8 Überfluß

Am nächsten Morgen beluden sie die Kamele und brachen in südöstliche Richtung auf. Niemand sagte etwas dazu, aber alle wußten, daß sie eine gewisse Entfernung zwischen sich und die Dorova-Bucht legen wollten. Es war noch immer keine leichte Aufgabe, einen Weg durch das Tal der Feuer zu finden, und sie mußten mehrmals umkehren, obwohl Elemak nun normalerweise vorausritt, oft mit Vas, um einen brauchbaren Pfad zu suchen. Volemak sagte ihm morgens, was der Index ihm geraten hatte, und Elemak markierte dann den Weg, der zu den leichtesten Auf- und Abstiegen von einem Plateau zum nächsten führte.

Nach ein paar Tagen fanden sie eine weitere Trinkwasserquelle, die sie Strelaj nannten, weil sie hier einige Zeit darauf verwenden wollten, Pfeile zu machen. Nafai zog los und suchte Exemplare von Bäumen, deren Holz sich der Überseele zufolge am besten dazu eignete; schon bald hatten sie Dutzende von Schößlingen zusammengetragen. Aus einigen fertigten sie sofort Bögen, mit denen sie üben und jagen konnten; die anderen nahmen sie mit, damit sie zu Holz reiften, das seine Elastizität bewahren würde. Sie machten auch Hunderte von Pfeilen und übten sich im Schießen, sowohl die Männer als auch die Frauen, denn, wie Elemak sagte: »Es kommt vielleicht eine Zeit, da unser Leben von der Schießkunst unserer Frauen abhängt.«

Diejenigen, die gute Schützen mit dem Pulsator gewesen waren, entwickelten sich nach einiger Übung auch zu guten Bogenschützen, doch die wirkliche Herausforderung bestand darin, genug Kraft zu entwickeln, die Sehne so weit und ruhig durchzuziehen, daß man auch weiter entfernte Ziele traf. Keinem taten in der ersten Woche nicht die Arme, der Rücken und die Schultern weh; Kokor, Dol und Rasa gaben ziemlich schnell auf und versuchten es nie wieder. Doch Sevet und Huschidh entwickelten sich zu ziemlich guten Schützen, solange sie kleinere Bogen als die Männer benutzten.

Issib kam auf die Idee, die Pfeile bunt und grell zu färben, damit man sie leichter wiederfand.

Dann zogen sie weiter, von der Quelle zum Feuer, und übten sich dabei im Bogenschießen. Sie wurden stolz auf die Kraft in ihren Armen. Der Wettstreit unter den Männern, wer denn nun der beste Schütze sei, wurde allmählich ziemlich heftig; die Frauen stellten dies fest, sprachen aber nur untereinander darüber, daß die Männer nur auf Ziele schießen wollten, die so weit entfernt waren, daß die Frauen sie mit ihren kleineren Bogen nicht zielsicher erreichen konnten. »Sollen sie doch ihren Spaß haben«, sagte Huschidh. »Es wäre zu erniedrigend für sie, von einer Frau besiegt zu werden.«

Ohne es eigentlich zu wollen, zogen sie schon bald parallel zum Karawanenweg weiter, und zwar sehr nahe — sie mußten eine Weile wieder rohes Fleisch essen. Eines Morgens kam Volemak dann, den Index unter dem Arm, aus seinem Zelt und verkündete: »Die Überseele sagt, daß wir nun in westliche Richtung in die Berge ziehen müssen, bis wir zum Meer gelangen.«

»Laß mich raten«, sagte Obring. »Dort gibt es keine Städte.«

Niemand antwortete ihm. Und niemand erwähnte ihr letztes Abenteuer am Reinigenden Meer.

»Warum sollen wir jetzt nach Westen ziehen?« fragte Elemak. »Wir haben das Tal der Feuer kaum zur Hälfte durchquert — der Karawanenweg stößt erst wieder tief im Süden, an der See des Feuers, ans Meer. Wir weichen lediglich weit von unserem Weg nach Westen ab.«

»Im Westen sind Flüsse«, sagte Volemak.

»Nein, das stimmt nicht«, sagte Elemak. »Wären dort welche, hätten die Karawanenführer sie schon längst gefunden und benutzt. Dann würde es dort Städte geben.«

»Trotzdem«, sagte Volemak, »schlagen wir die westliche Richtung ein. Die Überseele sagt, daß wir wieder über längere Zeit ein Lager aufschlagen müssen — um Getreide anzupflanzen und zu ernten.«

»Warum?« fragte Mebbekew. »Wir kommen gut voran. Den Kindern geht es prächtig. Warum sollen wir wieder ein Lager aufschlagen?«

»Natürlich, weil Schedemei schwanger ist«, sagte Volemak, »und sie von Tag zu Tag unter stärkerer Übelkeit leidet.«

Alle sahen Schedemei überrascht an. Sie errötete — und sah nicht weniger überrascht aus als die anderen. »Ich habe es erst heute morgen vermutet«, sagte sie. »Wie kann die Überseele wissen, was ich nur vermute?«

Volemak zuckte die Achseln. »Sie weiß, was sie weiß.«

»Ein ziemlich schlechter Zeitpunkt, Schedja«, sagte Elemak. »Alle anderen Frauen können nicht schwanger werden, weil sie stillen, und nun müssen wir auf dich warten.«

Ausnahmsweise ließ Zdorab sich zu einer scharfen Antwort hinreißen. »Manche Dinge kann man nicht genau planen, Elja. Also spreche keine Schuld zu, wenn kein Willensentscheid dahinter steht.«

Elemak sah ihn ruhig an. »Das tue ich nie«, sagte er. Doch dann ließ er es dabei bewenden und ritt in westliche Richtung los, um einen Weg für die Karawane zu finden.

Sie stießen nun in die richtigen Berge vor — vulkanische mit einigen jüngeren Lavaflüssen, die sich noch nicht zu Erde zersetzt hatten. Issib benutzte den Index, um Informationen über die Gegend zu bekommen — bis zum Reinigenden Meer gab es mindestens fünfzig aktive und zur Zeit ruhende Vulkane. »Der letzte Ausbruch hat erst vor einem Jahr stattgefunden«, sagte er, »aber viel weiter im Süden.«

»Das ist vielleicht der Grund, weshalb die Überseele uns so weit nach Norden schickt«, sagte Volemak.

So schwer der Aufstieg auch war, der Abstieg auf der anderen Seite war noch schwerer — das Gelände war steiler und dichter bewachsen. Es handelte sich fast um einen Dschungel auf den Hängen eines hohen Berges.

