Nafai verbrachte seine Wache, wie er es immer tat — indem er sich mit der Überseele unterhielt. Es war jetzt leichter als früher, damals, als er und Issib die Überseele praktisch gezwungen hatten, mit ihnen zu sprechen. Nun bildete er die Gedanken sorgsam in seinem Verstand, fast, als wolle er sie aussprechen, und dann spürte er, wie die Antworten der Überseele kamen, ohne daß er sich darum bemühen mußte. Sie kamen ganz natürlich, als wären sie Nafais Gedanken, so daß er mitunter noch immer Schwierigkeiten hatte, zwischen den Vorstellungen zu unterscheiden, die von der Überseele kamen, und denen, die aus seinem Geist stammten. Um sicher zu gehen, stellte er dieselbe Frage oft noch einmal, und da die Überseele ein Computer war und daher niemals Eile empfand, wiederholte sie die Antwort bereitwillig so oft, wie er wollte.
Da er Wache hatte, fragte er die Überseele an diesem Abend zuerst, ob irgendeine Gefahr in der Nähe sei.
›Ein Kojote, der die Spur eines Hasen aufgenommen hat.‹
Nein, ich meine eine Gefahr für uns, sagte Nafai stumm.
›Dieselben Banditen, von denen ich dir schon berichtet habe. Aber sie hören des Nachts immer wieder Geräusche und verstecken sich im Augenblick zitternd vor Angst in einer Höhle.›
Es gefällt dir, ihnen dies anzutun, nicht wahr? fragte Nafai.
‹Nein, aber ich fühle deine Freude. Dies nennst du ein Spiel, nicht wahr?‹
Eher einen Streich. Oder einen Scherz.
›Und dir gefällt es, als einziger zu wissen, daß ich dies tue.‹
Luet weiß es.
›Natürlich.‹
Irgendeine andere Gefahr?
›Elemak plant deinen Tod.‹
Was, ein Messer in den Rücken?
›Er ist voller Zuversicht. Er glaubt, daß er es ganz offen tun kann, mit eurer aller Zustimmung. Sogar mit der deiner Mutter.‹
Und wie will er es anstellen? Mich mit seinem Pulsator erschießen und behaupten, es wäre ein Unfall gewesen? Kann er mein Kamel so erschrecken, daß es mich abwirft und ich in eine Schlucht stürze?
›Sein Plan ist wesentlich subtiler. Er hängt mit den Ehegesetzen zusammen. Rasa und Schedemei wurde heute klar, daß die Ehen permanent sein müssen/und Rasa hat Elemak überzeugt.«
Gut. Das wird viel besser funktionieren, als wäre die Idee von Luet und mir gekommen.
›Aber sie kam von dir und Luet.‹
Aber nur wir und du wissen das, und kein anderer wird es je vermuten. Sie werden einsehen, daß das Gesetz vernünftig ist. Und außerdem mußte ich etwas unternehmen, um zu verhindern, daß Eiadh sich an mich ran macht. Ich finde es ekelhaft, daß sie sich nur für mich interessiert, weil ich Gaballufix getötet und mich geweigert habe, mich zu Muuzh’ Marionette machen zu lassen. Ich glaube, ich war viel netter, bevor … bevor das alles anfing.
›Damals warst du noch ein Junge.‹
Ich bin noch immer ein Junge.
›Ich weiß. Das ist eins von unseren Problemen. Noch schlimmer ist, daß du ein Junge bist, der andere Menschen nicht gut täuschen kann, Nafai.‹
Aber du bist darin ein As.
›Du kannst diese Leute nicht führen, indem du dich darauf verläßt, daß ich deine Vorstellungen in ihre Köpfe bringe. Auf der Reise von Harmonie zur Erde werde ich nicht die Macht haben, in ihre Köpfe zu greifen, wie ich sie hier habe. Du wirst lernen müssen, direkt mit ihnen zu sprechen. Du mußt ihnen beibringen, daß sie von dir Entscheidungen zu erwarten haben.‹
Elja und Meb werden niemals bereit sein, meine Führung anzuerkennen.
›Dann sind sie ersetzbare Wie Gaballufix? Ich werde so etwas nie wieder tun, Überseele. Darauf kannst du dich verlassen — ich habe einmal für dich getötet, werde es aber nie, nie wieder tun. Bringe mich nicht dazu, auch nur daran zu denken, nein!
›Ich höre dich. Ich verstehe dich.‹
Nein, du verstehst nicht. Du hast nie das Blut an deinen Händen gefühlt. Du hast nie gefühlt, wie das Schwert durch das Fleisch schneidet und die Knorpel zwischen den Wirbeln durchtrennt. Du hast nie seine letzten keuchenden Atemzüge durch die blutige Spalte in seiner Kehle gehört.
›Durch deine Augen habe ich gesehen, durch deine Arme habe ich gefühlt, durch deine Ohren habe ich gehörte Du hast nie die … diese schreckliche Endgültigkeit gespürt. Daß es keine Umkehr gibt. Daß er tot ist, und ganz gleich, was für ein schrecklicher Mensch er war, ich hatte nicht das Recht, ihn einfach so abzustechen …
›Du hattest das Recht, weil ich es dir gab, und ich hatte das Recht, weil die Menschheit mich gebaut hat, um die gesamte Spezies zu schützen, und der Tod dieses Mannes war für die Erhaltung der Menschheit auf dieser Welt notwendige Ja, ich weiß, das sagst du mir immer wieder.
›Und immer wieder weist du die Wahrheit zurück und bestehst darauf, dich der bedeutungslosen Qual der Schuld hinzugeben.‹
Ich habe dem Leben eines hilflosen Betrunkenen ein Ende gemacht. In dieser Tat war kein Ruhm. Kein Anstand. Keine Klugheit. Als ich dies tat, war ich kein guter Mensch.
›Du warst meine Hände, Nafai. Du hast für mich getan, was ich tun mußte.‹
Es waren meine Hände, Überseele. Ich hätte nein sagen können. Wie ich jetzt nein sage, wenn du andeutest, daß ich Elemak und Mebbekew töten soll. Ich werde für dich keine weiteren Menschenleben mehr nehmen.
›Ich werde daran denken, wenn ich Pläne für die Zukunft mache. Aber du kannst die Führerschaft begründen. Du mußt es. Dein Vater ist zu alt und müde und verläßt sich zu sehr auf Elemak. Er wird deinem Bruder zu oft nachgeben, sich ihm immer wieder unterwerfen, bis er schließlich keinen Willen mehr hat.‹
Und es wäre besser, wenn er sich mir unterwirft?
›Du wirst ihn nicht zur Unterwerfung zwingen. Du wirst immer durch ihn führen und großen Respekt vor ihm haben. Wenn du führst, wird dein Vater ein stolzer und mächtiger Mann bleiben. Ich habe dir dies gesagt. Und jetzt richte dich auf und nimm deinen Platz ein.‹
Noch nicht. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Elemak herauszufordern. Wir brauchen ihn. Er muß uns durch die Wüste führen.
›Und ich sage dir, er hat keine solche Skrupel. Obwohl er in diesem Augenblick mit Eiadh schläft, stellt er sich gerade vor, wie er dich gefesselt in der Wüste zurückläßt. Und dann wirst du schnell feststellen, Nafai, daß ich zwar Banditen beeinflussen kann, aber keine Tiere und Raubvögel oder Insekten, die alles, was nicht geht oder fliegt oder davongleitet, für ihre nächste Mahlzeit halten. Sie hören nicht auf mich, sie tun einfach, was ihre Gene von ihnen verlangen, und du wirst sterben, und was werde ich dann ohne dich machen?‹
Heißt das, er will handeln, bevor wir Vaters Lager erreichen?
›Endlich hörst du mir zu.‹
Und was für einen Plan hat er?
›Ich weiß es nicht. Er denkt nie deutlich daran. Ich suche, so gut ich kann, aber es ist schwer. Weißt du, ich kann nicht einfach das Gedächtnis eines Menschen durchstöbern. Er fürchtet sein mörderisches Herz selbst so sehr, daß er nicht offen an seinen Plan denkt.‹
Vielleicht, wenn er nicht vom Bumsen abgelenkt wird.
›Abgelenkt? Er macht sogar das wegen dir. Er glaubt, daß du noch immer Eiadh haben willst, und hofft, daß du die Bewegungen im Zelt bemerken wirst. Und die Geräusche, die sie macht.‹
Das bewirkt nur, daß ich mich nach dem Ende meiner Wache sehne, damit ich zu Luet zurückkehren kann.
›Elemak kann sich nicht vorstellen, daß ein Mann die Frau, die er selbst begehrt, nicht auch begehrte Ich schon. Ich habe mir eingebildet, Eiadh sei genau das, was ich wollte und brauchte. Aber damals habe ich nichts begriffen. Luet glaubt, sie ist bereits schwanger. Luet und ich können über alles sprechen. Wir sind erst seit ein paar Tagen verheiratet, und doch kennt sie mein Herz bereits besser, als selbst du es kennst, und ich kann ihre Gedanken fast aussprechen, bevor sie sie denkt. Bildet Elemak sich ein, ich könne eine Frau begehren, wenn Luet meine Ehefrau ist?
›Er weiß, daß Eiadh sich von dir angezogen fühlt. Er erinnert sich daran, daß du einmal von ihr angezogen wurdest. Er weiß auch, daß ich dich zur Führung ausersehen habe. Er ist verrückt vor Eifersucht. Er hungert nach deinem Tod. Es verzehrt ihn so sehr, daß er sogar eine Art Mord begeht, wenn er mit ihr schläft.‹
Begreifst du nicht, daß dies das Schrecklichste überhaupt ist? Wenn ich etwas gern möchte, dann, daß Elemak mich liebt und respektiert. Was habe ich getan, daß er sich so von mir abwendet?
