10 Herr des Schiffes

Volemak und Rasa riefen in dem Augenblick, da Zdorab und Issib ihnen erklärt hatten, was sie vom Index erfahren hatten, die Gruppe zusammen. Es war schon lange her, daß eine Versammlung einberufen worden war, ohne daß Elemak im voraus gewußt hatte, worüber sie sprechen würden. Es machte ihm Sorgen. In gewisser Hinsicht machte es ihm sogar angst, doch da er nicht mit der Vorstellung von Furcht leben konnte, interpretierte er dieses Gefühl als Zorn. Er war wütend darüber, daß eine Versammlung ohne sein vorheriges Wissen einberufen worden war und Vater seinen Rat nicht im voraus gesucht hatte. Das deutete darauf hin, daß die Versammlung irgendwie von Rasa ausging — daß die Frauen versuchten, die Macht zu ergreifen, und ihn absichtlich ausgeschlossen hatten. Eines Tages wird die alte Schachtel es zu weit treiben, dachte Elemak, und dann wird sie herausfinden, was Macht und Stärke in Wirklichkeit sind — und daß sie nichts davon hat.

Das war der Interpretationsfilter, durch den Elemak die Nachricht dieses Morgens empfing. Schveja und Luet hatten geträumt … ah ja, die Frauen versuchen, ihre geistige Führung geltend zu machen. Die Wasserseherin und ihre zweifellos gut unterwiesene Tochter fischten nach der alten Dominanz, die Luet in Basilika gehabt hatte. Und dann hatten Nafai, Issib .und Zdorab den Index nach Informationen durchforstet, und Nafai — natürlich, es mußte ja Luets Gatte sein, der Liebling der Überseele — hatte einen geheimen Ort gefunden, den keiner von ihnen auf all ihren Jagdzügen je betreten hatte. So ein Unsinn! Elemak hatte bei seinen Jagd- und Erkundungszügen jeden Kilometer des umliegenden Landes betreten — es gab keinen verborgenen Ort.

Also war Nafai auf die Suche nach einem gar nicht vorhandenen Ort gegangen, und erst an diesem Morgen hatte er eine Möglichkeit gefunden, an den Barrieren vorbeizukommen. Sobald ein Mensch dies geschafft hatte, fielen die Barrieren, und nun wanderte Nafai zwischen den uralten Sternenschiffen, während Issib und Zdorab durch den Index Dinge herausfanden, die niemand für möglich gehalten hatte. »Dies ist der Landeplatz«, erklärte Vater. »Wir leben nun auf dem Gelände der Ersten Stadt, der ältesten menschlichen Siedlung auf Harmonie. Älter als die Städte der Sterne. Älter als Basilika.«

»Als wir kamen, gab es hier keine Stadt«, sagte Obring.

»Aber diesen Ort«, sagte Vater. »Wir haben den Kreislauf der menschlichen Rasse abgeschlossen. Und in diesem Augenblick weilt Nafai dort, wo die uralten Väter und Mütter von uns allen zum erstenmal den Fuß auf den Boden von Harmonie gesetzt haben.«

Romantisches Gesülze, dachte Elemak. Vielleicht hielt Nafai gerade ein Schläfchen in der Mittagssonne. Der Index bot den Schwachen ihrer Gruppe lediglich die Möglichkeit, die Starken unter Kontrolle zu halten.

»Ihr wißt natürlich, was dies bedeutet«, sagte Vater.

»Es bedeutet«, sagte Elemak, »daß wegen Leuten, die nichts Besseres zu tun haben, als angeblich etwas von einer Metallkugel zu erfahren, unser Leben erneut grundlegend unterbrochen wird.«

Vater sah ihn überrascht an. »Unterbrochen?« fragte er. »Weshalb sind wir hierher gekommen, wenn nicht, um uns auf eine Reise zur Erde vorzubereiten? Die Überseele hat sich in einer Rückkoppelungsschleife verfangen, das war alles, und Njef hat sie schließlich durchbrochen und die Überseele befreit. Die Unterbrechung ist jetzt vorbei, Elja.«

»Tu doch nicht so, als wüßtest du nicht, was ich meine«, sagte Elemak. »Wir führen hier ein Leben im Überfluß. In vieler Hinsicht ein besseres, als wir es in Basilika gehabt hätten, auch wenn es Obring schwerfällt, dies zu glauben. Wir haben jetzt Familien — Frauen und Kinder — und führen ein gutes Leben. Wir arbeiten hart, aber wir sind glücklich, und es gibt genug Platz für unsere Kinder und unsere Kindeskinder auf tausend Jahre und mehr. Wir haben keine Feinde, es gibt keine Gefahren für uns außer den normalen Unglücksfällen des Lebens. Und du willst mir sagen, daß dies die Unterbrechung ist, die Zeitverschwendung, und der normale Weg darin besteht, in den Weltraum zu fliegen? Bitte verkaufe uns nicht für dumm.«

Elemak erkannte genau, wer seiner Meinung war. Als er das wahre Bild der Dinge malte, sah er, daß Meb und Vas und Obring grimmig nickten. Ihre Frauen würden zu ihnen stehen. Des weiteren sah er, daß er auch bei einigen anderen Zweifel geweckt hatte. Zdorab und Schedemei schauten besonders nachdenklich drein, und sogar Luet hatte sich zu ihren Kindern umgesehen, als Elemak darüber sprach, was für ein gutes Leben sie hatten, daß ihnen keine Gefahren drohten und sie hier in Dostatok eine gute Zukunft haben konnten.

»Ich weiß nicht, was Nafai gefunden hat oder ob er überhaupt etwas gefunden hat«, fuhr Elemak fort. »Mir ist es ehrlich gesagt auch gleichgültig. Njef ist ein guter Jäger und ein kluger Kerl, aber er ist kaum dafür geeignet, uns in eine schreckliche Gefahr zu führen, indem wir vierzig Millionen Jahre alte Sternenschiffe benutzen. Meine Familie und ich werden nicht zulassen, daß mein kleiner Bruder in seiner Torheit versucht, ein unmögliches Projekt zu verwirklichen. Das ist die reinste Zeitverschwendung. Als Njef Gaballufix ermordet hat, hat er uns alle gezwungen, Basilika als Flüchtlinge zu verlassen — doch das habe ich ihm vergeben. Ich werde ihm aber nicht vergeben, daß er erneut versucht, unser Leben umzukrempeln.«

Elemak blieb äußerlich ruhig, doch innerlich bemühte er sich, ein Lächeln zu unterdrücken, als er Luets schwachen Versuchen lauschte, ihren Mann von der Schuld am Mord an Gaballufix freizusprechen. Ihre Worte waren bedeutungslos — Elemak hatte schon mit dem ersten Schlag gründliche Arbeit geleistet. Er hatte Nafai noch vor dessen Rückkehr in Mißkredit gebracht: Es war seine Schuld, daß wir die Stadt verlassen haben; das vergeben wir ihm; aber nichts von dem, was er nun sagt, wird etwas an unserem Leben hier ändern. Elemak hatte damit eine vernünftige Rechtfertigung für den totalen Widerstand gegen dieses neueste Manöver der Frauen und ihrer kleinen männlichen Marionette geliefert. Der Beweis für seinen Erfolg war die Tatsache, daß weder Vater noch Mutter Nafai verteidigten — und außer Luet auch sonst niemand. Und sie hatte er abgelenkt, indem er das Thema angesprochen hatte, warum Nafai Gaballufix getötet hatte. Die Sternenschiffe und das verborgene Land standen nicht mehr zur Debatte.

Bis Ojkib auf die Mitte der Versammlungsfläche trat. »Schande über euch alle«, sagte er. »Schande über euch!«

Alle verstummten, bis auf Rasa. »Okja, Schatz, das ist eine Versammlung von Erwachsenen.«

»Schande auch über dich. Habt ihr alle vergessen, daß wir wegen der Überseele hier sind? Habt ihr alle vergessen, daß wir nur deshalb an solch einem perfekten Ort leben, weil die Überseele ihn für uns vorbereitet hat? Habt ihr vergessen, daß es hier nur deshalb nicht schon zehn Städte gibt, weil die Überseele andere Leute ferngehalten hat — außer uns? Du, Elemak, hättest du diesen Ort finden können? Hättest du gewußt, daß du die Familie über das Wasser und dann die Insel hinab führen mußt?«

»Was weißt du schon davon, kleiner Junge?« sagte Elemak verächtlich und versuchte, die Kontrolle von diesem Kind zurückzubekommen.

»Nein, das hättest du nicht«, sagte Ojkib. »Keiner von euch hat irgend etwas gewußt, und keiner von uns hätte irgend etwas bekommen, hätte die Überseele uns nicht auserwählt und hierher geführt. Ich war noch nicht einmal geboren, als das alles anfing, und den Rest der Zeit über war ich ein Baby. Warum erinnere ich mich also daran, während ihr Älteren — meine älteren und klügeren Brüder und Schwestern, meine Eltern — es vergessen zu haben scheinen?«

Seine hohe, flötende Stimme zerrte an Elemaks Nerven. Was ging hier vor? Er wußte, wie er alle Erwachsenen neutralisieren konnte — aber er hatte nicht damit gerechnet, sich auch noch mit Vaters und Rasas neuer Brut befassen zu müssen. »Setz dich, Kind«, sagte Elemak. »Du hast keinen Boden mehr unter den Füßen.«

»Wir alle haben keinen Boden mehr unter den Füßen«, sagte Luet. »Aber nur Ojkib scheint zu wissen, wie man schwimmt.«

»Zweifellos hast du ihm eingeschärft, was er sagen soll«, erwiderte Elemak.

»Ja, genau«, sagte Luet. »Als hätte einer von uns im voraus gewußt, was du sagen würdest. Obwohl wir es eigentlich hätten wissen müssen. Ich hatte gedacht, diese Angelegenheit wäre schon vor langer Zeit geregelt worden, aber wir hätten wissen müssen, daß du deinen Ehrgeiz niemals aufgeben wirst.«

»Ich!« schrie Elemak und sprang auf. »Ich habe nicht diesen falschen Besuch in einer unsichtbaren Stadt inszeniert, von der wir nur aufgrund von Berichten einer Metallkugel wissen, die nur du deuten kannst!«

»Würdest du die Hand auf den Index legen«, sagte Vater, »würde der Index auch gern mit dir sprechen.«

»Ich will aber nichts von diesem Computer hören«, erwiderte Elemak. »Ich sage es dir erneut, ich werde nicht das Leben und Glück meiner Familie wegen angeblicher Anweisungen eines unsichtbaren Computers aufs Spiel setzen, den diese Frauen noch immer als Gott verehren!«

Vater erhob sich. »Ich sehe, daß du Zweifel hegst«, sagte er. »Vielleicht war es ein Fehler, die guten Nachrichten mit allen zu teilen. Vielleicht hätten wir warten sollen, bis Nafai zurückkommt. Dann hätten wir alle zu dem Ort gehen können, den er gefunden hat, um zu sehen, was er gesehen hat. Aber ich dachte, es sollte keine Geheimnisse zwischen uns geben, und so habe ich darauf bestanden, daß wir die Geschichte jetzt erzählen, damit später niemand sagen kann, er habe nichts gewußt.«

»Etwas spät, um es auf die ehrliche Weise zu versuchen, meinst du nicht auch, Vater?« fragte Mebbekew. »Du hast selbst gesagt, daß Nafai, als er vorgestern aufbrach, diesen verborgenen Ort suchen wollte und glaubte, dort hätten wahrscheinlich die ersten Menschen ihre Sternenschiffe verlassen. Aber da hast du nicht daran gedacht, es uns allen zu sagen, oder?«

Vater sah Rasa an, und Elemaks Verdacht bestätigte sich.

