Als Schveja sieben Jahre alt war, hatte sie genau begriffen, wie die Welt funktionierte. Nun war sie acht, und es gab ein paar Fragen.
Wie alle Kinder von Dostatok wuchs sie mit dem Verständnis für die reinen und einfachen Beziehungen zwischen den Familien auf. Zum Beispiel gehörten Dazja und ihre jüngeren Brüder und Schwestern zu Huschidh und Issib. Krassja und Nokja und ihre jüngeren Brüder und Schwestern gehörten zu Kokor und Obring. Vasnja und ihr Bruder und ihre Schwester gehörten zu Sevet und Vas, und so weiter. Jedes der Kinder gehörte zu einer Mutter und einem Vater.
Die einzige Seltsamkeit in diesem klaren Bild des Universums bestand — zumindest, bis Schveja acht Jahre alt war — aus Großvater Volemak und Großmutter Rasa, die nicht nur zwei eigene Kinder hatten — die Brüder Okja und Yaja —, sondern irgendwie auch die Eltern aller anderen Eltern waren.
In Schvejas Vorstellung bedeutete dies, daß Volemak und Rasa die Ersten Eltern waren, die die gesamte Menschheit gezeugt hatten. Doch nun wußte sie irgendwo in ihrem Hinterkopf, daß dies nicht ganz richtig war, denn Schedemei hatte ihnen in der Schule klargemacht, daß es Millionen anderer Menschen gab, die in fernen Orten wohnten, und die stammten ganz bestimmt nicht alle von Großvater und Großmutter ab. Doch diese Orte waren nur Legenden. Man bekam sie nie zu sehen. Die ganze Welt bestand für Schveja aus dem sicheren und wunderschönen Land Dostatok, und dort gab es niemanden — zumindest hatte es diesen Anschein —, der nicht der Ehe zwischen Volemak und Rasa entsprungen war.
Für Schveja war die Welt der Erwachsenen sogar so fern, daß sie alle Bedürfnisse nach seltsamen Geschichten befriedigte; ihr gelüstete gar nicht danach, von mythischen Ländern wie Basilika und Potokgavan und Gorajni und Erde und Harmonie zu hören, von denen einige Planeten waren und andere Städte und wieder andere Nationen, obwohl Schveja niemals die Regeln verstanden hatte, welcher Name denn nun auf welchen dieser Begriffe zutraf. Nein, Schvejas Welt wurde von dem ständigen Machtkampf zwischen Dazja und Proja um die Vorherrschaft über die Kinder bestimmt.
Dazja war das Älteste Kind, was zu ihrer gewaltigen Autorität beitrug, die sie fröhlich mißbrauchte, um die jüngeren Kinder auszunutzen, wann immer es ihr möglich war. Sie zwang sie zu persönlichen Dienstleistungen und ›Gefallen‹, die sie ohne Dankbarkeit entgegennahm. Wenn eins der jüngeren Kinder nicht gehorchte, schloß sie es einfach von allen Spielen aus, indem sie wissen ließ, daß sie nicht mitmachen würde, wenn »dieses Kind« an dem Spiel oder Wettstreit teilnahm.
Dazja brachte den Mädchen, die schon eher in ihrem Alter waren, eine ähnliche Einstellung entgegen, ging bei ihnen aber subtiler vor — sie bestand nicht auf erniedrigenden persönlichen Gefälligkeiten, erwartete aber, daß alles so getan wurde, wie sie es wollte, daß alle anderen Mädchen mitmachten und jede, die sich weigerte, höflich geächtet wurde. Da Schveja das Zweite Kind und nur drei Tage jünger war, sah sie nicht ein, eine so unterwürfige Rolle spielen zu müssen. Das Ergebnis bestand darin, daß sie viel Zeit für sich selbst hatte, denn Dazja duldete keine Gleichberechtigten, und die anderen Mädchen hatten nicht genug Mumm, sich ihr zu widersetzen.
Und wie Dazja ihr Königreich unter den jüngeren Kindern und den älteren Mädchen geschmiedet hatte, hatte Proja — Elemaks ältester Sohn und Zweiter Junge — sich zum Prinz unter den Prinzen gemacht. Er war die einzige Person, die Dazja lächerlich machen und über ihre Regeln lachen konnte, und alle älteren Jungen folgten ihm. Dazja ächtete in so einem Fall die älteren Jungen natürlich umgehend, doch das war ihnen gleichgültig, da Proja über die Spiele bestimmte, an denen sie teilhaben wollten, und sie seine Anerkennung suchten. Die schlimmste Erniedrigung für Dazja bestand darin, daß ihr eigener Bruder Xodhja sich zu Proja schlug und dessen Macht als Schild für seine Unabhängigkeit von der Herrschaft seiner älteren Schwester nutzte. Auch Schvejas jüngerer Bruder Schjat und manchmal sogar Motja, der ein Jahr jünger als Schjat war und eigentlich gar nicht zu den älteren Jungen gehörte, machten regelmäßig bei Proja mit, aber dagegen hatte Schveja nichts, denn dies war eine noch größere Erniedrigung für Dazja.
In Zeiten der Zwistigkeiten schlug Schveja sich natürlich auf die Seite der älteren Mädchen, die die aufsässigen Jungen dann verspotteten und verhöhnten, doch in ihrem Herzen sehnte sie sich danach, zu Projas Königreich zu gehören. Die Jungen führten die harten und wunderschönen Spiele um Jagd und Tod durch. Schveja wäre sogar bereit gewesen, die Beute zu spielen, sich jagen und mit stumpfen Pfeilen beschießen zu lassen, wenn sie nur hätte mitmachen dürfen, statt elend in Dazjas Reich gefangen zu sein. Doch als sie ihrem Bruder Schjat gegenüber einmal derartige Andeutungen machte, tat er so, als müsse er würgen und sich übergeben, und sie gab die Idee wieder auf.
Ihr größter Neid galt jedoch Okja und Yaja, den beiden Söhnen von Großmutter und Großvater. Okja war der Erste Junge, und Yaja der Vierte. Doch sie hätten Proja mit Leichtigkeit um seine vorherrschende Stellung unter den Jungen bringen können, besonders, da die beiden alles gemeinsam machten und die anderen Jungen zur Unterwerfung hätten zwingen können. Aber diese Mühe machten sie sich nicht; sie nahmen nur an Projas Spielen teil, wenn sie Lust dazu hatten, und es war ihnen völlig gleichgültig, wer das Sagen hatte. Denn sie hielten sich für Erwachsene und nicht für Kinder. »Wir sind von der gleichen Generation wie eure Eltern«, hatte Yaja einmal zu ihr gesagt und ziemlich hochmütig gelacht. Schveja hatte daraufhin erwidert, daß Yaja beträchtlich kleiner als sie war und einen noch ganz winzigen Fimmel hatte, der nicht größer als der eines Hasen sei, woraufhin die anderen Kinder trotz ihrer Ehrfurcht vor Yaja gelacht hatten. Yaja hingegen hatte sie nur verächtlich angesehen und war davonstolziert. Doch Schveja hatte daraufhin bemerkt, daß Yaja nicht mehr in Gegenwart der anderen Kinder pinkelte.
Wenn Schveja brutal ehrlich zu sich selbst war, mußte sie eingestehen, daß sie deshalb so oft völlig von den anderen Kindern gemieden wurde, weil sie einfach nicht ihre Klappe halten konnte. Wenn sie jemanden sah, der andere einschüchterte oder unfair oder selbstsüchtig war, riß sie den Mund auf. Es spielte keine Rolle, daß sie auch sprach, wenn jemand edel oder gut oder freundlich war — Lob wurde schnell vergessen, während man sich an Beleidigungen ewig erinnerte. Daher hatte Schveja keine echten Freunde unter den anderen Kindern — sie waren alle zu sehr damit beschäftigt, sich bei Dazja oder Proja einzuschmeicheln, als daß sie Schveja echte Freundschaft schenken konnten, von Okja und Yaja natürlich einmal abgesehen, die als angebliche Erwachsene noch hochmütiger waren und unter sich blieben.
Als Schveja acht Jahre alt wurde und sah, wie wenig Beachtung man — von ihren Eltern einmal abgesehen — ihrem Geburtstag schenkte, nachdem die anderen wegen Dazjas Geburtstag gerade ein gewaltiges Theater gemacht hatten, bezweifelte sie völlig, irgendeine Bedeutung auf der Welt zu haben. War es nicht schon schlimm genug, daß Dazja über alle anderen Mädchen herrschte? Mußten die Erwachsenen aus ihrem Geburtstag unbedingt ein solches Fest machen? Vater erklärte ihr natürlich, daß das Fest nicht Dza selbst galt, sondern für den Beginn ihrer gesamten Generation von Kindern stand — aber was für eine Rolle spielte es schon, ob die Erwachsenen es so oder so sahen? Tatsache blieb, daß dieses Fest Dazjas eiserne Herrschaft über die anderen Kinder bestätigt hatte. Es hatte ihr sogar zu einer befristeten Überlegenheit über Proja verhelfen, und Okja und Yaja hatten während der gesamten Feier geschmollt, da sie sich unter die anderen Kinder mischen mußten, was sie für nicht richtig hielten, da sie doch gar nicht zu der jüngeren Generation gehörten. Wie konnten die Erwachsenen nur so unachtsam sein und so zerstörerisch in die Hierarchie unter den Kindern eingreifen? Manchmal hatte sie den Eindruck, die Erwachsenen bekämen gar nicht mit, daß ihre Kinder ein eigenes Leben führten.
Zu diesem Zeitpunkt kam Schveja zu der tiefgründigen Einsicht, daß die Welt der Erwachsenen und die der Kinder wahrscheinlich den gleichen Regeln unterworfen waren, einmal davon abgesehen, daß die Kinder den Erwachsenen gegenüber stets unterwürfig sein mußten. Es begann mit einem Gespräch mit ihrer Mutter, als die nach ihrem Bad Schvejas Haar kämmte. »Je jünger die Jungs sind, desto abscheulicher sind sie«, sagte Schveja und meinte damit ihren zweiten Bruder Motja, der gerade herausgefunden hatte, welchen Aufruhr er verursachen konnte, wenn er sich in der Nase bohrte und den Finger dann am Kleid seiner Schwester abwischte, ein Verhalten, das Schveja auf keinen Fall dulden würde, ganz gleich, ob er es bei ihr machte oder bei der kleinen Zuja, die sich nicht wehren konnte.
»Das ist nicht unbedingt richtig«, sagte Mutter. »Wenn sie älter werden, sind sie einfach auf ganz andere Art und Weise abscheulich.«
Mutter sagte es ungezwungen dahin, als mache sie einen Scherz, aber für Schveja war es ein großer, erhellender Augenblick. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sich zum Beispiel Krassjas Vater Obring in der Nase bohrte und den Knösel dann an Mutters Kleid abwischte, und wußte sofort, daß er dies nie tun würde. Aber vielleicht war Obring zu anderen abscheulichen Dingen fähig, zu erwachsenen Dingen. Ich muß ihn beobachten und es herausfinden, dachte Schveja.
Sie stellte nicht in Frage, daß sie ausgerechnet Obring beobachten mußte — sie hatte oft gesehen, daß Mutter ungeduldig wurde, wenn Obring in einer Ratsversammlung sprach. Sie hatte keinen Respekt für ihn, und Vater auch nicht, obwohl der es besser verbarg. Wenn also irgendein Erwachsener ein abscheuliches Verhalten an den Tag legte, dann bestimmt Obring.
Von nun an richtete Schveja ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Erwachsenen in ihrer Umgebung und versuchte herauszufinden, wer die Dazja der Mütter und wer der Proja der Väter war. Dabei begriff sie allmählich Dinge, die sie nie zuvor verstanden hatte. Die Welt war gar kein so klarer und einfacher Ort, wie sie es bislang immer geglaubt hatte.
Die schockierendste Enthüllung kam an dem Tag, als sie mit ihren Eltern über die Ehe sprach. Sie hatte vor einiger Zeit eine häßliche Bemerkung Tojas darüber aufgeschnappt, was Proja in Wirklichkeit gern mit Dazja machen würde, und nun schwante ihr, daß alle Kinder irgendwann aufwachsen und sich miteinander paaren und Babies bekommen würden und der ganze Zyklus von vorn anfangen würde. Toja hatte seine Bemerkung als obszönen Greuel gemeint, doch Schveja wurde klar, daß es sich wahrscheinlich sogar um eine Prophezeiung handelte. Wären Proja und Dazja nicht das perfekte Paar? Proja würde genau wie Elemak sein, und Dazja würde ihn wahrscheinlich mit völliger Hingabe anlächeln genau, wie Eiadh es bei Elemak tat. Oder würde Dazja wie ihre Mutter Huschidh sein, viel stärker als ihr Mann Issib, da sie ihn sogar herumtrug und badete wie ein Baby? Oder würden Proja und Dazja ihren Kampf um die Vorherrschaft ihr ganzes Leben lang fortsetzen und versuchen, auch ihre eigenen Kinder gegeneinander aufzuhetzen?
Diese Gedanke führte Schveja zu der Frage, welchen der Jungen sie heiraten würde. Würde es einer der Jungen des ersten Jahres sein, also einer in ihrem Alter? Das wären entweder Proja oder Okja, und beide stießen sie gleichermaßen ab. Und was war mit den Jungs des zweiten Jahres? Dazjas kleiner Bruder Xodhja, Projas kleiner Bruder Nadja oder der ›erwachsene‹ Yaja — was für eine hervorragende Auswahl! Und die Kinder des dritten Jahres waren im gleichen Alter wie ihr scheußlicher Bruder Motja — wie konnte sie auch nur davon träumen, einen so jungen Knaben zu heiraten?
Also brachte sie das Thema bei ihren Eltern zur Sprache, eines Morgens beim Frühstück, als ihr Vater nicht auf die Jagd ging, so daß sie gemeinsam essen konnten. »Was meint ihr, werde ich Xodhja heiraten müssen?« fragte sie — denn sie war zum Schluß gekommen, daß Xodhja die am wenigsten ekelhafte Alternative war.
»Auf keinen Fall«, sagte Mutter ohne das geringste Zögern.
»Wir würden es sogar verbieten«, sagte Vater.
»Nun, wen dann? Okja? Yaja?«
»Das wäre fast genauso schlimm«, sagte Vater. »Was ist los, hast du vor, demnächst eine Familie zu gründen?«
»Natürlich denkt sie darüber nach, Njef«, sagte Mutter. »Mädchen denken in diesem Alter über so etwas nach.«
»Nun, dann sollte sie sich einprägen, daß sie keinen vollen Onkel und ganz bestimmt keinen vollen doppelten ersten Vetter heiraten wird.«
Diese Worte hatten für Schveja nicht die geringste Bedeutung, wiesen aber auf dunkle Geheimnisse hin. Was für eine unaussprechliche Tat hatte Xodhja begangen, daß er zu einem ›vollen doppelten ersten Vetter‹ geworden war? Also fragte sie.
»Er hat gar nichts getan«, sagte Mutter. »Es ist nur so, daß seine Mutter, Huschidh, meine volle Schwester ist — wir beide haben dieselbe Mutter und denselben Vater. Und Zaxodhs Vater Issib ist der volle Bruder deines Vaters — sie haben beide dieselben Eltern, nämlich Großmutter und Großvater. Das bedeutet, daß ihr ausschließlich gemeinsame Vorfahren habt — ihr habt die engste Blutsverwandtschaft von allen Kindern, und eine Ehe zwischen euch kommt nicht in Frage.«
»Wenn wir es irgendwie verhindern können«, fügte Vater hinzu.