›Du hast dich geweigert, ihm deinen Willen zu überlassen‹
Liebe und Respekt haben nichts damit zu tun, andere Leute zu beherrschen.
›Bei Elemak ist es anders. Wenn er dich nicht beherrschen kann, existierst du entweder nicht, oder du bist sein Feind. Viele Jahre lang hast du nicht existiert. Dann hat er dich bemerkt, und du warst nicht so leicht zu manipulieren oder einzuschüchtern wie Mebbekew, und so wurdest du zu einem Rivalen.‹
Ist das wirklich so einfach?
›Ich habe die schwierigen Stellen beschönigt.«
Sein Zelt wackelt nicht mehr hin und her. Heißt das, er wird bald herauskommen?
›Er zieht sich an. Er denkt an dich. Und Eiadh auch.‹
Wenigstens will sie mich nicht umbringen.
›Sollte sie jemals bekommen, was sie sich wünscht, liefe es auf dasselbe hinaus. Du würdest sterben.‹
Erzähle Luet nicht, daß Elemak mich töten will.
›Ich werde Luet alles erzählen, genau, wie ich es dir erzähle. Ich belüge die Menschen nicht, die meiner Sache dienen.‹
Du belügst uns, wann immer du es für nötig hältst. Und ich will auch nicht, daß du sie belügst — ich will nur nicht, daß sie sich Sorgen macht.
›Ich will, daß sie sich Sorgen macht, da du dich weigerst, dir welche zu machen. Manchmal glaube ich, du möchtest gern sterben.‹
In dieser Hinsicht kann ich dich beruhigen. Ich lebe gern und möchte auch weiterleben.
›Ich glaube, manchmal freust du dich auf den Tod. Du glaubst, ihn verdient zu haben, weil du Gaballufix getötet hast.‹
Da kommt er.
›Achte darauf, wie er darauf bedacht ist, daß du seine Hände riechst.‹
Nafai war es nicht besonders angenehm, daß die Überseele ihn darauf aufmerksam machte — ansonsten hätte er es vielleicht nicht bemerkt. Doch um die Wahrheit zu sagen, war dies unwahrscheinlich, denn Elemak legte umständlich beide Hände auf seine Schultern und ließ sogar die Finger über Nafais Wangen gleiten, als er sagte: »Also bist du doch wach geblieben. Vielleicht bringst du es in der Wüste ja doch noch zu etwas.«
»Du hast mich ja gar nicht so lange Wache halten lassen«, er widerte Nafai.
Der Frauengeruch war sehr deutlich. Es war irgendwie widerwärtig, daß Elemak die Intimität mit seiner eigenen Frau auf diese Art und Weise für seine Manipulationen benutzte. Es war, als würde sie ihm nichts mehr bedeuten. Ein Werkzeug. Keine Ehefrau, sondern nur ein Ding, das er benutzte.
Aber wenn die Überseele recht hatte, erfuhr Elemak Liebe genau auf diese Art und Weise — als Besitz.
»Hast du etwas gesehen?« fragte Elemak.
»Dunkelheit«, sagte Nafai. Er erzählte Elemak nichts von den Banditen, die nur ein paar hundert Meter entfernt waren. Erstens würde es ihn nur wütend machen, daß Nafai von der Überseele Informationen bekam. Und zweitens würde es ihn erniedrigen, daß er das Lager an einer Stelle hatte aufschlagen lassen, in deren Nähe Banditen sich erfolgreich verbergen konnten. Er würde wahrscheinlich darauf bestehen, nach ihnen zu suchen, was zu einem Kampf und Blutvergießen führen würde. Oder er würde alle aufwecken und weiterziehen lassen, was sinnlos war, da die Überseele keine Schwierigkeiten hatte, diese rückgratlose Gruppe von Halsabschneidern unter Kontrolle zu halten.
»Wenn du einmal aufgeschaut hättest, hättest du festgestellt, daß es auch Sterne gibt«, sagte Elemak.
Elemak wollte ihn natürlich ködern, und Nafai wußte, er hätte ihn einfach ignorieren sollen, aber er war sowieso schon wütend, nachdem er herausgefunden hatte, daß Elemak seinen Tod plante und trotzdem noch so tat, als wäre er sein Bruder. Also konnte Nafai sich nicht im Zaum halten. Er riß eine Hand hoch. »Und dieser da ist Sol, die Sonne. Kaum sichtbar, aber wenn man weiß, wo man suchen muß, findet man sie immer. Dorthin reisen wir.«
»Ach ja?« fragte Elemak.
»Nur deshalb hat die Überseele uns aus Basilika gebracht«, sagte Nafai.
»Vielleicht bekommt die Überseele aber gar nicht ihren Willen«, sagte Elemak. »Sie ist schließlich nur ein Computer — das hast du doch selbst gesagt.«
Nafai hätte fast erneut etwas erwidert, irgendeinen scharfen Kommentar, der darauf hinauslief, daß Elemak ›nur‹ ein haarloser Pavian war, wenn die Überseele ›nur‹ ein Computer war. Vor einem halben Jahr hätte Nafai es gesagt, und Elemak hätte ihn wieder gegen eine Wand geworfen oder niedergeschlagen. Doch Nafai hatte seitdem ein wenig gelernt, und nun hielt er seine Zunge im Zaum. Grußlos schritt er von dannen.
Luet wartete im Zelt auf ihn. Sie hatte wahrscheinlich etwas geschlafen — seitdem sie die Reise angetreten hatte, hatte sie hart gearbeitet, und im Gegensatz zu den Faulen würde sie morgen schon früh wieder auf den Beinen sein. Aber sie grüßte ihn wortlos mit geöffneten Augen und einem Lächeln, das ihn trotz des Frostes wärmte, den Elemak in sein Herz gebracht hatte.
Nafai zog sich schnell aus und begab sich zu ihr unter die Decken. »Du bist warm«, sagte er.
»Ich glaube, der genaue Ausdruck lautet heiß«, antwortete sie.
»Elemak hat vor, mich zu töten«, flüsterte er.
»Ich wünschte, die Überseele würde ihn einfach aufhalten«, flüsterte sie.
»Das kann sie wahrscheinlich nicht. Elemaks Wille ist zu stark, als daß die Überseele ihn bewegen könnte, es sich anders zu überlegen, wenn er sich erst etwas in den Kopf gesetzt hat.« Er sagte ihr nicht, daß die Überseele angedeutet hatte, er müsse seinen Bruder irgendwann vielleicht töten. Da Nafai nicht die Absicht hatte, je wieder einen Menschen zu töten, bestand keine Veranlassung, Luet darauf hinzuweisen. Er hätte sich sowieso geschämt, so etwas zu sagen, weil sie vielleicht glaubte, er könne es tatsächlich in Betracht ziehen.
»Huschidh glaubt zu spüren, daß Elemak sich enger mit denen zusammenschließt, die umkehren wollen — Kokor und Sevet, Vas und Obring, Meb und Dol. Sie bilden jetzt eine Art Gemeinschaft und sondern sich fast völlig von den anderen ab.«
»Schedemei?«
»Sie will zurückkehren, aber es gibt keine Verbindung zwischen ihr und den anderen.«
»Also wollen nur du und ich und Huschidh und Mutter in die Wüste ziehen.«
»Und Eiadh. Sie will überall dorthin, wohin du gehst.«
Beide lachten, doch Nafai war klar, Luet brauchte die Beruhigung, daß Eiadhs Begehren nicht erwidert wurde. Also beruhigte er sie gründlich, und dann schliefen sie.
Als am Morgen die Kamele bepackt waren, rief Elemak sie zusammen. »Zwei Dinge«, sagte er. »Den ersten Punkt haben Rasa und Schedemei vorgeschlagen, und ich stimme völlig mit ihnen überein. Solange wir in der Wüste leben, können wir uns die sexuellen Freiheiten, die wir in Basilika hatten, nicht leisten. Sie würden nur Groll und Untreue hervorrufen, und das ist für eine Karawane das Todesurteil. Solange wir also in der Wüste sind — und das schließt Vaters Lager ein sowie jedes andere, das wir danach aufschlagen und in dem die Bevölkerung nur aus uns und den dreien besteht, die auf uns warten —, gilt dieses Gesetz: Ein jeder schläft nur mit seinem Ehemann oder seiner Ehefrau, und alle Ehen, die derzeit bestehen, gelten auf Dauer.«
Mehrere Anwesende keuchten erschrocken auf; Luet sah sich um und stellte fest, daß genau diejenigen, von denen sie es erwartet hatte — Kokor und Obring und Mebbekew —, sich am meisten aufregten.
»Du hast kein Recht, so eine Entscheidung zu treffen«, sagte Vas sanft. »Wir sind alle Basilikaner, und wir leben nach dem Recht Basilikas.«
»Wenn wir in Basilika sind, leben wir nach dem Recht Basilikas«, sagte Elemak. »Aber wenn wir in der Wüste sind, leben wir nach dem Recht der Wüste, und das Wüstenrecht besagt, daß das Wort des Karawanenführers endgültig ist. Ich werde mir alle Vorschläge anhören, bis ich eine Entscheidung treffen muß, doch sobald ich die Entscheidung getroffen habe, ist jeder Widerstand Meuterei. Habt ihr mich verstanden?«
»Niemand befiehlt mir, mit wem ich schlafen muß und mit wem ich nicht schlafen darf«, sagte Kokor.