»Die Winterwinde kommen vom Meer«, sagte Issib, »und auch im Sommer kommt es hier fast jeden Tag zu Böen. Die Berge fangen die Wolken ab und zwingen sie in die kältere Atmosphäre hinauf, und sie regnen sämtliche Feuchtigkeit in ihnen ab. Also ist hier oben in den Bergen ein Regenwald entstanden. Unten am Meer wird es nicht mehr so naß sein.« Sie hatten sich daran gewöhnt, daß Issib den Index erkundete; während ihrer Reisetage war er der einzige, der keine anderen Pflichten hatte, und er führte den Index mit sich und hatte fast ständig eine Hand auf ihn gelegt. Zdorab hatte ihm so viele Tricks und Hintertüren gezeigt, daß er im Umgang mit ihm jetzt fast so geschickt wie der Bibliothekar selbst war. Und niemand äußerte sich geringschätzig über den Wert der Informationen, die Issib beschaffte, denn mehr konnte er nicht beschaffen.

Sie waren mitten in einem schwierigen Stück, das eine gekrümmte Schlucht hinabführte, als sie das Erdbeben spürten — ein ziemlich starkes, das zwei Kamele von den Füßen riß und die anderen verwirrt hin und her laufen ließ.

»Aus der Schlucht!« rief Issib sofort.

»Heraus? Wie?« fragte Volemak.

»Ganz gleich, wie!« rief Issib. »Der Index sagt, daß das Erdbeben einen See hoch oben in den Bergen aufgerissen hat — alles, was sich in der Schlucht befindet, wird weggespült werden!«

Es war eine besonders schlechte Zeit für einen Notfall — Elemak und Vas waren weit voraus und suchten einen Weg, und Nafai und Obring waren ein Stück höher in den Bergen auf der Jagd. Aber Volemak hatte viel länger Karawanen geführt als Elemak und war ebenfalls einfallsreich. Er schätzte die Wände der Schlucht schnell ab und wählte einen Weg durch ein Felsgewirr in eine Nebenschlucht, die den Berg hinaufführte. »Ich reite voran«, sagte er, »weil ich am besten weiß, wozu die Kamele fähig sind. Luet, du führst die Frauen und Kinder — Meb, du treibst mit Zdorab die Packtiere an! Die Vorräte zuerst, die Kältetruhen und Trockenbehälter zuletzt. Issib, du bleibst in Hörweite mit ihnen und gleichzeitig mit dem Index in Verbindung! Sag ihnen, wenn keine Zeit mehr bleibt. Dann müssen sie die Kamele aufgeben und sich selbst retten. Sie müssen sich retten, und du mußt dich auch retten, Issja — das ist wichtiger als alles andere. Hast du verstanden?«

Er fragte alle, und alle nickten mit aufgerissenen Augen und entsetzten Gesichtern.

»Elemak ist in der Schlucht«, sagte Eiadh. »Jemand muß ihn warnen.«

»Elja hört die Stimme der Überseele selbst«, sagte Volemak. »Das Wasser kommt zu schnell, als daß die Kamele mithalten könnten. Rette sein Kind und seine Frau, Edhja. Und nun kommt.« Er zog sein Kamel herum und begann mit dem Aufstieg.

Die Kamele waren nicht zum Klettern geschaffen. Ihre gemächliche Geschwindigkeit konnte einen in den Wahnsinn treiben. Doch sie stiegen stetig auf. Die Erde erzitterte noch zweimal — aber die Nachbeben waren nicht so heftig wie das erste. Volemak und die Frauen schafften es bis ganz nach oben. Volemak überlegte kurz, ob er umkehren und den anderen helfen sollte, doch Luet erinnerte ihn daran, daß der Weg an mehreren Stellen nicht breit genug für zwei Kamele war — er würde ihnen also keinen Beistand leisten können, sondern sie nur behindern.

Alle Kamele waren über dem Grund der Schlucht, als Issib »Jetzt! Um euer Leben!« rief. Als er sah, daß Meb und Zdorab ihn gehört hatten, zog er sein Kamel herum und drängte es zwischen die Lasttiere. Doch er hatte sein Tier nicht fest genug im Griff, um es zu zwingen, schneller als die anderen zu laufen. Als Meb ihn überholte, riß er Issib die Zügel aus den schwachen Händen und zog das Kamel immer schneller voran. Doch kurz darauf erreichten sie eine schmale Stelle, an der zwei Kamele nicht nebeneinander laufen konnten, besonders nicht, wenn eins mit der Masse von Issibs Stuhl beladen war. Ohne zu zögern — ohne auch nur zu warten, daß sein Kamel niederkniete, um ihn absteigen zu lassen — sprang Meb zu Boden, ließ die Zügel seines Kamels los, zerrte an denen von Issibs Tier und zog es durch den Engpaß.

Kurz darauf kam Zdorab durch die gleiche schmale Stelle und schloß zu ihnen auf. »Der Index!« rief er.

Da Issib ihn nicht hochheben konnte, deutete er auf die Tasche auf seinem Schoß. »Ich habe ihn an den Sattelknopf gebunden!« rief er.

Zdorab trieb sein Tier heran; Meb hielt Issibs Kamel fest. Zdorab griff gewandt zu, löste die Tasche vom Sattelknauf und ritt dann voraus, den Index wie eine Trophäe schwenkend.

»Laufe voraus!« rief Issib Meb zu.

Meb ignorierte ihn und zerrte weiterhin sein Kamel bergauf, wobei sie die langsameren Lasttiere überholten.

Bald gelangten sie an die Stelle, an der Zdorab, Luet, Huschidh, Schedemei, Sevet und Eiadh zu Fuß warteten. Mebbekew wurde klar, daß er jetzt fast ganz oben sein mußte — Zdorab mußte den Index bei Volemak gelassen, und Rasa und die anderen Frauen mußten die Kinder noch höher getragen haben. »Nimm Issib!« rief Meb und drückte Zdorab die Zügel in die Hand. Dann lief er die Schlucht hinab zum nächsten Packtier. Er drückte die Zügel des Kamels Luet in die Hand. »Zieh es hinauf!« rief er. Allen Frauen drückte er nacheinander die Zügel eines Lasttiers in die Hände. Sie hörten das Wasser nun, ein lautes Tosen, und fühlten das Grollen in der Erde. »Schneller!« rief Meb.

Es standen gerade genug Frauen dort, um die Zügel aller Packtiere zu übernehmen. Nur Mebs Stute, die letzte in der Reihe, blieb ohne Hilfe. Sie hatte eindeutig Angst vor dem Wasser, dem Zittern der Erde, und wurde zusehends langsamer. »Glupost!« lockte Meb sie. »Komm schon! Schnell, Glupost!« Doch er ließ die Zügel des letzten Packtiers nicht los, denn er wußte, daß die Kältetruhen, die es trug, auf lange Sicht wichtiger waren als sein Reittier.