»Das können wir auf jeden Fall verhindern«, sagte Mutter. »Und bei Ojkib und Yasai habe ich ähnliche Vorbehalte, weil auch sie Söhne von Rasa und Volemak sind.«
Schveja nahm das alles mit äußerlicher Ruhe hin, doch innerlich war sie fürchterlich aufgewühlt. Huschidh und Mutter waren Vollschwestern, aber keine Töchter von Großmutter und Großvater! Und Vater und Issib waren Vollbrüder, wie auch Ojkib und Yasai, und diese Vollbrüderschaft bestand, weil sie Söhne von Großmutter und Großvater waren. Doch schon allein der Gebrauch des Wortes ›voll‹ bedeutete, daß es hier einige gab, die keine Vollbrüder und daher auch keine Söhne von Volemak und Rasa waren. Wie war das möglich?
»Was ist los?« fragte Vater.
»Ich meine nur … wen darf ich denn heiraten?«
»Ist das nicht etwas früh … ?« begann Vater.
Mutter unterbrach ihn. »Die Jungs, die du heute abscheulich findest, werden dir viel interessanter vorkommen, wenn du älter wirst. Kauf mir das einfach ab, meine liebe Veja, denn diese Prophezeiung wirst du mir erst glauben, sobald sie sich als wahr erweist. Doch wenn dieser wunderbare Tag dann kommt …«
»Schreckliche Tag, meinst du wohl«, murmelte Vater.
»… kannst du zum Beispiel ein Auge auf Padarok werfen, denn er ist mit niemandem außer seiner kleinen Schwester Dabrota und seinen Eltern Zdorab und Schedemei verwandt.« —
Nun begriff Schveja zum erstenmal, daß Zdorab und Schedemei mit keinem der anderen verwandt waren, doch gleichzeitig fiel ihr ein, daß sie Padarok seit geraumer Zeit nicht ausstehen konnte, weil er Großmutter und Großvater immer Rasa und Volemak nannte, was ihr respektlos vorgekommen war; doch es war überhaupt nicht respektlos gewesen, da sie ja wirklich nicht seine Großeltern waren. Hatten die anderen Kinder das schon die ganze Zeit über gewußt?
»Und«, fügte Vater hinzu, »da es nur einen Padarok gibt, der die mannbaren jungen Mädchen von Dostatok bedienen kann …«
»Njef!« sagte Mutter scharf.
»…bleibt dir keine andere Wahl, als auch — wie hast du es ausgedrückt, meine liebe Wasserseherin? Ach ja! — als auch ein Auge auf Protschnu oder Nadeschni zu werfen, weil deren Mutter Eiadh mit niemandem sonst hier verwandt und ihr Vater Elemak nur mein Halbbruder ist. Genauso ist es bei Umene, dessen Vater Vas nicht mit uns verwandt und dessen Mutter Sevet nur meine Halbschwester ist.«
Prodi, Nadja und Umja interessierten sie im Augenblick nicht. »Wie kann Sevet nur eine halbe Schwester von dir sein?« fragte Schveja. »Weil du so viele Brüder hast, daß sie dir keine volle Schwester sein kann?«
»Ach, das ist ein Alptraum«, sagte Mutter. »Muß das unbedingt heute morgen sein?«
Doch Vater erklärte ihr bereitwillig, daß Volemak in Basilika mit zwei anderen Frauen verheiratet gewesen war, die Elemak und Mebbekew geboren hatten, bevor er Rasa geheiratet hatte, die ihm Issib geschenkt hatte; und dann hatte Herrin Rasa die Ehe nicht ›verlängert‹, sondern statt dessen einen Mann namens Gaballufix geheiratet, der ebenfalls Elemaks Halbbruder war, weil seine Mutter eine der früheren Frauen Volemaks gewesen war. Und von Gaballufix hatte Herrin Rasa dann Sevet und Kokor bekommen, und dann hatte sie den Vertrag mit ihm nicht mehr verlängert, war zu Volemak zurückgekehrt und hatte ihn auf Dauer geheiratet. Und dann hatten die beiden Nafai und — viel später — Okja und Yaja bekommen.
»Hast du das verstanden?«
Schveja konnte nur verblüfft nicken. Ihre gesamte Welt war von oben nach unten gekehrt worden. Nicht nur aufgrund der Verwirrung, wer nun wirklich mit wem verwandt war, sondern von der Vorstellung, daß dieselben Leute nicht ihr ganzes Leben lang verheiratet bleiben mußten — daß die Mutter und der Vater eines ihrer Spielgefährten vielleicht mit ganz anderen Leuten verheiratet gewesen waren und Kinder hatten, die nur mit einem Elternteil verwandt waren und den anderen vielleicht als völlig Fremden ansahen! Es war entsetzlich, und in dieser Nacht hatte sie einen schrecklichen Traum, in dem riesige Ratten in ihr Haus kamen und Vater im Schlaf davontrugen, und als Mutter aufwachte, bemerkte sie nicht einmal, daß er verschwunden war, sondern brachte einfach den kleinen Pro]a herein und sagte: »Das ist dein neuer Vater, bis die Ratten auch ihn holen.«
Sie wachte schluchzend auf.
»Was hast du geträumt?« fragte Mutter, als sie sie tröstete. »Erzähl mir, Veja, warum weinst du?«
Also erzählte sie es ihr.
Mutter trug sie in das Zimmer, in dem sie und Vater schliefen, und weckte Vater. Sie bat Schveja, auch ihm den Traum zu erzählen. Er schien sich gar nicht für den schrecklichsten Vorfall zu interessieren — daß nämlich Proja in ihr Haus gekommen war und seinen Platz eingenommen hatte —, sondern wollte lediglich alles über die riesigen Ratten wissen. Er bat sie immer wieder, sie zu beschreiben, obwohl sie nur noch wußte, daß es eben Ratten gewesen waren, und zwar sehr große, die ständig in sich hineingelacht hätten, wie klug sie doch wären, während sie Vater davontrugen.
»Trotzdem«, sagte Vater. »Das erste Mal in der neuen Generation. Und nicht von der Überseele, sondern vom Hüter.«
»Es hat vielleicht gar nichts zu bedeuten«, sagte Mutter. »Wahrscheinlich hat sie von einem der anderen Träume gehört.«
Doch als sie sie fragten, ob sie vor diesem Traum Geschichten von riesigen Ratten gehört hätte, begriff Schveja gar nicht, wovon sie sprachen. Die einzigen Ratten, von denen sie gehört hatte, waren die, die ständig versuchten, Nahrung aus den Scheunen zu stehlen. Träumten auch andere Menschen von riesigen Ratten? Die Erwachsenen waren so seltsam — sie dachten sich nichts dabei, daß Familien auseinandergerissen wurden und Kinder Halbbrüder und Halbschwestern und ähnliche Monstrositäten hatten, aber ein Traum von einer riesigen Ratte, tja, den hielten sie für wichtig. Vater sagte sogar: »Wenn du je wieder von riesigen Ratten träumst — oder von anderen seltsamen Tieren —, mußt du es uns sofort sagen. Es könnte sehr wichtig sein.«
Erst, als Luet sie im Bett wieder zudeckte, konnte Schveja die Frage stellen, die an ihr nagte: »Mutter, wer wird unser neuer Vater sein, wenn du mit Vater nicht mehr verlängerst?«
Augenblicklich legte sich ein verständnisvoller und mitfühlender Ausdruck auf Mutters Gesicht. »Ach, Veja, meine liebe kleine Näherin, darüber machst du dir Sorgen? Als wir Basilika verlassen haben, haben wir auch diese Gesetze hinter uns gelassen. Hier währen die Ehen ewig. Bis zu unserem Tod. Also wird in unserer Familie Vater immer der Vater sein, und ich werde immer die Mutter sein, und damit hat es sich! Du kannst dich darauf verlassen.«
Nun war Schveja beruhigt und schlief wieder ein. Und während sie einschlief, kam ihr Verschiedenes in den Sinn: Wie schrecklich muß es doch gewesen sein, in Basilika zu leben und nie zu wissen, mit wem die Eltern im nächsten oder übernächsten Jahr verheiratet waren — da könnte man gleich in einem Haus leben, in dem der Fußboden morgen die Decke ist. Und dann: Ich bin die erste der neuen Generation, die von riesigen Ratten geträumt hat, und irgendwie ist das wunderbar, und deshalb muß ich sehr stolz auf mich sein, und hätte ich es gewußt, hätte ich schon eher von riesigen Ratten geträumt. Und dann: Rokja ist der Junge, der mit niemandem verwandt ist, und deshalb ist es am besten, wenn ich ihn heirate. Und deshalb werde ich ihn auch heiraten, und dann wird Dazja schon sehen, wer die beste ist!
Nafai und Luet bekamen in dieser Nacht nur wenig Schlaf. Beide beschäftigten sich mit unterschiedlichen Aspekten von Schvejas Traum. Für Luet war wichtig, daß eins der Kinder endlich eine der Fähigkeiten zeigte, auf die die Überseele hingearbeitet hatte. Sie wußte, es war eitel von ihr, doch sie hielt es für angemessen, daß die Erstgeborene der Wasserseherin die erste war, die einen bedeutungsvollen Traum hatte. Sie konnte es kaum abwarten, ihre Tochter zum erstenmal in das Wasser des Flusses mitzunehmen und festzustellen, ob Schveja lernen konnte, absichtlich in jenen Schlaf zu fallen, der wahre Träume brachte, wie Luet es sich beigebracht hatte.
Für Nafai hingegen war wichtig, daß nach so langer Stille jemand tatsächlich eine Nachricht erhalten hatte. Und daß diese Nachricht, so verschwommen und von kindlicher Verwirrung beeinflußt sie auch sein mochte, vom Hüter der Erde stammte, wodurch sie irgendwie noch wichtiger war, als wäre sie von der Überseele gekommen.
Schließlich führten sie mit der Überseele ständig Gespräche — durch den Index natürlich. Der Index ermöglichte ihnen jedoch nur Zugang zu den Speichern der Überseele. Er ermöglichte ihnen nicht, die Pläne der Überseele zu sondieren, herauszufinden, was genau die Überseele in diesem oder im nächsten Jahr von ihnen erwartete. Sie hatten darauf gewartet, wie sie stets darauf gewartet hatten, daß die Überseele die Dinge in Bewegung setzte, indem sie ihnen Träume oder eine Stimme in ihren Verstand schickte. Doch all die Jahre, die sie schon in Dostatok lebten, hatte die Überseele ihnen keinen Traum, keine Stimme geschickt, und die einzige Nachricht, die der Index — über die Erforschung seiner Speicher hinaus — für sie hatte, lautete: Bleibt und wartet!
Doch der Hüter der Erde war an kein Vorhaben, keinen Zeitplan der Überseele gebunden; er schickte seine Träume über die Lichtjahre hinweg von der Erde. Sie ahnten nicht einmal, welchen Zweck der Hüter damit befolgte — die Träume, die er schickte, schienen mit den Sorgen zu tun haben, die den Träumenden beschäftigten, genau, wie es bei Schvejas Traum von den Ratten der Fall gewesen war. Doch manche Themen kehrten immer wieder — hatte nicht auch Huschidh geträumt, daß die Ratten Feinde waren und ihre Familie angriffen? Dies schien darauf hinzudeuten, daß diese großen Ratten auf der Erde irgendwie zum Problem für sie werden würden — wenngleich es auch Träume gab, in denen die Ratten und Engel der Erde sich mit den Menschen als Freunde und Gleichberechtigte zusammentaten. Es war so schwer, alledem einen Sinn zu entnehmen — doch eins stand fest: Die Träume vom Hüter der Erde kamen noch immer, und daher würde vielleicht bald etwas passieren; vielleicht würde bald die nächste Etappe ihrer Reise beginnen.
Denn Nafai wurde allmählich ungeduldig. Wie alle anderen auch schätzte er das Leben, das sie in Dostatok führten, doch er konnte nicht vergessen, daß dies nicht das Ziel ihrer Reise war. Vor ihnen lag eine noch nicht bewältigte Aufgabe, eine Reise durchs All zu dem Planeten, auf dem die Menschheit ihrer Ursprung genommen hatte, die erstmalige Rückkehr der Menschen nach vierzig Millionen Jahren, und Nafai sehnte sich danach. Das Leben in Dostatok war schön, doch es war auch viel zu geschlossen und ordentlich. Hier schien alles sein Ende genommen zu haben, und Nafai mochte das Gefühl nicht, daß die Zukunft irgendwie von ihm abgeschnitten worden war und es keine weiteren Veränderungen mehr geben würde bis auf die vorhersagbaren, die mit dem Älterwerden einhergingen.
Überseele, sagte Nafai stumm, wirst du nun, da der Hüter der Erde erwacht ist, ebenfalls aufwachen? Wirst du uns auf die nächste Etappe unserer Reise schicken?
Nafai war sich genau bewußt, wie unterschiedlich seine und Luets Reaktionen auf Schvejas Traum waren. Er sah geringschätzig auf Luets Einstellung hinab und war gleichzeitig neidisch darauf. Er dachte geringschätzig von ihr, weil sie zugelassen zu haben schien, daß Dostatok ihre gesamte Welt wurde — sie interessierte sich hauptsächlich für die Kinder und dafür, ob dieser Traum bedeutete, daß sie ebenfalls Hellseherin werden würden. Und besonders freute sie sich darüber, daß ihre Schveja als erste wahre Träume geträumt hatte. Doch wie unwichtig war das alles im Vergleich dazu, daß der Hüter der Erde sich wieder rührte!
Und er war neidisch, weil sie mit ihrem derzeitigen Leben in Dostatok so verbunden war — er war unweigerlich der Ansicht, daß sie viel glücklicher war als er, denn ihre Welt drehte sich tatsächlich um die Kinder, die Familie, die Gemeinschaft. Ich lebe in einer größeren Welt, habe aber kaum eine Verbindung mit ihr; sie lebt in einer kleineren, kann sie aber verändern und sich von ihr verändern lassen, viel stärker, als es bei mir der Fall ist.
Ich kann nicht so werden wie sie, und sie kann nicht so werden wie ich. Einzelne Menschen waren ihr schon immer wichtiger als mir. Es ist meine Schwäche, daß ich mir der Gefühle anderer Menschen nicht so bewußt werde wie sie. Wäre ich ein so aufmerksamer und einfühlsamer Beobachter, wie sie es ist, hätte ich vielleicht nicht unabsichtlich die Dinge gesagt und getan, die dazu geführt haben, daß meine älteren Brüder mich so hassen. Dann hätte unser ganzes Leben vielleicht einen ganz anderen Verlauf genommen, und Elja und ich wären vielleicht Freunde geworden. Statt dessen gibt es selbst jetzt, da Elemak mich als Jäger respektiert und bei den Beratungen auf mich hört, keine Vertrautheit zwischen uns, und Elemak ist vor mir auf der Hut und hält nach Anzeichen Ausschau, ich könne versuchen, ihn zu verdrängen. Luet hingegen scheint unter den Frauen keinen Neid hervorzurufen. Als Wasserseherin könnte man sie genausogut als Rivalin für Mutters Dominanz über die Frauen sehen, wie Elemak Vaters Führung herausfordert und ich Elemaks Rivale bin, doch bei ihnen scheint es überhaupt kein Konkurrenzgefühl zu geben. Sie sind eins. Warum können Elemak und ich nicht eins sein? Und Elemak und Vater?
Vielleicht fehlt den Männern etwas, so daß wir uns niemals zusammenschließen und aus vielen Seelen eine machen können. Das wäre ein schrecklicher Verlust. Ich schaue Luet an und sehe, wie nah sie den anderen Frauen steht, selbst denen, die sie nicht so besonders gut leiden kann; ich sehe, wie nah sie und die anderen Frauen den Kindern stehen; und dann sehe ich, wie weit entfernt ich von den anderen Männern stehe, und komme mir so einsam vor.
