Schedemei errötete, sah zu dem Baby hinab und kitzelte es ein wenig.

»Und vielleicht wird es ja bald der Fall sein. Einige Frauen empfangen schnell. Bei mir war es wohl so.«

»Sag es niemandem«, bat Schedemei sie.

»Huschidh wird wissen, daß sich etwas geändert hat.«

»Dann sag es ihr, aber sonst niemandem!«

»Das verspreche ich dir«, sagte Luet.

Aber etwas in Schedemeis Lächeln verriet ihr, daß sie vielleicht einen Teil des Geheimnisses in Erfahrung gebracht aber noch mehr gab, das bislang ungesagt geblieben-, sagte Luet sich. Ich bin nicht eine von denen, die alles wissen müssen. Was sich zwischen dir und Zdorab abspielt, geht mich nichts an, solange du es mir nicht sagen willst. Aber was auch geschehen sein mag, eins weiß ich: Es hat dich heute glücklicher gemacht. Hoffnungsvoller, als ich dich seit Beginn unserer Reise gesehen habe.

Oder vielleicht bin auch ich es, die hoffnungsvoller denn je zuvor ist, weil wir heute morgen eine so schreckliche Krise überstanden haben. Und vor allem, weil Elemak auf der Seite der Überseele war. Mochte Vas in seinem Herzen doch ein feiger Mörder sein! Mochten Obring und Sevet doch ihre Kinder zurücklassen! Wenn Elemak nun kein Feind der Überseele mehr war, würde wirklich alles gut werden.

Nafai kam noch vor Mittag nach Hause. Niemand sah ihn kommen, weil niemand so früh mit ihm gerechnet hatte. Plötzlich stand er am Rand der Zelte.

»Zdorab!« rief er.

Zdorab kam aus Volemaks Zelt, in dem er und Issib mit dem Index gearbeitet hatten. »Nafai«, sagte er. »Das heißt wohl, du bist zurück.«

Nafai hob mit der einen Hand den gehäuteten Kadaver eines Hasen und mit der anderen einen ebenso nackten und blutigen Kopf hoch. »Sie sind zwar nicht besonders groß, aber da Vater gesagt hat, wir könnten einen Eintopf machen, wenn ich früh genug zurückkomme, würde ich sagen, zünde ein Feuer an, Zodja! Heute abend kommt fettes, tierisches Protein in unsere Bäuche!«

Nicht alle waren überglücklich, daß die Expedition weitergehen würde — doch alle freuten sich über das gekochte Fleisch, den würzigen Eintopf und das Ende der Unsicherheit. Volemak war besonders heiter, als er an diesem Abend das Mahl eröffnete. Luet wunderte sich darüber. Wäre es nicht leichter für ihn gewesen, nun den Mantel der Autorität abzulegen und an einen seiner Söhne weiterzugeben? Aber nein. So schwer die Bürde der Autorität auch sein mochte, sie war viel leichter als die unerträgliche Last, sie zu verlieren.

Als sie sich zum Essen setzten, stellte sie fest, daß Nafai nach den Anstrengungen des Tages stank. Nicht unbedingt ein unvertrauter Geruch — niemand konnte hier den Hygienestandard Basilikas aufrechterhalten —, aber ein unangenehmer. »Du riechst«, flüsterte sie ihm zu, während die anderen Mebbekew lauschten, der ein obszönes altes Gedicht vortrug, das er in seinen Schauspielertagen gelernt hatte.

»Ich gestehe ein, ich brauche ein Bad«, sagte Nafai.

»Ich werde dich heute abend waschen«, sagte Luet.

»Ich hatte gehofft, daß du das sagst«, erwiderte er. »Ständig badest du Veja, und das macht mich eifersüchtig.«

»Du warst heute großartig«, sagte sie.

»Ich habe nur ein wenig geschnitzt, während die Überseele Wissen in meinen Kopf gepumpt hat. Und dann Tiere getötet, die zur Flucht zu dumm waren.«

»Ja, das alles — großartig. Und mehr. Was du mit deinem Vater gemacht hast.«

»Es war die richtige Entscheidung«, sagte er. »Nicht mehr als das. Nichts im Vergleich zu dem, was du getan hast. Eigentlich hättest du es verdient, heute abend verwöhnt zu werden.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Aber zuerst muß ich dich baden. Es macht keinen Spaß, von jemandem verwöhnt zu werden, der so schlimm stinkt, daß man würgen muß.«

Als Antwort umarmte er sie und begrub ihre Nase in seiner Achselhöhle. Sie kitzelte ihn, um sich zu befreien.

Rasa betrachtete sie über das Feuer hinweg und dachte: Solche Kinder! So jung, so verspielt. Ich bin so froh, daß sie noch so sein können. Eines Tages, wenn nur noch die Pflichten der Erwachsenen auf ihnen lasten, werden sie diese Eigenschaft verlieren. Sie wird durch ein langsameres, ruhigeres Spiel ersetzt werden. Doch jetzt können sie noch alle Sorgen abwerfen und sich daran erinnern, wie schön das Leben ist. In der Wüste oder der Stadt, in einem Haus oder einem Zelt — daraus besteht doch das wahre Glück, oder nicht?

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