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Der Raum war niedrig, rund und bis auf einen flachen dreibeinigen Tisch vollkommen leer. Die Wände bestanden aus Spiegeln. Hohe, rahmenlose Spiegel, die beinahe fugenlos aneinandergesetzt waren und dem Betrachter das Gefühl vermittelten, sich in einem gigantischen Kaleidoskop zu befinden. Die Beleuchtung kam von einer einzelnen Kerze, die auf dem Tisch stand und in der schimmernden Sterilität des Raumes irgendwie verloren und deplaziert wirkte. Aber obwohl es nur diese winzige, ruhig brennende gelbe Flamme gab, war der Raum fast schmerzhaft hell erleuchtet. Die schimmernden Wände warfen das Licht tausendfach zurück. Einem aufmerksamen Bobachter wäre aufgefallen, daß die Spiegel nicht ganz eben waren. Ihre Oberflächen waren konkav geschliffen, so daß der Schein der Kerzenflamme wie von einem Parabolspiegel gesammelt und zurückgeworfen wurde.

Einer der Spiegel verblaßte plötzlich. Er wurde unscharf, blaß und transparent und löste sich schließlich vollständig auf. Ein Mann betrat den Raum. Hinter ihm materialisierte sich der Spiegel wieder. Ulthar blieb stehen, betrachtete den Tisch mit der Kerze kritisch und nickte schließlich unmerklich. Er hatte die gleichen Vorbereitungen schon unzählige Male getroffen, sie waren zu einem täglichen Ritual geworden, aber dennoch war er nervös.

Mit zwei, drei schnellen Schritten durchquerte er den Raum und kniete vor dem Tisch auf den Boden. Seine Lippen murmelten eine lautlose Beschwörungsformel, und seine Hand führte verschlungene, komplizierte Bewegungen aus, fast als führe er mit den Fingerspitzen über die Linien eines unsichtbaren Pentagramms. Für eine endlose Zeitspanne geschah nichts, dann schloß Ulthar die Augen. Er spürte, wie sein Geist mit den Spiegeln verschmolz, wie ihre Macht ihn durchströmte und ihm Kraft verlieh.

»Melissa«, raunte er. »Melissa, ich rufe dich.«

Sein leises Flüstern wurde von den Spiegeln zurückgeworfen und verstärkt, hallte als immer lauter werdendes Echo durch den kleinen Raum. Diesmal aber war etwas anders als sonst. Ulthar wurde selbst so überrascht, daß es mehrere Sekunden dauerte, bis er begriff, daß sein Ruf nicht wie all die Tausenden anderen Male zuvor ungehört im Nichts verhallte, sondern empfangen wurde, daß er mit seinen geistigen Fühlern nicht wieder nur ins Leere tastete, sondern bereits nach wenigen Sekunden Kontakt bekam. Für einen Augenblick glaubte er an eine Täuschung, eine Halluzination, weil er diesen Moment so lange herbeigesehnt hatte. Schon ein paarmal hatte er geglaubt, Melissa aufgespürt zu haben, aber jedesmal stellte sich heraus, daß er sich nur selbst etwas vorgegaukelt hatte.

Diesmal jedoch war kein Irrtum möglich. Das Echo, das er verspürte, war so deutlich, so stark, daß es sich nicht nur eindeutig um Melissa handelte, sondern sie sich sogar ganz in der Nähe befinden mußte, auf alle Fälle innerhalb der Stadtgrenzen von New York.

Melissa!

Eine ungeheure Aufregung packte Ulthar. Sein Herz begann zu rasen, und er verstärkte seine Anstrengungen noch.

Er hatte Melissa gefunden, hatte sie nach so vielen Jahren endlich gefunden, und sie befand sich hier in New York. Die Namensgleichheit mit dem jungen Mädchen, das ihm in der vergangenen Nacht in die Falle gegangen war, schien ein gutes Omen gewesen zu sein.