Mit diesen Gedanken schlief Nafai endlich ein, doch erst ein paar Stunden vor der Dämmerung, und als er schließlich aufstand, stellte er fest, daß Luet genauso müde war. Den Haferschleim rührte sie praktisch im Halbschlaf um. »Und heute ist schulfrei«, sagte Luet, »und wir müssen uns um die Kinder kümmern und können noch nicht einmal ein Nickerchen halten.«
»Sollen sie doch draußen spielen«, sagte Nafai, »bis auf die Zwillinge natürlich, und die können wir vielleicht bei Schuja lassen. Dann können wir schlafen.«
»Oder wir könnten abwechselnd schlafen, statt sie zu anderen Leuten zu bringen«, sagte Luet.
»Abwechselnd schlafen?« sagte Nafai. »Wie langweilig.«
»Ich will schlafen«, sagte Luet. »Warum seid ihr Männer nie so müde, daß ihr nicht mehr an das eine denkt?«
»Männer, die nicht mehr an das eine denken, wie du es so schön ausdrückst, sind entweder Eunuchen oder tot.«
»Wir müssen deinen Eltern von Schvejas Traum erzählen«, sagte Luet.
»Wir müssen allen davon erzählen.«
»Der Ansicht bin ich nicht«, sagte Luet. »Das würde zuviel Eifersucht hervorrufen.«
»Ach, wen außer dir interessiert schon, welches Kind als erstes wahre Träume hatte?« Doch schon in dem Augenblick, da er dies sagte, wußte er, daß es alle Eltern interessieren würde und es richtig von ihr war, Eifersucht zu vermeiden.
Sie schnitt ihm eine Grimasse. »Du stehst so völlig über dem Neid, o Edler, daß es mich neidisch macht.«
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Und außerdem«, sagte sie, »wäre es nicht gut für Schveja, wenn wir ein großes Aufheben darum machen würden. Sieh dir doch an, was mit Dza passiert ist, als wir ihren Geburtstag zu einem Fest gemacht haben — sie schikaniert die anderen Kinder ziemlich herum, und das macht Schuja Sorgen. Nach diesem öffentlichen Aufruhr ist es nur noch schlimmer geworden.«
»Manchmal bekomme ich mit, daß sie die anderen Kinder auf völlig sinnlose Botengänge schickt, und dann will ich ihr Vernunft einprügeln …«
»Aber Herrin Rasa sagt …«
»Ich weiß. Daß Kinder ihre eigene Gemeinschaft etablieren und sich auf ihre Weise mit der Tyrannei befassen müssen«, sagte Nafai. »Aber ich frage mich, ob sie wirklich recht hat. Schließlich konnte ihre Erziehungstheorie nur in Basilikas Schoß gedeihen. Könnten wir unsere Konflikte zu Beginn der Reise nicht als Folge eben gerade dieser Methode sehen?«
»Nein, das könnten wir nicht«, sagte Luet. »Besonders deshalb nicht, weil jene Personen, die den meisten Ärger verursacht haben, die geringste Zeit von Herrin Rasa erzogen wurden. Namentlich Elemak und Mebbekew, die ihre Schule verließen, sobald sie in das Alter kamen, in dem sie selbst entscheiden durften, sowie Vas und Obring, die nie Schüler von ihr waren.«
»Andererseits, meine liebe Analytikerin, ist Zdorab der beste von uns und war nie ihr Schüler, während Kokor und Sevet, ihre eigenen Töchter, genauso schlimm wie die schlimmsten anderen sind.«
In diesem Augenblick kamen Serp und Spei, die Zwillinge, auf wackligen Beinen in die Küche, und mit dem offenen Gespräch unter Erwachsenen war es vorbei.
Als sie endlich Gelegenheit fanden, sich für kurze Zeit hinzulegen, waren sie aufgrund ihrer alltäglichen Pflichten so hellwach, daß sie nicht mehr schlafen wollten. Also gingen sie zu Volemaks und Rasas Haus, um mit ihnen über den Traum zu sprechen.
Auf dem Weg dorthin kamen sie an einer Gruppe älterer Jungen vorbei, die mit ihren Steinschleudern übten. Sie blieben stehen und schauten eine Weile zu, hauptsächlich um zu sehen, wie sich ihre beiden älteren Jungs machten, Schatva und Motiga. Die Jungen bemerkten natürlich, daß sie beobachtet wurden, und versuchten sofort, ihre Eltern zu beeindrucken. Doch Luet und Nafai interessierten sich nicht so sehr dafür, welche Fortschritte sie mit der Schlinge gemacht hatten, sondern wie ihr Verhältnis zu den anderen Kindern war. Motiga war natürlich eine entsetzliche Nervensäge — er war sich deutlich bewußt, daß er jünger als die anderen war, und seine dummen Streiche und Albernheiten waren seine Strategie, mit der er sich Zutritt zum inneren Kreis verschaffen wollte. Schatva hingegen gehörte vom Alter her zu ihnen, und seinen Eltern bereitete Sorgen, wie biegsam er war — wie sehr er Pro] a zu verehren schien, einen stolzierenden Hahn, der nicht einmal einen Bruchteil des Respekts verdient hatte, den Schatva ihm entgegenbrachte.
Ein typischer Augenblick: Motja schwang achtlos seine geladene Schleuder und traf Xodhja am Arm. Dessen Augen füllten sich augenblicklich mit Tränen, und Proja verhöhnte ihn: »Du wirst nie ein Mann sein, Xodhja! Du kommst dem immer nur nahe!« Das war natürlich ein Wortspiel mit seinem Namen, und dazu ein ziemlich cleveres — aber auch ein grausames, das Xodhjas Elend nur noch vergrößerte. Und dann, ohne daß einer der Jungs es richtig mitbekam, wandte sich Xodhja in seinem Elend an Schjat, der impulsiv den Arm um Xodhjas Schulter legte und seinen kleinen Bruder anbellte: »Paß gefälligst besser mit deiner Schleuder auf, Affenhirn!«
Eine ganz einfache, instinktive Sache, doch Luet und Nafai lächelten einander zu. Schatva bot Xodhja nicht nur ohne die Spur einer Herablassung körperlichen Trost, sondern lenkte die Aufmerksamkeit auch noch von Xodhjas Schmerz und Tränen ab auf den wahren Schuldigen. Dies alles machte er ungezwungen und anmutig, ohne Projas Autorität auch nur im geringsten herauszufordern.
»Wann wird Schjat begreifen, daß er derjenige ist, an den die anderen Jungen sich wenden, wenn sie Schwierigkeiten haben?« fragte Nafai.
»Vielleicht füllt er diese Rolle so gut aus, weil er nicht weiß, daß er sie übernommen hat.«
»Ich beneide ihn«, sagte Nafai. »Wäre mir das doch nur möglich gewesen.«
»Ach? Und wieso sollte es dir nicht möglich sein?«
»Du kennst mich, Luet. Ich hätte Protschnu angeschrien, es sei nicht gerecht von ihm, Xodhja aufzuziehen, weil es Motjas Schuld war, und wenn Motja ihn getroffen hätte, würde auch er weinen.«
»Das stimmt natürlich.«
»Natürlich. Aber ich hätte mir Protschnu zum Feind gemacht«, sagte Nafai. Und welche Konsequenzen das gehabt hätte, mußte er wohl kaum erklären. Hatte Luet es nicht oft genug erlebt?
»Für mich ist nur wichtig, daß unser Schatva die Zuneigung der anderen Jungen hat und sie auch verdient«, sagte Luet.
»Könnte Motja doch nur von ihm lernen.«
»Motja ist noch ein Baby«, sagte Luet, »und wir wissen nicht, was aus ihm wird — nur, daß er auch später sehr laut und auffällig und zappelig sein wird. Ich wünschte nur, Schveja könnte etwas von Schatva lernen.«
»Nun ja, jedes Kind ist anders«, sagte Nafai. Er wandte sich ab und führte Luet von dem Steinschleuder-Wettbewerb fort und zu Vaters und Mutters Haus. Doch er verstand Luets Wunsch gut: Schvejas Einsamkeit und Absonderung von den anderen bereitete ihnen beiden große Sorgen — sie war die einzige wirkliche Außenseiterin unter allen älteren Kindern und verstand nicht warum, weil sie eigentlich gar nichts getan hatte, um die anderen gegen sich aufzubringen. Sie hatte einfach keinen Platz in der kindlichen Hierarchie. Oder sie hatte vielleicht einen, weigerte sich aber, ihn einzunehmen. Welche Ironie, dachte Nafai — wir machen uns Sorgen, weil Schatva die unterwürfige Rolle zu gut spielt, aber auch, weil Schveja sich weigert, eine solche zu akzeptieren. Vielleicht wollen wir in Wirklichkeit, daß unsere Kinder die dominante Rolle einnehmen! Vielleicht versuche ich, meinen Ehrgeiz durch sie zu erfüllen, und das wäre falsch. Also sollte ich mich mit dem zufriedengeben, was sie sind.
Luet mußte ähnlich gedacht haben, denn sie sagte plötzlich: »Beide werden ihre Wege durch das Dickicht der menschlichen Gesellschaft finden. Wir können sie nur beobachten und trösten und ihnen dann und wann einen Hinweis geben.«
Oder die herrische Königin Dza packen und schütteln, bis ihre Arroganz herausfällt. Aber nein, das würde nur zu einem Streit zwischen den Familien führen, und die letzte Familie, mit der ich mich je streiten möchte, wäre die von Schuja und Issib.
Volemak und Rasa lauschten ihrer Geschichte über Schvejas Traum mit Interesse. »Ich habe mich gelegentlich gefragt, wann die Überseele wieder handeln würde«, sagte Vater, »aber ich gestehe ein, daß ich sie nicht gefragt habe, weil es hier so schön ist und ich nichts tun wollte, um unseren Aufbruch zu beschleunigen.«
»Nicht, daß wir etwas tun könnten, um unseren Aufbruch zu beschleunigen«, sagte Mutter. »Schließlich hat die Überseele einen festen Zeitplan, und der hat nur wenig mit uns zu tun. Ihr war es völlig gleichgültig, ob wir diese Jahre in diesem ersten elenden Lager in der Wüste verbringen oder an diesem viel besseren Ort zwischen dem Nördlichen und dem Südlichen-Fluß. Oder hier, vielleicht dem schönsten Landstrich auf ganz Harmonie. Sie wollte nur, daß wir zusammenkommen und bereit sind, wenn sie uns braucht. Vielleicht beabsichtigt sie sogar, die Kinder auf die Reise zur Erde zu schicken und nicht uns. Und das wäre mir durchaus recht, wenngleich es mir noch lieber wäre, wenn sie die Urgroßkinder nähme, lange, nachdem wir alle tot sind, damit wir ihren Aufbruch, der uns das Herz brechen würde, nicht mehr miterleben.«
»So fühlen wir alle manchmal«, sagte Luet.
Nafai hielt seine Zunge im Zaum.
Es spielte keine Rolle. Vater durchschaute ihn trotzdem. »Alle außer Nafai. Er ersehnt eine Veränderung. Du bist ein Krüppel, Njef. Du kannst Glück nicht sehr lange ertragen — dich bringen Konflikte und Unsicherheiten zum Leben.«
»Ich mag keine Konflikte, Vater«, protestierte Nafai.
»Dir gefallen sie vielleicht nicht, aber du blühst durch sie auf«, sagte Volemak. »Das ist keine Beleidigung, Sohn, nur eine Tatsache.«
»Die Frage lautet«, sagte Rasa, »sollen wir wegen Schvejas Traum etwas unternehmen?«
»Nein«, sagte Luet schnell. »Gar nichts. Wir wollten euch nur informieren.«
»Dennoch«, sagte Vater. »Was ist, wenn auch andere Kinder Träume vom Hüter bekommen, aber niemandem davon erzählt haben? Vielleicht sollten wir alle Eltern mahnen, auf die Träume ihrer Kinder zu achten.«
»Lasse so etwas verlauten«, sagte Rasa, »und Kokor und Dol werden ihren Kindern einreden, was für Träume sie haben müssen, und böse auf sie werden, wenn sie keine schönen Träume mit Riesenratten haben.«
Alle lachten, doch sie wußten, daß es tatsächlich so kommen würde.
»Also unternehmen wir im Augenblick gar nichts«, sagte Vater. »Wir warten einfach ab. Die Überseele wird handeln, wenn es für sie an der Zeit ist, und bis dahin versuchen wir, perfekte Kinder großzuziehen, die sich niemals streiten.«
»Ach, ist das der Maßstab des Erfolgs?« fragte Luet hänselnd. »Diejenigen Kinder, die sich nie streiten, sind die guten?«
Rasa lachte trocken. »Wenn das der Fall ist, sind die einzigen guten Kinder diejenigen, die gar kein Rückgrat haben.«
»Also keine Nachkommen von dir, mein Schatz«, sagte Vater.
Der Besuch war beendet; sie kehrten nach Hause zurück und machten mit der Tagesarbeit weiter. Doch Nafai gab sich nicht damit zufrieden, einfach abzuwarten. Es bekümmerte ihn, daß sie in letzter Zeit so wenig Visionen gehabt hatten und daß nun Schveja die einzige war, die etwas vom Hüter empfing, ihr einsamstes Kind, das noch zu jung war, um ihrem Traum wirklich einen Sinn zu entnehmen.
Warum wartete die Überseele so lange? Vor neun Jahren hatte sie es ziemlich eilig gehabt, sie aus Basilika zu schaffen. Sie hatten alles aufgegeben, was sie jemals vom Leben erwartet hatten, und waren in die Wüste gezogen. Ja, am Ende hatte alles einen guten Ausgang genommen, aber das war noch nicht das Ende, oder? Es lagen noch über hundert Lichtjahre vor ihnen. Der Teil ihrer Reise, den sie bislang abgeschlossen hatten, war nichts im Vergleich dazu, und es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, daß sie diese Reise wieder aufnehmen würden.
Antworte mir!
Aber er bekam keine Antwort.
Ein weiterer Traum war nötig, um Nafai zu bewegen, etwas zu tun. Diesmal war es Luet; Nafai erwachte aus einem tiefen Schlaf und stellte fest, daß sie winselte, stöhnte und dann aufschrie. Er schüttelte sie wach und sprach beschwichtigend auf sie ein, damit sie sich bereits beruhigt hätte, wenn sie aus ihrem Traum erwachte. »Ein Alptraum«, sagte er. »Du hast einen Alptraum.«
»Die Überseele«, sagte sie. »Sie hat sich verirrt. Sie hat sich verirrt.«
»Luet, wach auf! Du träumst.«
»Ich bin jetzt wach«, sagte sie. »Ich versuche, dir den Traum zu erzählen.«
»Du hast von der Überseele geträumt?«
»Ich habe in dem Traum mich selbst gesehen. Aber ich war jung — in Schvejas Alter. So, wie ich mich früher in Träumen sah.«
So lange ist es noch gar nicht her, dachte Nafai unwillkürlich, daß Luet in Schvejas Alter gewesen war. Sie war ein Kind gewesen, als er sie kennengelernt und geheiratet hatte, bei weitem noch keine fünfzehn Jahre alt. Wenn sie sich also als Kind sah, konnte es sich doch gar nicht so sehr von dem unterscheiden, wie sie sich heute sah. »Du hast dich also als Kind gesehen«, sagte Nafai.
»Nein — ich sah eine Person, die wie ich aussah, aber ich dachte; Das ist die Wasserseherin. Und dann dachte ich: Nein, das ist die Überseele, die das Gesicht und den Körper der Wasserseherin trägt. Wie du weißt, haben viele Frauen ja genau das von mir geglaubt.«
»Ja, das weiß ich«, sagte Nafai.