»Laß los, Meb!« rief Zdorab. »Das Wasser kommt!«

Sie konnten von ihrem Standort aus das Wasser bereits sehen, so hoch war es — höher als das obere Ende der Schlucht, so daß sie instinktiv den Hang, auf dem sie standen, noch höher hinaufliefen. Ganz oben war man jedoch sicher, denn so hoch reichte es nun auch wieder nicht.

Doch das Wasser, das in die Seitenschlucht gedrängt wurde, durch die sie hinaufgeklettert waren, schoß mit solcher Gewalt hinauf, daß es höher stieg als das in der Hauptschlucht. Es knallte gegen die letzten beiden Kamele und dann gegen Meb, riß sie alle von den Füßen und schleuderte sie die Nebenschlucht hinauf. Meb hörte, daß Frauen schrien — war das Dol, die Mebs Namen brüllte? —, und fühlte dann, wie das Wasser fast genauso schnell wieder sank und ihn hinabzerrte. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, die Zügel loszulassen und sich zu retten; dann wurde ihm klar, daß das Packtier sich mit gespreizten Beinen gegen die Fluten stemmte und sichereren Halt hatte als er selbst. Also hielt er sich am Zügel fest und wurde nicht mitgerissen. Doch als er dort hing, gegen die Seite des Kamels gedrückt, das er gerettet hatte und das nun ihn rettete, sah er, daß seine Stute Glupost von den Beinen gerissen und in den Mahlstrom der Schlucht gezerrt wurde.

Sekunden später fühlte er viele Hände auf seinem Körper, die ihm die Zügel aus den Fingern wanden und ihn dann, tropfnaß und zitternd, zu den anderen hinaufführten. Volemak umarmte ihn weinend. »Ich dachte, ich hätte dich verloren, mein Sohn, mein Sohn.«

»Was ist mit Elja?« klagte Eiadh. »Wie konnte er sich davor retten?«

»Und Vas«, sagte Rasa leise.

Mehrere Angehörige der Gruppe sahen Sevet an, deren Gesicht hart und steinern war.

»Nicht alle zeigen Furcht auf dieselbe Weise«, murmelte Luet und beendete damit alle möglichen Spekulationen über die Unterschiede zwischen Eiadhs und Sevets Reaktionen. Luet wußte sehr wohl, daß Sevet wenig Grund hatte, sich Sorgen zu machen, ob Vas überlebt hatte oder tot war – wenngleich sie sich fragte, wieviel Sevet überhaupt von Vas’ Plan wußte.

Luet betrübte am meisten, daß Nafai nicht bei ihnen war. Er und Obring befanden sich höchstwahrscheinlich zwar in höherem Gelände und damit in Sicherheit. Doch sie würden sich trotzdem große Sorgen machen.

Sag ihm, daß wir in Sicherheit sind, sagte sie stumm zur Überseele, Und sage mir — lebt Elemak? Und Vas?

Sie leben, kam die Antwort in ihren Geist.

Sie teilte es den anderen mit, die sie halb erleichtert, halb zweifelnd betrachteten. »Sie leben«, wiederholte sie. »Mehr hat die Überseele mir nicht gesagt. Reicht das nicht?«

Das Wasser sank, der Spiegel fiel rapide. Volemak und Zdorab gingen gemeinsam die Nebenschlucht hinab. Sie fanden ein Gewirr halb entwurzelter Bäume und Sträucher vor — nicht einmal das Geröll und die Findlinge lagen noch dort, wo sie zuvor gelegen hatten.

Aber die Nebenschlucht war nichts im Vergleich zu der Hauptschlucht. Dort war nichts übriggeblieben. Noch vor einer Viertelstunde war sie mit üppiger Vegetation bewachsen gewesen — mit so üppiger, daß sie kaum hindurchgekommen waren und die Kamele oft durch den Bach in der Mitte hatten führen müssen. Nun haftete keine einzige Pflanze mehr an den Wänden der Schlucht. Das Erdreich selbst war bis auf die nackten Felsen fortgespült worden. Und auf dem Grund der Schlucht lagen nur noch ein paar schwere Felsbrocken und die tropfenden Ablagerungen, die das Wasser zurückgelassen hatte.

»Sieh doch, an den Rändern besteht der Boden der Schlucht aus kahlen Felsen«, sagte Volemak. »Aber in der Mitte haben sich die Sedimente festgesetzt.«

Es stimmte: Der Bach, der zurückgeblieben war — ein größerer als zuvor — schnitt einen vielleicht einen Meter tiefen Kanal durch den dicken Schlamm. Die neuen Ränder des Baches würden hier und da zusammenbrechen, und ein paar Meter Schlamm würden ins Wasser rutschen. Es würde eine Weile dauern, bis der Grund der Schlucht sich stabilisiert hatte.

»In sechs Wochen wird es hier so grün sein wie zuvor«, sagte Zdorab. »Und in fünf Jahren wird man nichts mehr davon sehen.«

»Was denkst du?« fragte Volemak. »Können wir diese Schlucht als sicheren Durchgang zum Meer benutzen, wenn wir uns am Rand halten?«

»Wir haben uns nur aus dem Grund für die Schlucht entschieden, weil Elemak gesagt hat, daß das Plateau nicht passierbar ist — dort blockieren tiefe Schluchten oder steile Hügel den Weg.«

»Also halten wir uns an den Rändern«, sagte Volemak. »Und hoffen.«

Es dauerte eine Weile, bis sie oben die Ladungen der Kamele überprüft und sich vergewissert hatten, daß sie während ihrer hastigen Flucht nichts verloren hatten. »Es nahm ein besseres Ende, als wir hoffen konnten«, sagte Volemak. »Wir haben nur ein Kamel verloren.«

Zdorab führte seine Stute heran und hielt Meb die Zügel hin.

»Nein«, sagte Meb.

»Bitte«, sagte Zdorab. »Mit jedem Schritt, den ich mache, ehre ich meinen tapferen Freund.«

»Nimm es«, flüsterte Volemak.

Meb nahm die Zügel entgegen. »Danke«, sagte er. »Aber heute hatten wir keinen einzigen Feigling unter uns.«

Zdorab umarmte ihn schnell, ging dann zurück und half gemeinsam mit Schedemei den Frauen mit Kindern auf die Kamele.

Es stellte sich heraus, daß weder Zdorab noch Meb noch Volemak den Rest des Tages über viel ritten. Sie schritten die Karawane ab und achteten darauf, daß die Kamele sich nicht dem dicken und trügerischen Schlamm in der Mitte der Schlucht näherten. Sie stellten sich vor, wie ein Kamel bis zum Kopf darin versank. Der Boden war naß, glatt und gefährlich, doch indem sie langsam weiterzogen, erreichten sie bald die Öffnung der Schlucht, die dort auf einen breiteren Fluß stieß.