Elemak ging zu ihr und musterte sie; sie sah im Vergleich zu der schieren Masse von Elemaks großem, muskulösem Körper so zerbrechlich aus. »Und ich sage dir, in der Wüste werde ich nicht dulden, daß jemand von Zelt zu Zelt kriecht. Es wird so oder so zu Mord und Totschlag führen, und bevor ich zulasse, daß ihr euch gegenseitig umbringt, sage ich euch lieber direkt: Wenn jemand in einer Situation erwischt wird, die auch nur so aussieht, als ließen sich zwei Personen, die nicht miteinander verheiratet sind, sexuell miteinander ein, werde ich die Frau auf der Stelle töten.«
»Die Frau!« rief Kokor.
»Die Männer brauchen wir, um die Kamele zu beladen«, sagte Elemak. »Außerdem sollte dir die Vorstellung kaum befremdlich vorkommen, Koja, denn als du das letzte Mal der Ansicht warst, jemand müsse für das Verbrechen des Ehebruchs sterben, hast du genau dieselbe Entscheidung getroffen.«
Luet sah, daß sowohl Kokor als auch ihre Schwester Sevet sich gleichzeitig an die Hälse faßten — denn Kokor hatte versucht, Sevet die Kehle durchzuschneiden, und sie dabei fast getötet. Seitdem hatte Sevet kaum noch Stimme. Kokors Gatte Obring hingegen, der sich genauso fröhlich in einem fremden Bett vergnügt hatte, als Kokor die beiden überraschte, war ohne einen Kratzer davongekommen. Es war boshaft unfreundlich und sah Elemak ähnlich, sie alle an diesen Zwischenfall zu erinnern, denn diese Erwähnung beendete jeden Widerstand von drei der vier Personen, die sich dem Gesetz am wahrscheinlichsten widersetzen würden : Kokor, Sevet und Obring hatten nichts darauf zu sagen.
»Du hast nicht das Recht, so eine Entscheidung zu treffen«, sagte Mebbekew. Er war natürlich der vierte — aber Luet wußte, daß Elemak keine Schwierigkeiten haben würde, ihn an die Kandare zu nehmen. Die hatte er bei Meb nie.
»Ich habe nicht nur das Recht«, sagte Elemak, »ich habe auch die Pflicht. Dieses Gesetz ist für das Überleben unserer kleinen Gruppe in der Wüste unerläßlich, und so wird man es befolgen, oder ich werde die einzige Strafe durchsetzen, die ich hier, so viele Kilometer von der Zivilisation entfernt, durchsetzen kann. Wenn ihr das nicht begreift, wird Herrin Rasa es euch sicher gern erklären.«
Er drehte sich um und sah Rasa mit der stillen Forderung an, sie möge ihn unterstützen. Sie enttäuschte ihn nicht. »Ich habe die ganze Nacht hin und her überlegt, um auf eine andere Lösung zu kommen«, sagte sie, »aber wir können ohne dieses Gesetz nicht überleben, und wie Elja sagt, ist die einzige Strafe, die in der Wüste etwas bedeutet … die, die er genannt hat. Aber wir werden niemanden sofort töten«, sagte sie. Sie verabscheute eindeutig das gesamte Thema. »Wir werden die betreffende Person nur fesseln und zurücklassen.«
»Nur?« sagte Elemak verächtlich. »Das ist bei weitem der grausamere Tod.«
»Damit geben wir die Frau in die Hände der Überseele«, sagte Rasa. »Vielleicht wird sie ja gerettet.«
»Du solltest nicht darauf hoffen«, sagte Elemak. »Die Tiere sind freundlicher als alle Retter, die sie hier draußen finden würde.«
»Eine Gesetzesbrecherin wird gefesselt und zurückgelassen, aber nicht getötet!« beharrte Rasa.
Luet dachte: Sie befürchtet, daß eine ihrer Töchter dieses Gesetz zuerst brechen wird. Und was Elemaks Bestimmung betrifft, daß nur die Frau sterben muß, so zäumt er das Pferd von hinten auf. Nur wenige Männer denken an die Konsequenzen, wenn sie von Begierde erfüllt sind, aber eine Frau kann ihre Begierde unterdrücken, wenn das Leben eines Mannes, den sie liebt, auf dem Spiel steht.
»Wie die Herrin wünscht«, sagte Elemak. »Das Gesetz der Wüste überläßt die Wahl dem Karawanenführer. Ich würde mich normalerweise für einen schnellen, sauberen Tod durch den Pulsator entscheiden, aber hoffen wir, daß wir solch eine Wahl nie treffen müssen.« Er drehte sich einmal um die Achse, damit er auch diejenigen ansehen konnte, die hinter ihm standen. »Ich bitte euch bei dieser Angelegenheit nicht um eure Zustimmung«, sagte er. »Ich sage euch einfach, daß es so geschehen wird. Wenn ihr das Gesetz, nach dem wir leben werden, verstanden habt, hebt nun eure Hand.«
Alle hoben die Hände, wenngleich einige sichtlich wütend waren.
Nein, nicht alle. »Meb«, sagte Elemak. »Hebe die Hand. Du bringst deine liebe Frau Dol in Verlegenheit. Sie fragt sich mittlerweile zweifellos, wer die Frau unter uns ist, deren Liebe du für so wünschenswert hältst, daß du dafür den Tod einer völlig tugendhaften Dame in Kauf nimmst.«
Nun hob auch Meb die Hand.
»Gut«, sagte Elemak. »Und nun zu der anderen Sache. Wir müssen eine Entscheidung treffen.«
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und so war es bitter kalt — besonders für diejenigen, die beim Abbrechen der Zelte und Beladen der Kamele kaum geholfen hatten. Also lag es vielleicht nur an der Kälte, daß Mebbekews Stimme zitterte, als er sagte: »Ich dachte, du triffst jetzt alle Entscheidungen.«
»Ich treffe alle Entscheidungen, die damit zu tun haben, daß wir überleben und vorankommen«, sagte Elemak. »Aber ich halte mich nicht für einen Tyrannen. Die Entscheidungen, die nichts mit unserem Überleben zu tun haben, müssen von der ganzen Gruppe gefällt werden, nicht nur von mir. Wir können nicht überleben, wenn wir nicht zusammenbleiben, also werde ich nicht dulden, daß wir uns trennen. Aber ich entsinne mich nicht, daß wir uns tatsächlich entschlossen haben, wohin unsere Reise führt.«
»Wir kehren zu Vater und Issib zurück«, sagte Nafai sofort. »Du weißt, daß sie mit unserer Rückkehr rechnen.«
»Solange sie an Ort und Stelle bleiben, haben sie genug Wasser. In den nächsten paar Monaten müssen sie jemanden losschicken, der ihnen Nachschub besorgt. Vorräte haben sie aber für einige Jahre«, sagte Elemak. »Also wollen wir keine Sache auf Leben und Tod daraus machen, wenn es nicht unbedingt sein muß. Wenn die Mehrheit weiterziehen will, bis wir Volemaks Lager in der Wüste erreichen, habe ich nichts dagegen. Dann ziehen wir alle dorthin.«
»Wir können nicht nach Basilika zurückkehren«, sagte Luet. »Das hat mein Vater sehr klar gemacht.« Ihr Vater war natürlich Muuzh, der große General der Gorajni. Aber indem sie die anderen an diese verwandtschaftliche Beziehung erinnerte, die ihr erst vor kurzem offenbart worden war, hoffte sie, ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen. Sie war nicht besonders erfahren darin, andere Menschen zu überreden; sie hatte immer schlicht und einfach die Wahrheit gesagt, und da die Frauen Basilikas wußten, daß sie die Wasserseherin war, nahmen sie ihre Worte ernst. Es war aber etwas ganz anderes, zu einer Gruppe zu sprechen, der Männer angehörten. Aber Luet wußte jedoch, daß die Leute in Basilika leichter ihren Willen bekamen, wenn sie ihren Familienstatus geltend machten, und so versuchte sie es nun ebenfalls auf diese Weise.
»Ja«, sagte Kokor, »dein dich zärtlich liebender Vater, der versucht hat, seine eigene Tochter zu heiraten, und uns dann alle aus der Stadt geworfen hat, als ihm dies nicht möglich war.«
»So ist es nicht gewesen«, sagte Luet.
Huschidh griff nach Luets Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Versuche es erst gar nicht«, flüsterte sie leise. »Koja ist viel besser darin.«
»Luet hat durchaus recht damit, daß wir wahrscheinlich nicht nach Basilika zurückkehren können«, sagte Elemak, »zumindest nicht sofort — ich glaube, das wollte Muuzh auch zum Ausdruck bringen, als er uns eine Eskorte Soldaten mit auf den Weg gab, um dafür zu sorgen, daß wir sicher aus der Stadt kommen.«
»Ich bin es so leid, ständig hören zu müssen, daß keiner von uns nach Basilika zurückkehren kann«, sagte Mebbekew, »obwohl nur diese da ihn vor allen Leuten beleidigt haben.« Er deutete auf Huschidh, Luet und Nafai.
»Halt die Klappe, Meb«, sagte Elemak mit ehrlicher Verachtung. »Ich will nicht, daß wir noch immer hier stehen und uns unterhalten, wenn die Sonne aufgeht. Wir sind genau in der Gegend, in der Banditen sich gern verkriechen, und wenn sich einige in den nahe gelegenen Höhlen vor der Dunkelheit verbergen, werden sie bei Tagesanbruch herauskommen.«
Luet fragte sich, ob Elemak tatsächlich Informationen über jene Banditen aufgeschnappt hatte, die die Überseele kontrollierte. Vielleicht wußte er aber auch, daß solche Männer nur am hellichten Tag tapfer waren und sich des Nachts versteckten. Außerdem war es möglich, daß Elemak die Nachrichten der Überseele unterbewußt empfing und nicht begriff, woher diese Gedanken und Ideen kamen. Schließlich war er genauso ein Produkt des geheimen Zuchtprogramms der Überseele wie alle anderen hier, und er hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Traum empfangen. Wenn Elemak nur eingestehen würde, daß er mit der Überseele kommunizieren konnte, und ihre Pläne bereitwillig auszuführen gedachte — das würde alles vereinfachen. Doch so blieb ihr und Huschidh nichts anderes übrig, als zu versuchen, Elemaks eigenständige Pläne überall zu durchkreuzen, wo es ihnen möglich war.