»Und dann wußte ich, daß ich die Überseele sah, sie aber mein Gesicht trug. Und sie suchte verzweifelt, suchte nach etwas und glaubte, sie habe es gefunden, aber dann betrachtete sie ihre Hände, und sie hatte es doch nicht. Und dann wußte ich, was sie jagte, immer im Kreis herum — eine riesige Ratte. Und dann fing sie sie ein und umarmte sie, doch die Ratte verwandelte sich in einen Engel und flog davon. Aber die Überseele hatte die Verwandlung nicht bemerkt und glaubte, die Ratte wäre ihr entwischt. Ich glaube, wir warten hier, weil die Überseele irgendwie verwirrt ist. Sie sucht etwas.«
Aber Nafais Gedanken konzentrierten sich auf die Ratten und Engel in ihrem Traum. »Also war es ein Traum vom Hüter?« fragte er. »Aber wie kann der Hüter vor hundert Jahren gewußt haben, daß die Überseele jetzt Probleme haben wird?«
»Wir vermuten nur, daß die Träume, die wir von der Hüterin bekommen, mit Lichtgeschwindigkeit reisen«, sagte Luet. »Vielleicht weiß die Hüterin mehr, als wir ihr zugestehen.«
Es zerrte an Nafais Nerven, daß die Frauen, die vom Hüter wußten, gelegentlich und instinktiv davon ausgingen, daß es sich um eine Hüterin handelte, genau wie sie die Überseele für ein weibliches Wesen gehalten hatten. Bei der Überseele hatte Nafai nichts dagegen, doch beim Hüter kam es ihm ziemlich arrogant vor. Vielleicht lag es nur am Sprachgebrauch — schließlich hieß es ja die Überseele —, vielleicht auch daran, daß Nafai wußte, daß die Überseele ein Computer war, aber nicht die geringste Ahnung hatte, was der Hüter der Erde sein mochte. Von der Sprachverwirrung einmal abgesehen — ein Computer war ein Ding, auch wenn es der Computer hieß. Falls der Hüter wirklich ein Gott war — oder so etwas ähnliches wie ein Gott —, dann verabscheute er den Gedanken, daß er weiblich sein mußte.
»Vielleicht beobachtet der Hüter uns und kennt uns gut und versucht nun, uns aufzuwecken — und durch uns die Überseele?«
»Die Überseele schläft nicht«, sagte Nafai. »Wir unterhalten uns ständig durch den Index mit ihr.«
»Ich habe dir erzählt, was ich in meinem Traum gesehen habe.«
»Dann werden wir morgen früh mit Issib und Zdorab sprechen. Vielleicht können sie über den Index etwas erfahren.«
»Jetzt«, sagte Luet. »Gehen wir sofort zu ihnen.«
»Und wecken sie mitten in der Nacht auf? Sie haben Kinder. Das wäre unverantwortlich.«
»Mitten in der Nacht wird es keine Unterbrechungen durch die Kinder geben«, sagte Luet. »Und außerdem dämmert es schon fast.«
Es stimmte; das erste Licht erhellte hinter ihrem Fenster aus Pergamentpapier den Himmel.
Zdorab war schon wach und öffnete die Tür, noch bevor Nafai und Luet sie erreicht hatten. Schedemei erschien kurz darauf, und nach ein paar geflüsterten Worten ging sie, um Issib und Huschidh zu holen. Dann versammelten sie sich in dem Haus, in dem der Index aufbewahrt wurde. Luet erzählte ihnen allen ihren Traum, und Zdorab und Issib durchstöberten sofort den Index und versuchten, Antworten zu finden.
Während sie schweigend warteten, wurde Luet als erste ungeduldig. »Ich bin im Augenblick hier nutzlos«, sagte sie. »Und die Kinder brauchen mich.«
»Mich auch«, sagte Huschidh, und Schedemei ging zögernd mit ihnen; sie alle kehrten zu ihren Häusern zurück. Nafai wußte, daß auch er nicht besonders nützlich war, wenn es um die Durchsuchung des Index ging — Issib und Zdorab hatten die Erkundung des Speichers der Überseele zu ihrem Lebenswerk gemacht, und er konnte nicht mit ihnen mithalten. Er wußte, den Frauen würde seine stillschweigende Annahme nicht gefallen, er könne bleiben, und Luet müsse gehen … aber er wußte auch, daß sie zutraf. Das Leben der Kinder war auf Luet ausgerichtet, die immer bei ihnen war, während Nafai so oft auf die Jagd ging, daß seine An- oder Abwesenheit von ihnen kaum bemerkt wurde. Nicht, daß es ihnen gleichgültig war, ob ihr Vater zu Hause war oder nicht — es war ihnen durchaus wichtig, veränderte ihren normalen Tagesablauf aber nicht.
Also blieb Nafai im Indexhaus, als Zodja und Issja ihre Fragen stellten. Er hörte ihr Gemurmel, und dann und wann stellten sie ihm eine Frage, aber eigentlich war er überflüssig.
Er griff über den Tisch und legte die Finger auf den Index. »Du hängst in einer Programmschleife, nicht wahr?«
»Ja«, sagte der Index. »Das wurde mir klar, als Luet den Traum vom Hüter bekam. Issib und Zdorab versuchen bereits, die Schleife zu finden.«
»Sie muß sich in deinen primitiven Routineprogrammen befinden«, sagte Nafai, »denn hätte sie sich in den Teilen von dir etabliert, die du selbst programmieren kannst, könntest du sie finden und mit einem Unterprogramm beheben.«
»Ja«, sagte der Index erneut. »Zdorab hat das sofort vermutet, und dort forschen wir zur Zeit nach.«
Nafai dachte an den Traum. »Du mußt angenommen haben, du hättest irgend etwas gefunden, aber in Wirklichkeit hast du gar nichts gefunden, und dann muß sich die Schleife gebildet haben«, sagte er.
»Ja«, sägte der Index. Er konnte doch nicht ungeduldig klingen, oder? »Issib hat dies von Anfang an vermutet, und deshalb versuchen wir, etwas zu finden, das ich selbst nicht wahrnehmen kann. Es ist sehr schwer, meine Speicher nach etwas zu durchsuchen, was ich nicht wahrgenommen habe.«
Nafai wurde klar, daß seine Gedanken weit hinter denen Zdorabs und Issibs zurückhingen, und er seufzte und nahm die Hand vom Index, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wartete. Er verabscheute es, bei wichtigen Ereignissen nur Zuschauer zu sein. Genau das hat Elemak so oft von mir behauptet, sagte er sich garstig. Ich muß mich immer zum Helden jeder Geschichte machen, an der ich mitwirke. Was genau hat er damals gesagt? Wenn er mich nicht aufhalten würde, würde ich eine Möglichkeit finden, eines Tages in Elemaks Biographie der Protagonist zu sein. Daher glaube ich nun auch, ich müsse unbedingt dabei sein, wenn wir herausfinden, wieso die Überseele sich im Kreis dreht und ihre Zeit verschwendet, unsere Zeit verschwendet …
Unsere Zeit verschwendet? Ist es eine Zeitverschwendung, mit meiner Frau und meinen Kindern in Frieden und Überfluß zu leben? Dann sollte ich vielleicht den Rest meines Lebens verschwenden.
Wie eine Jagd, immer im Kreis herum, die arme Überseele hat sich in ihren eigenen Knoten verfangen und sucht immer wieder dasselbe Terrain ab, ohne es zu merken.
Und als Nafai dies dachte, stellte er sich den Weg vor, den er auf seiner letzten Jagd eingeschlagen hatte, als würde er ihn aus der Luft sehen wie auf einer Landkarte. Er sah den Weg, den er zwischen den Bäumen genommen hatte, beobachtete sich, wie er seine Runden zog, aber niemals aus der gleichen Richtung zweimal an ein und demselben Baum vorbeikam, so daß er nie auf den Gedanken gekommen wäre, im Kreis gegangen zu sein, wenn er es nicht auf der Karte gesehen hätte.
Das muß auch die Überseele machen — ihre eigenen Spuren sehen.
Er streckte die Hand aus, berührte den Index und teilte es der Überseele mit.
»Ja«, sagte der Index — noch immer mit einer Gleichgültigkeit, die ihn zornig machte. »Zdorab hat bereits vorgeschlagen, daß ich meine jüngste Vergangenheit untersuche, um ein solches Wiederholungsmuster zu finden. Aber ich zeichne mein Verhalten nicht auf. Nur das der Menschen. Ich habe keine Autobiographie gespeichert, wenn man einmal davon absieht, welche Auswirkungen meine Handlungen auf die Menschheit gehabt haben. Und anscheinend hat die Programmschleife, in der ich mich verfangen habe, keine direkten Auswirkungen auf die Menschheit — oder nur so unwesentliche, daß ich sie nicht bemerke. So oder so — ich kann mein Vorgehen nicht zurückverfolgen.«
Nafai wußte zwar nicht weiter, nahm die Hand aber trotzdem nicht vom Index. Es würde die anderen vielleicht verwirren, wenn er den Index immer wieder berührte und dann losließ.
Verwirren? Nein. Er wollte sich lediglich die Peinlichkeit ersparen, den anderen erneut einzugestehen, daß sein Beitrag vergeblich gewesen war.
Er war noch immer müde. Luets Traum hatte ihn zu früh geweckt, und als er nun hier saß und nichts zu tun hatte, drohte er einzudösen. Er legte den Kopf auf seinen Arm; mit den Fingern berührte er noch immer den Index.
Er kehrte zu diesem Bild von sich zurück, das er von oben sah. Während er auf der Jagd in Kreisen durch den Wald marschierte, zog er eine Karte hinter sich her. Vielleicht tue ich das wirklich, dachte er, während er allmählich einschlief. Vielleicht bewege ich mich wirklich in Kreisen.
»Nein, das tust du nicht«, sagte der Index. »Außer, wenn ein Tier, das du verfolgst, sich in Kreisen bewegt.«
Vielleicht doch, sagte Nafai stumm. Vielleicht ziehe ich in großen Kreisen herum, suche nach den Spuren eines Tiers und begreife nicht, daß ich meine eigenen Spuren sehe. Vielleicht verfolge ich manchmal mich selbst. Vielleicht sehe ich meine eigene Spur und denke, was für ein ungewöhnlich großes Tier, das wird uns eine Woche lang ernähren, und dann verfolge ich mich selbst, hole mich aber nicht ein, bis ich eines Tages auf meinen eigenen Körper stoße, der erschöpft und ausgehungert dort im Sterben liegt. Und in meinem Wahn stelle ich mir vor, ich hätte mich von meinem Körper gelöst und …
Ich bin eingeschlafen, sagte er stumm.
»Hier ist die Karte all deiner Jagdausflüge«, sagte der Index. »Wie du siehst, bist du nie im Kreis gewandert, außer wenn du ein Tier verfolgt hast.«
Nafai sah in seinem Geiste eine deutliche Karte des Landes um Dostatok bis zu den Bergen und darüber hinaus; eine Karte, die all seine Streifzüge zeigte.
Ich habe wirklich die ganze Gegend durchstreift, nicht wahr? sagte Nafai stumm.
Noch als er es sagte, sah er, daß es nicht stimmte. In eine bestimmte Gegend hatte ihn kein einziger Jagdausflug geführt. Es war eine Art Keil direkt zwischen den Bergen, der zur Wüstenseite abfiel; dort war er kein einziges Mal gewesen.
Hast du eine Karte der Jagdzüge, die die anderen unternommen haben? fragte Nafai.
Augenblicklich überlagerte eine Karte, von der er ›wußte‹, daß sie Elemaks Jagdausflüge zeigte, die seine, und dann eine von Vas’ und von Obrings Ausflügen, und dann eine von denen, die sie in Gruppen unternommen hatten. Sie verzahnten sich, bis sie ein dichtes Netz um ganz Dostatok ergaben.
Abgesehen von diesem Keil in den Bergen.
Was ist dort in den Bergen, wo keiner von uns gewesen ist?
»Wovon sprichst du?« fragte der Index.
Die Lücke in den Karten. Das Gebiet, in dem niemand gewesen ist.
»Es gibt keine Lücke«, sagte der Index.
Nafai konzentrierte sich auf die Stelle und widmete ihr seine gesamte Aufmerksamkeit. Dort! rief er in seinem Verstand.
»Du sprichst zu mir, als würdest du mir eine bestimmte Stelle zeigen, und ich stelle fest, daß es dir sehr wichtig ist, und doch gibt es keine Stelle auf der Karte, die du heraushebst.«
Könnte dort etwas sein, das selbst dir verborgen ist?
»Nichts auf Harmonie ist mir verborgen.«
Warum hast du uns nach Dostatok geführt?
»Weil ich diesen Ort für euch vorbereitet habe, damit ihr dort wartet, bis ich bereit bin.«
Wofür bereit?
»Daß ihr mich zur Erde bringt.«
Und warum mußten wir ausgerechnet hierher kommen?
»Weil dies der nächste Ort ist, an dem ihr überleben könnt, bis ich bereit bin.«
Der nächste Ort wovon?
»Von euch. Von der Stelle, wo ihr wartet.«
Nafai erkannte, daß sie sich wieder im Kreis bewegten. Er versuchte es auf eine andere Weise. Wann wirst du bereit sein, dich von uns zur Erde bringen zu lassen? fragte er.
»Wenn ich euch rufe«, sagte der Index.
Von wo wirst du uns rufen?
»Von Dostatok«, sagte der Index.
Wohin?
»Zur Erde«, sagte der Index.
Für Nafai war es klar: Die leere Stelle auf der Karte, die der Index nicht sehen konnte, war gleichzeitig der Ort, an dem sie sich versammeln würden, um zur Erde aufzubrechen — erneut ein Ort, den der Index nicht benennen konnte.
»Ich kann jeden Ort auf Harmonie benennen«, sagte der Index. »Ich kann euch jeden Namen nennen, den je ein Mensch jedem Ort auf diesem Planeten gegeben hat.«
Dann nenne mir den Namen dieses Ortes, sagte Nafai und konzentrierte sich erneut auf die leere Stelle in der Karte ihrer Jagdexpeditionen.
»Deute auf einen Ort, und ich sage dir den Namen.«
Impulsiv zog Nafai im Geiste einen Kreis um das Gebiet, das sie auf ihren Jagdausflügen nicht betreten hatten.
»Vusadka«, sagte der Index.
Vusadka, dachte Issib. Ein sehr alt klingender Name. Aber er klang so ähnlich wie das Wort, mit dem sie umschrieben, wenn jemand einen einzigen Schritt vor die Haustür setzte. Er fragte den Index: Was bedeutet Vusadka?
»Das ist der Name dieses Ortes.«
Seit wann hat er diesen Namen schon? fragte Nafai.
»Er wurde von den Bewohnern Raspjatnys so genannt.«
Und woher haben sie diesen Namen?
»Er war in den Städten der Sterne und den Städten des Feuers sehr gebräuchlich.«
Wann wurde dieser Name zum erstenmal erwähnt?
»Welcher Name?« fragte die Überseele.
Die Überseele konnte ihr Gespräch nicht bereits vergessen haben. Also mußte er wieder auf die Blockierung ihres Speichers gestoßen sein. Nafai fragte: Wann wurde dieser Name zum erstenmal in den Städten des Feuers erwähnt?
»Vor zwanzig Millionen Jahren«, sagte der Index.
Tauchte er in den Städten der Sterne früher auf?
»Natürlich — sie sind ja auch viel älter. Vor neununddreißig Millionen Jahren.«
Hat Vusadka in der Sprache, die sie damals gesprochen haben, eine Bedeutung?
»Alle Sprachen auf Harmonie sind miteinander verwandt«, sagte der Index.
Erneut eine ausweichende Antwort. Nafai versuchte es mit einem anderen Umweg, der ihm vielleicht die Information bringen würde, die er benötigte: Welches Wort der Sprache, die vor neununddreißig Millionen Jahren in den Städten der Sterne gesprochen wurde, erinnert am meisten an Vusadka — Vusadka selbst natürlich ausgenommen?
»Vuissaschivat’h«, antwortete der Index.
Und welche Bedeutung hatte dieses Wort damals?