Dort hatte es offensichtlich auch beträchtliche Schäden gegeben, denn das gegenüberliegende Ufer des Flußtals war ein einziges Durcheinander von Schlamm und Felsen. Zahlreiche Bäume waren entwurzelt worden, und an vielen Stellen lag der nackte Felsboden frei. Als sie dann den Fluß entlang zogen, sahen sie, daß beide Ufer verwüstet worden waren. Doch da die Kraft der Flutwelle hier schwächer als in dem engen Tal gewesen war, kamen sie durch die Trümmer, die diese hier zurückgelassen hatte, ironischerweise wesentlich langsamer voran.

»Hier entlang!« rief eine Stimme.

Es war Elemak, und Vas stand hinter ihm. Sie waren zu Fuß, aber die Kamele waren nicht weit von ihnen entfernt. Die beiden standen auf höherem Gelände. Um sie zu erreichen, mußten die anderen einen steilen, aber nicht besonders schwierigen Hügel überwinden.

»Wir haben einen Weg durch das Plateau gefunden!« rief Elemak.

Nach ein paar Minuten hatten sie sich am Anfang des Weges versammelt, den Elemak gefunden hatte und der durch den Wald führte. Während die Ehepartner sich umarmten, stellte Issib fest, daß der Wald hier bei weitem nicht so dicht war wie noch ein Stück höher den Berg hinauf. »Wir müssen fast auf Meereshöhe sein«, sagte er.

»Der Fluß macht dort drüben eine scharfe Biegung in westliche Richtung«, sagte Vas; einen Arm hatte er um Sevet gelegt, das Baby drückte er an seine Schulter. »Und von dort aus kann man das Reinigende Meer sehen. Zwischen diesem Fluß und dem im Süden liegt hauptsächlich offenes Grasland, hier und da vielleicht ein paar Bäume. Höheres Gelände, der Überseele sei Dank. Wir haben die Erdstöße gespürt, uns jedoch nichts dabei gedacht, als sie abklangen. Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht, daß ihr sie vielleicht stärker wahrgenommen habt. Dann beharrte Elja plötzlich darauf, auf höheres Gelände zu steigen, um uns einen Überblick zu verschaffen, und kurze Zeit später hörten wir dieses grollende Geräusch, und der Fluß spielte verrückt. Wir fürchteten schon, er hätte alle Kamele mitgerissen, und ihr säßet noch auf ihnen.«

»Der Index hat Issib gewarnt«, sagte Volemak.

»Zum Glück waren wir nicht alle zusammen«, sagte Issib. »Vier weitere Kamele, und wir hätten sie verloren. Meb hat seine Stute verloren — weil er die Packtiere gerettet hat, wie ich hinzufügen möchte.«

»Das können wir uns alles erzählen, sobald wir das Nachtlager aufgeschlagen haben«, sagte Elemak. »Wir können die Ebene zwischen den Flüssen vor Anbruch der Dämmerung erreichen. Wir haben nur wenig Mond; deshalb müssen wir die Zelte noch vor der Dunkelheit aufgeschlagen haben.«

An diesem Abend saßen sie um das Feuer und blieben lange auf, teils, weil sie darauf warteten, daß das Abendessen gar wurde, teils, weil sie zu aufgeregt zum Schlafen waren, und teils, weil sie hofften, Nafai und Obring würden das Lager noch in dieser Nacht finden. Und sie erzählten ihre Geschichten. Und als Huschidh ihrer Schwester in dem Zelt, in dem sie allein mit ihrem Baby schlief, gute Nacht sagte, fügte sie hinzu: »Ich wünschte, du könntest es sehen wie ich, Luet. Diese Sturzflut hat etwas vollbracht, was sonst niemand hätte vollbringen können — alle Verbindungen zwischen uns sind viel stärker geworden. Und Meb … die Ehre, die ihm jetzt zufließt …«

»Eine schöne Abwechslung«, sagte Luet.

»Ich hoffe nur, sie steigt ihm nicht zu sehr zu Kopf«, sagte Huschidh, »oder alles wäre vergebens gewesen.«

»Vielleicht wird er langsam erwachsen«, sagte Luet.

»Vielleicht brauchte er auch nur die richtigen Umstände, um seine guten Seiten zu entdecken. Er hat nicht gezögert, sagt Issja. Er ist einfach abgestiegen und hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um Issib in Sicherheit zu bringen.«

»Und Zdorab hat den Index genommen und uns dann wieder hinab geführt …«

»Ich weiß. Ich behaupte ja nicht, daß lediglich Meb tapfer war. Aber du weißt doch, wie es mit Zdorab ist. Diese Geste von ihm … Meb sein Kamel zu überlassen. Es war sehr großzügig, und es half, die Gruppe stärker zu verbinden — aber er löschte damit auch die Erinnerung an die Rolle aus, die er selbst bei unserer Rettung gespielt hat. Wir haben nur auf Mebbekew geachtet.«

»Na ja, vielleicht will Zodja es so«, sagte Luet.

»Aber wir werden es nicht vergessen«, sagte Huschidh.

»Wohl kaum«, sagte Luet. »Und nun geh zu Bett! Den Babys ist es egal, wie wenig Schlaf wir diese Nacht bekommen — sie werden morgen zur gewohnten Zeit wieder hungrig sein.«

Nafai und Obring kehrten bereits ein paar Stunden nach Anbruch der Dämmerung zurück. Sie waren natürlich weit von der Sturzflut entfernt gewesen, aber auch auf der falschen Seite, so daß sie eine Stelle suchen mußten, an der sie entweder die Schlucht selbst oder den Fluß überqueren konnten. Schließlich hatten sie die Kamele oberhalb der Schlucht am Fluß entlang geführt, einen langen Umweg um die schlimmsten Verwüstungen gemacht und den Fluß dann — bei Ebbe — im flachen Morast und an den Sandbänken in der Nähe der Mündung überquert. »Die Kamele spielen langsam verrückt, wenn sie Wasser sehen«, sagte Nafai.

»Aber wir haben zwei Rehe mitgebracht«, fügte Obring zufrieden hinzu.

Nachdem alle wieder zusammen waren, hielt Volemak eine kleine Rede, mit der er diesen Ort als ihr Lager bestimmte. »Den Fluß im Norden werden wir Ojkib nennen, nach dem erstgeborenen Jungen dieser Expedition, und der im Süden heißt Protschnu, nach dem erstgeborenen Jungen der nächsten Generation.«

Rasa war aufs gröbste verletzt. »Warum nennst du sie nicht Dza und Schveja, nach den ersten beiden Kindern, die auf unserer Reise geboren wurden?«

Volemak sah sie ruhig an, antwortete aber nicht.