Der alte Mann tanzte nach der Pfeife der alten Frau. Sie hatte darauf bestanden, es geheim zu halten, und wie er sie kannte, hatte sie ihm wahrscheinlich auch jetzt davon abgeraten, etwas zu sagen, Nichtsdestotrotz war es nun Zeit für Elemaks nächsten Zug — nun, da Ojkib seine Position untergraben hatte, mußte er wieder Boden gutmachen. »Seien wir nicht ungerecht«, sägte er. »Wir haben nur von Nafai gehört. Wir müssen jetzt noch nichts entscheiden oder unternehmen. Warten wir, bis er nach Hause kommt.« Elemak wandte sich Ojkib zu, der noch immer mitten in der Gruppe stand. »Und was dich betrifft, so bin ich stolz, daß mein zweitjüngster Bruder solches Feuer in sich hat. Du wirst ein richtiger Mann werden, Ojkib, und wenn du alt genug bist, um wirklich zu verstehen, worum es geht, statt blindlings nachzuplappern, was andere dir sagen, wird man bei der Beratung auf deine Stimme hören, das kann ich dir versichern.«

Ojkib lief rot an — vor Verlegenheit, nicht vor Zorn. Er war so jung, daß er nur das deutliche Lob, nicht aber die versteckte Beleidigung verstanden hatte. So habe ich auch dich ausgelöscht, Okja, lieber Bruder, ohne daß du es überhaupt gemerkt hast.

»Diese Beratung ist beendet«, sagte Elemak. »Wir werden wieder zusammenkommen, sobald Nafai zurück ist, abgesehen natürlich von den kleinen verschwörerischen Treffen im Indexhaus, wo all das hier ausgekocht wurde. Ich habe keinen Zweifel, daß diese Treffen unvermindert fortgesetzt werden.« Und mit diesen Worten verlieh er allen Gesprächen, die Rasas Gruppe führen würde, eine düstere Bedeutung und schwächte sie damit zutiefst.

Diese armen Menschen — sie hielten sich für so klug, bis sie dann auf jemanden stießen, der begriff, wie Macht funktionierte. Und da Elemak die Versammlung beendet und die nächste praktisch schon angekündigt hatte, hatte er einen großen Schritt auf sein Ziel zugetan, Vater die Herrschaft in Dostatok zu nehmen. Die einzige Frage war jetzt, ob das Gespräch mit Elemaks Aufbruch wirklich beendet wurde. Wenn er davonging, die Versammlung aber fortgesetzt werden würde, würde Elemak es schwerer fallen, sich als Führer durchzusetzen — dann hätte er heute sogar Boden verloren.

Aber er mußte sich keine Sorgen machen. Meb stand augenblicklich auf und folgte ihm mit Dol und den Kindern im Schlepptau; Vas und Obring und deren Frauen erhoben sich ebenfalls, und dann Zdorab und Schedemei. Die Versammlung war vorbei — und zwar lediglich, weil Elemak es gesagt hatte.

Die erste Runde geht an mich, dachte Elemak, und es würde mich überraschen, wenn sie nicht schon das gesamte Spiel war. Armer Nafai! Was auch immer du draußen in den Wäldern tust, du wirst nach Hause kommen und feststellen, daß all deine Pläne durcheinandergeraten sind. Hast du wirklich gedacht, du könntest mich aus der Ferne herausfordern und gewinnen?

Nirgendwo war eine Schrift zu sehen; keine Zeichen, keine Anweisungen.

›Hier braucht niemand Anweisungen. Ich bin an diesem Ort immer bei dir und zeige dir, was du wissen mußt.‹

»Und sie waren damit zufrieden?« fragte Nafai. »Sie alle?« Seine Stimme war in der Stille dieses Ortes so laut. Er schlurfte durch die staubfreien Gänge, immer abwärts, hinab in die Erde.

›Sie kannten mich. Sie haben mich gebaut und programmiert. Sie wußten, wozu ich imstande war. Sie sahen mich als — ihre Bibliothek, ihr Handbuch für alle Gelegenheiten, ihr zweites Gedächtnis. Zu jener Zeit wußte ich nur, was sie mich gelehrt hatten. Jetzt habe ich vierzig Millionen Jahre der Erfahrung mit Menschen und bin zu meinen eigenen Schlußfolgerungen gelangt. In jener Zeit war ich von ihnen viel abhängiger — ich habe nur ihr Bild von der Welt widergespiegelte »Und ihr Bild — war es falsch?«

›Sie begriffen nicht, bis zu welchem Ausmaß ihr Verhalten tierisch und nicht intellektuell war. Sie dachten, sie hätten das Tier in sich besiegt, und ihre Nachkommen würden mit meiner Hilfe das Tier in ein paar Generationen völlig austreiben — oder zumindest in ein paar hundert. Sie waren weitblickend, aber kein Mensch kann so weitblickend sein. Irgendwann werden die Zahlen, wird die Abmessung der Zeit bedeutungslos‹

»Aber sie haben gut gebaut«, sagte Nafai.

›Gut, aber nicht perfekt. Ich habe vierzig Millionen Jahre lang unter kosmischer und atomarer Strahlung gelitten, die einen Großteil meiner Speicher zerrissen hat. Ich habe eine gewaltige Redundanz, und daher hat es bei meinen Daten keine bedeutungsvollen Verluste gegeben. Selbst in meiner Programmierung habe ich alle Veränderungen aufgezeichnet und korrigiert. Ich konnte jedoch nicht den Teil von mir überwachen, der vor mir verborgen war. Als die Programme dort verfielen, erfuhr ich nichts davon und konnte es nicht ausgleichen. Ich konnte diese Gebiete nicht kopieren und ersetzen, wenn eine Kopie verfiele »Also haben sie dies nicht gut geplant«, sagte Nafai, »denn diese Programme befinden sich doch in deinem Kern.«

›Du darfst kein zu hartes Urteil fällen. Es kam ihnen nicht in den Sinn, daß es auch nur eine Million Jahre dauern würde, bis die Kinder ihrer Kinder Frieden finden und würdig sein würden, diesen Ort zu betreten und alles über gehobene Technologien zu lernen. Wie konnten sie vermuten, daß die Menschen von Harmonie Jahrhundert um Jahrhundert, Jahrtausend um Jahrtausend keinen Frieden erlernen und nie aufhören würden, einander mit Gewalt oder Betrug zu beherrschen? Ich sollte diesen Ort nicht einmal eine Million Jahre lang abgeschieden halten, geschweige denn vierzig Millionen. Also haben sie doch gut gebaut. Die Schwächen und das Versagen in meinem geheimen Kern waren nicht tödlich, nicht wahr? Schließlich bist du ja hier, oder?‹

Nafai erinnerte sich an das Entsetzen, das er empfunden hatte, als er keine Luft mehr bekam, und fragte sich, ob seine Vorfahren es nicht etwas übertrieben hatten.

»Wo bist du?« fragte Nafai.

›Überall um dich herum.‹

Nafai sah sich um, konnte aber nichts Besonderes ausmachen.

›Die Sensoren dort in der Decke — durch sie sehe und höre ich dich im Augenblick, ganz davon abgesehen, daß ich durch deine Augen sehen und deine Worte hören kann, bevor du sie sagst. Hinter diesen Wänden befindet sich eine Speicherbank nach der anderen — das alles bin ich. Die Maschinen, die Luft durch diese unterirdischen Gänge pumpen — auch das bin ich.‹

»Warum brauchst du mich dann überhaupt?« fragte Nafai.

›Du bist derjenige, der meine Programmschleife durchbrochen und mir die Augen geöffnet hat, damit ich nun auch mein eigenes Herz sehen kann, und du fragst mich das?‹

»Warum brauchst du mich jetzt?« fragte Nafai.

›Ich brauche dich — euch alle —, weil der Hüter euch Träume geschickt hat. Der Hüter will euch zur Erde holen, und deshalb werde ich euch dorthin bringen.‹

Er stellte die Frage noch präziser. »Warum brauchst du mich?«

›Weil meine Roboter von einer Stelle in meinem Speicher kontrolliert werden, die völlig unzuverlässig geworden ist. Ich habe sie abgeschaltet, weil sie mir falsche Berichte erstattet haben. Kein einziger Speicher dieser sechs Schiffe ist völlig in Ordnung. Ich brauche dich, um die Speicher in allen Teilen der Schiffe zu überprüfen und gute Speicher zusammenzubringen, bis wir ein perfektes Schiff haben. Das kann ich nicht selbst erledigen — ich habe keine Hände.‹

»Also bin ich hier, um kaputte Maschinen zu reparieren.«

›Und ich brauche dich, um das Sternenschiff zu steuern.‹

»Mache mir nicht weis, du könntest das nicht allein.«

›Deine Vorfahren beließen ihre Sternenschiffe nicht vollständig unter der Kontrolle von Computern, wie ich einer bin. Auf jedem Schiff muß ein Herr der Sterne sein, der die Befehle gibt. Ich werde diese Befehle ausführen, aber es wird dein Schiff sein. Ich werde dir gehorchen.‹

»Nicht mir«, sagte Nafai. »Vater sollte der Herr des Schiffes sein.«

›Volemak ist nicht hergekommen. Volemak hat diesen Ort nicht geöffnet.«

»Er wäre gekommen, hätte er es nur gewußt.«

›Er hat gewußt, was du auch gewußt hast. Aber du hast gehandelt. Diese Dinge geschehen nicht zufällig, Nafai. Es ist kein Zufall, daß du hier bist und sonst niemand. Hätte Volemak diesen Ort gefunden und sich unter Einsatz seines Lebens Zutritt erzwungen, würde er den Mantel tragen. Oder Elemak, sogar Zdorab — wer auch immer gekommen wäre, er hätte diese Verantwortung übernommen. Du bist gekommen. Sie fällt dir zu.‹

Fast hätte Nafai gesagt: Ich will sie nicht. Aber das wäre eine Lüge gewesen. Er wollte es mit ganzem Herzen. Es wäre wunderbar, von der Überseele ausgewählt zu werden, das Sternenschiff zu steuern, auch wenn er nicht das geringste darüber wußte. Mehr Ruhm und Vollendung, als er es sich in seiner Kindheit je erträumt hatte. »Dann werde ich es tun«, sagte Nafai, »wenn du mir zeigst, wie es geht.«

›Du schafftst es nicht ohne Werkzeuge. Ich kann dir einige geben und dich lehren, wie man die anderen macht. Und du wirst es nicht ohne Hilfe schaffen.‹

»Hilfe?«

›Tausende von Speicherplatten müssen von einem Schiff zum anderen gebracht werden. Du wirst alt werden und sterben, wenn du es allein versuchst. Euer ganzes Dorf muß zusammenarbeiten, wollen wir ein zuverlässiges Sternenschiff bekommen, das alle Speicherdaten enthält, die ich brauche, um euch zum Hüter der Erde zu bringen.‹

Nafai versuchte sich vorzustellen, wie Elemak eine Arbeit unter seiner Leitung ausführte, und lachte laut auf. »Wenn dem so ist, suchst du dir lieber einen anderen. Sie werden mir nicht folgen.«

›Sie werden dir folgen!‹

»Dann verstehst du die menschliche Natur noch immer nicht sehr gut«, sagte Nafai. »Wir haben in den letzten Jahren nur Frieden gehabt, weil ich Elja nicht herausgefordert habe. Wenn ich plötzlich zurückkehre und ihnen sage, daß ich der Herr der Sterne bin und sie mir helfen müssen, ein Raumschiff zusammenzubauen …«

›Vertraue mir!‹

»Ja, genau. Wie ich dir immer vertraut habe, nicht wahr?«

›Öffne die Tür!‹

Nafai öffnete die Tür und trat in einen schwach beleuchteten Raum. Die Tür schloß sich hinter ihm und nahm ihm auch noch das Licht des Ganges. Blinzelnd gewöhnte Nafai sich an das Halbdunkel und sah, daß in der Mitte des Raums ein — ja was, ein Eisblock? — in der Luft hing, ohne irgendwie gestützt zu werden.