»Obwohl wir im Augenblick wirklich nicht nach Basilika zurückkehren können«, fuhr Elemak fort, »heißt das noch lange nicht, daß wir sofort zu Vater müssen. Es gibt viele andere Städte, die eine fremde Karawane aufnehmen würden, wenn auch nur, weil Schedemei eine äußerst wertvolle Fracht an Embryos und Samen mit sich führt.«
»Sie stehen nicht zum Verkauf an«, sagte Schedemei. Ihre Stimme war so barsch, ihre Antwort so knapp, daß alle wußten, sie hatte nicht die Absicht, sich darüber zu unterhalten.
»Nicht einmal, wenn es um unser Leben geht?« fragte Elemak freundlich. »Aber schon gut — ich habe sowieso nicht vor, sie zu verkaufen. Sie sind nur wertvoll, wenn jemand über das Wissen verfügt, das Schedja in ihrem Kopf hat. Wichtig ist nur, sie werden uns einlassen, wenn sie wissen, daß wir nicht nur eine Bande mittelloser Wanderer sind, die vor kurzem von General Muuzh von den Gorajni aus Basilika verbannt wurden, sondern statt dessen von der berühmten Genetikerin Schedemei begleitet werden, einer Biologin, die ihr Labor von dem von Hader zerrissenen Basilika in eine friedliche Stadt verlegt, die ihr garantiert, daß sie ohne Störungen ihrer Arbeit nachgehen kann.«
»Ausgezeichnet«, sagte Vas. »Es gibt keine Stadt auf der Ebene, die uns unter diesen Umständen die Einreise verweigern würde.«
»Sie werden uns sogar Geld anbieten«, sagte Obring.
»Sie werden mir Geld anbieten, meinst du«, sagte Schedemei. Aber sie war eindeutig geschmeichelt — ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, daß ihre Anwesenheit jeder Stadt, in der sie sich niederlassen würde, ein gewisses Prestige verschaffte. Luet sah, daß Elemaks Schmeicheleien Wirkung zeigten.
›Er wird eine Abstimmung durchführen lassen .‹ Die Überseele sprach in Luets Verstand.
Das ist mittlerweile offensichtlich, dachte Luet. Was hat er vor?
›Wenn Nafai sich der Entscheidung widersetzt, in die Stadt zurückzukehren, wird es Meuterei sein.‹
Dann darf er sich nicht widersetzen.
›Dann würde meine Arbeit zunichte gemacht werden.‹
Dann kontrolliere die Abstimmung.
›Wessen Stimme soll ich ändern? Wem von ihnen würde Elemak glauben, wenn er die Reise plötzlich fortsetzen Dann laß es nicht zu der Abstimmung kommen.
›Ich kann Elemak dahingehend nicht beeinflussen‹
Dann sag Nafai, er soll sich nicht widersetzen!
›Er muß sich widersetzen, oder es wird keine Reise zur Erde geben. ›
»Nein!« rief Luet.
Alle sahen sie an. »Was, nein?« fragte Elemak.
»Keine Abstimmung«, sagte sie. »Es wird keine Abstimmung geben.«
»Ah, ja«, sagte Elemak. »Da haben wir also noch eine Freiheitsliebende, der klar wird, daß sie die Demokratie doch nicht so schätzt, wenn sie befürchtet, eine Abstimmung könne zu ihren Ungunsten verlaufen.«
»Wer hat etwas von einer Abstimmung gesagt?« fragte Dol, die nie so genau begriff, was um sie herum vorging.
»Ich stimme dafür, daß wir in die Zivilisation zurückkehren«, sagte Obring. »Ansonsten sind wir die Sklaven unserer Ehe — und darüber hinaus auch noch Elemaks Sklaven!«
»Aber ich habe doch gar nichts von einer Abstimmung gesagt«, fuhr Elemak fort. »Ich habe nur gesagt, daß wir eine Entscheidung treffen müssen, wohin wir gehen wollen. Eine Abstimmung könnte ganz interessant werden, aber ich verpflichte mich nicht, sie anzuerkennen. Ich brauche euern Rat, nicht eure Herrschaft.«
Also berieten sie ihn eloquent — oder versuchten es zumindest. Doch wenn jemand ein Argument vorbringen wollte, das schon jemand vorgetragen hatte, brachte Elemak ihn sofort zum Schweigen. »Das habe ich schon gehört. Hat jemand etwas Neues hinzuzufügen?« Dementsprechend dauerte die Diskussion nicht sehr lange. Eher, als Luet es für möglich gehalten hätte, fragte Elemak: »Sonst noch etwas?«, und niemand antwortete.
Er wartete und musterte sie aus stechenden Augen. Die Sonne ging mittlerweile über den Gipfeln der fernen Berge auf, und seine Augen und sein Haar strahlten in ihrem reflektierten Licht. Das ist sein schönster Augenblick, dachte Luet. Das hat er schon lange geplant — eine ganze Gemeinschaft, einschließlich der Frau seines Vaters, einschließlich seines Bruders Nafai, einschließlich der Wasserseherin und Entwirrerin von Basilika, einschließlich seiner eigenen Braut, und alle warten auf die Entscheidung, die ihr Leben verändern wird. Oder beenden.
»Ich danke euch für euren klugen Rat«, sagte Elemak ernst. »Ich habe den Eindruck, daß wir uns nicht für die eine oder andere Möglichkeit entscheiden müssen. Diejenigen, die in die Zivilisation zurückkehren wollen, können dies tun, und diejenigen, die im Auftrag der Überseele in die Wüste gehen wollen, können es ebenfalls. Ob wir es nun die Rettung meines Vaters oder den Beginn einer Reise zur Erde nennen — das steht jetzt nicht zur Debatte. Wichtig ist nur, daß alle zufriedengestellt werden können. Wir werden noch eine Weile in südliche Richtung ziehen und dann über die Berge und zu den Städten der Ebene kommen. Dort können wir die zurücklassen, die es nicht ertragen können, unter dem harten Gesetz der Wüste zu leben, und ich kann die Stärkeren dann mitnehmen.«
»Vielen Dank!« sagte Mebbekew.
»Mir ist es gleichgültig, wie er mich nennt, solange ich meine Freiheit habe«, sagte Kokor.
»Narren«, sagte Nafai. »Seht ihr denn nicht, daß er euch nur etwas vormacht?«
»Was hast du gesagt?« fragte Elemak, »Er hatte von Anfang an vor, uns in die Zivilisation zurückzubringen«, sagte Nafai.
»Nicht, Nafai«, sagte Luet, denn sie wußte, was nun kommen würde.
»Hör auf deine kleine Braut, Bruder«, sagte Elemak. Seine Stimme war trügerisch sanft.
»Ich höre auf die Überseele«, sagte Nafai. »Wir leben nur noch, weil die Überseele eine Räuberbande beeinflußt, die sich keine dreihundert Meter entfernt in einer Höhle verkrochen hat. Die Überseele kann uns sicher durch die Wüste führen, ob nun mit oder ohne Elemak und seinen dummen Wüstengesetzen. Er treibt ein Kinderspiel — wer die kühnsten Drohungen machen kann …«
»Keine Drohungen«, sagte Elemak. »Gesetze, die jeder Wüstenreisende kennt.«
»Wenn wir der Überseele vertrauen, werden wir auf dieser Reise völlig sicher sein. Wenn wir Elemak vertrauen, werden wir auf die Ebene zurückkehren und in den bevorstehenden Kriegen untergehen.«
»Der Überseele vertrauen«, sagte Meb schnaubend. »Du meinst, alles tun, was du sagst.«
»Elemak weiß, daß es die Überseele gibt — er hatte den Traum, der uns in die Stadt zurückführte und dazu brachte, unsere Frauen zu heiraten, nicht wahr?«
Elemak lachte nur. »Plappere weiter, Nafai.«
»Es ist, wie Elemak es sagt. Das ist keine Frage der Demokratie. Diese Sache muß jeder für sich entscheiden. Wenn wir die Reise fortsetzen, wie die Überseele es verlangt, werden wir die größte Fahrt seit vierzig Millionen Jahren unternehmen und für uns und unsere Kinder eine Welt erben. Oder wir kehren in die Stadt zurück, wo ihr eure Ehepartner betrügen könnt, wie einige von euch es bereits vorhaben. Was Luet und mich betrifft, so werden wir niemals in die Stadt zurückkehren.«
»Genug«, sagte Elemak. »Kein Wort mehr, oder du bist auf der Stelle tot.« Er hielt einen Pulsator in der Hand. Luet hatte nicht bemerkt, daß er einen bei sich trug, wußte jedoch, was dies zu bedeuten hatte. Genau darauf hatte Elemak gewartet. Er hatte alles sehr sorgfältig inszeniert, und nun konnte er Nafai töten, und niemand würde es wagen, ihn dafür zu verdammen. »Ich kenne die Wüste, und ihr kennt sie nicht«, sagte Elemak. »Es gibt dort, wo du es behauptest, keine Banditen, oder wir wären schon tot. Wenn es schon in deinem fiebrigen kleinen Hirn als Klugheit durchgeht, Bruder, wäre jeder, der bei dir bleibt, verloren. Aber niemand wird bei dir bleiben, denn ich lasse nicht zu, daß diese Gruppe sich trennt. Das würde den sicheren Tod für jeden bedeuten, der dich begleitet.«
»Eine Lüge«, sagte Nafai.