»Von Bord gehen.«
Von welchem Bord?
»Von einem Schiff«, sagte der Index.
Aber warum hatte man diesem Ort in den Bergen einen Namen gegeben, der mit einem Verb verwandt war, das »ausschiffen« bedeutete? War dort einmal eine Küstenlinie verlaufen?
»Das sind sehr alte Berge — diese Berge waren schon alt, bevor diese Spalte das Tal der Feuer schuf.«
Also lag dieses Land Vusadka nie an einer Küste?
»Nie«, sagte der Index. »Nicht, seit Menschen von Bord ihrer Sternenschiffe gegangen sind und Harmonie betreten haben.«
Da die Überseele den Begriff ›von Bord gehen‹ im Zusammenhang mit den ursprünglichen Sternenschiffen benutzt hatte, wußte Nafai sofort, daß sie versuchte, ihm zu bestätigen, was er bereits vermutete: daß die Sternenschiffe vor vierzig Millionen Jahren in Vusadka gelandet waren und es sich daher um den Ort handeln mußte, wo die Existenz von Sternenschiffen am wahrscheinlichsten war — falls es sie überhaupt noch gab.
Und noch ein Gedanke: Du bist auch dort, nicht wahr, Überseele? Du bist dort, wo die Sternenschiffe gelandet sind. All deine Speicher, all deine Prozessoren, all das befindet sich an diesem Ort.
»An welchem Ort?« fragte der Index.
Nafai stand auf; jetzt war er hellwach. Das Scharren seines Stuhls über den Holzboden riß die anderen aus ihrer Tagträumerei. »Ich werde die Überseele suchen«, sagte Nafai zu ihnen.
»Ja«, sagte Issib. »Die Überseele hat uns ihr Gespräch mit dir mitgeteilt.«
»Sehr geschickt gemacht«, sagte Zdorab. »Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, mit einer Karte der Jagdexpeditionen anzufangen.«
Nafai hätte ihnen fast nicht gesagt, daß er dies nicht absichtlich getan hatte; es war ein schönes Gefühl, für klug gehalten zu werden. Aber dann wurde ihm klar, daß es eine Art Lüge wäre, wenn sie weiterhin davon ausgingen. »Ich habe nur gedöst«, sagte er. »Die Jagdausflüge waren nur eine verrückte Idee am Rand eines Traums. Die Überseele wußte, daß sie mir nicht mitteilen konnte, was sie selbst nicht weiß. Sie hat lediglich begriffen, daß sie durch die Karte mit mir kommunizieren kann. Mehr steckt nicht dahinter. Sie mußte sich selbst täuschen, um es mir sagen zu können.«
Issib lachte. »Na schön, Njef«, sagte er. »Wir sind uns also einig, daß du gar nicht so klug bist.«
»Ganz genau«, sagte Nafai. »Ich habe nur zugehört, während die Überseele einen Umweg suchte, um mich an Barrieren in ihrem Verstand vorbeizuführen. Falls jemand fragen sollte, sagt ihr, ich sei auf die Jagd gegangen. Aber Luet und euren Frauen könnt ihr natürlich die Wahrheit sagen — daß ich nach der Überseele suche. Beide Behauptungen sind wahr.«
Zdorab nickte einsichtig. »Wir haben all diese Jahre lang Frieden gehabt«, sagte er, »weil es ein gutes Land ist, wir genug Platz haben und im Überfluß leben. Niemand wird versessen darauf sein, die Reise nun fortzusetzen. Einige werden weniger begeistert sein als andere — wir können durchaus damit warten, es ihnen zu sagen, bis wir wirklich etwas wissen.«
Issib verzog das Gesicht. »Ich befürchte, daß es zu einer richtigen Auseinandersetzung kommen wird. Ich wünschte fast, wir hätten hier nicht so lange und so glücklich gelebt. Das wird die Gruppe spalten, und ich weiß nicht, was noch alles geschehen wird, bevor wir zur Erde aufbrechen werden.«
Nafai schüttelte den Kopf. »So muß es nicht kommen«, sagte er. »Die Überseele hat uns alle auf diese Reise geführt. Und auch der Hüter der Erde ruft uns alle.«
»Alle hören den Ruf«, sagte Zdorab, »aber wer wird ihm folgen?«
»Zuerst einmal«, sagte Nafai, »werde ich jetzt gehen.«
»Dann vergiß nicht, Pfeil und Bogen mitzunehmen«, sagte Issib. »Nur für den Fall, daß du unterwegs ein Abendessen für uns findest.« Er sagte nicht: Damit man dir glaubt, daß du auf die Jagd gehst.
Es war auf jeden Fall eine gute Idee, und so ging Nafai bei seinem Haus vorbei, um den Bogen und die Pfeile zu holen.
»Und falls du die nicht gebraucht hättest«, sagte Luet, »wärst du gar nicht vorbeigekommen, um dich zu verabschieden oder mir alles zu erklären, nicht wahr?« Sie klang ziemlich verärgert.
»Natürlich wäre ich gekommen«, sagte er.
»Nein«, sagte sie. »Du hast wahrscheinlich schon die beiden anderen gebeten, mir zu sagen, was du vorhast.«
Nafai zuckte die Achseln. »So oder so, du hättest es erfahren.«
»Obwohl es mein Traum war. Und Schvejas«, sagte sie.
»Weil du den Traum hattest, gehört dir auch das Ergebnis?« fragte er. Langsam wurde er genauso wütend wie sie.
»Nein, Njef«, sagte sie und seufzte ungeduldig. »Weil ich den Traum hatte, sollte ich bei dieser Sache auch dein Partner sein. Dein gleichberechtigter Partner. Statt dessen behandelst du mich wie ein Kind.«
»Ich habe Issib und Zdorab doch nicht gebeten, Schveja Bescheid zu sagen, oder? Also habe ich dich doch wohl kaum wie ein Kind behandelt.«
»Kannst du nicht einfach eingestehen, daß du dich wie ein Pavian benommen hast, Nafai?« fragte Luet. »Kannst du nicht einfach zugeben, daß du mich behandelt hast, als wären in unserer Gemeinschaft nur die Männer wichtig, als wären die Frauen nichts, und daß es dir leid tut, mich so behandelt zu haben?«
»Ich habe mich nicht wie ein Pavian benommen«, sagte Nafai. »Ich habe mich wie ein Mann benommen. Und wenn ich mich wie ein Mann benehme, werde ich dadurch nicht weniger menschlich, sondern nur weniger weiblich. Sage mir nie wieder, ich würde zu einem Tier, weil ich mich nicht so verhalte, wie eine Frau es will!«
Nafai war von der Wut in seiner Stimme selbst überrascht.
»Also kommt es auch in unserem Haus dazu?« sagte Luet leise.
»Nur, weil du das Thema zur Sprache gebracht hast«, sagte Nafai. »Nenne mich nie wieder ein Tier!«
»Dann benimm dich auch nicht wie eins«, sagte Luet. »Zivilisiert zu sein bedeutet, die tierische Natur zu überwinden, ihr nicht nachzugeben, sich nicht in ihr zu sonnen. Deshalb erinnerst du mich an ein Pavianmännchen — weil du so lange nicht zivilisiert sein kannst, solange du glaubst, Frauen tyrannisieren zu können. Du kannst nur zivilisiert sein, wenn du uns wie Freunde behandelst.«
Nafai stand auf der Schwelle, und die Ungerechtigkeit ihrer Worte brannte heiß in ihm. Nicht, weil sie nicht die Wahrheit sprach, sondern weil sie ihm diese Vorwürfe machte. »Ich habe dich als Freund behandelt. Und als meine Frau«, sagte er. »Ich nahm an, du würdest mich so sehr lieben, daß wir uns nicht darüber streiten müssen, wem die Träume gehören.«
»Ich war nicht wütend, weil du dir meinen Traum angeeignet hast«, sagte Luet.
»Ach?«
»Ich war verletzt, weil du deinen Traum nicht mit mir geteilt hast. Ich bin nicht aus dem Bett gesprungen und zu Huschidh und Schedemei gelaufen, um ihnen meinen Traum zu erzählen und sie dann zu bitten, dir später Bescheid zu geben.«
Erst als sie es so ausdrückte, verstand er, warum sie so wütend war. »Oh«, sagte er. »Es tut mir leid.«
Sie war noch immer wütend, und seine Entschuldigung kam etwas zu spät. »Geh!« sagte Luet. »Geh und suche die Überseele! Geh und suche die Ruinen des uralten Sternenschiffs auf dem uralten Landeplatz! Geh und sei der alleinige Held unserer Expedition! Wenn ich heute nacht schlafe, wirst du in meinen Träumen wohl die Hauptrolle spielen. Hoffentlich spiele ich in den deinen auch eine winzige Rolle. Vielleicht darf ich deinen Mantel halten.«
Fast hätten ihre Worte Nafai über die Schwelle getrieben. Sie hatte Elemaks Beleidigung wiederholt — und sie wußte, wie sehr Elemaks Worte ihn verletzt hatten, dies hatte er ihr schon vor langer Zeit eingestanden. Es war grausam und unfair von ihr, dies nun zu sagen. Von allen Menschen hätte sie wissen müssen, daß nicht der Wunsch, ein Held zu sein, ihn nun antrieb, sondern seine Leidenschaft, herauszufinden, was nun geschehen würde, sein Verlangen, dafür zu sorgen, daß es geschah. Wenn sie ihn also liebte, hätte sie dies verstehen müssen. Also wäre er beinah gegangen und hätte ihre bitteren Worte den gesamten Weg in die Berge hinauf mitgenommen.
Statt dessen ging er ins Kinderzimmer. Die Kinder schliefen noch, abgesehen von Schveja, die vielleicht von ihrem zwar leisen, aber intensiven Streit aufgewacht war. Nafai küßte ein Kind nach dem anderen, Schveja als letzte. »Ich suche jetzt den Ort, von dem die besten Träume kommen«, flüsterte er, um die anderen nicht aufzuwecken.
»Halte dir in allen Träumen einen Platz für mich frei«, erwiderte sie flüsternd.
Er küßte sie noch einmal und kehrte dann in die Küche zurück, den Hauptraum des Hauses, in dem Luet den Haferbrei in dem Topf über dem Feuer umrührte.
»Danke, daß du in deinen Träumen einen Platz für mich findest«, sagte er zu ihr. »Du bist in den meinen auch stets willkommen.« Dann küßte er sie, und zu seiner Erleichterung erwiderte sie den Kuß. Sie hatten das Problem nicht gelöst, aber einander bestätigt, daß sie sich noch immer liebten, auch wenn sie wütend aufeinander waren. Das reichte aus, ihn zufrieden und nicht grollend auf die Reise zu schicken.
Er würde diesen Frieden in seinem Herzen auch brauchen, denn es war offensichtlich, daß die Überseele den verborgenen Ort schützte, ohne es überhaupt zu wissen. Zumindest, so vermutete er, hatte irgend etwas die Menschen stets davon abgehalten, nach Vusadka zu gehen, wenn sie auf der Jagd gewesen waren. Und die Überseele besaß die Fähigkeit, die Menschen etwas vergessen zu lassen, das sie tun wollten und wovon die Überseele sie abhalten wollte. Doch die Überseele hatte diesen Ort nicht sehen können, hatte nicht einmal begriffen, daß sie ihn nicht sehen konnte! Das konnte nur bedeuten, daß die Abwehrmechanismen der Überseele sich gegen sie selbst gewandt hatten, und daher war es nicht wahrscheinlich, daß die Überseele sie abschalten konnte, damit Nafai passieren konnte. Ganz im Gegenteil — Nafai würde sich den Weg freikämpfen müssen, genau wie er und Issib sich vor so langer Zeit in Basilika den Weg vorbei an den Barrieren der Überseele hatten erkämpfen müssen; sie hatten sich zwingen müssen, Gedanken zu denken, die die Überseele verboten hatte. Doch jetzt ging es nicht nur um Gedanken, die zu denken er sich zwingen mußte: Jetzt mußte er sich zu einem Ort durchkämpfen. Zu einem Ort, den nicht einmal die Überseele sehen konnte.
»Ich muß dich überwinden«, flüsterte er der Überseele zu, während er über die Wiesen nördlich vom Haus ging. »Ich muß an deinen Barrieren vorbeigelangen.«
»Welchen Barrieren?‹
Es würde sehr schwer werden. Es ermüdete Nafai bereits, nur daran zu denken. Und es gab auch keinen cleveren Trick, mit dem er sich durch schummeln konnte. Er würde sich den Weg mit reiner, brutaler Willenskraft erkämpfen müssen. Falls er es konnte! Falls er stark genug dazu war!
Es dämmerte, und Nafai war der Verzweiflung nahe. Nachdem er einen ganzen Tag benötigt hatte, um hierher zu gelangen, hatte er einen gesamten zweiten Tag damit verbracht, immer und immer wieder dieselben nutzlosen Dinge zu versuchen. Er stand außerhalb der verbotenen Zone und bat die Überseele, ihm die Karte aller Wege zu zeigen, die alle Jäger eingeschlagen hatten. Er wollte feststellen, in welche Richtung er gehen mußte, um nach Vusadka zu gelangen. Er markierte die Richtung sogar mit einem Pfeil oder schrieb sie mit einem Stock in den Boden. Nachdem er dann kühn ausgeschritten war, stellte er kurz darauf fest, daß er sich wieder außerhalb der ›verborgenen‹ Zone befand, vielleicht hundert Meter von der Stelle entfernt, in der er die Richtung in den Boden geschrieben hatte. Hatte er ›Nordost‹ geschrieben, war er nach Westen gegangen; deutete sein Pfeil nach Osten, fand er sich im Süden wieder. Er kam einfach nicht an der Barriere vorbei.
Er schimpfte auf die Überseele, doch die Antworten, die er bekam, zeigten, daß sie offensichtlich nicht bemerkte, was sich hier abspielte. »Ich will von dieser Stelle aus in südöstliche Richtung gehen«, sagte er. »Hilf mir!« Und dann fand er sich tief im Norden wieder, und die Überseele sagte in seinem Verstand: Du hörst mir nicht zu. Ich habe dir gesagt, du sollst nach Südwesten gehen, und du hast mir nicht zugehört.
Nun ging die Sonne unter, und der Himmel wurde schnell dunkel. Er verabscheute die Vorstellung, morgen nach Dostatok zurückkehren zu müssen und vollständig versagt zu haben.
›Ich verstehe nicht, was du vorhast.«
»Ich will dich suchen«, sagte Nafai.
›Aber ich bin doch hier.‹
»Ich weiß, wo du bist. Aber ich kann nicht zu dir gelangen.«
›Ich hindere dich nicht daran.‹
Das mochte durchaus der Wahrheit entsprechen. Vielleicht war dies gar nicht das Werk der Überseele. Wenn man der Überseele die Macht gegeben hatte, die Gedanken der Menschen abzublocken, Menschen daran zu hindern, etwas auszuführen, was sie vorhatten … war es dann nicht möglich, daß die ersten Menschen auf Harmonie noch ganz andere Verteidigungen errichtet hatten, um diesen Ort zu schützen? Verteidigungen, die nicht unter der Kontrolle der Überseele standen — und die vielleicht sogar die Überseele selbst abwehrten?
Zeige mir alle Wege, die ich heute gegangen bin, sagte Nafai stumm. Zeige sie mir hier auf dem Boden.
Er sah sie — ein schwaches Leuchten, das zu Fäden auf dem Boden zusammenwuchs. Er sah, daß sie immer wieder von neuem begannen und zur Mitte des Kreises um Vusadka führten. Dann hörten sie abrupt auf, jeder einzelne. Ein Stück im Norden oder Süden begannen sie schließlich von neuem. Sie führten offensichtlich an der Grenze entlang.