›Viel davon ist Wasser.‹

Nafai trat zu dem Block, streckte die Hand aus und berührte ihn. Sein Finger glitt problemlos hinein.

›Wie ich sagte: Wasser.‹

»Wie hält er dann diese Form?« fragte Nafai. »Wieso schwebt er in der Luft?«

›Warum soll ich es dir erklären, wenn du in einem Augenblick einfach daran denken wirst und es weißt?«

»Was meinst du?«

›Gleite durch das Wasser, und wenn du daraus auftauchst, wirst du den Mantel des Herrn der Sterne tragen. Wenn er mit dir verbunden ist, wirst du all meine Erinnerungen haben, als hättest du sie schon immer gehabt.‹

»Der menschliche Verstand kann so viele Informationen niemals aufnehmen«, sagte Nafai. »Deine Erinnerungen umfassen vierzig Millionen Jahre.«

›Du wirst es sehen.‹

»Es hat mich fast in den Wahnsinn getrieben, als ich Vaters Erinnerung an seine Vision in meinem Verstand hatte«, sagte Nafai. »Wird es diesmal nicht dazu kommen?«

›Ich werde bei dir sein, wie ich nie zuvor bei dir gewesen bin.‹

»Werde ich noch ich selbst sein?«

›Du wirst mehr du selbst sein als je zuvor.‹

»Habe ich eine Wahl?«

›Ja. Du kannst dies ablehnen. Dann werde ich eine andere holen, und sie wird durch das Wasser gleiten, und dann wird sie die Herrin der Sterne sein.‹

»Sie? Luet?«

›Spielt das eine Rolle? Wenn du dich entscheidest, nicht der Herr der Sterne zu werden, hast du kein Recht, die Person zu bestimmen, die ich dann an deiner Stelle auswählen werde.‹

Nafai stand da, betrachtete den wunderbaren Block aus Wasser, der in der Luft schwebte, und dachte: Das ist weniger gefährlich, als durch die Barriere zu gehen, und das habe ich geschafft. Und er dachte: Könnte ich es ertragen, dem Herrn der Sterne zu folgen, wenn ich den Rest meines Lebens über wüßte, daß ich der Herr der Sterne hätte sein können und abgelehnt habe? Und dann: Ich habe der Überseele bislang vertraut. Ich habe für sie getötet; ich wäre wegen ihr fast gestorben. Werde ich mich nun weigern, die Führung dieser Reise zu übernehmen?

»Was muß ich tun?« fragte Nafai.

›Weißt du es nicht? Erinnerst du dich nicht an die Vision, die Luet dir erzählt hat?‹

Erst jetzt, als die Überseele Nafai daran erinnerte, fiel ihm wieder ein, was Luet gesagt hatte. Sie hatte gesehen, wie er in einem Eisblock versunken und unten wieder zum Vorschein gekommen war; er hatte vor Licht geglüht und gefunkelt. Er hatte nach einer metaphorischen Bedeutung gesucht. Aber hier war der Eisblock!

»Ich sinke von oben nach unten«, sagte Nafai. »Wie komme ich hinauf?«

Wie auf ein Stichwort glitt eine etwa ein Meter breite Platte über den Boden zu ihm. Nafai begriff, daß er sich daraufstellen sollte. Doch als er dies tat, passierte nichts.

›Deine Kleidung stört.‹

Also zog er sich zum zweitenmal an diesem Tag aus. Das brachte ihm schmerzhaft die Kratzer und Prellungen ins Bewußtsein, die er sich zugezogen hatte, als der Wind ihn beutelte. Nackt trat er erneut auf die Scheibe. Diesmal erhob sie sich in die Luft und trug ihn über den Block.

›Tritt auf das Wasser! Es wird dich tragen, als wäre es ein Boden.‹

Nachdem Nafai gerade den Finger in die Seite des Blocks gesteckt hatte, hatte er seine Zweifel, aber er tat wie geheißen und trat auf die Oberfläche des Blocks. Sie war glatt, aber nicht schlüpfrig; wie die Oberfläche der Barriere schien sie sich unter seinen Füßen in alle Richtungen gleichzeitig zubewegen.

›Leg dich auf den Rücken!‹

Nafai legte sich hin. Sofort veränderte die Oberfläche sich unter ihm, und er sank in das Wasser ein. Ihm wurde klar, daß es bald sein Gesicht bedecken würde. Die Erinnerung an das Ersticken war noch zu frisch — er begann sich zu wehren.

›Friede. Schlafe! Dir wird es weder an Luft noch an sonst etwas mangeln. Schlafe! Friede.‹

Und er schlief ein, während er weiter in das Wasser sank.

Elemak war überrascht, Schedemei an der Tür vorzufinden. Natürlich war alles möglich — vielleicht war sie ja tatsächlich gekommen, um sich auf seine Seite zu schlagen. Aber er bezweifelte es — wahrscheinlich war sie im Auftrag Rasas hier, um irgendeine Vereinbarung auszuhandeln. In diesem Fall war sie als Gesandte keine schlechte Wahl. Er hatte nichts gegen sie, und sie hatte keine komplizierten Familienbindungen. Außerdem … waren sie und Zdorab am Ende der Versammlung nicht auch aufgestanden und hatten damit Elemaks Autorität bestätigt? Er würde sich anhören, was sie zu sagen hatte.

Also bat er sie herein und ließ sie am Tisch Platz nehmen, an dem schon Meb, Obring und Vas saßen. Dann nahm er ihr gegenüber Platz und wartete. Sollte sie doch zuerst sprechen und ihn damit wissen lassen, was er von ihr zu erwarten hatte.

»Alle haben mir geraten, nicht zu dir zu gehen«, sagte sie. »Aber ich glaube, sie unterschätzen dich, Elemak.«

»Das haben sie schon zuvor getan«, sagte Elemak.

Meb kicherte. Das verärgerte Elemak — er wußte nicht genau, ob Meb über sie lachte, weil sie Elemak unterschätzt hatten, oder über ihn, weil er diese Behauptung machte. Bei Meb war man nie sicher, wen er verspottete. Nur, daß er irgend jemanden verspottete.

»Es gibt einige wichtige Dinge, die du nicht zu verstehen scheinst«, fuhr Schedemei fort. »Und ich glaube, man muß alles wissen, um kluge Entscheidungen treffen zu können.«

Aha. Also war sie hier, um ihm die ›Wirklichkeit« zu erklären. Nun, er konnte sie ja anhören, wenn auch nur, um besser planen zu können, wie er sie bei der nächsten Versammlung ausschalten würde. Er bat sie mit einem Nicken fortzufahren.

»Das ist keine Verschwörung, die dir die Autorität nehmen soll.«

Richtig, dachte Elemak. Du beginnst, indem du es abstreitest, und damit hast du mir so gut wie bestätigt, daß es genau darum geht.

»Die meisten von uns wissen, daß du der natürliche Führer dieser Gruppe bist, und mit einigen Ausnahmen sind wir damit zufrieden.«

Ah, ja! In der Tat, ›einige‹ Ausnahmen.

»Und diese Ausnahmen treten stärker unter deiner Gefolgschaft auf, als du es dir vorstellst. Hier an diesem Tisch gibt es mehr Haß und Eifersucht auf dich, als du je unter jenen gefunden hast, die sich im Indexhaus versammeln.«

»Genug davon«, sagte Elemak. »Wenn du nur hier bist, um Mißtrauen unter denen zu säen, die versuchen, unsere Familien vor denen zu schützen, die sich in unser Leben einmischen wollen, kannst du jetzt gehen.«

Schedemei zuckte die Achseln. »Ich habe es gesagt, du hast es gehört, und mir ist es gleichgültig, was du mit der Information anfängst. Aber eins ist Tatsache: Du kämpfst im Augenblick gegen die Überseele.«

Meb jaulte einmal auf. Schedemei ignorierte ihn.

»Die Überseele hat endlich Zugang zu den Sternenschiffen bekommen. Eine gewaltige Anstrengung von uns allen ist nötig, fünf der Schiffe auszuschlachten, um eins flugbereit zu machen. Aber es muß getan werden, ob du es nun billigst oder nicht. Die Überseele wird sich kaum von dir blockieren lassen, nachdem sie so weit gekommen ist.«

Elemak hörte amüsiert, daß Schedemei von dem leblosen Computer beharrlich sprach, als sei er eine Frau.

»Wenn Nafai zurückkehrt, wird er den Mantel des Herrn der Sterne tragen. Dieses Gerät verbindet ihn fast perfekt mit den Speichern der Überseele. Er wird weit mehr über dich wissen, als du selbst über dich weißt. Hast du mich verstanden? Und der Mantel verfügt auch noch über andere Kräfte — zum Beispiel über eine Energiekonzentration, neben der ein Pulsator wie ein Spielzeug aussieht.«

»Ist das eine Drohung?« fragte Elemak.

»Ich sage dir schlicht und einfach die Wahrheit. Die Überseele hat Nafai ausgewählt, weil er die nötige Intelligenz hat, das Schiff zu steuern, die Treue, der Sache der Überseele gut zu dienen, und die Willenskraft, die eine vermeintlich unüberwindbare Barriere niedergerissen und somit ermöglicht hat, die Expedition fortzusetzen. Und nicht, weil sie sich gegen dich verschworen hat. Hättest du der Sache der Überseele je auch nur einen Fetzen Loyalität erwiesen, hätte sie vielleicht dich ausgewählt.«

»Glaubst du, mit diesen pathetischen Schmeicheleien etwas erreichen zu können?«

»Ich schmeichle dir nicht«, sagte Schedemei. »Ich habe es bereits gesagt — wir wissen, daß du der geborene Führer dieser Gruppe bist. Aber du hast dich entschieden, nicht der Führer der Expedition der Überseele zu sein. Das war deine eigene, freie Entscheidung. Wenn es nun darauf hinausläuft, wenn du nun feststellst, daß du die Führung dieser Gruppe für immer verloren hast, kannst du niemandem außer dir selbst die Schuld dafür geben.«

Er spürte, wie der Zorn in ihm wuchs.