»Bitte sprich weiter, damit ich dich als Meuterer töten kann. Denn nichts anderes bist du.«
»Hüte deine Zunge, Nafai, um meinetwegen!« sagte Luet.
»Ihr alle habt ihn gehört, nicht wahr?« sagte Elemak. »Er hat eine Rebellion gegen meine Autorität ausgerufen und versucht, eine Gruppe abzusplittern und in den Untergang zu führen. Das ist Meuterei, ein viel schlimmeres Vergehen als Ehebruch, und die Strafe dafür ist der Tod. Ihr alle seid Zeugen. Ihr alle könntet es vor einem Gericht bestätigen, würde es je dazu kommen.«
»Bitte«, sagte Luet. »Laß ihn in Ruhe, und er wird nichts mehr sagen.«
»Stimmt das, Nafai?« fragte Elemak.
»Wenn du weiterhin beabsichtigst, uns zur Stadt zurückzuführen«, sagte Nafai, »hat die Überseele keinen Grund mehr, die Banditen zurückzuhalten, und ihr alle werdet sterben.«
»Seht ihr?« sagte Elemak. »Selbst jetzt noch versucht er, uns mit diesen Phantasien über nicht existente Banditen Angst einzujagen.«
»Hast du nicht dasselbe getan?« fragte Schedemei. »Du hast uns dazu gebracht, das zu tun, was du willst, weil wir befürchten, daß Banditen uns finden.«
Elemak drehte sich zu ihr um. »Ich habe nie behauptet, daß sie nur ein paar Meter entfernt sind und sich in einer Höhle verstecken. Ich habe lediglich gesagt, es besteht die Möglichkeit, daß Banditen uns finden. Ich habe euch nur die Wahrheit gesagt — aber dieser Junge hält euch für so töricht, seine offensichtlichen Lügen zu glauben.«
»Glaubt, was ihr wollt«, sagte Nafai. »Ihr werdet den Beweis bald sehen.«
»Meuterei«, sagte Elemak, »und ihr alle — selbst seine Mutter — werdet meine Zeugen sein, daß ich keine andere Wahl hatte, weil er von seiner Rebellion nicht ablassen will. Wäre er nicht mein Bruder, hätte ich nicht so lange gewartet. Dann wäre er schon tot.«
»Und hättest du keine Gene in dir, die die Überseele für wertvoll hält«, sagte Nafai, »hätte Gaballufix dich getötet, als es dir nicht gelang, Vater in die Falle zu locken.«
»Deine Vorwürfe verschlimmern dein Verbrechen nur«, sagte Elemak. »Verabschiede dich von deiner Mutter und deiner Frau — von dort aus, wo du stehst. Komm nicht näher!«
»Elemak, das ist doch nicht dein Ernst!« sagte Rasa.
»Du hast mir beigepflichtet, Rasa, daß unser Überleben davon abhängt, dem Gesetz der Wüste zu gehorchen.«
»Du bist boshaft und …«
»Vorsicht, Herrin Rasa. Ich werde tun, was getan werden muß, selbst wenn ich auch dich zurücklassen und dem Tode überantworten muß.«
»Mach dir keine Sorgen, Mutter«, sagte Nafai. »Die Überseele steht zu uns, und Elemak ist hilflos.«
Luet begriff allmählich, was Nafai vorhatte. Er wirkte ganz ruhig — unglaublich ruhig. Daher mußte er ziemlich sicher sein, daß die Überseele ihn irgendwie schützen würde. Er mußte einen Plan haben, und Luet sollte wohl besser schweigen und die Ereignisse ihren Lauf nehmen lassen, ganz gleich, wie groß ihre Angst war.
Aber es wäre nett, wenn du mich in deinen Plan einweihen würdest, sagte sie zu der Überseele.
›Plan?‹ antwortete die Überseele.
Luets Hände begannen zu zittern.
»Wir werden sehen, wie hilflos du bist«, sagte Elemak. »Mebbekew, nimm ein Stück Packschnur — die leichte, aber mehrere Meter — und fessele seine Hände. Binde einen sicheren, engen Knoten und mache dir keine Sorgen darüber, daß du die Blutzirkulation in seinen Händen unterbrichst.«
»Seht ihr?« sagte Nafai. »Er wagt es nicht einmal, einen Ungefesselten zu töten.«
Nicht! rief Luet in ihrem Herzen. Provoziere ihn nicht, bringe ihn nicht dazu, dich zu erschießen. Wenn du dich fesseln läßt, hast du noch eine Chance.
Elemak warf Mebbekew einen Blick zu, und daraufhin ging Meb zu den wartenden Kamelen und kam mit einem Strick zurück.
Als er Nafai die Hände auf den Rücken fesselte und das Seil immer wieder um seine Gelenke schlang, trat Huschidh vor.
»Bleib, wo du bist«, sagte Elemak. »Aus Respekt vor der Herrin Rasa fessele ich ihn und lasse ihn zurück, aber ich bringe es genausogern schnell hinter mich und benutze den Pulsator.«
Huschidh blieb, wo sie war; sie hatte sowieso, was sie wollte, nämlich die Aufmerksamkeit der Gruppe. »Elemak hat dies von Anfang an vorgehabt«, sagte sie zu den anderen, »denn er will Nafai töten. Er wußte genau, entscheidet er sich zur Umkehr, blieb Nafai keine andere Wahl, als sich ihm zu widersetzen. Er hat alles so arrangiert, daß er eine legale Entschuldigung für einen Mord hat.«
Elemaks Auge zuckte. Luet sah, daß die Wut in ihm immer größer wurde und bald außer Kontrolle geraten würde. Was tust du, Huschidh, meine Schwester? Bringe ihn nicht dazu, meinen Gatten hier an Ort und Stelle zu töten!
»Warum sollte Elja das tun?« sagte Eiadh. »Du behauptest, mein Elemak ist ein Mörder, und das stimmt nicht!«
»Eiadh, armer Schatz«, sagte Huschidh. »Elemak will Nafai tot sehen, weil er weiß, hättest du heute die Wahl, würdest du ihn verlassen und dich für Nafai entscheiden.«
»Eine Lüge!« rief Elemak. »Antworte nicht darauf, Eiadh! Sag nichts!«
»Weil er es nicht erträgt, die Wahrheit zu hören«, sagte Huschidh. »Er wird sie in deiner Stimme hören.«
Nun verstand Luet. Huschidh setzte die Begabung ein, die die Überseele ihr verliehen hatte, wie sie es auch getan hatte, als Raschgallivak in Rasas Haus stand und seinen Soldaten befahl, Rasas Töchter zu entführen. Huschidh sprach die Worte, die die Loyalität von Elemaks Gefolgschaft zerstören, die ihm alle Unterstützung nehmen würden. Sie entfesselte sie, und wenn sie nur noch ein paar weitere Sätze sprechen konnte, würde sie Erfolg haben.
Leider war Luet nicht die einzige, die dies begriff. »Bringt sie zum Schweigen!« sagte Sevet. Ihre Stimme war hart und heiser, denn sie hatte sich noch nicht von der Verletzung erholt, die Kokor ihr zugefügt hatte. Aber sie konnte laut genug sprechen, um sich Gehör zu verschaffen, und der Schmerz in ihrer Stimme brachte ihr nur noch mehr Aufmerksamkeit ein. »Laßt Huschidh nicht sprechen. Sie ist eine Entwirrerin, und wenn sie genug sagt, kann sie jeden gegen jeden anderen richten. Ich habe gesehen, wie sie es bei Raschgallivaks Männern gemacht hat, und es wird ihr auch hier gelingen, wenn ihr es zulaßt!«
»Sevet hat recht«, sagte Elemak. »Noch ein Wort von dir, Huschidh, und ich werde Nafai töten.«
Fast hätte Huschidh den Mund geöffnet, um noch etwas zu sagen, Luet sah es genau. Aber irgend etwas — vielleicht die Überseele — hielt sie zurück. Sie drehte sich um und ging dorthin zurück, wo sie gerade gestanden hatte, trat neben Rasa und Schedemei. Wie Luet es sah, war ihre letzte Hoffnung damit verloren. Die Überseele konnte willensschwache Menschen für kurze Zeit dumm oder furchtsam machen, aber sie hatte nicht die Macht, einen Mann aufzuhalten, der zu einem Mord entschlossen war. Sie hatte nicht die Macht, die Banditen plötzlich dazu zu bewegen, Nafai zu helfen, sollten sie ihn finden. Und sie konnte ganz bestimmt nicht verhindern, daß die Tiere der Wüste ihn fanden und fraßen. Huschidhs Versuch war die letzte Möglichkeit gewesen, und er war gescheitert.
Nein, ich werde nicht verzweifeln, dachte Luet. Wenn wir ihn hier zurücklassen, kann ich mich vielleicht von den anderen entfernen, hierher zurückkehren und ihn losbinden. Oder ich töte Elemak, während er schläft, und …
Nein, nein. Sie war nicht zu einem Mord fähig, und das wußte sie auch. Nicht einmal, wenn die Überseele ihn befahl, wie sie Nafai befohlen hatte, Gaballufix zu töten. Nicht einmal dann wäre sie dazu imstande gewesen. Und sie würde sich auch nicht davonschleichen und Nafai rechtzeitig helfen können. Es war vorbei. Es bestand keine Hoffnung mehr.
»Er ist gefesselt«, sagte Mebbekew.
»Ich überprüfe den Knoten«, sagte Elemak.
»Glaubst du, ich weiß nicht, wie ich jemanden fesseln muß?« fragte Mebbekew.