Ihm fiel auf, wie präzise diese Grenze gezogen sein mußte. Er konnte sie immer nur höchstens einen Meter durchdrungen haben und war dann in eine andere Richtung weitergegangen. Er konnte sogar eine Linie auf den Boden ziehen, die die genaue Grenze markierte, hinter der die Überseele nichts mehr sehen konnte. Und da er es tun konnte, tat er es auch. Er nutzte die letzte halbe Stunde Tageslicht, um die Grenze mit einem Stock zu markieren und eine flache Furche von mehreren hundert Metern Länge in den Boden zu kratzen.
Während er die Grenze markierte, hörte er in der Nähe das Geheul von Pavianen, die einander schläfrig zuriefen, während sie zu ihren Schlaffelsen gingen. Erst, als er fertig war, die Dunkelheit sich herabgesenkt hatte und die Paviane wieder still waren, wurde ihm bewußt, daß einige der Schreie zwar außerhalb der Grenze begonnen, aber alle eindeutig innerhalb von ihr aufgehört hatten.
Natürlich. Die Grenze ist für Menschen undurchdringlich, aber andere Tiere sind nicht genetisch verändert worden, um für solche Einflüsse empfänglich zu sein. Also hatten die Paviane die Grenze ungestraft überschreiten können.
Wäre er doch nur ein Pavian!
Er konnte fast Issib hören, der leise sagte: »Bist du sicher, daß du keiner bist?«
Er suchte sich eine grasbewachsene Stelle auf einem niedrigen Hügel aus und rollte sich zum Schlaf zusammen. Die Nacht war klar, es bestand kaum eine Gefahr, daß es regnen würde, und obwohl es hier stärker abkühlte als in der Nähe von Dostatok — er war in der Nähe der Wüste, und die Luft war hier beträchtlich trockener —, würde er es durchaus bequem haben.
Bequem, aber er würde wohl kaum schlafen können.
Er träumte natürlich, aber er wußte nicht genau, ob der Traum eine Bedeutung hatte, oder er sich einfach nur deshalb deutlicher an ihn erinnerte als an die normalen Träume der Nacht, weil er so schlecht geschlafen hatte. In dem . Traum führte Jobar ihn durch ein Felsgewirr. Als sie zu einem winzigen Loch zwischen den Felsen kamen, duckte Jobar sich und kletterte problemlos hindurch. Nafai hingegen stand dort, betrachtete das Loch und dachte: Ich bin zu groß, um hindurchzupassen. Das stimmte natürlich nicht — Nafai sah selbst im Traum, daß das Loch gar nicht so klein war. Und doch kam er einfach nicht auf den Gedanken, sich zu bücken und hindurchzuwinden. Während er aufrecht dastand, suchte er nach einer Möglichkeit, wie er hindurchkommen konnte.
Jobar kam durch das Loch zurück und beruhte ihn an der Hand. Und bei seiner Berührung schrumpfte Nafai plötzlich und wurde zu einem Pavian. Nun hatte er nicht mehr die geringsten Schwierigkeiten, durch das Loch zu kommen. Er war kaum auf der anderen Seite, da nahm er wieder seine menschliche Größe an. Und als er sich umdrehte, um das winzige Loch zu betrachten, hatte es sich verändert — es war nun so groß wie ein Erwachsener, und er konnte es passieren, ohne sich bücken zu müssen.
Dieser Traum schien ihm am Morgen sehr vielversprechend zu sein. Nafai lag da, zitterte ab und zu in der Brise der frühen Dämmerung und dachte darüber nach, welche Einsichten er dem Traum entnehmen konnte. Der Traum reflektierte eindeutig seine Kenntnis, daß Paviane die Barriere problemlos überqueren konnten, was ihm hingegen, einem Menschen, nicht möglich war. Wenn er sich in einen Pavian verwandelte, würde er die Barriere ebenfalls überwinden können. Aber das hatte er sich bereits am Vorabend gewünscht, und Wünsche allein halfen ihm nicht weiter.
In meinem Traum, dachte Nafai, kam mir das Loch zu klein vor, um hindurchzukommen. Aber ich hätte jederzeit mühelos hindurchkommen können, weil es in Wirklichkeit so groß wie ein Mensch war. Die Barriere bestand nur in meinem Verstand — was für diese Barriere ebenfalls zutrifft. Je entschlossener ich bin, die Barriere zu überqueren, desto entschlossener werde ich zurückgewiesen. Nun ja … vielleicht ist es eben diese meine Absicht, die mich zurückdrängt.
Nein, das ist töricht. Die Barriere war bestimmt so entworfen, daß sie auch Menschen abwehrte, die gar nichts von ihrem Vorhandensein wußten. Umherstreifende Jäger, Forscher, Siedler, Händler — wer auch immer unabsichtlich auf Vusadka zuhielt: die Barriere würde ihn abweisen.
Andererseits hingegen war nur die leichteste Andeutung nötig, jemanden abzuweisen, auch wenn er nicht die feste Absicht hatte, sich nach Vusadka zu begeben. Dieser Jemand würde nicht einmal bemerken, daß er abgewiesen worden war. Schließlich hat keiner von uns in all den Jahren, die wir schon in Dostatok weilen, während unserer Jagdstreifzüge auch nur bemerkt, daß wir diese Gegend gemieden haben. Also definieren die Wege, die wir ursprünglich eingeschlagen haben, keine scharfe, klare Grenze, wie ich sie jetzt definiere. Und unsere Wege sind gar nicht so scharf abgebogen … wir haben einfach die Spur unserer Beute verloren oder uns aus einem anderen Grund allmählich abgewandt. Also muß die Kraft, die die Barriere einsetzt, mit meinem festen Entschluß wachsen, sie zu überschreiten. Und wenn ich einfach hier hindurchwandern könnte, wäre die Kraft der Barriere vielleicht viel schwächer.
Aber wie kann ich beiläufig und zufällig schlendern, da ich doch genau weiß, daß ich gehen muß?
Mit diesem Gedanken kam ihm der Plan. Er kam ihm auf einen Schlag und genau ausgearbeitet in den Sinn; und doch wagte er kaum, an ihn zu denken, um nicht die Barriere zu informieren und erneut zu scheitern, bevor er überhaupt angefangen hatte. Statt dessen konzentrierte er sich auf eine ganz andere Absicht. Er mußte jetzt jagen und Beute machen, um die Kinder zu ernähren. Er selbst hatte gewaltigen Hunger, und wenn er schon hungrig war, mußten die Jungen nahezu am Verhungern sein. Nur handelte es sich bei den Jungen, die er füttern wollte, um Paviane. Er erinnerte sich an die Paviane in Mebbekews Tal und fühlte sich verantwortlich, ihnen Fleisch zu bringen — wie Jobar ihnen Nahrung gebracht hatte, um den Weibchen zu gefallen und die Jungen zu stärken.
Also brach er an diesem Morgen in eine beliebige Richtung auf, wobei er sich keineswegs an Vusadka orientierte, und suchte, bis er die Kotkügelchen eines Hasen fand. Dann verfolgte er seine Beute, bis er — innerhalb einer Stunde — einen Pfeil durch sie hindurchjagen konnte.
Der Hase war natürlich nicht tot — Pfeile töten selten sofort, und normalerweise erledigte Nafai das Tier dann mit dem Messer. Doch diesmal ließ er es leben, auch wenn es verängstigt wimmerte; er zog den Pfeil aus dem Hinterlauf des Tieres und packte es an den Ohren. Die Geräusche, die es machte, waren genau das, was er brauchte — die Paviane würden sich viel mehr für ein lebendes, aber verletztes Tier interessieren. Er mußte sie nur noch finden.
Das war kein Problem — Paviane fürchten nur wenige Tiere, und vor denen verteidigten sie sich, indem sie wachsam waren und einander warnten. Also versuchte Nafai gar nicht erst, leise zu sein. Er fand sie in einem langen Tal, das von Westen nach Osten verlief und in dessen Mitte ein Bach floß. Als sie ihn erblickten, schauten sie auf. Sie hatten nicht die geringste Angst — Nafai befand sich noch in sicherer Entfernung — und betrachteten den Hasen mit großer Neugier.
Nafai näherte sich ihnen. Nun wurden sie wachsam — die Männchen richteten sich auf ihren Vorderpfoten auf und beschwerten sich ein wenig über ihn. Und Nafai verspürte großes Zögern, sich ihnen noch weiter zu nähern.
Aber ich muß zu ihnen, wenn ich ihnen das Fleisch geben will.
Also machte er noch ein paar Schritte und hielt ihnen den Hasen in der ausgestreckten Hand hin. Er wußte natürlich nicht genau, was sie von diesem Angebot halten würden. Vielleicht nahmen sie es als Beweis, daß er Tiere tötete, vielleicht aber auch als Indiz, daß er bereits seine Beute hatten und sie daher in Sicherheit waren. Aber einige von ihnen hielten den Hasen bestimmt für Fleisch, das sie essen konnten. Paviane waren nicht die besten Jäger auf der Welt, fraßen aber gern Fleisch, und dieser blökende Hase mußte ihnen als gute Mahlzeit vorkommen.
Er näherte sich langsam und verspürte bei jedem Schritt, daß sein Widerstreben wuchs. Aber er sah auch, daß immer mehr der Tiere — besonders die jungen Männchen — von ihm zu dem Hasen sahen. Er half ihnen, ungezwungener an das Fleisch zu denken, indem er stets den Blick abwandte, wenn einer ihn ansah — er wußte, jeder Augenkontakt würde sie nur herausfordern oder verängstigen.
Sie wichen vor ihm zurück, aber nicht weit. Wie er erwartet hatte, zogen sie sich zu ihren Schlaffelsen zurück. Er dachte immer wieder: Das ist keine gute Idee. Sie brauchen dieses Fleisch nicht. Doch er kämpfte die Gedanken nieder, versuchte, sich nur auf eins zu konzentrieren: Diese Mütter brauchen das Protein, ihre Jungen müssen es über die Milch aufnehmen. Ich muß ihnen dieses Fleisch bringen!
Das kannst du nicht, das ist dumm, laß den Hasen fallen und ziehe dich zurück!
Aber wenn ich das tue, kommt der Hase den stärksten Männchen zugute und nicht den Weibchen. Irgendwie muß ich näher an sie herankommen, damit auch die Jungen davon profitieren. Als Jäger dieses Stammes ist es meine Aufgabe, ihnen Fleisch zu bringen. Ich muß sie ernähren, und nichts darf mich davon abhalten.
Wie lange brauchte er dafür? Es war so schwer, sich darauf zu konzentrieren. Manchmal kam er sich so vor, als wäre er gerade wach geworden, obwohl er wußte, daß er nicht geschlafen hatte, und dann schüttelte er sich und ging weiter, hielt immer auf die Weibchen zu, die nun in der Nähe der Schlaffelsen Aufstellung bezogen.
Ich muß hinter sie gelangen, dachte er, noch näher an die Felsen heran. Ich muß auf die Seite kommen, auf der die Weibchen sind.
Er ging nun in nördliche Richtung weiter, richtete seine Aufmerksamkeit jedoch weiterhin ausschließlich auf die Weibchen. Und gegen Mittag befand er sich an seinem Ziel — zwischen den Pavianen und ihrem Schlaffelsen. Der Hase war endlich verstummt — aber die Paviane würden sich nicht davon stören lassen, daß er bereits tot war, da er bei seiner Ankunft noch gelebt hatte und sie außerdem gar nicht so wählerisch waren, solange das Fleisch noch warm war. Also warf Nafai den Hasen zu ihnen hinüber, wobei er mitten in die Gruppe der Weibchen zielte.
Ein Höllenlärm brach los, doch alles verlief so, wie Nafai es geplant hatte. Einige der jüngeren Männchen stürzten sich auf den Hasen, doch die älteren blieben in Nafais Nähe, ,da er — zumindest im Augenblick — eine Bedrohung zu sein schien. Dann war der Hase wieder im Besitz der Weibchen, die die jüngeren Männchen problemlos verjagt hatten. Der Hase war gar nicht tot gewesen — er kreischte noch einmal, als die dominanten Weibchen ihn zerrissen und das Fleisch verschlangen. Die Tatsache, daß Paviane sich nicht die Mühe machten, ihre Beute zu töten, bevor sie sie fraßen, hatte Nafai gestört, als er in der Wüste zum erstenmal in ihrer Nähe gelebt hatte, doch mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, und nun freute er sich, daß sein Plan aufgegangen war und die Weibchen das Fleisch bekommen hatten.
Als die Männchen begriffen, wurden sie immer aufgeregter, und schließlich zog Nafai sich allmählich zurück, hin zu den Schlaffelsen. Als er endlich weit genug entfernt war, stürmten die Männchen zu den Weibchen, trieben diese auseinander und schlugen in ihrem Kampf um Fleischfetzen aufeinander ein. Einige von ihnen rissen tatsächlich große Stücke aus dem Tier, doch Nafai wußte, daß die Weibchen mehr als ihren üblichen Anteil bekommen hatten. Das freute ihn.
Doch nun wäre es am besten, wenn er sich so weit wie möglich von den Pavianen entfernte. Sehr weit, das Tal hinauf. Es würde wohl kaum etwas schaden, wenn er hier erneut auf die Jagd ging, um ihnen noch mehr Fleisch zu bringen.
Doch als er sich allmählich immer weiter von den Pavianen entfernte, merkte er, daß er sein Zögern immer leichter unterdrücken konnte. Wagemutig dachte er daran, wieso er in Wirklichkeit hierher gekommen war. Sofort kehrte sein Widerstreben zurück — es steigerte sich in ihm fast zu einer Panik —, doch er behielt die Kontrolle über sich. Wie er gehofft hatte, war die Barriere an ihrem Rand am stärksten. Dieses Ausmaß einer geistigen Beeinflussung konnte er überwinden — so war es auch in Basilika gewesen, als er und Issib zum erstenmal versucht hatten, sich an den Barrieren der Überseele vorbeizudrängen und an verbotene Dinge zu denken.
Vielleicht fällt es mir auch leichter, weil die Barriere mich bereits zur Grenze zurückgedrängt hat? Vielleicht bin ich besiegt worden, ohne es überhaupt zu merken?
»Bin ich draußen oder drinnen?« flüsterte er der Überseele zu.
Keine Antwort.
Nafai verspürte einen Anflug von Furcht. Die Überseele konnte dieses Gebiet nicht einsehen — was, wenn er, als er die Grenze überschritten hatte, einfach aus ihrem Sichtbereich verschwunden war?
Dann kam ihm in den Sinn, daß der Widerstand wahrscheinlich genau deshalb schwächer geworden war. Vielleicht hatte diese Barriere, ohne daß die Überseele es wußte, an der Grenze ihre Kraft mit der der Überseele vereinigt. Doch nun, nachdem er die Grenze überschritten hatte, die selbst die Überseele nicht durchdringen konnte, stand der Barriere nur noch ihre eigene Abstoßkraft zur Verfügung, und deshalb konnte man sie besiegen.
Dies kam Nafai völlig logisch vor, und deshalb ging er in östliche Richtung weiter, zum Mittelpunkt Vusadkas.
Oder war er in nördliche Richtung gegangen? Denn als er einen Hügel überquerte, sah er plötzlich eine völlig tote Landschaft vor sich. Keine fünfzig Meter entfernt schien jemand eine unsichtbare Mauer errichtet zu haben. Auf der einen Seite war das Grün des Landes Dostatok, und auf der anderen reine Wüste — die trockenste, lebloseste Wüste, die Nafai je gesehen hatte. Kein Vogel, keine Echse, kein Grashalm — nichts Lebendiges befand sich hinter dieser Linie.
Sie war zu künstlich. Es mußte sich um eine weitere Barriere handeln, eine weitere Grenze, eine, die alle Lebewesen ausschloß. Vielleicht war es eine Barriere, die alles tötete, was sie überqueren wollte. Wie wollte Nafai diese Grenze überwinden?