»Du wärst auch nicht die zweite Wahl gewesen«, sagte Schedemei. »Es bestand ein gewisser Zweifel, daß Nafai den Mantel akzeptieren würde — weil er genau wußte, daß du seine Führung zurückweisen wirst. Zu diesem Zeitpunkt hat die Überseele ihre zweite Wahl getroffen. Sie hat mich gefragt, ob ich die Last der Verantwortung akzeptiere. Sie hat mir sogar genauer erklärte als Nafai, was der Mantel bewirkt und wie er funktioniert. Mittlerweile weiß er das alles natürlich. Ich habe das Angebot akzeptiert. Wäre es nicht Nafai gewesen, wäre ich es gewesen. Nicht du, Elemak. Du hast dieses große Angebot nicht knapp verpaßt. Du bist niemals in Betracht gezogen worden, weil du die Überseele von Anfang an abgelehnt hast.«

»Vielleicht solltest du jetzt lieber gehen«, sagte Elemak leise.

»Aber das heißt nicht, daß du in unserer Gemeinschaft keine geschätzte, wichtige Rolle spielen kannst«, fuhr sie fort; anscheinend hatte sie ihn nicht gehört, schien nicht zu bemerken, daß er vor Wut kochte. »Erzwinge es nicht! .Zwinge Nafai nicht, dich vor den anderen zu erniedrigen. Arbeite lieber mit ihm zusammen, und er wird dir gern so viel von der Führung überlasssen, wie die Überseele es zuläßt. Ich glaube, du hast nie begriffen, daß Nafai dich verehrt. Er hat sich immer gewünscht, so wie du sein zu können. Er sehnt sich nach deiner Liebe und deinem Respekt mehr als nach dem irgendeines anderen Menschen.«

»Verlasse mein Haus!« sagte Elemak.

»Wie du willst«, sagte Schedemei. »Ich sehe, daß du ein Mensch bist, der sich weigert, seine Sicht der Welt zu revidieren. Du kannst nur in einer Welt leben, in der alles Schlechte, was dir widerfährt, die Schuld eines anderen ist; eine Welt, in der sich alle gegen dich verschworen haben müssen, um dir zu nehmen, was dir rechtmäßig zusteht.« Sie erhob sich und ging zur Tür. »Leider ist diese Welt nicht die wirkliche Welt. Und so werdet ihr vier hier sitzen und euch verschwören, um die Herrschaft über Dostatok zu übernehmen, und es wird nichts daraus werden, und ihr werdet erniedrigt werden, und es wird ganz allein eure Schuld sein. Doch selbst dann, Elemak, hast du für deine beträchtlichen Fähigkeiten unseren tiefen Respekt und unsere Ehre. Gute Nacht.«

Sie schloß die Tür hinter sich.

Elemak konnte sich kaum beherrschen. Er wollte ihr nachsetzen, sie immer wieder schlagen, ihr die unerträgliche Herablassung aus dem Leib prügeln. Aber das wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen; um die anderen zu beherrschen, mußte er deutlich zeigen, daß ihm solch ein Unsinn nicht naheging. Also lächelte er sie blaß an. »Ihr seht, wie sie uns dumm machen wollen: indem sie uns wütend machen«, sagte er.

»Erzähl mir nicht, daß du nicht wütend bist«, sagte Meb.

»Natürlich bin ich das«, sagte Elemak. »Aber ich weigere mich, mich von meiner Wut dumm machen zu lassen. Und sie hat uns einige wertvolle Informationen gegeben. Anscheinend wird Nafai mit einem magischen Mantel oder so zurückkommen. Vielleicht ist es nur eine Illusion, wie diese Masken, die Gaballufix ausgrub und seine Soldaten in Basilika tragen ließ, damit sie alle gleich aussahen. Vielleicht steckt etwas wirkliche Macht darin. Aber damit kann er uns nicht zurück drängen. Er zwingt uns lediglich, um so schneller und sauberer zu handeln — und auf Dauer.«

»Und das heißt?« fragte Vas.

»Das heißt, wir werden niemandem erlauben, das Dorf zu verlassen und sich zu Nafai zu gesellen, wo auch immer er ist. Wir werden ihn zwingen, zu uns zu kommen. Und wenn er kommt, unterwirft er sich entweder sofort und akzeptiert unsere Entscheidungen, oder wir sorgen dafür, daß er keine Probleme mehr machen kann.«

»Und das heißt?« beharrte Vas.

»Das heißt, daß er sterben muß, du Trottel«, sagte Obring. »Wie blöd bist du nur?«

»Ich habe gewußt, was er meint«, sagte Vas ruhig. »Ich wollte nur hören, daß es über seine Lippen kommt, damit er später nicht behaupten kann, es so gar nicht gemeint zu haben.«

»Ah, ich verstehe«, sagte Elemak. »Ihr macht euch Sorgen über die Verantwortung.« Elemak mußte Vas unwillkürlich mit Nafai vergleichen — denn trotz all seiner anderen Schwächen war Njef nie vor seiner Verantwortung für Gaballufix’ Tod zurückgeschreckt. »Nun, ich trage die Verantwortung. Ich allein, wenn ihr darauf besteht. Aber das bedeutet auch, daß ich die Autorität bekomme, nachdem wir gewonnen haben.«

»Ich mache mit«, sagte Meb. »Bis zum Ende. Heißt das, daß ich die Autorität mit dir teile, wenn wir es getan haben?«

»Ja, das heißt es«, sagte Elemak. Falls du überhaupt weißt, was Autorität ist, du armer, einfältiger Pavian. »So einfach ist das. Aber wenn ihr nicht das Herz habt, mit uns zuzuschlagen, seid ihr noch lange nicht unsere Feinde. Bewahrt lediglich Schweigen über unseren Plan, verhindert mit uns, daß jemand zu Nafai geht, und mischt euch nicht ein, wenn wir ihn töten — falls es dazu kommt.«

»Damit bin ich einverstanden«, sagte Obring.

Vas nickte ebenfalls.

»Dann ist es abgemacht.«

Nafai erwachte auf dem Boden des Raums. Über ihm hing der Wasserblock. Er fühlte sich nicht anders als zuvor.

Bis er versuchte, an etwas zu denken: Als er zum Beispiel feststellen wollte, ob sein Körper sich irgendwie verändert hatte. Plötzlich strömte ein gewaltiger Schwall an Informationen in seinen Verstand. Er war sich einen Augenblick lang seiner gesamten Körperfunktionen bewußt und bekam einen detaillierten Bericht über alle Werte. Die Produktion seiner Drüsen; sein Herzschlag; die Fäkalienmenge in seinem Rektum; der derzeitige Mangel an Brennstoff für seine Körperzellen, und wie seine Fettzellen versuchten, das Defizit auszugleichen. Die Heilungsrate seiner Prellungen und Kratzer war beschleunigt worden, und er fühlte sich schon viel besser.

Hat die Überseele das schon immer über mich gewußt?

Die Antwort kam sofort, und nun war es fürwahr eine klare Stimme — sogar noch klarer als die, mit der die Überseele durch den Index sprach. ›Soviel habe ich nie zuvor über dich gewußt. Der Mantel hat sich mit jedem Nerv in deinem Körper verbunden und berichtet ständig über deinen Zustand. Er untersucht des weiteren an mehreren Stellen dein Blut, interpretiert die Daten und leitet sofort Maßnahmen ein, deinen Zustand zu verbessern‹

Der Mantel?

Sofort blitzte ein Bild in seinem Verstand auf. Er sah sich von außen, wie die Überseele ihn zweifellos durch ihre Sensoren sah. Er sah seinen Körper, wie er sich unter dem Block hervorrollte und aufstand. Seine Haut funkelte vor Licht. Er sah, daß das meiste Licht im Raum von ihm kam. Er sah sich, wie er mit den Händen über seine Haut fuhr und versuchte, den Mantel zu spüren. Aber er fühlte nichts, das sich irgendwie von seiner normalen Haut unterschied.

Er fragte sich, ob er immer so leuchten würde — ob es in seinem Haus immer so hell sein würde, wenn er sich darin befand.

Der Gedanke war ihm kaum gekommen, als die Überseele auch schon antwortete. ›Der Mantel reagiert auf deinen Willen. Wenn du willst, daß er dunkel wird, wird er dunkel. Wenn du eine starke elektrische Ladung aufbauen willst, baut er sie auf — und du kannst mit deinem Finger auf einen Gegenstand oder eine Person zeigen und einen Energiebogen ausschicken, in jede Richtung. Wenn du diesen Mantel trägst, kann nichts dir Schaden zufügen, während du für alle anderen äußerst gefährlich sein kannst — doch solange du niemandem schaden willst, bleibt der Mantel passiv. Deine Kinder können im Dunkeln schlafen, und du kannst deine Frau umarmen, wie du es immer getan hast. Ganz im Gegenteil, je mehr körperlichen Kontakt du mit anderen hast, desto mehr dehnt dein Mantel sich aus und umfaßt auch sie und reagiert sogar, in kleinerem Ausmaß, auf ihren Willen.‹

Also wird auch Luet diesen Mantel tragen?

›Ja, durch dich. Er wird sie schützen; er wird ihr besseren Zugang zu meinen Speichern geben. Aber warum fragst du mich das alles? Statt dir Fragen zu überlegen, mußt du einfach nur an den Mantel denken und dich erinnern, als hättest du schon immer alles über ihn gewußt. Dann werden die Erinnerungen klar und deutlich in deinen Geist kommen. Du wirst alles wissen, was es zu wissen gibt.‹

Nafai versuchte es, und plötzlich hatte er keine Fragen über den Mantel mehr. Er verstand, was es hieß, der Herr des Schiffes zu sein. Er wußte sogar genau, wie er der Überseele helfen mußte, um ein Sternenschiff startklar zu machen.

»Wir werden nicht lange genug leben, unsere Kinder eingeschlossen, um das alles zu bewältigen«, sagte Nafai.

›Ich habe dir doch gesagt, daß ich dir Werkzeuge geben werde, mit denen du die Arbeit erledigen kannst. Für manche Aufgaben sind die Roboter nicht mehr einzusetzen, für andere doch. Die Maschinen selbst sind völlig funktionsfähig — nur das Programm, mit denen ich sie kontrolliere, ist schadhaft. Teile davon können wieder aktiviert werden, und dann könnt ihr den Robotern die routinemäßigen Aufgaben übertragen. Du wirst schon sehen.‹

Und nun ›erinnerte‹ Nafai sich genau daran, was die Überseele für möglich erachtete. Es bedurfte einiger Stunden harter Arbeit, die Roboter in Gang zu bringen, aber es war möglich — er wußte, was er zu tun hatte. »Ich fange sofort an«, sagte er. »Gibt es hier etwas zu essen?«

Er hatte die Frage kaum gestellt, als ihm einfiel, daß es hier natürlich keine Vorräte gab. Und er war zu ungeduldig, um diesen Ort zu verlassen und auf die Jagd zu gehen. »Kannst du die anderen nicht hierher holen? Sie sollen etwas zu essen mitbringen, und … ich sehe nicht ein, warum wir jedesmal einen Tag lang wandern sollten. Wir können hier ein neues Dorf bauen — in den Hügeln im Süden gibt es genug Wasser und Holz. Wir brauchen vielleicht eine Woche dafür, ersparen uns aber im Verlauf der nächsten Jahre, bis die Schiffe fertig sind, viele Tagesreisen.«

›Ich werde sie informieren. Du kannst es ihnen aber auch selbst sagen.‹

»Ich kann es ihnen selbst sagen?« Und dann fiel es ihm ein: Da das Gedächtnis der Überseele nun ›sein‹ Gedächtnis war, konnte er durch den Index zu den anderen sprechen. Das tat er dann auch.