»Dieser Computer, den sie verehren, hat angeblich die Macht, Menschen dümmer zu machen, als sie es gewöhnlich sind«, sagte Elemak. »Stimmt das nicht, Nafai?« . Nafai sagte nichts. Luet war dafür stolz auf ihn, hatte aber auch Angst um ihn. Denn sie wußte, daß die Macht der Überseele über einen langen Zeitraum hinweg sehr groß, aber in jedem beliebigen kurzen Augenblick sehr gering war.
Elemak stand nun dicht hinter Nafai und richtete den Pulsator auf dessen Rücken. »Knie nieder, kleiner Bruder.«
Nafai kniete nicht, aber wie aus einem Reflex machte Meb dazu Anstalten.
»Du doch nicht, du Narr. Njef.«
»Der zum Tode Verurteilte«, sagte Nafai.
»Ja, du, kleiner Bruder. Knie nieder.«
»Wenn du den Pulsator benutzen willst, sterbe ich lieber stehend.«
»Mach nicht so ein Schauspiel daraus«, sagte Elemak. »Ich will deine Hände an deine Füße binden, also knie nieder.«
Langsam und behutsam sank Nafai zuerst auf ein Knie, dann auf beide.
»Setz dich auf den Hintern«, sagte Elemak. »Die Füße flach auf den Boden. Ja, so. Nun zieh die Enden des Seils zwischen seinen Knöcheln hindurch, Meb, dann nach oben und über seine Beine, und binde sie zusammen — vor seinen Handgelenken, ja, genau so, damit er den Knoten nicht mit den Fingern erreichen kann. Sehr gut. Spürst du etwas in deinen Händen, Nafai?«
»Nur das Pochen meines Blutes, das versucht, an den Tauen um meine Gelenke vorbeizukommen.«
»Stricke, nicht Taue, Nafai, aber sie könnten genauso gut aus Stahl sein.«
»Du schneidest nicht mein Blut ab, Elemak, sondern dein eigenes«, sagte Nafai. »Denn dein Blut wird auf der Erde unbekannt sein, während das meine tausend Generationen lang weiterleben wird.«
»Das reicht«, sagte Elemak.
»Ich sage, was mir paßt«, erwiderte Nafai, »denn du hast dich schon entschlossen, mich zu töten. Was sollte sich ändern, wenn ich jetzt die Wahrheit sage? Muß ich befürchten, daß du mich trittst oder bespuckst, wenn ich dem Tod schon ins Antlitz schaue?«
»Wenn du versuchst; mich zu provozieren und dazu zu bringen, dich zu erschießen, muß ich dich enttäuschen. Ich habe es der Herrin Rasa versprochen, und ich werde mein Wort halten.«
Aber Luet sah, daß Nafais Worte Wirkung zeigten. Die Spannung in der Gruppe wurde immer stärker, und es war klar, daß alle anderen der Meinung waren, die eigentliche und letzte Auseinandersetzung zwischen ihnen stünde noch bevor, auch wenn Elemak der Ansicht war, er habe bereits gewonnen.
»Wir steigen jetzt auf unsere Kamele«, sagte Elemak. »Und niemand wird zurückkehren, um diesen Meuterer zu retten, oder er wird dasselbe Schicksal wie er erleiden.«
Hätte Luet nicht genau gewußt, daß Nafai und die Überseele irgendeinen Plan haben mußten, hätte sie darauf bestanden, mit ihrem Mann zu sterben. Aber sie kannte ihn selbst nach diesen wenigen Tagen schon gut genug, um zu wissen, daß Nafai in diesem Augenblick keine Furcht empfand. Und obwohl er ein tapferer junger Mann war, wußte sie Folgendes: Würde er wirklich glauben, sterben zu müssen, würde zumindest sie seine Furcht spüren können. Luet wurde klar, daß seine Mutter ähnlich empfinden mußte, denn sie protestierte auch nicht. Statt dessen warteten beide ab und sahen zu, während das kleine Spiel seinen Lauf nahm.
Elemak und Mebbekew wandten sich von Nafai ab. Dann drehte Mebbekew sich noch einmal um, legte den Fuß auf Nafais Schulter und stieß ihn um, so daß er auf der Seite im Sand lag. Da seine Hände an die Fußknöchel gefesselt waren, konnte er nichts tun, um den Sturz zu dämpfen. Doch nun konnte Luet hinter ihn sehen und erkannte deutlich, daß die Fesseln nicht fest zusammengebunden waren, sondern ganz locker saßen.
So lief das Spiel also. Die Überseele tat, was in ihrer Macht stand, um Mebbekew und Elemak dazu zu bringen, straffe Fesseln zu sehen, während die Knoten in Wirklichkeit nur Schlaufen waren. Normalerweise hatte sie nicht die Macht, sie dumm zu machen — oder zumindest nicht genug Macht, um Elemak so unaufmerksam zu machen. Doch Huschidh und Nafai war es gelungen, ihn mit ihren gefährlichen Worten so wütend zu machen, daß die Überseele eine bessere Aussicht hatte, ihn zu verwirren. Auch andere mußten sehen, daß Nafai nicht fest gebunden war, doch zum Glück waren die, die den besten Blick hatten, auch diejenigen, die Elemak wohl kaum darauf hinweisen würden — Herrin Rasa, Huschidh und Schedemei. Was die anderen betraf, so sahen sie mit der Hilfe der Überseele zweifellos das, was zu sehen sie erwarteten und Elemak und Mebbekew ihnen indirekt eingegeben hatten.
»Ja«, sagte Herrin Rasa, »gehen wir zu den Kamelen.« Sie begab sich schnellen Schrittes zu den wartenden Tieren. Luet und Huschidh folgten ihr. Auch die anderen drehten sich um und setzten sich in Bewegung.
Alle bis auf Eiadh. Sie stand starr da und sah zu Nafai. Die anderen, die neben ihren knienden Kamelen standen, drehten sich unwillkürlich um und sahen zu, als Elemak zu ihr ging und eine Hand auf ihren Rücken legte. »Ich weiß, dies bereitet deinem zarten Herz Schmerzen, Edhja«, sagte Elemak. »Aber ein Führer muß manchmal zum Nutzen aller hart sein.«
Sie sah ihn nicht einmal an. »Ich hätte nie gedacht, daß jemand dem Tod so absolut ruhig entgegensehen kann«, sagte sie.
Wunderbar, sagte Luet stumm zur Überseele. Du bringst sie dazu, Nafai noch stärker zu lieben? Wie hilfreich von dir. Das stellt sicher, daß wir niemals Frieden haben werden, selbst wenn Nafai diese Sache lebend überstehen sollte.
›Du hast nur wenig Vertrauen, nicht wahr? Ich kann nicht alles gleichzeitig tun. Was wäre dir lieber? Daß Eiadh deinen Gatten nicht mehr liebt, oder daß dein Gatte lebt und die Karawane zu Volemak weiterzieht?‹
Ich vertraue dir. Ich wünschte nur, du würdest es nicht immer so knapp gestalten.
»Höre mich an!« rief Nafai.
»Betteln hilft dir jetzt auch nicht mehr«, sagte Elemak. »Oder willst du eine letzte aufrührerische Rede halten?«
»Er hat nicht zu uns gesprochen«, sagte Eiadh. »Er hat zu ihr gesprochen. Zur Überseele.«
»Überseele, ich habe mein Vertrauen in dich gesetzt. Befreie mich nun aus dem mörderischen Griff meiner Brüder. Gib mir die Kraft, die Fesseln zu zerreißen, die meine Hände binden!«
Wie sah es für die anderen aus? Luet konnte es nur vermuten. Sie sah, daß Nafai zuerst die eine, dann die andere Hand problemlos aus den Stricken zog und sich dann ohne großen Anmut erhob. Doch die anderen sahen bestimmt, was sie am meisten fürchteten — wie Nafai die Fesseln einfach zerriß und dann majestätisch und mit einer gefährlichen Geste aufsprang. Zweifellos konzentrierte die Überseele ihren gesamten Einfluß auf die anderen und sparte nur die aus, die ihren Zwecken bereits dienten. Luet, Huschidh und Herrin Rasa sahen alles so, wie es geschah. Die anderen sahen zweifellos auch etwas, und selbst, wenn es nicht den Tatsachen entsprach, war es doch voller Wahrheit: daß Nafai die Macht der Überseele hatte, der Erwählte war, der wahre Führer.
»Du wirst diese Kamele zu keiner Stadt führen, die der Menschheit bekannt ist!« rief Nafai. Seine Stimme klang angespannt und hart, während er versuchte, die weite Strecke zwischen ihm und dem fernsten Kamel zu überbrücken, wo Vas gerade Sevet beim Aufsteigen half. »Deine Meuterei gegen die Überseele ist beendet, Elemak. Aber die Überseele ist gnädiger als du. Die Überseele wird dich leben lassen — doch nur, wenn du schwörst, nie wieder Hand an mich zu legen. Nur, wenn du versprichst, die Reise zu vollziehen, die wir angetreten haben — zuerst zu Vater und dann weiter zu der Welt, die die Überseele für uns vorbereitet hat!«
»Was ist das für ein Trick?« rief Elemak.