»Gibt es irgendwo ein Tor?« fragte er die Überseele.
Sie antwortete nicht.
Vorsichtig ging er auf die Barriere zu. Als er ihr nah genug war, streckte er eine Hand nach ihr aus.
Unsichtbar mochte sie sein, doch sie war fühlbar — er konnte die Hand dagegen drücken und spürte, wie sie sich unter seiner Hand verschob, als wäre sie leicht schleimig und ständig in Bewegung. Irgendwie beruhigte es ihn jedoch, daß er sie berühren konnte — wenn sie Lebewesen fernhielt, indem sie ihnen den Weg versperrte, verfügte sie vielleicht nicht über Mechanismen, mit denen sie sie töten konnte.
Kann ich sie durchqueren? Warum die zusätzliche geistige Barriere in einiger Entfernung, wenn Menschen diese hier nicht durchqueren können? Es konnte sich bei ihr natürlich einfach um eine Vorrichtung handeln, die verhindern sollte, daß Menschen diese klare Grenze sahen und eine berühmte Legende daraus machten, die unpassende Aufmerksamkeit auf diesen Ort gelenkt hätte. Doch war es nicht genausogut möglich, daß die Aversions-Barriere die Menschen fernhalten sollte, weil ein entschlossener Mensch diese körperliche Barriere durchbrechen konnte? Eine Barriere ein Stück entfernt für Menschen; und hier eine weitere für Tiere. Das war doch logisch.
Natürlich bestand keine Garantie, daß es sich auch tatsächlich so verhielt. Einen Augenblick lang spielte er sogar mit dem Gedanken, nach Dostatok zurückzukehren und ihnen zu berichten, was er herausgefunden hatte, damit sie den Index erkunden und feststellen konnten, ob es eine kluge Möglichkeit gab, die Barriere zu durchbrechen.
Doch Nafai befürchtete, schon der Gedanke, nach Dostatok zurückzukehren, könne ein Zeichen dafür sein, daß die Barriere in seinem Verstand an der Arbeit war und versuchte, ihn nach Entschuldigungen suchen zu lassen, sich zu entfernen. Und vielleicht hatte die Barriere eine gewisse Intelligenz und war lernfähig, und in diesem Fall würde sie sich vielleicht nie wieder von seinem Trick täuschen lassen, sich auf das dringende Bedürfnis zu konzentrieren, die Paviane zu füttern und damit seinen wirklichen Grund, die Barriere zu durchdringen, zu verschleiern. Nein, er stand allein, und es oblag ihm, eine Entscheidung zu treffen.
Sie wird dich töten.
Was war das? Sprach die Überseele in seinem Verstand? Oder die Barriere? Oder nur seine Furcht? Woher der Gedanke auch kam, Nafai wußte, daß er nicht irrational war. Hinter dieser Barriere lebte rein gar nichts — und dafür mußte es einen Grund geben. Wie konnte er sich einbilden, daß er die Ausnahme sein würde, das einzige Lebewesen, das die Barriere durchdringen konnte? Als sie ursprünglich errichtet worden war, mußte es auf beiden Seiten Pflanzen gegeben haben, und selbst wenn sie undurchdringlich war, hätte das Leben sich auf beiden Seiten fortsetzen müssen. Vielleicht hätten vierzig Millionen Jahre der Evolution auf beiden Seiten eine ziemlich unterschiedliche Flora und Fauna hervorgebracht, doch das Leben hätte gedeihen müssen, oder nicht? Bloße Isolation kann Leben nicht mit solch brutaler Gründlichkeit töten.
Sie wird dich töten.
Vielleicht wird sie das, dachte Nafai trotzig. Vielleicht werde ich sterben. Aber die Überseele hat uns aus einem ganz bestimmten Grund hierher geführt — um uns zur Erde zu bringen. Obwohl die Überseele nicht direkt an Vusadka denken oder zumindest nicht mit Menschen darüber sprechen konnte, mußte Vusadka der Grund sein, weshalb die Überseele sie hierher geführt hatte, in die unmittelbare Nähe dieses Gebiets. Also müssen wir so oder so an dieser Barriere vorbeikommen.
Aber wir sind nicht hier. Nur ich bin hier. Und es ist durchaus möglich, daß niemand je wieder hierher kommen wird, falls ich diesmal keinen Erfolg habe. Nun, falls es mir nicht gelingt, auch gut; dann werden wir später versuchen, eine andere Möglichkeit zu finden. Und falls es mir gelingt, die Barriere zu durchbrechen, und ich dann getötet werde, bevor ich zurückkehren kann — nun, dann werden die anderen wenigstens aufgrund der Tatsache, daß ich nicht zurückgekehrt bin, wissen, daß sie sehr vorsichtig sein müssen, wenn sie sich an diesen Ort begeben.
Niemals zurückkehren.
Er dachte an seine Kinder — die stille, brillante Schveja; Schatva, klug und mitfühlend; Motiga, der immer nur Unsinn im Kopf hatte; die lebhafte, gescheite Izuchaja; und die kleinen Zwillinge Serp und Spei. Kann ich sie vaterlos zurücklassen?
Ja, wenn es sein muß! Denn sie haben Luet als Mutter, und Schuja und Issib werden ihr helfen, und Vater und Mutter ebenfalls. Ich kann sie zurücklassen, wenn es sein muß, denn das wäre besser, als zu ihnen zurückzukehren, nachdem es mir einzig und allein aus Angst vor dem Tod nicht gelungen ist, dafür zu sorgen, daß wir unsere Lebensaufgabe erfüllen können.
Er drückte sich gegen die Barriere. Sie schien unter seiner Hand nicht mehr nachzugeben. Je fester er drückte, desto mehr schien sie unter seiner Hand zu gleiten. Doch trotz dieser Illusion des Gleitens rutschte seine Hand weder nach links oder nach rechts, noch nach oben oder unten. Die Reibung schien sogar sehr stark zu sein — während er nach innen drückte, konnte er die Hand nicht über die Oberfläche gleiten lassen, obwohl er den Eindruck hatte, als glitte die Oberfläche unter seiner Hand in alle Richtungen davon, ein Gefühl, das einen in den Wahnsinn treiben konnte.
Er trat zurück, hob einen Stein auf und warf ihn auf die Barriere. Er traf die unsichtbare Wand, blieb einen Augenblick lang stecken und rutschte dann langsam hinab.
Das ist überhaupt keine Wand, begriff Nafai, nicht, wenn sie den Stein packen und dann hinabfallen lassen kann. Spürte das Ding vielleicht sogar, wovon es berührt wurde, und reagierte daraufhin bei einem Stein anders als zum Beispiel bei einem Vogel?
Nafai riß einen Klumpen Gras los. Er stellte zufrieden fest, daß sich mehrere Raupen und ein Regenwurm darin befanden, und warf ihn dann gegen die Barriere.
Auch das Gras blieb einen Augenblick lang stecken und rutschte dann langsam hinab. Aber nicht auf einmal. Die Erde zuerst, sauber von den Wurzeln getrennt. Dann alle Pflanzenteile, und nur die Raupen und der Regenwurm blieben auf der Barriere kleben. Schließlich rutschten auch sie hinab.
Die Barriere kann unterscheiden, was auf sie trifft, dachte Nafai. Sie kann den Unterschied zwischen lebendig und tot, zwischen Tier und Pflanze ausmachen. Warum nicht auch den zwischen menschlich und nichtmenschlich?
Nafai musterte seine Kleider. Was würde die Barriere davon halten? Er hatte keine Ahnung, wie die Barriere die Natur der Dinge feststellte, die gegen sie prallten. Vielleicht erkannte sie schon, daß er ein Mensch war, bevor er sie berührte. Aber es bestand auch die Möglichkeit, daß der Stoff ihn ein wenig tarnte. Natürlich hatte er nicht die geringste Ahnung, ob dies gut oder schlecht sein würde.
Er hob einen zweiten Stein auf, den er aber nicht warf, sondern mit aller Kraft schleuderte. Erneut blieb er auf der Barriere stecken.
Nein, diesmal blieb er in ihr stecken. Indem Nafai beide Hände neben dem Stein auf die Barriere legte, während dieser hinabrutschte, erkannte er, daß der Stein sich tatsächlich in die Barriere eingegraben hatte.
Nafai nahm die Schlinge von seinem Gürtel, legte einen Stein hinein, schwang ihn heftig und schleuderte ihn auf die Barriere.
Er blieb stecken, und einen Augenblick lang dachte Nafai, dem Stein würde es genauso ergehen wie den anderen Gegenständen.
Statt dessen verharrte der Stein einen Augenblick lang in der Luft und fiel dann innerhalb der Barriere zu Boden.
Er hatte sie durchquert! Er hatte genug Schwung gehabt und sie durchquert! Die Barriere Ratte ihn soweit abgebremst, daß er es fast nicht geschafft hätte, aber er hatte gerade genug Schwung behalten, um hindurchzukommen. Das einzige Problem war, daß Nafai nicht die geringste Ahnung hatte, wie er selbst sich mit solcher Kraft gegen die Barriere schleudern konnte. Selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte der Aufprall ihn wahrscheinlich getötet.
Vielleicht hat die Barriere für Menschen andere Vorschriften. Vielleicht wird sie mich durchlassen, wenn ich es nur energisch versuche.
Ja, natürlich wird sie das, Nafai, du Narr. Das System wurde eigens dazu geschaffen, Menschen draußen zu halten, und deshalb wird es dich auch durchlassen.
Nafai lehnte sich gegen die Barriere, um über das Problem nachzudenken. Zu seiner Überraschung zog die Barriere ihn nach einem Augenblick zu Boden. Besser gesagt, sie zog seine Kleidung zu Boden, und ihn mit ihr. Bei seinen Händen hatte sie das nicht getan. Als er die Mauer mit der bloßen Haut berührt hatte, hatte sie seine Hand an Ort und Stelle bleiben lassen und überhaupt nicht bewegt.
Es bereitete ihm Mühe, sich von der unsichtbaren Wand zu lösen. Sie schmiegte sich an seine Kleidung, wie sie auch die Steine, den Erdboden, das Gras, die Raupen und den Regenwurm umfaßt hatte. Ihm wurde klar: Es gibt andere Regeln für Menschen. Diese Wand kennt den Unterschied zwischen mir und meiner Kleidung.
Impulsiv zog er seinen Umhang aus und entblößte die Arme. Dann holte er so schnell mit ihnen aus, wie er konnte, und schwang die Faust in die Barriere. Es tat weh, als hätte er gegen eine Ziegelmauer geschlagen — aber die Hand glitt hindurch.
Sie glitt hindurch! Seine Faust war auf der anderen Seite der Barriere, genau wie der Stein, der sie durchdrungen hatte. Und wo sein Arm in der Barriere steckte, fühlte er sich nicht anders an als zuvor. Er konnte die Faust auf der anderen Seite öffnen und mit den Fingern wackeln, und obwohl die Luft dort vielleicht etwas kühler war, hatte er keine Schmerzen, gab es keine Übertragungsprobleme, überhaupt nichts Ungewöhnliches.
Kann ich meiner Hand durch die Wand folgen?
Er schob sich vor und konnte den Arm langsam bis zur Schulter hineindrücken. Doch als seine Brust die Barriere erreichte, kam er nicht mehr weiter; und als er sich drehte, um einen besseren Winkel zu haben, stieß auch sein Kopf gegen die Barriere und wurde blockiert.
Was, wenn ich auf ewig hier steckenbleibe — halb drinnen, halb draußen?
Beunruhigt trat er zurück, und sein Arm glitt langsam hinaus. Er fühlte einen gewissen Widerstand, aber keinen Schmerz, und nichts schmiegte sich gegen seine Haut, um ihn festzuhalten. Nach einem Augenblick war er frei.
Er berührte den Arm und die Hand, die auf der anderen Seite gewesen waren, und konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Was auch immer verhinderte, daß auf der anderen Seite Leben gedieh, es hatte ihn noch nicht getötet — wenn es sich um ein Gift handelte, wirkte es jedenfalls nicht sofort, und es war bestimmt nicht die Barriere selbst.
Er überdachte die Regeln zum Durchqueren der Mauer, die er in Erfahrung gebracht hatte. Es mußte nackte Haut sein. Er mußte mit einiger Wucht darauf prallen. Und wenn er hindurch wollte, mußte er mit dem ganzen Körper gleichzeitig darauf treffen.
Er zog sich aus, faltete seine Kleidung ordentlich zusammen und legte sie auf den Bogen und die Pfeile. Dann stapelte er ein paar Steine darauf, damit sie nicht weggeweht wurde. Stumm hoffte er, daß er diese Kleidung in der Tat noch einmal brauchen würde.
Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, mit dem Gesicht zuerst gegen die Wand zu springen, gab ihn aber schnell wieder auf — schließlich hatte er gerade eben den Eindruck gehabt, mit der Faust gegen eine Wand zu schlagen, und er war nicht besonders versessen darauf, dies mit dem Gesicht oder den Hoden zu versuchen. Es würde sich auch nicht hervorragend anfühlen, es mit dem Hintern zuerst zu probieren, aber das war das geringere von zwei Übeln.
Er ging ein Stück am Rand der Barriere entlang, bis er auf einen ziemlich steilen Hügel stieß. Er stieg bis ganz oben hinauf, atmete ein paarmal tief durch, verabschiedete sich flüsternd von seiner Familie und lief dann wieder hinab. Schon nach einem Augenblick rannte er völlig unkontrolliert, doch als er die Wand fast erreicht hatte, stellte er einen Fuß quer und riß seinen Körper in einer wilden Drehung herum, die ihn flach gegen die Barriere werfen sollte.
Natürlich schaffte er es nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Statt dessen glitt sein Hintern zuerst hindurch, und dann, als er langsamer wurde, seine Schenkel und der Rumpf bis zu den Schultern. Die Arme und der Kopf blieben außerhalb der Barriere, doch seine Füße glitten hindurch und prallten auf den steinigen Boden auf der anderen Seite. Seine Fersen schmerzten, aber das war ihm im Augenblick gleichgültig, denn sein Körper steckte innerhalb, die Arme und der Kopf hingegen außerhalb der Barriere.
Ich muß wieder hinaus, dachte er, und es noch einmal versuchen.
Zu spät. Im letzten Moment, in dem er sich überhaupt noch bewegte, glitten seine Schultern ebenfalls hinein. Er steckte wieder fest wie zuvor, als er den Körper nicht dazu hatte bringen können, den Armen zu folgen. Der wichtigste Unterschied war jedoch, daß sein Kopf sich außerhalb der Barriere befand und das Kinn und die Ohren den größten Widerstand zu leisten schienen. Noch schlimmer war, daß er nicht einmal die Arme hineinbringen konnte, weil er das volle Körpergewicht benötigte, um sie hindurchzuziehen, und solange sein Kinn auf der Barriere hing, war ihm dies nicht möglich.
Das muß die dümmste Todesart sein, die je jemand erlitten hat, dachte Nafai.
Erinnere dich an deine Geometrie, sagte er sich. Erinnere dich an die Anatomie. Das Kinn steht vielleicht in einem zu scharfen Winkel vom Hals ab, um es hindurchzuziehen, doch der Hinterkopf ist glatt und leicht geschwungen. Wenn ich das Kinn vorschiebe und den Kopf zurücklege … vorausgesetzt, ich reiße mir dabei nicht die Ohren ab … aber die sind doch biegsam, oder?
Langsam und unter großen Mühen schob er den Kopf zurück und spürte, daß er hindurchglitt. Ich schaffe es, dachte er. Und dann werden meine Arme kein Problem mehr sein.
Sein Kopf glitt ganz plötzlich hindurch, und das Gesicht befand sich voll innerhalb der Barriere. Jetzt ragten nur noch die Arme hinaus.