»Dann verlassen wir diesen Ort besser wieder, bevor die Jungen alt genug sind, um zu wissen, daß du sie einzig und allein geehrt hast, weil sie einen Penis haben.«

»Hätten wir nur zwei Mädchen und zwei Flüsse, hätte Vater die Flüsse nach ihnen benannt«, sagte Issib, um Frieden zu stiften.

Sie wußten natürlich, daß dies nicht stimmte. Rasa versuchte noch einige Wochen lang, Volemak dazu zu bewegen, sie den Nördlichen und den Südlichen Fluß zu nennen; doch Volemak beharrte unerbittlich darauf, sie Ojkib und Protschnu zu nennen. Und da die Männer öfter unterwegs waren und daher die Flüsse auch öfter durchquerten und in ihnen fischten und einzelne Stellen an den Flußläufen bezeichnen mußten, setzten die Namen Ojkib und Protschnu sich durch. Ob es sonst jemandem auffiel oder nicht — zumindest Luet stellte fest, daß Rasa sich niemals an diese Namen gewöhnte und immer schweigsam und kalt wurde, wenn jemand sie aussprach.

Nur einmal besprachen Nafai und Luet diese Angelegenheit. Nafai war nicht besonders mitfühlend. »Rasa hat auch nichts dagegen gehabt, daß in Basilika Frauen alles bestimmten und Männer die Seen noch nicht einmal betrachten durften.«

»Das war ein heiliger Ort für Frauen. Der einzige derartige Ort auf der Welt.«

»Was hat das damit zu tun?« sagte Nafai. »Es sind doch nur zwei Namen für zwei Flüsse. Wenn wir hier aufbrechen, weiß niemand sonst, wie wir sie genannt haben.«

»Warum dann also nicht Nördlichen Fluß und Südlichen Fluß?«

»Das ist nur ein Problem, weil Mutter eins daraus gemacht hat«, sagte Nafai. »Jetzt machen wir nicht auch noch eins daraus.«

»Ich will doch nur wissen, warum du mit der Entscheidung einverstanden bist!«

Nafai seufzte. »Denke doch nur mal darüber nach, was es für Vater bedeuten würde, wenn ich sie plötzlich Nördlichen und Südlichen Fluß nennen würde. Und für die anderen Männer. Das würde wirklich zu Spannungen führen. Und ich bin nicht besonders versessen darauf, mich noch weiter von den anderen Männern abzusondern.«

Luet hatte eine Weile daran zu kauen. »Na schön«, sagte sie schließlich. »Das sehe ich ein.«

Und dann, nachdem sie noch etwas darüber nachgedacht hatte, sagte sie: »Aber du hast gar nicht gewußt, daß es falsch war, die Flüsse nach den beiden Jungen zu nennen, bis Mutter darauf hingewiesen hat, nicht wahr?«

Er antwortete nicht.

»Und du siehst auch jetzt nicht ein, daß es falsch war, oder?«

»Ich liebe dich«, sagte Nafai.

»Das ist keine Antwort«, sagte sie.

»Da bin ich anderer Meinung«, sagte er.

»Und wenn ich dir nie einen Sohn schenke?« sagte sie.

»Dann werde ich mit dir schlafen, bis wir hundert Töchter haben«, sagte Nafai.

»In deinen Träumen«, sagte sie garstig.

»In deinen, meinst du«, sagte er.

Sie nahm sich bewußt vor, ihm deshalb nicht böse zu sein, und als sie wieder miteinander schliefen, war sie so bereitwillig und leidenschaftlich wie eh und je. Doch als er danach neben ihr einschlief, wurde sie zunehmend besorgter. Was würde es für sie bedeuten, wenn ihre Gruppe so von Männern dominiert wurde, wie Basilika von Frauen dominiert worden war?

Warum müssen wir dies tun? fragte sie sich. Wir hatten die Chance, unsere Gruppe ganz anders zu gestalten, als der Rest der Welt gestaltet ist. Ausgeglichen und fair, unparteiisch, gerecht. Doch selbst Nafai und Issib scheinen keine Einwände zu haben, daß sie aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Ist die Rivalität zwischen Männern und Frauen so stark, daß der Einfluß der einen Gruppe immer zu Lasten der anderen gehen muß? Liegt es in unseren Genen? Muß eine Gemeinschaft immer von dem einen oder dem anderen Geschlecht beherrscht werden?

Vielleicht, dachte sie. Vielleicht sind wir wie die Paviane. Wenn wir in einer stabilen und zivilisierten Umgebung leben, entscheiden die Frauen alles, gründen Haushalte, pflegen die Beziehungen, schaffen sich eine Nachbarschaft und Freundschaften. Doch wenn wir ein nomadisches Leben führen, um unser Überleben kämpfen müssen, herrschen die Männer und dulden keine Einmischung von den Frauen. Vielleicht macht das die Zivilisation aus — die Dominanz der Frauen über die Männer. Und wann immer diese Zivilisation zusammenbricht, nennen wir das Ergebnis unzivilisiert, barbarisch … männlich.

Sie verbrachten das Jahr zwischen den Flüssen und warteten darauf, daß Schedemeis Kind geboren wurde. Es war ein Sohn; sie nannten ihn Padarok — Geschenk — und riefen ihn Rokja. Dann, nach dem ersten Jahr, hätten sie weiterziehen können, doch als der kleine Rokja geboren wurde, waren drei andere Frauen wieder schwanger — darunter Rasa und Luet, die während der Schwangerschaft am zerbrechlichsten gewesen waren. Also blieben sie für eine zweite Ernte und noch ein paar Monate länger, bis alle Frauen außer Sevet entbunden hatten. Daher traten die nächste Etappe der Reise dreißig Personen an, und die erste Generation der Kinder konnte schon laufen und — die meisten jedenfalls — sprechen, bevor sie sich wieder auf den Weg machten.

Es waren gute zwei Jahre gewesen. Statt die Wüste bebauen zu müssen, verfügten sie nun über üppige, vom Regen bewässerte Felder auf gutem Mutterboden. Ihre Ernten waren vielfältiger; die Jagd war einträglicher; und sogar die Kamele gediehen prächtig und gebaren ihnen fünfzehn neue Lasttiere. Ein größeres Problem war das Anfertigen von Sätteln — keiner von ihnen hatte diese Fertigkeit gelernt —, doch schließlich gelang es ihnen, je zwei Kleinkinder auf den vier fügsamsten Tieren unterzubringen, die stets im Schlepptau der Kamele der Frauen marschierten. Als die Kinder zum erstenmal auf die Sättel gesetzt wurden, bekamen einige es mit der Angst zu tun — Kamele sind nun mal so fürchterlich groß —, doch sie gewöhnten sich schnell daran und fanden schließlich sogar Spaß am Reiten.