Das Gesicht einer jungen, dunkelhaarigen Frau zeichnete sich verschwommen in den Spiegeln ab, wurde langsam deutlicher. Sie saß zusammen mit anderen Frauen an einem Tisch. Vorsichtig tastete Ulthar nach ihrem Geist. Wie nicht anders zu erwarten, hatte Melissa eine andere Identität angenommen, war mit dem Bewußtsein einer anderen verschmolzen, aber das stellte kein Problem dar. Er würde dafür sorgen, daß sie sich ihrer selbst bewußt wurde und sich daran erinnerte, wer sie wirklich war, und schließlich würde er sie aus ihrer jetzigen unwürdigen Existenz befreien, und alles würde wieder wie früher sein.

Ulthar zwang sich selbst zur Ruhe. Er wußte, daß er jetzt keinen Fehler machen durfte, so groß die Versuchung auch war, Melissa augenblicklich aus ihrem Dämmerschlaf zu reißen. Er mußte langsam und behutsam vorgehen. Wenn er sie schon jetzt aufweckte, konnten die Folgen dieser abrupten Bewußtseinsspaltung sowohl für sie wie auch für ihre augenblickliche Identität verheerend sein, möglicherweise würde der Schock sogar beide töten. Er durfte nur vorsichtige Anstöße geben, solange sie sich nicht hier in seinem Kabinett befand und er ihr vollends zu einem neuen eigenen Leben verhelfen konnte.

All die Jahre, die verstrichen waren, seit er Melissa zuletzt gesehen hatte, waren vergessen. Er hatte gewartet, gewartet und gehofft, fast ein Vierteljahrhundert lang, hatte all die hochtrabenden Pläne, die er vor ihrem Tod gehabt hatte, zurückgestellt, und mehr als einmal hatte er die Hoffnung fast aufgegeben. Aber all das war nun unwichtig geworden.

»Melissa«, raunte Ulthar noch einmal und spürte, wie ihr Bewußtsein auf seinen Ruf reagierte, dann schrak er plötzlich auf. Etwas hatte sich verändert. Er war nicht länger allein. Jemand näherte sich, aber diesmal handelte es sich nicht um irgendeinen Touristen, der sich auf Coney Island ein wenig umsehen wollte. Dieser Besuch galt ihm. Und sein Besucher war kein normaler Mensch. Deutlich konnte Ulthar die fremdartige Ausstrahlung des Mannes spüren.

Mit einem gemurmelten Fluch erhob er sich. Das Bild der jungen Frau in den Spiegeln verblaßte und verschwand ganz. Ulthar löschte die Kerze, murmelte einen weiteren Fluch und verließ den Raum auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war.

Sein Besucher hatte das Kabinett bereits betreten und erwartete ihn in einem völlig kahlen Raum. Einige Sekunden lang musterten sie sich gegenseitig schweigend, dann trat Ulthar auf den kleinwüchsigen, leicht übergewichtigen Mann zu. »Du bist also gekommen. Wir haben uns lange nicht gesehen, Conelly. Oder soll ich dich lieber wie früher Monstermacher nennen?«

Sein Gegenüber verzog das Gesicht. »Du weißt, daß ich diesen Namen schon immer gehaßt habe. Du bist alt geworden, Ulthar, aber sonst scheinst du dich nicht verändert zu haben. Wir hätten uns schon längst mal treffen sollen, um wie Freunde über die alten Zeiten zu plaudern.«

»Freunde?« Ulthars Gesicht verzog sich zu einem höhnischen Lächeln. »Ich kann mich nicht erinnern, daß wir jemals sonderlich gute Freunde waren. Und ich kann mich auch nicht erinnern, dich eingeladen zu haben. Du bist doch sicherlich nicht nur gekommen, um über die alten Zeiten zu plaudern«, vermutete er, den Tonfall seines Besuchers nachahmend. »Also sag, was du zu sagen hast, oder verschwinde wieder.«

Conelly schüttelte den Kopf. »Warum so barsch, Ulthar? Gut, wir waren nie besonders gute Freunde, aber als Feindschaft kann man unsere gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten doch auch nicht bezeichnen.«

»So? Meinst du?« entgegnete Ulthar und musterte seinen Besucher kalt. Obwohl dieser Mann so harmlos aussah, beging Ulthar nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Er fragte sich, worauf Conelly hinauswollte und was sein Auftauchen gerade zu diesem Zeitpunkt zu bedeuten hatte. Ein Zufall? Ulthar glaubte nicht daran.