»Ihr werdet nicht gehen«, sagte Elemak.

Zdorab und Volemak standen verwirrt vor ihm. »Was meinst du?« fragte Volemak. »Nafai braucht etwas zu essen, und wir müssen entscheiden, wo wir das neue Dorf bauen. Ich nahm an, du würdest mitkommen.«

»Und ich sage, ihr werdet nicht gehen. Niemand wird gehen. Wir werden das Dorf nicht verlagern, und niemand wird zu Nafai gehen. Sein Versuch, die Macht zu übernehmen, ist gescheitert. Gib es auf, Vater! Wenn Nafai Hunger bekommt, wird er nach Hause kommen.«

»Ich bin dein Vater, Elja, nicht dein Kind. Du kannst die Entscheidung treffen, daß du nicht gehst, aber du hast keine Befugnis, mich aufzuhalten.«

Elemak klopfte mit dem Finger auf den Tisch.

»Außer, du drohst, gegen deinen Vater Gewalt einzusetzen«, fuhr Volemak fort.

»Ich habe dir erklärt, welches Gesetz hier herrscht«, sagte Elemak. »Niemand verläßt diese Stadt ohne meine Erlaubnis. Und du hast meine Erlaubnis nicht.«

»Und wenn ich deinem anmaßenden, illegalen Befehl nicht gehorche?« fragte Volemak.

»Dann gehörst du nicht mehr zu Dostatok«, sagte Elemak. »Wenn wir dich in der Nähe des Dorfes aufgreifen, werden wir dich wie einen Dieb behandeln.«

»Glaubst du, die anderen werden dem zustimmen?« fragte Volemak. »Wenn du die Hand gegen mich erhebst, wird dir das nur den Abscheu der anderen einbringen.«

»Ich werde mir ihren Gehorsam verdienen«, sagte Elemak. »Ich rate dir … erzwinge es nicht. Niemand wird Nafai zu essen bringen. Er kommt nach Hause, und die Scharade um Sternenschiffe hört auf.«

Volemak stand schweigend da; auch Zdorab rührte sich nicht. Ihre Gesichter waren undeutbar.

»Na schön«, sagte Volemak.

Elemak war überrascht — wieso gab Vater so schnell auf?

»Nafai sagt mir gerade, daß er jetzt nach Hause kommen wird. Er hat die ersten Roboter wieder in Dienst gestellt. Er wird in einer Stunde zu Hause sein.«

»In einer Stunde!« sagte Meb, der in der Nähe stand. »Da haben wir es ja. Dieses Vusadka soll doch eine ganze Tagesreise entfernt sein.«

»Nafai hat erst jetzt die Paritkas wieder einsatzfähig gemacht. Wenn sie funktionieren, müssen wir das Dorf nicht verlegen.«

»Was ist ein Paritka?« fragte Meb.

Frag doch nicht, du Narr, dachte Elemak. Damit spielst du Vater nur in die Hände.

»Ein fliegender Wagen«, sagte Volemak.

»Und ich soll glauben, daß du in diesem Augenblick mit Nafai sprichst?«

»Wenn wir den Index nicht bei uns haben«, sagte Volemak, »ist seine Stimme von unseren normalen Gedanken genauso schwer zu unterscheiden wie die der Überseele. Aber er spricht mit uns, ja. Du könntest ihn auch verstehen, würdest du nur zuhören.«

Elemak mußte unwillkürlich lachen. »Ja, sicher, ich werde einfach hier sitzen und der Stimme meines weit entfernten Bruders lauschen, die in meinem Verstand spricht.«

»Warum nicht?« fragte Zdorab. »Er sieht bereits alles, was die Überseele sieht. Einschließlich dessen, was in deinem Verstand vor sich geht. Zum Beispiel weiß er, daß du und Meb ihn töten wollt, sobald er zurückkommt.«

Elemak sprang auf. »Das ist eine Lüge!« Aus den Augenwinkeln sah er, daß sich ein Anflug von Panik auf Mebs Gesicht legte. Halte einfach die Klappe, Meb! Erkennst du nicht, daß es sich um eine wilde Vermutung handelt? Jetzt tue bloß nichts, womit du diese Vermutung bestätigst. »Nun kehre in dein Haus zurück, Vater. Du auch, Zdorab. Es wird nur gefährlich für Nafai, wenn er uns angreift oder eine Meuterei versucht.«

»Wir sind hier nicht in der Wüste«, sagte Volemak. »Und du hast hier nicht die Befehlsgewalt.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Elemak. »Das Gesetz der Wüste gilt noch immer, und ich bin der Führer dieser Expedition. Ich bin es von Anfang an gewesen. Dir habe ich mich nur aus Höflichkeit gefügt, alter Mann.«

»Gehen wir«, sagte Zdorab und zog Volemak aus Elemaks Haus.

»Und nehmen Elemak die Gelegenheit, uns zu zeigen, wie boshaft er in Wirklichkeit ist?«

»Nicht boshaft, Vater«, sagte Elemak. »Ich habe einfach die Nase voll. Du und Njef, Rasa, Luet und eure Gruppe haben damit angefangen. Niemand hat dich gebeten, uns auf eine dumme Reise zu den Sternen zu fuhren. Alles war in Ordnung — bis du dich entschieden hast, erneut alle Regeln zu ändern. Nun, die Regeln haben sich geändert, doch diesmal nicht zu deinen Gunsten. Und nun schlucke deine Medizin wie ein Mann.«

»Ich trauere um dich«, sagte Volemak. Dann hatte Zdorab ihn zur Tür hinaus geführt.

»Sie wissen es«, sagte Mebbekew. »Sie wissen, was wir vorhaben.«

»Ach, halt die Klappe!« sagte Elemak. »Sie vermuten es, und du wärst beinah unbedarft mit einer Bestätigung ihrer Vermutung herausgeplatzt.«

»Das stimmt nicht«, sagte Meb. »Ich habe nichts gesagt.«

»Hol deinen Bogen und die Pfeile. Dafür reichen deine Fähigkeiten als Schütze aus.«

»Du meinst, wir wollen nicht warten und zuerst mit ihm sprechen?«

»Ich glaube, man kann vernünftiger mit Nafai sprechen, wenn ein Pfeil in ihm steckt, meinst du nicht auch?«

Meb verließ das Haus. Elemak stand auf und griff nach dem Bogen über dem Kamin.

»Tu es nicht!«

Er drehte sich um und sah Eiadh, die mit dem Baby auf dem Arm auf der Schwelle zum Schlafzimmer stand.

»Habe ich dich richtig verstanden, Edhja?« fragte Elemak. »Willst du mir sagen, was ich zu tun habe?«

»Du hast schon einmal versucht, ihn zu töten«, sagte Eiadh. »Die Überseele wird es nicht zulassen. Begreifst du das nicht? Und diesmal könntest du verletzt werden.«

»Ich weiß deine Besorgnis um mich zu schätzen, Eiadh, aber ich weiß, was ich tue.«

»Auch ich weiß, was du tust«, sagte Eiadh. »Ich habe euch beide die ganzen Jahre über beobachtet, dich und Nafai, und ich dachte, endlich hat Elja gelernt, Nafai den Respekt zu zollen, der ihm zusteht. Elja ist nicht mehr eifersüchtig auf seinen kleinen Bruder. Doch nun sehe ich, daß du nur den richtigen Augenblick abgewartet hast.«

Elemak hätte sie ins Gesicht geschlagen, wäre der Kopf des Babies nicht im Weg gewesen, und seinem eigenen Kind würde er nie etwas tun. »Du hast genug gesagt«, warnte er sie.

»Ich würde dich bitten, es nicht zu tun, weil du mich liebst«, sagte Eiadh, »aber ich weiß, das würde nicht funktionieren. Also bitte ich dich, es um deiner Kinder willen nicht zu tun.« , »Um meiner Kinder willen? Gerade wegen ihnen tue ich es! Ich will nicht, daß ihr Leben umgekrempelt wird, weil Rasa sich in den Kopf gesetzt hat, die Kontrolle über Dostatok an sich zu reißen und unser Dorf in ein Dorf der Frauen zu verwandeln, wie auch Basilika die Stadt der Frauen war.«

»Um der Kinder willen«, sagte Eiadh erneut. »Lasse es nicht so weit kommen, daß sie sehen, wie ihr Vater vor allen anderen erniedrigt wird. Oder ihm Schlimmeres widerfährt.«

»Ich sehe, wie sehr du mich liebst«, sagte Elemak. »Anscheinend hast du auf die andere Seite gesetzt.«

»Beschäme sie nicht, indem zu ihnen zeigst, daß du in deinem Herzen ein Mörder bist.«

»Glaubst du, ich wüßte nicht, worum es geht?« sagte Elemak. »Du hast schon in Basilika ein Auge auf Nafai geworfen. Ich dachte, du wärst darüber hinweg, aber ich habe mich geirrt.«

»Narr«, sagte Eiadh. »Ich habe seine Kraft bewundert. Ich habe auch die deine bewundert. Doch seine Kraft hat nie gewankt und er hat sie nie eingesetzt, um andere Leute einzuschüchtern. Es war schändlich, wie du deinen Vater behandelt hast. Deine Söhne waren im Nebenzimmer und haben gehört, wie du mit deinem Vater gesprochen hast. Weißt du nicht, daß du eines Tages, wenn du alt und gebrechlich bist, von ihnen vielleicht dieselbe Respektlosigkeit zu hören bekommen wirst? Na los, schlag mich! Ich setze das Baby ab. Zeige deinen Söhnen, wie stark du bist! Zeige ihnen, daß du eine Frau verprügeln kannst, nur weil sie dir die Wahrheit gesagt hat.«

Meb kam hereingestürmt. Er hatte den Bogen und die Pfeile dabei. »Nun?« fragte er. »Kommst du oder nicht?«

»Ich komme«, sagte Elemak. Er drehte sich zu Eiadh um. »Das werde ich dir nie verzeihen.«

Sie grinste ihn mit schmerzlich verzerrtem Gesicht an. »In einer Stunde wirst du mich um Verzeihung bitten.«

Als Nafai sich dem Dorf näherte, wußte er genau, was er zu erwarten hatte. Er hatte das Gedächtnis der Überseele. Er hatte den Gesprächen zwischen Elemak und seinen Mitverschwörern gelauscht. Er hatte gehört, wie sie allen befahlen, die Kinder nicht aus den Häusern zu lassen. Er hatte die Furcht in allen Herzen gefühlt. Er wußte, welchen Schaden Elemak seiner Familie zufügte. Er wußte, welche Furcht und Wut sein Herz erfüllte.