Die Reise über die Savanne am Meeresufer ging leicht vonstatten; sie kamen so gut voran wie nie zuvor, sogar besser als in der flachen Wüste südlich und westlich von Basilika. Nach drei Tagen erreichten sie eine gut bewässerte Bucht, die die Männer bereits kannten, da sie dort in den letzten zwei Jahren gejagt und gefischt hatten. Doch am Morgen jagte Volemak allen einen Schrecken ein, indem er ihnen sagte, daß ihr Weg nun nicht mehr nach Süden, wie sie alle erwartet hatten, sondern nach Westen führte.

Nach Westen! Ins Meer!

Volemak deutete auf eine felsige Insel, die sich keine zwei Kilometer entfernt aus dem Meer erhob. »Dahinter liegt eine weitere Insel, eine große. Wir werden auf dieser Insel noch einmal die Strecke zurücklegen müssen, die wir zurückgelegt haben, seit wir Mebbekews Tal verlassen haben.«

Nafai und Elemak versuchten bei Ebbe, die Meerenge zwischen dem Festland und der Insel zu durchwaten. Sie schafften es und mußten in der Mitte nur ein kurzes Stück schwimmen. Doch die Kamele scheuten, und so mußten sie Flöße bauen. »Ich habe das schon einmal gemacht«, sagte Elemak. »Natürlich nie bei einer Salzwasser-Überquerung, aber hier ist das Meer ziemlich ruhig.«

Also fällten sie Bäume, rollten sie in die Bucht und banden sie dort mit Tauen zusammen, die sie aus Schilfrohr geflochten hatten. Sie brauchten eine Woche, um die Flöße zu bauen, und zwei Tage, um die Kamele überzusetzen, immer nur eins pro Fahrt, und dann die Ladung. Zum Schluß kamen die Frauen und Kinder. Sie schlugen an dem Ufer, auf dem sie gelandet waren, ein Lager auf, während die Männer die Flöße um die Insel zu ihrer südwestlichen Spitze stakten, wo sie sie brauchten, um alles und jeden auf die größere Insel zu bringen. Nach einer weiteren Woche hatte die Gruppe die kleine Insel überquert und auf die große übergesetzt; sie stießen die Flöße ins Wasser und sahen ihnen nach, wie sie davontrieben.

Die Nordspitze der großen Insel war gebirgig und dicht bewaldet. Doch allmählich wichen die Berge Hügeln und dann weiten Savannen. Sie standen auf dem Kamm der weiten, flachen Ebene und sahen das Reinigende Meer im Westen und die See der Feuer im Osten, so schmal war die Insel hier. Und je weiter südlich sie zogen, desto besser verstanden sie, wie die See der Feuer zu ihrem Namen gekommen war. Vulkane erhoben sich aus ihr, und in der Ferne konnten sie gelegentlich den Rauch einer kleinen Eruption sehen. »Bis vor fünf Millionen Jahren war diese Insel Teil des Festlands«, erklärte Issib ihnen. »Bis zu dieser Zeit erstreckte sich das Tal der Feuer bis auf diese Insel, bis weit in den Süden von uns — und diese Feuer blieben bis zum heutigen Tag in der See bestehen, die den Raum zwischen den beiden Tälern ausgefüllt hat.«

Da sie in Basilika aufgewachsen waren, hatten die meisten von ihnen die Naturkräfte nie verstanden — Basilika war ein Ort, an dem sich nie etwas veränderte und der stolz auf sein Alter war. Doch obwohl die Zeit hier in Millionen von Jahren gemessen wurde, sahen sie deutlich die gewaltige Kraft des Planeten und begriffen, wie unwichtig das menschliche Leben auf seiner Oberfläche war.

»Und doch sind wir nicht unwichtig«, sagte Issib. »Weil wir diejenigen sind, die die Veränderungen sehen, und erkennen und verstehen, daß es Veränderungen sind, daß die Dinge früher anders waren. Alles andere im Universum, ob es nun lebt oder nicht, existiert im unendlichen Jetzt, das sich niemals verändert, das immer so ist, wie es ist. Nur wir erkennen den Verlauf der Zeit und daß das eine das andere verursacht und wir von der Vergangenheit verändert werden und die Zukunft ändern werden.«

Die Insel wurde breiter, und das Gelände zerklüfteter. Sie alle erkannten, daß es sich um dasselbe Terrain handelte, das sie auch schon im Tal der Feuer gesehen hatten — die Fortsetzung dieses Tals, wie Issib es vorausgesagt hatte. Doch es war ruhiger — sie fanden keine einzige Stelle, an der Gas aus dem Erdinnern an der Oberfläche verbrannte —, und das Wasser war größtenteils rein. Und je tiefer nach Süden sie zogen, desto trockener wurde es, obwohl sie wieder in Bergland aufstiegen.

»Dieses Gebirge hat einen Namen«, sagte Issib, nachdem er den Index befragt hatte. »Dalatoi. Hier lebten Menschen, bevor die Insel sich vom Festland abtrennte. Hier befand sich sogar die größte und älteste der Städte des Feuers.«

»Skudnoij?« fragte Luet, die sich an die Geschichte der Stadt der Geizhälse erinnerte, die sich von der Welt zurückgezogen hatten und angeblich das meiste Gold auf Harmonie in verborgenen Grüften unter ihrer verborgenen Stadt aufbewahrten.

»Nein, Raspjatny«, sagte Issib. Und sie alle erinnerten sich an die Geschichten über die Stadt aus Stein und Moos, in der Bäche durch jedes Zimmer flössen und die so hoch wie ein Berg war, so daß die oberen Zimmer gefroren und die, die dort wohnten, die Bäche schmelzen mußten, damit die unteren Zimmer das ganze Jahr über Wasser hatten.

»Werden wir sie sehen?« fragten sie.