»Der einzige Trick ist der, mit dem du dich selbst getäuscht hast«, sagte Nafai. »Du hast geglaubt, wenn du mich mit Stricken fesselst, kannst du auch die Überseele fesseln, aber darin hast du dich geirrt. Du hättest diese Expedition führen können, wärest du gehorsam und klug gewesen, doch du warst nur von Machtlust und Neid erfüllt, und daher bleibt dir jetzt nichts mehr übrig, als der Überseele zu gehorchen oder zu sterben.«
»Drohe mir nicht!« rief Elemak. »Ich habe den Pulsator, du Narr, und ich habe die Todesstrafe über dich ausgesprochen!«
»Töte ihn!« schrie Mebbekew. »Töte ihn jetzt, oder du wirst es auf ewig bereuen!«
»Wie tapfer von dir«, sagte Huschidh, »deinen Bruder dazu zu drängen, wozu du selbst nie den Mut hättest, kleiner Meb.« Ihre Stimme war so scharf, daß er zurücktrat, als hätte sie ihn geschlagen.
Elemak hingegen trat nicht zurück. Statt dessen ging er einen Schritt nach vorn und richtete den Pulsator auf Nafai. Luet sah, daß er entsetzt war — er glaubte wirklich, daß Nafai ein Wunder bewirkt hätte, indem er sich so leicht von seinen Fesseln befreite —, doch ob er nun entsetzt war oder nicht, er war entschlossen, seinen jüngsten Bruder zu töten, und die Überseele konnte ihn unmöglich aufhalten. Sie hatte nicht die Macht, Elemak von einem festen Vorsatz abzulenken.
»Elja, nicht!« Der Schrei kam von Eiadh. Sie lief zu ihm, griff nach ihm, zerrte an dem Ärmel der Hand, die die Waffe hielt. »Um meinetwillen«, sagte sie. »Wenn du ihn anrührst, Elja, wird die Überseele dich töten, weißt du das nicht? Es ist das Gesetz der Wüste — du hast es selbst gesagt. Meuterei ist Tod! Rebelliere nicht gegen die Überseele.«
»Das ist nicht die Überseele«, sagte Elemak. Seine Stimme zitterte jedoch vor Furcht und Unsicherheit — und zweifellos packte die Überseele jeden Fetzen Zweifel in seinem Herzen und vergrößerte ihn mit den Worten, die Eiadh bittend an ihn richtete. »Das ist mein arroganter kleiner Bruder.«
»Du hättest es sein sollen«, sagte Nafai. »Du hättest derjenige sein sollen, der die anderen dazu bringt, sich an den Plan der Überseele zu halten. Die Überseele hätte niemals mich gewählt, wärest du nur bereit gewesen, ihr zu gehorchen.«
»Höre auf mich«, sagte Eiadh. »Nicht auf ihn. Du bist der Vater des Kindes in meinem Körper — woher willst du wissen, daß ich nicht schon ein Kind in mir trage? Wenn du ihn verletzt, wenn du ihm nicht gehorchst, wirst du sterben, und mein Kind wird vaterlos sein!«
Zuerst befürchtete Luet, Elemak würde Eiadhs Bitte, Nafai das leben zu schenken, als weiteren Beweis dafür interpretieren, daß seine Frau Nafai mehr liebte als ihn. Aber nein. Ihre Bitte war, daß er sein Leben retten mußte, indem er Nafai nichts tat. Das konnte er nur als Beweis dafür nehmen, daß sie ihn liebte, denn sie versuchte ja, sein Leben zu retten.
Vas war ebenfalls zu Elemak zurückgekehrt und legte nun eine Hand auf dessen andere Schulter, »Elja, töte ihn nicht. Wir werden nicht in die Stadt zurückkehren — keiner von uns wird das, keiner von uns!« Er drehte sich wieder zu den anderen um. »Wir sind einverstanden! Wir alle wollen zu Volemak weiterziehen, oder nicht?«
»Wir haben die Macht der Überseele gesehen«, sagte Eiadh. »Keiner von uns hätte gebeten, zur Stadt zurückzukehren, hätten wir es schon vorher begriffen. Bitte, wir alle sind uns einig. Wir sind nun alle einer Ansicht, es gibt keinen Hader zwischen uns. Bitte, Elemak. Mache mich wegen dieser Sache nicht zur Witwe. Wenn du ihn nicht tötest, bin ich für immer deine Frau. Aber was bin ich, wenn du dich gegen die Überseele auflehnst und stirbst?«
»Du bist noch immer unser Karawanenführer«, sagte Herrin Rasa. »Daran hat sich nichts geändert. Nur das Ziel der Reise ist ein anderes geworden, und du hast selbst gesagt, daß du nicht allein über das Ziel bestimmen kannst. Nun sehen wir ein, daß die Wahl keinem von uns zusteht, sondern nur der Überseele.«
Eiadh weinte, und die Tränen waren heiß und echt. »Oh, Elja, mein Gatte, warum haßt du mich so sehr, daß du sterben willst?«
Luet hätte fast vorhersagen können, was nun geschehen würde. Da Dol sah, wie rührend Eiadhs Tränen waren, ertrug sie es nicht, daß ihre Schwägerin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Also klammerte sie sich nun an ihren Gatten und klagte laut — und in der Tat mit ziemlich echt wirkenden Tränen —, daß auch er Abstand davon nehmen müsse, Nafai Schaden zuzufügen. Als hätte Mebbekew es je gewagt, allein zu handeln! Als hätten ihre Tränen ihn je gerührt! Luet hätte laut gelacht, wäre ihr nicht völlig klar gewesen, daß Nafais Leben nun davon abhing, wie Elemak auf all dieses Klagen reagierte.
Sie konnte die Veränderung fast auf seinem Gesicht sehen. Seine Entschlossenheit, Nafai zu töten, die unter dem Einfluß der Überseele nicht geringer geworden war, schmolz nun angesichts der Bitten seiner Frau. Und in dem Ausmaß, da sein Wille zu töten verblich, gelang der Überseele es immer besser, seine Ängste zu ergreifen und zu verstärken. Und so verwandelte er sich in nur wenigen Augenblicken von einem gefährlichen Mörder in ein zitterndes Wrack von einem Mann und war entsetzt darüber, was er fast getan hätte. Er sah zu dem Pulsator in seiner Hand hinab, erschauderte und warf die Waffe dann weg. Sie landete vor Luets Füßen.
»Oh, Nafai, mein Bruder, was habe ich getan?« rief Elemak.
Mebbekew reagierte sogar noch erbärmlicher. Er warf sich bäuchlings auf den Boden. »Verzeih mir, Nafai! Verzeih mir, daß ich dich wie ein Tier gefesselt habe! Laß nicht zu, daß die Überseele mich tötet!«
Du übertreibst, sagte Luet stumm zur Überseele. Sie werden zutiefst erniedrigt sein, wenn sie sich daran erinnern, wie sie gehandelt haben, ganz gleich, ob sie dahinterkommen, daß du Feiglinge aus ihnen gemacht hast, oder nicht.
›He, glaubst du etwa, ich hätte eine Filigrankontrolle darüber? Ich kann ihnen Furcht einflößen, und sie wollen mich einfach nicht hören, und dann hören sie mich plötzlich und brechen völlig zusammen. Ich glaube, ich mache das ziemlich gut, vor allem, wenn man bedenkt, daß ich so etwas noch nie zuvor gemacht habe.‹
Ich schlage ja nur vor, daß du es ihnen etwas leichter machst. Es ist geschafft.
»Elemak, Mebbekew, natürlich vergebe ich euch«, sagte Nafai. »Was für eine Rolle spielt es schon, was aus mir wird? Es kommt nur darauf an, ob die Überseele euch vergibt.«
»Knie vor der Überseele nieder«, sagte Eiadh und zog Elemak dringlich zu Boden. »Knie nieder und bitte um Vergebung. Begreifst du nicht, daß dein Leben in Gefahr ist?«
Elemak drehte sich zu ihr um, und als er sprach, klang er trotz der Furcht, von der Luet wußte, daß sie an ihm nagte, fast ruhig, »Und dir ist es so wichtig, ob ich lebe oder nicht?«
»Du bist mein Leben«, sagte Eiadh. »Haben wir nicht alle einen Eid geschworen, für immer verheiratet zu bleiben?«
Eigentlich haben sie das nicht getan, dachte Luet. Sie haben sich nur Elemaks Edikt angehört und dann die Hände gehoben, um zu verdeutlichen, daß sie es verstanden haben. Aber sie schwieg klugerweise.
Elemak sank auf die Knie. »Überseele«, sagte er mit zitternder Stimme. »Ich gehe dorthin, wohin du willst.«
»Ich auch«, sagte Mebbekew. »Schließe mich ein.« Er hob den Kopf nicht vom Sand.
»Solange Eiadh mir gehört«, sagte Elemak, »bin ich zufrieden, ob ich nun in der Wüste oder der Stadt bin, auf Harmonie oder auf der Erde.«
»O Elja!« rief Eiadh. Sie schlang die Arme um ihn und weinte auf seine Schulter.
Luet bückte sich und hob den Pulsator aus dem Sand vor ihren Füßen auf. Es war sinnlos, auf eine wertvolle Waffe zu verzichten. Wer konnte schon sagen, wann sie sie vielleicht für die Jagd brauchten?
Nafai ging zu ihr. Es bedeutete Luet mehr, als sie sagen konnte, daß er zuerst zu ihr kam, die sie erst seit wenigen Tagen seine Frau war, statt zu seiner Mutter zu gehen. Er umarmte sie, und sie hielt ihn fest. Sie spürte, daß er zitterte. Er hatte trotz seiner Zuversicht in die Überseele Angst – gehabt. Und es war auch sehr knapp gewesen.
»Hast du gewußt, wie es ausgehen würde?« flüsterte sie.
»Die Überseele war sich nicht sicher, ob sie das mit dem Seil hinbekam«, erwiderte er murmelnd. »Besonders, als er tatsächlich den Knoten überprüfte.«
»Das mußte er tun, wenn er glauben sollte, daß deine Befreiung ein Wunder ist.«
»Weißt du, was ich gedacht habe, als ich dort kniete, Elemak den Pulsator an meinen Kopf hielt, und ich all die Dinge sagte, die ihn dazu bringen sollten, mich zu töten? Ich habe gedacht — ich werde nie wissen, wie unser Baby aussehen wird.«
»Aber jetzt wirst du es wissen.«
Er löste sich von ihr, streckte die Hand aus und nahm ihr den Pulsator ab.