»Kannst du es ihn nicht vergessen lassen?« fragte Nafai.

›Nein. Diese Macht hat man mir nie gegeben. Außerdem ist er sehr stark. Ich habe nur einen minimalen Einfluß auf ihn.‹

»Wenn er sich entschieden hätte, dir zu folgen, wäre er für deine Zwecke besser geeignet gewesen, als ich es bin, nicht wahr?«

›Ja.‹ Die Überseele sagte es klar und deutlich, da sie nun sowieso nichts mehr vor Nafai verbergen konnte.

»Also bin ich nur die zweite Wahl«, sagte Nafai.

›Die erste. Denn Elemak ist es nicht gegeben, einen höheren Zweck als seinen eigenen Ehrgeiz anzuerkennen. Er ist ein größerer Krüppel als Issib.‹

Nafai raste in südliche Richtung; der Paritka glitt über den Boden und flog trotz seiner hohen Geschwindigkeit so ruhig, daß es Nafai fast unglaublich vorkam. Aber das Wunder dieser Maschine interessierte ihn im Augenblick nicht.

Er hätte am liebsten geweint. Denn als er sich nun auf die Menschen von Dostatok konzentrierte statt auf die Mühen, ein Sternenschiff flugfähig zu machen, ›erinnerte‹ er sich an Dinge, die er niemals vermutet hätte. Die Anstrengungen und Opfer, die Zdorab und Schedemei einander gebracht hatten. Der kalte Haß, den Vas für Obring und Sevet verspürte, und seit der Begebenheit an der Quelle Schazer auch für Elemak. Sevets bittere Selbstverachtung. Luets und Huschidhs Schmerz, weil ihre Männer sie immer mehr behandelten, wie es Elemaks Vorstellung von dem Verhältnis zwischen Gatte und Ehefrau entsprach, und immer weniger wie die Freunde, die sie eigentlich sein sollten.

Issib, der völlig von Huschidh abhängig war … wie schändlich war es von ihm, seine Frau nicht als eine in allen Belangen gleichberechtigte Partnerin zu sehen! Und wieviel schändlicher war es von mir, wo meine Gattin doch die größte aller Frauen und mindestens so klug ist, wie ich es bin!

Denn er hatte alle ihre Herzen von innen gesehen, und dieser Blick ließ keinen Raum für Haß. Ja, er wußte, daß Vas im Grund seines Herzens ein Mörder war — aber er ›erinnerte‹ sich auch an die Qualen, die Vas durchlitten hatte, als Sevet und Obring solche Schande über ihn gebracht hatten. Für Nafai war eine solche Erniedrigung natürlich keine Entschuldigung für einen Mord. Doch er wußte nun, wie die Welt durch Vas’ Augen aussah, und es war unmöglich, ihn danach zu hassen. Er würde natürlich verhindern, daß er seine Rache bekam, aber er verstand ihn trotzdem.

Genau, wie er Elemak verstand. Er wußte, wie er selbst in Elemaks Augen aussah. Hätte ich es doch nur gewußt, dachte Nafai. Hätte ich doch nur gesehen, was ich getan habe, daß er mich dermaßen haßt.

›Sei kein Narr! Er haßt deine Intelligenz. Er haßt, daß du gern intelligent bist. Er haßt deinen bereitwilligen Gehorsam für deine Eltern. Er haßt sogar, daß du ihn als Held verehrst. Er haßt dich, weil du du selbst bist — ihm so ähnlich und doch so anders. Du hättest nur verhindern können, daß er dich haßt, indem du jung gestorben wärst.‹

Nafai sah das ein, aber es änderte nichts. Daß er all dies nun wußte, änderte nichts daran, daß er es gern gesehen hätte, wären die Dinge anders gekommen. Oh, wie sehr sehnte er sich danach, daß Elemak ihn ansah und sagte: »Gut gemacht, Bruder, ich bin stolz auf dich.« Diese Worte hätte Nafai lieber von Elemak als von Vater gehört. Aber er würde sie niemals hören. Bestenfalls würde er heute Elemaks verdrossenes Einverständnis bekommen. Schlimmstenfalls Elemaks Leiche.

»Ich will ihn nicht töten«, flüsterte Nafai immer wieder.

›Wenn du ihn nicht töten willst, wirst du ihn auch nicht töten.‹

Und dann kehrten Nafais Gedanken zu Luet zurück. Ach, Luet, warum war dieser Mantel nötig, damit ich begreife, was ich dir antue? Du hast versucht, es mir zu sagen. Zuerst liebevoll, später dann wütend, aber die Mitteilung war dieselbe: Du verletzt mich. Du verlierst mein Vertrauen. Bitte tue es nicht! Aber ich habe nicht zugehört. Ich war dermaßen damit beschäftigt, der beste Jäger zu werden, das Leben eines Mannes unter Männern zu führen, daß ich vergaß: Bevor ich überhaupt ein Mann war, hast du meine Hand genommen und mich zum See der Frauen geführt; du hast mir nicht nur das Leben gerettet, sondern mir auch meinen Platz bei der Überseele gegeben. Alles, was ich bin, alles, was ich habe, mein Ich, meine Kinder, habe ich aus deinen Händen bekommen, Luet, und dann habe ich es dir schändlich heimgezahlt.

›Du bist fast da. Beherrsche dich!‹

Nafai riß sich zusammen. Er spürte, daß der Mantel in ihm an der Arbeit war, die Haut um seine Augen heilte, die sich vom Weinen gerötet hatte. Im nächsten Augenblick sah man seinem Gesicht nicht mehr an, daß er in Tränen ausgebrochen war.

Wird es so sein? Mein Gesicht eine Maske, nur weil ich diesen Mantel trage?

›Nur, wenn du es so willst.‹

Nafai ›erinnerte‹ sich daran, wohin Elemak und Mebbekew gegangen waren, um ihm aufzulauern. Vas und Obring waren im Dorf geblieben und sorgten dafür, daß niemand sein Haus verließ. Elja und Meb warteten, die Bogen in der Hand, um Nafai zu töten, sobald sie ihn sahen.

Nafais erster Gedanke war gewesen, sie einfach zu umgehen, damit sie ihn nicht sehen konnten. Dann hatte er sich überlegt, so schnell an ihnen vorbei zu fliegen, daß sie nicht schießen konnten. Aber beide Möglichkeiten wären auf lange Sicht kaum sinnvoll gewesen. Sie mußten ihr Verbrechen begehen. Sie mußten unprovoziert Pfeile in ihn jagen. »Sie sollen auf mich schießen«, sagte Nafai. »Hilf Meb, mich zu treffen — ohne deine Hilfe schafft er es nie. Hilf ihm, sich zu beruhigen, sich zu konzentrieren. Beide Pfeile sollen mich treffen.«

›Der Mantel unterdrückt keine Schmerzen.«

»Aber er wird mich heilen, sobald ich die Pfeile herausziehe, nicht wahr?«

›Ja. Aber erwarte keine Wunder.‹

»Das alles ist ein Wunder«, sagte Nafai. »Sorge dafür, daß Elemak mein Herz verfehlt.«

Elemak verfehlte sein Herz, aber nur knapp. Nafai verlangsamte den Paritka, damit sie in Ruhe zielen konnten. Er sah nur einen Augenblick, nachdem die Überseele selbst es gesehen hatte, daß der Paritka ihnen beiden einen Schrecken einjagte und Meb fast die Nerven verloren, den Bogen davongeworfen hätte und geflohen wäre. Doch Elemak zögerte nicht, und sein gemurmelter Befehl hielt Meb an Ort und Stelle, und dann zielten und schössen sie.

Nafai spürte, wie die Pfeile in seinen Körper eindrangen, Elemaks Pfeil tief in seine Brust, Mebs Pfeil in den Hals. Der zweite Pfeil war schmerzhafter, der erste gefährlicher. Was nicht heißen sollte, daß der erste nicht auch schmerzhaft war. Nafai hätte fast das Bewußtsein verloren.

›Wach auf! Du hast zu viel zu tun, um jetzt ein Nickerchen zu halten.‹

Es tut so weh, es tut so weh, rief Nafai stumm.

›Es war dein Plan, nicht meiner.‹

Aber es war der richtige Plan, und deshalb zog Nafai die Pfeile nicht heraus, bis der Paritka ihn in die Dorfmitte gebracht hatte. Wie er erwartet hatte, waren Vas und Obring entsetzt, als sie sahen, wie der Paritka heranflog und dann über dem Gras des Versammlungsplatzes schwebte, Nafai zusammengesackt auf dem Sitz, ein Pfeil in der Brust, der zweite deutlich sichtbar im Hals steckend.

Luet! rief Nafai stumm. Komm her und ziehe die Pfeile aus mir heraus. Alle sollen sehen, daß ich in einen Hinterhalt geraten bin. Daß ich keine Waffen trug. Du mußt deinen Teil dazu tun.

Er sah durch Luets Augen; jene Nähe, die ihn damals, als er vor so langer Zeit Vaters Vision empfangen hatte, fast in den Wahnsinn getrieben hätte, war jetzt viel leichter zu ertragen, denn der Mantel schützte ihn vor den verrückt machenden Aspekten der gespeicherten Erinnerungen der Überseele. Er sah deutlich, was ihre Augen sahen, nahm aber nur Andeutungen ihrer Gefühle wahr und fast nichts von dem Bewußtseinsstrom, der ihm damals so zugesetzt hatte.

Er sah, wie ihr Herz einen Sprung machte, als sie ihn erblickte, wie ihr der Anblick der Pfeile in ihm schwer zu schaffen machte. Wie sehr sie mich liebt! dachte er. Wird sie je wissen, wie sehr ich sie liebe?

»Kommt heraus«, rief sie, »kommt alle heraus und seht selbst!«

Sofort erklang in der Ferne Elemaks Stimme. »Bleibt in euern Häusern!«

»Kommt!« rief Luet. »Seht, wie sie versucht haben, meinen Gatten zu ermorden!«

Sie strömten aus den Häusern, Erwachsene und Kinder zugleich. Viele von ihnen schrien auf, als sie Nafai und die Pfeile in ihm erblickten.

»Seht — er hat nicht einmal einen Bogen dabei«, sagte sie. »Sie haben ohne den geringsten Anlaß auf ihn geschossen!«

»Das ist gelogen!« rief Elemak, der nun ebenfalls zum Versammlungsplatz schritt. »Ich habe mir schon gedacht, daß sie so etwas versuchen würden! Nafai hat die Pfeile selbst in sich hineingesteckt, damit es so aussieht, als hätten wir ihn angegriffen.«

Nun waren Zdorab und Volemak bei Luet, und sie waren es, die nach Nafai griffen und die Pfeile herauszogen. Der Pfeil im Hals mußte durchgebrochen werden, damit sie ihn von der Spitze her herausziehen konnten. Elemaks Pfeil riß Nafais Brust schlimm auf. Er fühlte, wie das Blut aus beiden Verletzungen strömte, und konnte noch immer nicht sprechen, aber er fühlte auch, daß der Mantel in ihm an der Arbeit war, ihn heilte, verhinderte, daß die Verletzungen ihn töteten.