»Was von ihr übriggeblieben ist«, sagte Issib. »Sie wurde vor zehn Millionen Jahren aufgegeben, aber sie bestand tatsächlich aus Stein. Die alte Straße, der wir folgen, führt dorthin.«

Erst da bemerkten sie, daß sie tatsächlich einer alten Straße folgten. Es war keine Spur einer Bepflasterung zu sehen, und die Straße wurde manchmal von Schluchten unterbrochen oder war einfach verfallen. Aber sie kehrten immer wieder zum Weg des geringsten Widerstands zurück. Und dann und wann sahen sie, daß Hügel durchschnitten worden waren, um Platz für die Straße zu schaffen, und gelegentlich ein Tal teilweise mit Steinen aufgefüllt worden war, die noch nicht zerfallen waren. »Hätte es hier öfter geregnet«, sagte Issib, »wäre nichts mehr übrig. Doch die Insel ist nach Süden gewandert und liegt nun auf einer Breite mit der Großen Südlichen Wüste, und deshalb ist die Luft trockener, und es gibt weniger Erosion. So haben einige der Werke von Menschenhand selbst nach dieser langen Zeit noch Spuren hinterlassen.«

»Jemand muß diese Straße in den letzten zehn Millionen Jahren benutzt haben«, sagte Elemak.

»Nein«, sagte Issib. »Seit die Insel sich vom Festland abgetrennt hat, hat kein Mensch mehr einen Fuß auf sie gesetzt.«

»Woher weißt du das?« spottete Mebbekew.

»Weil die Überseele verhindert hat, daß Menschen hierher kommen. Niemand erinnert sich mehr daran, daß es sie überhaupt gibt. So hat die Überseele es gewollt. Um alles sicher und bereit zu halten … für uns, vermute ich.«

Sie sahen Raspjatny einen vollen Tag, bevor sie die Stadt erreichten. Zuerst sah sie einfach aus wie ein seltsam geformter Berg, doch je näher sie ihr kamen, desto deutlicher erkannten sie, daß sie Fenster sahen, die in den Stein gemeißelt worden waren. Es war wirklich ein hoher Berg, so daß die Stadt, die in ihn hineingeschnitten worden war, gewaltig gewesen sein mußte.

Sie schlugen ihr Lager nordöstlich von der Stadt auf, in der Nähe eines Baches. Sie folgten dem Lauf des Baches und stellten fest, daß er genau durch die Stadt floß. In der Stadt bildete er tatsächlich kleine Wasserfälle, neben denen die Mauern dick mit Moos bewachsen waren; dort war es viel kälter als draußen in der Wüste.

Sie erforschten die Stadt abwechselnd in großen Gruppen; einige blieben zurück und paßten auf die Kinder und die Tiere auf, während die anderen durch die Überreste kletterten. Etwas vom Bach entfernt war die Stadt nicht so stark verfallen wie in dessen unmittelbarer Nähe, wenngleich die Außenmauern am besten erhalten geblieben waren. Sie stellten den Grund dafür fest, als sie ein paar Überbleibsel eines Aquäduktsystems fanden, das tatsächlich, wie die Legenden behaupteten, Wasser in jeden Raum der Stadt beförderte. Sie stellten jedoch überrascht fest, daß es innerhalb der Stadt keinerlei Gänge und Korridore gab. Ein Raum führte einfach zum nächsten. »Hatten sie denn gar keine Privatsphäre?« fragte Huschidh. »Wie hatten sie je Zeit für sich selbst, wenn jeder Raum eine Straße war, die alle anderen Bewohner benutzen konnten?«

Niemand hatte darauf eine Antwort.

»In den alten Zeiten haben hier über zweihunderttausend Menschen gelebt«, sagte Issib. »Damals lag diese Gegend viel weiter nördlich und war viel besser bewässert — das gesamte Land draußen war kilometerweit bebaut, und doch konnten ihre Feinde die Stadt nie einnehmen, weil sie innerhalb der Mauern Vorräte für zehn Jahre aufbewahrten und es ihnen nie an Wasser mangelte. Ihre Feinde konnten zwar die Felder abbrennen und die Stadt belagern, doch sie waren schon längst verhungert, bevor in Raspjatny jemand die geringste Not litt. Nur die Natur selbst könnte diese Stadt entvölkern.«

»Warum wurde sie nicht von den Erdbeben im Tal der Feuer vernichtet?« fragte Nafai.

»Wir haben den östlichen Hang noch nicht gesehen. Der Index sagt, die halbe Stadt wäre von zwei großen Erdbeben zerstört worden, als der Riß sich öffnete und das Meer hindurchströmte.«

»Es wäre ein atemberaubendes Erlebnis gewesen, eine solche Flut zu sehen«, sagte Zdorab. »Natürlich von einer sicheren Stelle aus.«

»Die gesamte Ostseite der Stadt ist zusammengebrochen«, sagte Issib. »Nun ist sie nur noch ein Berg. Doch diese Seite blieb erhalten. Zehn Millionen Jahre lang. Aber wie lange noch? Die Bäche höhlen sie von innen aus. Irgendwann wird sie einstürzen. Vielleicht ganz plötzlich. Ein Teil gibt nach, und damit wird der Druck auf die anderen Teile zu groß, und das ganze Gebilde bricht zusammen wie eine Sandburg am Strand.«

»Wir haben eine der Städte der Helden gesehen«, sagte Luet.

»Und die Legenden haben sich als wahr erwiesen«, sagte Obring. »Was mich zu der Frage führt, ob sich die Stadt Skudnoij ebenfalls irgendwo hier in der Gegend befand.«

»Der Index sagt, nein«, erwiderte Issib. »Ich habe ihn gefragt.«

»Schade«, sagte Obring. »Das ganze Gold!«

»Ja, genau«, sagte Elemak. »Und wo möchtest du es verkaufen? Oder willst du es essen? Oder zu Mänteln verarbeiten?«

»Ach, dann darf ich jetzt nicht einmal mehr von ungeheuerlichem Reichtum träumen?« sagte Obring trotzig. »Sind nur noch praktische Träume erlaubt?«

Elemak zuckte die Achseln und ließ es dabei bewenden.

Nachdem sie die Gegend um Raspjatny verlassen hatten — und sie brauchten einen ganzen Tag, um an der westlichen Seite der Stadt vorbeizuziehen, die tatsächlich die gesamte Flanke des Berges bedeckt zu haben schien —, zogen sie einen hohen Paß hinauf, der auf seiner gesamten Länge eine gleichbleibende Breite aufwies, also künstlich geschaffen worden zu sein schien. »Das war einmal die häufig befahrene Straße zwischen den Städten des Feuers und den Städten der Sterne«, sagte Issib. »Nun führt sie nur noch in die Wüste.«

Der Paß endete, und eine weite, trockene Savanne breitete sich unter ihnen aus; sie stellten fest, daß die Insel hier schmaler wurde. Im Osten sahen sie die See der Sterne, und weit im Westen den blauen Glanz der südlichen Ausläufer des Reinigenden Meeres. Als sie hinabstiegen, verloren sie das Meer im Westen aus den Augen, denn auf das Drängen der Überseele hin blieben sie am östlichen Ufer, weil dort mehr Regen fiel und sie in der See fischen konnten.