Huschidh trat zu ihm und legte die Hand auf die Waffe. »Njef«, sagte sie, »wenn du dieses Ding behältst, besteht keine Hoffnung, daß die Wunde einmal heilen könnte.«
»Und wenn ich es ihm zurückgebe?«
Huschidh nickte. »Das wäre das beste«, sagte sie.
Niemand verstand besser als Huschidh, die Entwirrerin, was Menschen aneinander fesselte und wieder voneinander löste. Nafai ging sofort zu Elemak und hielt ihm den Pulsator hin. »Bitte«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, wie man dieses Ding benutzt. Wir brauchen dich. Du mußt uns zu Vaters Lager führen.«
Elemak zögerte einen Augenblick lang, bevor er den Pulsator nahm. Luet wußte, daß er es verabscheute, ihn aus Nafais Hand zu empfangen. Aber gleichzeitig wußte er auch, daß Nafai ihn nicht hätte zurückgeben müssen. Daß Nafai ihm seinen Rang als Anführer nicht hätte zurückgeben müssen. Und er brauchte diesen Rang, brauchte ihn so sehr, daß er ihn sogar von Nafai akzeptieren würde.
»Gern«, sagte Elemak und nahm den Pulsator.
»Oh, ich danke dir, Nafai«, sagte Eiadh.
Luet fühlte einen Stich der Furcht in ihrem Herzen. Hört Elemak es in ihrer Stimme? Sieht er es auf ihrem Gesicht? Wie sie Nafai mit solcher Ehrfurcht anschaut? Sie ist eine Frau, die nur Stärke und Mut und Macht liebt — das Alphamännchen des Stammes zieht sie an. Und in ihren Augen ist Nafai eindeutig dieser begehrenswerteste Mann. Sie ist heute die beste Schauspielerin von allen gewesen, dachte Luet. Nur sie konnte Elemak überzeugen, daß sie ihn liebte, um den Mann zu retten, den sie wirklich liebt. Ich kann einfach nicht anders, ich empfinde deshalb Bewunderung für sie, dachte Luet. Sie ist wirklich eine tolle Frau.
Aber diese Gedanken der Bewunderung waren ebenfalls Lügen, und Luet konnte sich nicht lange selbst täuschen. Die wunderschöne Eiadh liebt meinen Mann noch immer, und obwohl seine Liebe zu mir im Augenblick stark ist, kommt vielleicht ein Tag, da das Primatenmännchen den zivilisierten Mann in ihm überwindet, und dann wird er Eiadh mit Verlangen betrachten, und sie wird es sehen, und in diesem Augenblick werde ich ihn bestimmt verlieren.
Sie schüttelte die Eifersucht von sich ab und ging zur Herrin Rasa, die vor Erleichterung zitterte, um ihr zu helfen, ihr Kamel zu besteigen. »Ich dachte, er wäre tot«, sagte Rasa leise und ergriff Luets Hand. »Ich dachte, ich hätte ihn verloren.«
»Einen Augenblick lang dachte ich das auch«, sagte Luet.
»Ich kann dir eins sagen«, fuhr Herrin Rasa fort. »Hätte Elemak die Sache durchgezogen, wäre er vor Anbruch der Nacht tot gewesen.«
»Auch ich habe seinen Tod in meinem Herzen geplant«, sagte Luet.
»So nahe stehen wir also den Tieren. Hast du dir so etwas je träumen lassen? Daß wir so plötzlich bereit sind, einen Mord zu begehen?«
»Wie Paviane, die die Herde beschützen«, sagte Luet.
»Das ist doch eine ziemlich große Entdeckung, meinst du nicht auch?«
Luet grinste sie an und drückte ihre Hand. »Aber wir wollen es niemandem sagen«, erwiderte sie. »Wenn die Männer wüßten, wie gefährlich wir in Wirklichkeit sind, werden sie bestimmt ziemlich nervös.«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte Rasa. »Die Überseele war stärker, als ich es für möglich gehalten habe. Das ist jetzt endgültig vorbei und erledigt.«
Doch als Luet zu ihrem Kamel ging, wußte sie, daß es nicht erledigt war. Es war nur aufgeschoben worden. Es würde erneut ein Tag kommen, an dem es einen Kampf um die Macht geben würde. Und beim nächstenmal bestand keine Garantie, daß der Überseele noch einmal so ein schöner kleiner Trick gelingen würde. Hätte Elemak sich nur entschlossen, den Pulsator auszulösen, wäre es vorbei gewesen; beim nächstenmal würde er das vielleicht begreifen und sich nicht von so etwas Törichtem wie Herrin Rasas Bitte ablenken lassen, Nafai nur zu fesseln und zurückzulassen. So knapp war es gewesen, so furchtbar knapp. Und schließlich wußte Luet auch, daß Elemaks Haß auf Nafai nun stärker denn je zuvor war, obwohl er dies zumindest eine Zeitlang noch abstreiten, obwohl er sogar sich selbst vormachen würde, daß sein Haß verschwunden war. Die anderen kannst du täuschen, Elemak, aber ich werde dich im Auge behalten. Und wenn meinem Gatten irgend etwas zustößt, darauf kannst du dich verlassen, dann töte mich lieber auch. Sorge dafür, daß ich sterbe, und selbst dann werde ich, wenn ich eine Möglichkeit finde, noch zurückkehren und aus dem Grab irgendeine Rache gegen dich üben.
»Du zitterst, Lutja«, sagte Huschidh.
»Ja?« Vielleicht hatte sie deshalb solche Schwierigkeiten, sicheren Halt auf dem Sattel ihres Kamels zu finden.
»Wie die Flügel einer Libelle.«
»Die Sache ging mir sehr nah«, sagte Luet. »Ich bin wohl noch immer aufgeregt.«
»Noch immer eifersüchtig auf Eiadh, das bist du«, sagte Huschidh.
»Nicht die Bohne«, sagte Luet. »Nafai liebt mich absolut und vollkommen.«
»Ja, das tut er«, sagte Huschidh. »Aber ich sehe trotzdem, welch gewaltigen Zorn du Eiadh entgegenbringst.«
Luet wußte, daß sie in der Tat auf Eiadh eifersüchtig war. Aber Huschidh hatte es Zorn genannt, und das war ein viel stärkeres Gefühl als das, was sie in sich entdeckt hatte. »Ich bin nicht wütend, weil sie Nafai liebt«, sagte Luet, »wirklich nicht.«
»Oh, das weiß ich«, sagte Huschidh. »Oder besser gesagt, das sehe ich jetzt. Nein, ich glaube, du bist wütend und eifersüchtig auf sie, weil sie das Leben deines Gatten retten konnte, während du nicht dazu imstande warst.«
Ja, dachte Luet. Das war es. Und nun, da Huschidh es ausgesprochen hatte, spürte sie, daß die quälende Enttäuschung sie durchströmte, und heiße Tränen der Wut und Scham flössen aus ihren Augen und ihre Wangen hinab. »Na also«, sagte Huschidh und hielt sie fest. »Es ist gut, es herauszulassen. Es ist gut.«
»Das ist nett«, sagte Luet. »Denn anscheinend werde ich sowieso wie ein Dummkopf weinen, ob es nun gut ist, es herauszulassen oder nicht, und da ist es nur gut, daß es gut ist.«
Sie weinte noch immer, als Nafai zurückkam und ihr auf ihr Tier half. »Du bist die letzte«, sagte er.
»Ich wollte wahrscheinlich nur, daß du mich noch einmal anfaßt«, sagte sie. »Damit ich auch genau weiß, daß du noch lebst.«
»Ich atme noch«, sagte er. »Wirst du noch lange so weinen? Denn die Feuchtigkeit auf deinem Gesicht wird Fliegen anziehen.«
»Was ist aus diesen Banditen geworden?« sagte sie und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel fort.
»Der Überseele ist es gelungen, sie einschlafen zu lassen, bevor sie ernsthaft damit anfing, die anderen zu beeinflussen. Sie werden in ein paar Stunden aufwachen. Warum denkst du jetzt an sie?«
»Ich dachte nur, wie dumm wir uns alle vorgekommen wären, wenn sie herbeigestürmt wären und uns alle in Stücke gehauen hätten, während wir darüber zanken, ob wir dich nun töten oder nicht.«
»Ja«, sagte Nafai. »Ich weiß, was du meinst. Dem Tod ins Gesicht zu sehen, das ist nicht besonders schwer. Aber sich wirklich dumm vorzukommen, wenn man stirbt, das wäre unerträglich.«
Sie lachte und hielt seine Hand noch einen Augenblick lang fest. Nur noch einen Augenblick, und dann noch einen langen, langen Augenblick.
»Sie warten auf uns«, sagte Nafai. »Und die Banditen werden irgendwann aufwachen.«
Also ließ sie ihn los, und als er zu seinem Kamel ging, sprang das ihre auf, und sie erhob sich hoch über den Wüstenboden. Es war, als ritte man während eines Erdbebens auf einem unsicheren Turm, und normalerweise gefiel es ihr nicht. Aber heute fühlte es sich schön an. So mußte es sich anfühlen, wenn man auf einem Thron saß. Denn dort, auf dem Kamel vor ihr, saß Nafai, ihr Mann. Was für eine Rolle spielte es schon, daß nicht sie ihn gerettet hatte? Es genügte, daß er lebte und sie noch immer liebte.