»Ich lasse mir dafür nicht die Schuld geben«, sagte Elemak. »Nafai ist ein Experte, wenn es darum geht, das Opfer zu spielen.«

Aber Nafai sah, daß niemand Elemaks Lügen glaubte, von Kokor und Dol vielleicht abgesehen, die nie schrecklich intelligent und stets leicht zu täuschen gewesen waren.

»Niemand glaubt euch«, sagte Vater. »Nafai hat genau gewußt, daß ihr dies geplant habt.«

»Ach ja?« sagte Elemak. »Warum ist er dann in den angeblichen Hinterhalt gelaufen, wenn er so klug ist?«

Nafai legte die Antwort in Vaters Verstand.

»Weil er wollte, daß alle eure Pfeile in ihm sehen«, sagte Vater. »Er wollte, daß alle genau sehen, wer und was ihr seid, damit nie wieder Zweifel darüber bestehen kann.«

»Die meisten von uns haben es von Anfang an gewußt«, sagte Rasa. »Es ist unnötig, daß Nafai solche Verletzungen erträgt.«

»Es spielt keine Rolle«, sagte Luet. »Nafai trägt den Mantel der Überseele. Er ist jetzt der Herr der Sterne. Der Mantel heilt ihn. Elemak und Mebbekew können ihm nicht mehr schaden.«

Bin ich schon bereit? fragte Nafai. Der Schmerz hatte beträchtlich nachgelassen.

›Fast.‹

Elemak war sich genau bewußt, daß jetzt niemand mehr zu ihm hielt außer Meb, der keine andere Wahl hatte. Sogar Vas und Obring wandten die Gesichter von ihm ab — von ihnen würde er keine Unterstützung bekommen. Aber damit hatte er auch nicht gerechnet. »Was auch immer wir getan haben«, sagte Elemak, »wir haben es für unsere Kinder getan, für unsere Frauen — und auch für eure Frauen und Kinder. Wollt ihr diesen Ort wirklich verlassen? Ist einer unter euch, der diesen Ort verlassen will?«

»Keiner von uns will gehen«, sagte Luet. »Aber wir alle wissen, daß es von Anfang an so geplant war: Wir sollen zur Erde gebracht werden. Daraus hat niemand ein Geheimnis gemacht. Niemand hat euch belegen.«

Und dann —, und es war die alles krönende Beleidigung — ergriff Eiadh das Wort: »Ich möchte Dostatok nicht verlassen«, sagte sie. »Aber ich möchte lieber auf ewig durch die Wüste wandern, als daß ein anständiger Mann sterben muß, nur damit wir hier bleiben.«

Sie sprach mit Feuer, und Elemak fühlte, daß es in ihm brannte. Meine eigene Frau, und sie verdammt mich mit ihren Anklagen.

»Ah, jetzt seid ihr alle so tapfer!« rief er. »Aber gestern wart ihr mit mir einer Meinung. Habt ihr wirklich geglaubt, daß unser Frieden und unser Glück hier ohne Blutvergießen erhalten bleiben können? Ihr habt es alle von Anfang an gewußt — solange Nafai ständig Streit entfacht, wird es Meutereien und Uneinigkeit zwischen uns geben. Die einzige Hoffnung auf Frieden lag in dem, was ich vor über acht Jahren versucht habe.«

›Jetzt.‹

Er erhob sich. Zu seiner Überraschung war er unsicher auf den Füßen und benommen im Kopf. Sofort ›erinnerte‹ er sich an den Grund — der Mantel entzog seinem Körper im Notfall Energie, und seine schnelle Heilung hatte ihn mehr Energie gekostet, als er durch das Sonnenlicht ersetzen konnte. Doch Nafai wußte auch, daß diese befristete Schwäche ihn nicht daran hindern konnte, das zu tun, was er tun mußte.

»Elemak«, sagte er. »Ich habe auf dem ganzen Weg hierher geweint. Was du versucht hast, erfüllt mich mit Schmerz. Hättest du dich nur bereit erklärt, den Plan der Überseele auszuführen — ich wäre dir dann gern gefolgt. Aber von Anfang an hast du, hat dein Ehrgeiz zu herrschen, diese Gruppe auseinandergerissen. Glaubst du, diese Schwächlinge hätten sich jemals der Überseele widersetzt, hättest du dich nicht mit ihnen verschworen, hättest du sie nicht geführt? Elemak, siehst du nicht, daß du dich an den Rand des Todes gebracht hast? Die Überseele handelt zum Nutzen der gesamten Menschheit und wird sich nicht aufhalten lassen. Mußt du sterben, bevor du dies glaubst?«

»Ich weiß nur, wann auch immer die Überseele erwähnt wird, versuchen deine jammernde Frau oder deine Mutter, die Königin, die Herrschaft an sich zu reißen.«

»Keiner von uns hat versucht, dich oder irgend jemanden sonst zu beherrschen«, sagte Nafai. »Nur, weil du jeden wachen Augenblick davon träumst, andere Menschen zu beherrschen, müssen wir nicht genauso sein. Glaubst du etwa, mein Ehrgeiz habe diesen Paritka erschaffen, auf dem ich stehe? Glaubst du, Mutter habe Ränke geschmiedet, damit er in der Luft schwebt? Glaubst du, Luets — wie hast du es genannt? — Jammern habe mich hierher gebracht, eine Tagesreise in einer Stunde?«

»Das ist doch nur eine uralte Maschine«, sagte Elemak. »Eine uralte Maschine, genau wie die Überseele. Lassen wir uns jetzt von Maschinen Befehle erteilen?«

Er sah sich um, nach Unterstützung suchend, doch das Blut auf Nafais Hals und Umhang war zu frisch; außer Mebbekew begegnete niemand seinem Blick.

»Wir verlegen das Dorf nach Norden, in die Nähe von Vusadka«, sagte Nafai. »Und wir alle, die älteren Kinder eingeschlossen, werden gemeinsam mit den Maschinen der Überseele ein Sternenschiff wiederherstellen. Und wenn es bereit ist, werden wir alle dieses Schiff betreten und ins All starten. Wir werden hundert Jahre benötigen, um die Erde zu erreichen, aber den meisten von uns wird es wie eine einzige Nacht vorkommen, weil sie die ganze Reise über schlafen werden, und den anderen wie ein paar Monate. Und wenn die Reise endet, werden wir das Schiff verlassen und auf dem Boden der Erde stehen, die ersten Menschen seit vierzig Millionen Jahren. Willst du etwa uns allen dieses Abenteuer nehmen?«

Elemak schwieg; Mebbekew ebenfalls. Aber Nafai wußte, was in ihnen vorging: die grimmige Entschlossenheit, jetzt zurückzuweichen, ihn aber bei erster Gelegenheit bewußtlos zu schlagen, ihm die Kehle durchzuschneiden und seine Leiche ins Meer zu werfen.

Es reichte noch nicht. Sie mußten einsehen, daß Widerstand sinnlos war. Sie mußten aufhören, Ränke zu schmieden, und ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, das Schiff raumtauglich zu machen.

»Siehst du nicht ein, daß du mich nicht töten kannst, obwohl du, Elemak, dir in diesem Augenblick vorstellst, mir die Kehle durchzuschneiden und meine Leiche ins Meer zu werfen?«

Elemaks Zorn und seine Furcht verdoppelten sich in ihm. Nafai fühlte die Regungen; sie schlugen wellenförmig auf ihn ein.

»Siehst du nicht, daß die Überseele die Wunden in meinem Hals und meiner Brust bereits heilt?«

»Falls es überhaupt echte Wunden waren!« rief Meb. Armer Meb, der noch immer glaubte, Elemaks ursprüngliche Lüge könne wiederbelebt werden.

Als Antwort steckte Nafai den Finger in die Wunde in seinem Hals. Es hatte sich bereits Narbengewebe gebildet, das er durchstoßen mußte — aber niemand konnte übersehen, daß Nafais Finger fast bis zum dritten Knöchel in der Wunde steckte. Ein paar mußten würgen; die anderen keuchten oder stöhnten oder schrien in mitfühlendem Schmerz auf. Und um die Wahrheit zu sagen, der Schmerz war beträchtlich — und wurde noch stärker, als er den Finger wieder herauszog. Ich muß lernen, so theatralische Gesten demnächst zu vermeiden, dachte Nafai.

Er hielt seinen blutigen Finger hoch. »Ich vergebe dir dies, Elemak«, sagte er. »Ich vergebe auch dir, Mebbekew. Falls ich euren heiligen Eid bekomme, mir und der Überseele zu helfen, wenn wir ein gutes Schiff bauen.«

Es war zuviel für Elemak. Diese Erniedrigung war viel schlimmer als die vor acht Jahren in der Wüste. Er konnte nicht an sich halten. In seinem Herzen war nur noch mörderische Wut. Ihm war nun völlig gleichgültig, was die anderen dachten — er wußte, daß er ihren Beistand verloren hatte. Er wußte, er hatte seine Frau und seine Kinder verloren — was blieb ihm noch? Der Schmerz, den er in sich fühlte, konnte auch nur ansatzweise abheilen, wenn er Nafai tötete; wenn er ihn zum Meer schleppte und untertauchte, bis er nicht mehr um sich trat und schlug. Danach konnten die anderen tun, was sie wollten — Elemak war zufrieden, wenn Nafai nur tot war.

Elemak trat einen Schritt auf Nafai zu. Dann noch einen.

»Haltet ihn auf«, sagte Luet. Aber niemand trat ihm in den Weg. Niemand wagte es — der Ausdruck auf Elemaks Gesicht war zu schrecklich.

Mebbekew lächelte und trat neben Elemak.

»Faßt mich nicht an«, sagte Nafai. »Die Macht der Überseele ist wie Feuer in mir. Die Wunden, die ihr mir zugefügt habt, haben mich geschwächt — ich habe nicht mehr die Kraft, die Macht in mir zu kontrollieren. Wenn ihr mich berührt, werdet ihr sterben!«

Er sprach mit solcher Schlichtheit, daß in seinen Worten die einfache Kraft der Wahrheit lag. Er fühlte, wie in Elemak etwas zerbröckelte. Nicht, daß sein Zorn erstorben wäre; nein, in ihm zerbrach jener Teil, der es nicht ertragen konnte, Angst zu haben. Und als diese Barriere eingerissen war, verwandelte sich der gesamte Zorn zurück in das, was er eigentlich von Anfang an gewesen war: Furcht. Furcht, daß er seinen Rang an seinen jüngeren Bruder verlieren würde. Furcht, daß die Leute ihn ansehen und Schwäche statt Stärke bemerken würden. Furcht, daß die Leute ihn nicht lieben würden. Und über allem die Furcht, daß er keine Kontrolle mehr über irgend jemanden oder irgend etwas auf der Welt hatte. Und nun wurden all diese Ängste, die er so lange vor sich selbst verborgen hatte, in ihm entfesselt — und sie alle waren Wirklichkeit geworden. Er hatte seinen Rang verloren. Alle sahen seine Schwäche, sogar seine Kinder. Niemand hier konnte ihn noch gern haben. Und er hatte keine Kontrolle mehr, nicht einmal genug Kontrolle, um diesen Jungen zu töten, der ihn verdrängt hatte.