Der Weg war schwierig; hier war es sehr trocken, so daß sie Brunnen graben mußten. Und er war heiß — eine tropische Sonne brannte auf sie hinab. Doch Elemak und Volemak hatten in ihrer Jugend gelernt, in solch einem Gelände zu überleben, und sie kamen gut voran. Zehn Tage, nachdem sie den Paß durch das Dalatoi-Gebirge verlassen hatten, befahl die Überseele ihnen, sich nach Süden zu wenden, obwohl die Küste nach Südosten verlief, und als sie sanft ansteigende Hügel erklommen, wuchs immer mehr Gras, und dann sprenkelten einige Bäume die Landschaft. Sie zogen über niedrige und verwitterte Berge, zogen ein Flußtal hinab, weitere Hügel hinauf und dann durch das schönste Land, das sie je gesehen hatten.

Kleine Wälder wechselten sich mit weiten Wiesen ab; Bienen summten über Wildblumen und verhießen leicht zu sammelnden Honig. Sie stießen auf Bäche mit klarem Wasser, die alle in einen breiten, gewundenen Fluß führten. Schedemei stieg von dem Kamel ab und untersuchte den Boden. »Das ist kein Wüstengrasland«, sagte sie. »Nicht nur Wurzeln. Hier gibt es richtigen Mutterboden. Wir können diese Wiesen bebauen, ohne sie zu zerstören.«

Zum erstenmal auf ihrer Reise machte Elemak sich nicht die Mühe, mit Volemak vorauszureiten, um eine Lagerstätte auszusuchen. Hier gab es keinen Ort, an dem sie nicht hätten halten und ein Nachtlager aufschlagen können.

»Dieses Land könnte die Bevölkerung Seggidugus ernähren, und niemand würde Mangel leiden«, sagte Elemak. »Meinst du nicht auch, Vater?«

»Und wir sind die einzigen Menschen hier«, erwiderte er.

»Die Überseele hat diesen Ort für uns vorbereitet. Zehn Millionen Jahre lang hat diese Insel auf uns gewartet.«

»Dann bleiben wir hier? Diese Insel ist unser Ziel?«

»Vorerst«, sagte Volemak. »Mindestens einige Jahre. Die Überseele ist noch nicht bereit, uns zu den Sternen zu führen, zurück zur Erde. Also haben wir hier vorerst unsere Heimat gefunden.«

»Für wie viele Jahre?« fragte Elemak.

»So viele, daß wir Holzhäuser bauen und unsere armen, alten Zelte zu Markisen und Vorhängen verarbeiten können«, sagte Volemak. »Es wird keine weiteren Reisen zu Land oder See für uns geben. Wir werden diesen Ort erst verlassen, wenn wir zu den Sternen aufbrechen. Also nennen wir ihn Dostatok, denn er wird mit seinem Überfluß all unsere Bedürfnisse befriedigen. Den Fluß nennen wir Rasa, denn er ist stark und voller Leben und wird uns immer alles geben, was wir brauchen.«

Rasa nickte sanft, um die Ehre dieser Namensgebung zu bestätigen; dabei lächelte sie ganz leise, was Luet als Zeichen dafür deutete, daß Rasa durchaus wußte, daß ihr Gatte mit dieser Namensgebung versöhnlich wirken wollte.

Sie erbauten ihre Siedlung auf einem niedrigen Vorgebirge, das einen Blick auf die Mündung des Flusses Rasa bot, der sich dort in den Südlichen Ozean ergoß — denn sie waren weit nach Süden vorgestoßen und hatten das Reinigende Meer und die See der Sterne hinter sich gelassen. Nach einem Monat hatten alle Familien Holzhäuser mit Strohdächern, und in dieser geographischen Breite konnten sie fast das gesamte Jahr über ernten, so daß es keine Rolle spielte, wann sie säten; es regnete fast jeden Tag, und schwere Stürme zogen schnell vorbei, ohne Schäden anzurichten.

Die Tiere waren hier so zahm, daß sie vor den Menschen keine Furcht hatten; sie domestizierten wilde Ziegen, bei denen es sich eindeutig um Nachkommen jener Tiere handelte, die auch in den Hügeln vor Basilika gehalten wurden. Nun wurde Kamelmilch endlich zu einer Flüssigkeit, die nur junge Kamele trinken mußten, und der Ausdruck ›Kamelkäse‹ wurde zu einem Euphemismus für das, was gut genährte Babies in ihren Windeln zurückließen. In den nächsten sechs Jahren wurden weitere Kinder geboren, bis es insgesamt fünfunddreißig davon gab, von Achtjährigen bis hin zu mehreren, die erst ein paar Wochen alt waren. Die Familien bestellten gemeinsam ihre Felder und teilten sich die Ernten gerecht; dann und wann gingen die Männer gemeinsam auf die Jagd und brachten Fleisch nach Hause, das sie trockneten und pökelten, und Felle, die sie gerbten. Rasa, Issib und Schedemei eröffneten eine Schule und kümmerten sich um die Unterweisung der Kinder.

Nicht, daß ihr Leben lediglich aus Freude und Frieden bestanden hätte. Es gab Streitigkeiten — wegen einer unbedeutenden Sache sprach Kokor ein ganzes Jahr lang nicht mehr mit Sevet; und es kam zu einem Streit zwischen Meb und Obring, der dazu führte, daß Obring sich ein Stück von den anderen entfernt ein neues Haus baute. Es gab Ärger – einige waren der Ansicht, daß andere nicht genug arbeiteten, und hielten ihre Arbeit für wertvoller als die der anderen. Und es gab eine ständige Spannung zwischen den Frauen, die Rasa als ihre Führerin anerkannt hatten, und den Männern, die davon auszugehen schienen, daß keine Entscheidung endgültig war, bis Volemak oder Elemak sie bestätigt hatten. Doch sie überstanden all diese Krisen, all diese Spannungen und fanden schließlich zu einem gewissen Ausgleich der Führungsansprüche von Volemak, der den Zielen der Überseele treu ergeben war, Rasas weitsichtigem Mitleid und Elemaks sturen Entscheidungen bezüglich allem, was ihr Überleben betraf. Jedes Unglück, das sie vielleicht in ihren Herzen empfanden, wurde in Schach gehalten und von der schweren Arbeit begraben, die den Rhythmus ihres Lebens bestimmte. Und es löste sich in jenen Augenblicken auf, da sie reichliches Glück und uneingeschränkte Liebe erlebten.

Das Leben während dieser Jahre war so gut, daß jeder einzelne von ihnen sich irgendwann einmal bei dem Wunsch ertappte, die Überseele möge sie vergessen und in Frieden und glücklich in Dostatok leben lassen.

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