Er wollte sie hindurchziehen, nachdem er sich einen Moment lang ausgeruht hatte, doch während er sich, vor Anstrengung keuchend, ausruhte, stellte er fest, daß seine Atemnot nur noch größer und allmählich unerträglich wurde. Irgendwie erstickte er, obwohl er tiefe Atemzüge seltsam riechender Luft in die Lungen sog.
Seltsam riechende Luft, trocken und kalt, und er bekam keinen Sauerstoff! Noch während die Panik in ihm emporstieg, begriff sein rationaler Verstand, was er schon von Anfang an hätte wissen müssen: Hinter der Barriere lebte nichts, weil es hier keinen Sauerstoff gab. Dieser Ort sollte sämtlichen Verfall aufhalten — und der stärkste Verfall, der schnellste, hing mit dem Vorhandensein von Sauerstoff zusammen, oder von Sauerstoff und Wasserstoff, die gemeinsam Wasser bildeten. Hier konnte es kein Leben geben, und daher konnten noch nicht einmal Mikroben Oberflächen zerfressen; hier gab es kein Wasser, das kondensieren oder gefrieren oder fließen konnte; und keine Oxydation von Metall. Und wenn die Atmosphäre nicht einmal anaerobe Lebensformen ermöglichte, konnte es innerhalb der Barriere nur wenig geben, das Verfall herbeiführte, einmal abgesehen von Sonnenlicht, kosmischer Strahlung und Atomzerfall. Diese Barriere war errichtet worden, damit alles, was sich in ihr befand, erhalten blieb — damit es vierzig Millionen Jahre überdauern konnte!
Die plötzliche Erkenntnis über den Zweck der Barriere war kein Trost. Denn sein rationaler Verstand hatte nicht mehr besonders viel Kontrolle. Er hatte kaum begriffen, daß er nicht atmen konnte, als seine Hände, die noch auf der anderen Seite der Barriere steckten, nach Luft griffen und versuchten, ihn durch die Barriere zu ziehen. Doch er war in genau der gleichen Situation wie zuvor, als er draußen gestanden und nur einen Arm durch die Mauer gesteckt hatte. Er konnte die Arme tiefer in die Barriere stoßen, doch als sein Gesicht und die Brust die Wand erreichten, kam er nicht mehr voran. Seine Hände konnten die atembare Luft auf der anderen Seite berühren, doch das war auch schon alles.
Vor Furcht außer sich, schlug er mit dem Kopf gegen die Barriere, doch die Hebelwirkung reichte einfach nicht aus, um den Kopf durch die Wand in die atembare Luft zu stecken. Er würde wirklich sterben. Und doch schlug er immer wieder, immer heftiger, mit dem Kopf gegen die Barriere.
Vielleicht machte der letzte Schlag ihn benommen; vielleicht hatte der Sauerstoffmangel ihn einfach geschwächt, oder er verlor einfach das Gleichgewicht. Auf jeden Fall stürzte er zurück. Die Barriere verlangsamte seinen Fall, als seine Arme langsam durch die unsichtbare Mauer glitten.
Ausgezeichnet, dachte Nafai. Jetzt muß ich nur noch die andere Seite des Hügels hinauflaufen, dann wieder zur Barriere hinab und hindurch, aber diesmal mit dem Gesicht zuerst. Doch noch während er fröhlich diesen Plan faßte, wußte er, daß er nicht funktionieren würde. Er hatte bereits zu viel Zeit benötigt, um hier durch die Barriere zu gelangen — er hatte zu viel Sauerstoff in seinem Körper verbraucht, und es war unmöglich, einen anderen Hügel hinauf und wieder hinabzulaufen, bevor er ohnmächtig wurde.
Seine Hände kamen frei, und er stürzte rückwärts auf den steinigen Boden.
Der Aufprall mußte sehr hart gewesen sein, denn für ihn klang es wie der lauteste, längste Donnerschlag, den er je gehört hatte. Und dann zerrte Wind an seinem Körper, hob ihn hoch, rollte ihn herum, drehte ihn.
Während er im Wind nach Luft schnappte, merkte er, daß er irgendwie, auf irgendeine wundersame Art und Weise, wieder atmen konnte. Er bekam Sauerstoff. Und er bekam auch Prellungen, als der Wind ihn hierhin und dorthin warf. Auf die Steine. Auf das Gras.
Auf das Gras.
Der Wind war zu einer böigen Brise abgeklungen — er öffnete die Augen. Er war vielleicht fünfzig Meter weit weggeschleudert worden. Es dauerte eine Weile, bis er sich orientiert hatte. Aber da er auf Gras lag, wußte er, daß er sich außerhalb der Barriere befand. War der Wind ein weiterer Verteidigungsmechanismus, der Eindringlinge durch die Mauer schleuderte? Sein Körper hatte zahlreiche Kratzer und blaue Flecken abbekommen, die diese Interpretation unterstützten. In der Ferne, tief im toten Land, konnte er noch immer einige Windhosen ausmachen.
Er stand auf und ging zur Barriere. Er griff nach ihr, doch sie war nicht mehr da. Die Barriere war fort.
Das war die Ursache des Windes gewesen. Atmosphären, die sich seit vierzig Millionen Jahren nicht mehr vermischt hatten, waren plötzlich wieder zusammengefügt worden. Auf den beiden Seiten der Barriere mußten unterschiedliche Druckverhältnisse geherrscht haben. Als wäre ein Ballon geplatzt! Und er war wie ein Fetzen der Ballonhaut davongeschleudert worden.
Warum war die Barriere verschwunden?
Weil ein Mensch sie vollständig durchquert hatte! Weil du gestorben wärest, wäre die Barriere nicht ausgeschaltet worden.
Nafai hatte den Eindruck, die Stimme der Überseele in seinem Kopf zu hören.
›Ja, ich bin hier, du kennst mich.‹
»Ich habe die Barriere zerstört?«
›Nein, das war ich. Als du sie vollständig überwunden hattest, informierten die Perimeter-Systeme mich, daß ein Mensch eingedrungen war. Augenblicklich wurden mir eigene Bestandteile bewußt, die man mir vierzig Millionen Jahren lang verborgen hatte. Ich konnte alle Barrieren sehen, kannte sofort ihre Geschichte, verstand ihren Zweck und wußte, wie ich sie kontrollieren kann. Wärest du ein außergewöhnlich halsstarriger Eindringling gewesen, der nicht hierher gehörte, hätte ich den Perimeter-Systemen befohlen, dich sterben zu lassen, und sie wären daraufhin sofort wieder vor mir verborgen worden. Dies ist in all diesen Jahren zweimal geschehen. Doch du warst derjenige, den ich hierher führen wollte, und daher hatte der Zweck der Barriere sich überlebt. Ich ordnete ihren Zusammenbruch an, um dir und damit auch dem Rest dieses Ortes Sauerstoff zu geben.‹
»Ich weiß diese Entscheidung zu schätzen«, sagte Nafai.
›Das bedeutet, daß der Verfall zu diesem Ort zurückgekehrt ist. Nicht, daß er völlig ausgeschlossen worden wäre. Die Barriere hielt die schädlichste Strahlung ab, aber nicht vollständig. Es hat Schäden gegeben. Hier befindet sich nichts, das vierzig Millionen Jahre überdauern sollte. Doch nun, da ich wieder Zugang zu mir selbst habe, statt in die Blockaden des Perimeter-Systems zu laufen, bekomme ich vielleicht heraus, warum ich in einer Programmschleife gefangen war.
Oder Issib und Zdorab finden es heraus — sie arbeiten mit dem Index, und in dem Augenblick, da du die Perimeter-Systeme überwunden hattest, brachen die Blockaden auch für sie zusammen. Ich habe ihnen alles gezeigt, was du getan hast, und in diesem Moment durchsuchen sie schon die neuen Speicher, die ihnen geöffnet wurden.‹
»Dann habe ich es geschafft«, sagte Nafai. »Ich habe es geschafft! Ich habe mein Ziel erreicht.«
›Mach dich nicht lächerlich. Du bist durch die Barriere gekommen. Das ist erst der Anfang. Viel Arbeit wartet noch auf dich. Komm zu mir, Nafai.‹
»Zu dir?«
›Dorthin, wo ich bin. Ich habe mich endlich gefunden, obwohl ich bis jetzt nicht einmal den Gedanken fassen konnte, nach mir zu suchen. Komm zu mir — ich bin hinter diesen Hügeln.‹
Nafai suchte nach seiner Kleidung und stellte fest, daß sie verstreut worden war — ein Wind, der ihn durch die Luft schleudern konnte, konnte auch die Kleider unter den Steinen hervorzerren. Er brauchte natürlich unbedingt die Schuhe, um über den steinigen Boden gehen zu können. Aber er wollte auch die anderen Kleidungsstücke einsammeln — irgendwann würde er ja nach Hause zurückkehren.
›Dort wartet Kleidung auf dich. Komm zu mir.‹
»Ich komme ja schon«, sagte Nafai. »Aber ich ziehe meine Schuhe an, ob du nun der Ansicht bist, daß ich sie brauche, oder nicht.« Und er schlüpfte auch in seine Kniehosen und zog sich beim Gehen den Umhang über den Kopf. Und der Bogen — er suchte nach seinem Bogen und gab nicht auf, bis er ein Stück davon fand und begriff, daß er vom Wind zerbrochen worden war. Er konnte von Glück sprechen, daß es seinen Knochen nicht genauso ergangen war.
Schließlich ging er in die Richtung, die die Überseele ihm in seinem Kopf zeigte. Der Marsch dauerte vielleicht eine halbe Stunde — er kam nur langsam voran, so wund und geschunden war sein Körper. Schließlich überquerte er jedoch den letzten Hügel und sah in eine völlig kugelförmige Vertiefung in der Erde hinab, die einen Durchmesser von vielleicht zwei Kilometern hatte. In ihrer Mitte erhoben sich sechs gewaltige Türme aus dem Boden.
Er begriff fast augenblicklich: die Sternenschiffe.
Er wußte, daß diese Information von der Überseele kam, die ihm gleichzeitig noch zahlreiche Fakten lieferte. Er sah in Wirklichkeit nur die Schutzkuppeln über den Spitzen der Schiffe, denn nur ein Viertel eines jeden Schiffes erhob sich über den Boden. Der Rest befand sich unter der Erde, wo er besser geschützt und darüber hinaus mit den Systemen Vusadkas verbunden war. Er wußte, ohne darüber nachdenken zu müssen, daß der Rest Vusadkas ebenfalls unterirdisch angelegt war, eine riesige Stadt der Elektronik, die fast ausschließlich dem Zweck diente, die Überseele selbst zu warten. Von der Überseele waren nur die kugelförmigen Geräte zu sehen, die in den Himmel ragten und mit den Satelliten kommunizierten, die über Harmonie ihre Augen und Ohren, ihre Hände und Finger bildeten.
›A11 diese Jahre wußte ich nicht, wie ich mich selbst sehen kann; hatte ich vergessen, wo ich war und wie ich aussah. Ich erinnerte mich nur an soviel, daß ich gewisse Aufgaben in Gang setzen und euch hierher in die Nähe von Dostatok führen konnte. Als ich dann in die Programmschleife geriet, konnte ich mir nicht helfen, weil ich nicht wußte, wo ich nach der Ursache suchen sollte. Nun haben Zdorab, Issib und ich diesen Ort gesehen. Meine Speicher haben Schäden genommen — vierzig Millionen Jahre des Atomzerfalls und der kosmischen Strahlung haben mich vernarbt. Die Redundanz meiner Systeme hat das meiste davon ausgeglichen, doch nicht die Schäden innerhalb der primitiven Systeme, die ich nicht einmal untersuchen konnte, weil sie mir verborgen blieben. Ich habe die Fähigkeit verloren, meine Roboter zu kontrollieren. Sie waren nicht dafür geschaffen, so lange zu überdauern, nicht einmal an einem Ort ohne Sauerstoff. Meine Roboter meldeten mir, sie hätten alle Sicherheitsüberprüfungen der Systeme innerhalb der Barriere durch gerührt, doch als ich versuchte, den Perimeter zu öffnen, weigerte das System sich, weil die Sicherheitsüberprüfungen nicht abgeschlossen waren. Also initiierte ich die Überprüfungen erneut, und die Roboter meldeten erneut, alles sei erledigt, und so weiter, und so fort. Und ich fand die Programmschleife nicht, weil sich all dies auf einer Ebene abspielte, die für mich ein bloßer Reflex ist — wie dein Herzschlag für dich. Nein, nicht einmal so offensichtlich. Eher wie die Produktion von Hormonen durch die Drüsen in deinem Körper.‹
»Was wäre geschehen, wenn du aus der Schleife hättest ausbrechen können?« fragte Nafai.
›Hätte ich mich selbst gefunden, hätte ich das Problem erkannt und euch sofort hierher geführte »Du meinst, du hättest die Barriere ausschalten können?«
›Das wäre nicht nötig gewesen. Das stand von Anfang an in eurer Macht. Dafür war der Index bestimmte »Der Index!«
›Hättest du den Index mitgebracht, wärst du nirgendwo auf Widerstand gestoßen. Kein geistiger Widerwille. Und wenn du den Index an die körperliche Barriere gehalten hättest, hätte sie sich langsam aufgelöst — ohne die Winde, die wirklich nicht hilfreich waren, da sie Staub in die Luft aufgewirbelt haben.‹
»Aber du hast uns nie gesagt, daß der Index dazu imstande ist.«
›Ich habe es selbst nicht gewußt. Ich konnte es nicht wissen. Ich wußte nur, daß derjenige, der zu den Sternenschiffen kommt, den Index braucht. Wären die Sicherheitsüberprüfungen dann abgeschlossen gewesen, hätte das Perimeter-System mir alles zugänglich gemacht, und ich hätte gewußt, was ihr tun müßt, und es euch gesagt.‹
»Also war es keine dumme Verschwendung einer erstklassigen Panik, daß ich fast erstickt wäre und dann von dem Sturm grün und blau geschlagen worden bin?«
›Ich konnte nur aus meiner Programmschleife ausbrechen, indem du dich durch die Barriere gekämpft hast. Ich habe die Speicher des Perimeter-Systems gelesen und bin erfreut darüber, wie du die Paviane benutzt hast, um hindurch zu kommen.‹
»Hast du mir das nicht in meinem Traum gezeigt? Daß ich einem Pavian durch die Barriere folgen mußte?«
›Traum? Ah ja, jetzt erinnere ich mich, du hast geträumt. Nein, dieser Traum kam nicht von mir.‹
»Dann kam er also vom Hüter?«
›Warum mußt du immer nach einer äußeren Quelle suchen? Bist du nicht der Ansicht, daß dein Unterbewußtsein dir ab und zu auch einen wahren Traum bescheren kann? Willst du dir nicht eingestehen, daß vielleicht dein eigener Verstand dieses Problem gelöst hat?‹
Nafai mußte unwillkürlich vor Freude auflachen. »Also habe ich es geschafft!«
›Du hast es geschafft. Aber du bist noch nicht fertig. Komm zu mir, Nafai. Ich habe Arbeit für dich, und die Werkzeuge, mit denen du sie bewältigen kannst.‹
Nafai ging den Hügel hinab ins Tal Vusadka. Dem Ort der Ausschiffung. Der Stelle, an der menschliche Füße zum erstenmal den Boden Harmonies betreten und an der jene ersten Siedler den Computer errichtet hatten, der ihre Kinder so viele Jahre lang vor der Selbstvernichtung bewahren würde, daß sie der Auffassung gewesen sein mußten, der Schutz würde ewig währen.
Aber er währte nicht ewig. Er hörte bereits auf. Und nun schritt Nafai zwischen den Türmen der Sternenschiffe aus — der erste Mensch, der diesen Ort betrat, seit er erbaut worden war. Was auch immer die Überseele nun für ihn vorgesehen hatte, er würde es tun. Und wenn er es getan hatte, würden die Menschen zur Erde zurückkehren!