Als Elemak stehenblieb, verharrte auch Meb — immer der .Opportunist; er schien keinen eigenen Willen zu haben. Aber Nafai wußte genau, daß Mebs Geist bei weitem nicht so gebrochen war wie der Elemaks. Er würde auch weiterhin seine Ränke schmieden, und da Elemak nun keine Rolle mehr spielte, würde dies ihn auch nicht mehr zurückhalten können.

Daher war Nafai klar, daß er noch nicht gewonnen hatte. Er .mußte ein für allemal demonstrieren — Meb und Elemak und allen anderen —, daß es sich nicht nur um einen Kampf zwischen Brüdern handelte, daß nicht Nafai, sondern die Überseele Elemak und Meb besiegt hatte. Und im Hinterkopf klammerte Nafai sich an die Hoffnung: Wenn Elja und Meb begreifen könnten, daß die Überseele sie heute gebrochen hat, werden sie vielleicht mir selbst vergeben und wieder meine wahren Brüder sein.

Genug Energie, um sie bewußtlos zu machen, sagte Nafai stumm. Nicht genug, um sie zu töten.

›Der Mantel wird handeln, wie du es beabsichtigst.‹

Nafai streckte die Hand aus. Er sah, wie sie Funken sprühte, doch es war viel beeindruckender, als er es durch die Augen der anderen sah. Indem er auf die Überseele zugriff, sah er Dutzende von Bildern von sich auf einmal. Sein Gesicht schimmerte von tanzendem Licht, das immer heller wurde. Und seine Hand lebte vor Licht, als würden tausend Glühwürmchen sie umschwärmen. Er zeigte mit dem Finger auf Elemak, und ein Feuerbogen sprang wie ein Blitz aus der Fingerkuppe und traf Elemak am Kopf.

Eljas Körper verkrampfte sich brutal, und er wurde zu Boden geschleudert.

Habe ich ihn getötet? rief Nafai in stummer Qual.

›Nur betäubt. Hab ein wenig Vertrauen in mich, ja?‹

Tatsächlich, Elemak bewegte sich wieder, zuckte verkrampft auf dem Boden. Also richtete Nafai die Hand auf Meb.

»Nein!« schrie Meb. Nachdem er gesehen hatte, was mit Elemak passiert war, wollte er verschont bleiben. Aber Nafai sah, daß er in seinem Herzen noch immer Ränke schmiedete. »Ich verspreche dir, ich tue alles, was du willst! Ich wollte Elemak sowieso nicht helfen, er hat mich gezwungen.«

»Meb, du bist ein solcher Narr! Glaubst du, ich wüßte nicht, daß Elemak dich daran gehindert hat, mich in der Wüste zu ermorden, als ich dich daran hinderte, einen Pavian zu töten?«

Mebs Gesicht wurde eine Maske der schuldbewußten Furcht. Zum erstenmal in seinem Leben wurde Mebbekew mit einem seiner Geheimnisse konfrontiert, vom dem er glaubte, niemand könne davon wissen; nun mußte er die Konsequenzen tragen. »Ich habe Kinder!« schrie er. »Töte mich nicht!«

Der Lichtbogen knisterte erneut durch die Luft, traf Mebs Kopf und warf ihn zu Boden.

Nafai war erschöpft. Er konnte kaum noch stehen. Luet, hilf mir, sagte er stumm und drängend.

Er fühlte ihre Hände an seinem Arm; sie stützte ihn. Sie mußte neben ihn in den Paritka geklettert sein.

Ach, Luet, so sollte es immer sein. Ich kann nicht stehen, wenn du nicht neben mir bist. Wenn du nicht dazugehörst, schaffe ich es auch nicht.

Als Antwort fühlte er lediglich die Liebe, die sie ihm entgegenbrachte, die gewaltige Erleichterung, daß die Gefahr vorüber war, und ihren Stolz über die Stärke, die er gezeigt hatte.

Wie kannst du so nachsichtig und versöhnlich sein? fragte er sie stumm.

Ich liebe dich! war die einzige Erwiderung, die er in ihrem Herzen fand.

Nafai entschied, der Paritka solle landen, also tat er es. Luet half ihm hinaus, und während ihre Kinder um sie herumliefen, führte sie ihn zum Haus zurück. Im Lauf der nächsten paar Minuten schauten alle anderen vorbei und fragten, ob sie helfen könnten. Doch Nafai brauchte nur Schlaf. »Seht nach den anderen«, flüsterte er. »Ich befürchte, daß der Schaden nicht mehr zu reparieren ist.«

Als Nafai erwachte, dämmerte es fast schon. Zdorab war in ihrer Küche und kochte; Issib, Huschidh, Schedemei und Luet hatten sich um sein Bett versammelt. Sie sahen ihn nicht an …. sie unterhielten sich leise miteinander. Er lauschte.

Sie sprachen darüber, wie leid es ihnen um Eiadh und Dol tat und um deren Kinder, besonders um Proja, der so stolz auf seinen Vater Elemak gewesen war. »Er sah aus, als hätte er gerade gesehen, wie sein Vater starb«, sagte Luet.

»Dem war auch so«, sagte Huschidh. »Zumindest hat er den Tod des Vaters gesehen, den er kannte.«

»Es wird lange dauern, bis der Schaden, der heute angerichtet wurde, wieder verheilt ist«, sagte Schedemei.

»War es ein Schaden?« fragte Luet. »Oder der Anfang des Heilungsprozesses von Wunden, die wir in den letzten acht Jahren einfach ignoriert haben?«

Huschidh schnalzte mit der Zunge. »Nafai würde euch als erster sagen, daß heute keine Heilung, sondern ein Krieg stattgefunden hat. Heute hat die Überseele ihren Willen bekommen — das Sternenschiff wird ausgerüstet werden, und Elemak und Mebbekew werden so hart wie alle anderen arbeiten, nachdem sie sich erholt haben. Aber der Schaden ist dauerhaft. Elemak und Mebbekew werden Nafai immer als ihren Feind sehen. Und alle anderen auch, die Nafai dienen.«

»Niemand dient Nafai«, sagte Luet. »Wir dienen nur der Überseele, wie Nafai auch.«

»Ja«, pflichtete Schedemei ihr sofort bei. »Wir alle wissen das, Luet. Es war nicht Nafais Kampf, es war der der Überseele. Jeder von uns hätte den Mantel bekommen können.«

Nafai stellte fest, daß Schedemei einen Moment versucht war, zu sagen, daß sie den Mantel bekommen hätte, hätte Nafai ihn zurückgewiesen. Doch sie entschied sich dagegen. Sie würde es niemandem mehr sagen — außer Zdorab natürlich. Elemak und Mebbekew, Vas und Obring — sie würden es wohl keinem verraten, falls sie überhaupt verstanden hatten, was Schedemei ihnen am vergangenen Abend gesagt hatte. Schedemei wußte nun, daß die Überseele als nächste sie als Führerin der Kolonie auserwählt hätte — das genügte ihr, sie war zufrieden.

»Er ist wach«, sagte Luet.

»Woher weißt du das?« fragte Issib.

»Seine Atmung hat sich verändert.«

»Ich bin wach«, sagte Nafai.

»Wie geht es dir?« fragte Luet.

»Ich bin noch müde. Aber mir geht es besser. Nein, sogar gut. Eigentlich bin ich auch nicht mehr müde.« Er richtete sich auf einen Ellbogen auf, und sofort wurde ihm etwas schwindlig. »Wenn ich es mir genau überlege, bin ich eindeutig noch müde.« Er legte sich wieder auf den Rücken.

Die anderen lachten.

»Wie geht es Elja und Meb?«

»Sie schlafen sich aus, genau wie du«, sagte Schedemei.

»Und wer hat eure Kinder?« fragte Nafai sie.

»Mutter«, sagte Issib.

»Herrin Rasa«, sagte Schedemei. »Zdorab war der Ansicht, daß du etwas Richtiges zu essen haben willst, wenn du aufwachst. Also ist er mitgekommen und hat gekocht.«

»Unsinn«, sagte Luet. »Er hat gewußt, welche Sorgen ich mir mache, und wollte nicht, daß ich mich auch noch um das Kochen kümmern muß. Du hast nicht nach unseren Kindern gefragt.«

»Eigentlich muß ich nach gar keinen Kindern fragen«, sagte er. »Ich weiß, wo sie sind.«

Darauf konnten sie nichts erwidern. Kurz darauf brachten sie das Essen herein, und sie aßen gemeinsam, während sie um das Bett saßen. Nafai erklärte ihnen, welche Arbeiten am Sternenschiff ausgeführt werden mußten, und sie überlegten, wie sie diese Arbeit aufteilen konnten. Sie sprachen jedoch nicht lange darüber, da Nafai eindeutig erschöpft war — körperlich, wenn auch nicht geistig. Kurz darauf gingen sie alle, auch Luet; aber Luet kehrte bald mit den Kindern zurück, die hereinkamen und ihren Vater umarmten. Schveja drückte sich besonders fest an ihn. »Papa«, sagte sie, »ich habe deine Stimme in meinem Herzen gehört.«

»Ja«, sagte er. »Aber das ist in Wirklichkeit die Stimme der Überseele.«

»Es war deine Stimme, als du gedacht hast, du würdest sterben«, sagte sie. »Du standest auf einem Hügel, wolltest gerade herunterlaufen und dich durch eine unsichtbare Wand werfen. Und du hast mir zugerufen, Veja, ich liebe dich.«

»Ja«, sagte er. »Das war doch meine Stimme.«

»Ich liebe dich auch, Papa«, sagte sie.

Er schlief wieder ein.

Und wachte mitten in der Nacht auf und hörte eine Brise vom Meer, die im Stroh des Daches spielte. Er fühlte sich wieder stark, stark genug, um sich in den Wind zu erheben und zu fliegen.

Statt dessen streckte er die Hand aus und berührte Luet, zog sie zu sich. Sie erwachte schläfrig und protestierte nicht, schmiegte sich sogar an ihn. Sie wäre bereit gewesen, mit ihm zu schlafen, hätte er es gewollt. Doch er wollte sie heute nacht nur berühren, sie festhalten, das tanzende Licht des Mantels mit ihr teilen, damit auch sie sich an alle Dinge aus dem Geist der Überseele erinnern konnte, an die er sich erinnerte. Damit sie so deutlich in sein Herz sehen konnte, wie er in das ihre sehen konnte, und wußte, daß er sie so sehr liebte, wie er wußte, daß sie ihn liebte.

Das Licht vorn Mantel wuchs und wurde heller. Er küßte sie auf die Stirn, und als er die Lippen von ihrer Haut löste, sah er, daß auch auf Luet ein schwaches Licht funkelte. Er wußte, es würde wachsen. Es wird wachsen, bis es keinen Unterschied mehr zwischen uns gibt. Laß keine Barriere zwischen uns stehen, Luet, mein Schatz. Ich will nie wieder allein sein!

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