Conelly nickte. »Ja, meine ich. Außerdem liegt diese kleine Fehde nun wahrlich lange genug zurück. Du und ich, wir gehören dem gleichen Schlag an. Wir sind anders als dieses minderwertige Gewürm da draußen. Stärker. Mächtiger. Zum Herrschen bestimmt. Gemeinsam können wir alles erreichen.«

»Wenn ich dich richtig verstehe, bittest du mich also um Hilfe?«

»Hilfe?« Conelly lachte abfällig, und für einen Moment schimmerte grenzenloser Hochmut in seinen Augen. »Ich komme nicht als Bittsteller. Vergiß nicht, daß mir diese Stadt praktisch gehört. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich dich längst vernichten können. Ich brauche deine Hilfe nicht, um meine Ziele zu erreichen.«

»So?« erkundigte sich Ulthar, ohne eine Miene zu verziehen. »Warum hast du es nicht versucht?«

»Warum hätte ich? Eine Weile habe ich Angst vor dir gehabt, damals, als du dich mit Melissa zusammengetan hast. Gemeinsam wart ihr so mächtig, daß ihr mir hättet gefährlich werden können. Aber nach ihrem bedauerlichen Tod ...« Er zuckte mit den Achseln. »Sieh dir doch an, was aus dir geworden ist. Ein verbitterter alter Mann, der einem Traum nachjagt, der sich nie erfüllen wird. Du hast deine Finger aus meinen Geschäften gelassen, und ich habe dich dafür gewähren lassen. Und vergiß nicht, daß ich es war, der Melissas Mörder zur Rechenschaft gezogen hat.«

Bevor ich es tun und dabei mehr über die Hintergründe erfahren konnte, dachte Ulthar, sprach diesen Gedanken aber nicht aus. »Komm endlich zur Sache«, verlangte er. »Warum bist du gekommen?«

»Um endlich Frieden zu schließen. Es wird Zeit, das Kriegsbeil zu begraben.«

»Ich denke, wir hatten nie Krieg?« erinnerte Ulthar ironisch.

»Hör endlich auf mit den Spielchen«, zischte Conelly. »Ich bin nicht hier, um mit dir um Worte zu feilschen. Ich will dir einen Pakt anbieten, von dem wir beide profitieren. Es ist erbärmlich, wie die du deine einzigartigen Fähigkeiten vergeudest. Ich habe nichts gegen dich unternommen, aber das heißt nicht, daß ich dich nicht beobachtet hätte. Ich weiß, wie gut du deine Spiegel inzwischen beherrscht. Du könntest jeden in deine Macht bringen, die einflußreichsten, reichsten und mächtigsten Leute des Landes, statt dessen begnügst du dich damit, ein paar Teenager in dein Kabinett zu locken, die nachts hier herumstreunen.«

»Vielleicht reicht es mir«, wandte Ulthar ein. »Du weißt, daß ich nicht von hier weggehen kann, solange ich Melissa nicht gefunden habe. Nirgendwo sonst sind die Konstellationen so günstig.«

Conelly machte eine gleichgültige Handbewegung. »Wer sagt, daß du das sollst? Du kannst mir nichts vormachen, dafür kenne ich dich zu gut. Du gibst dir die Schuld an Melissas Tod, weil du sie nicht geschützt hast, und deshalb bestrafst du dich selbst, indem du dich von der Welt zurückziehst und hier den Emigranten spielst.«

»Ein bißchen Selbstbeschränkung tut manchmal ganz gut. Du hättest einen hervorragenden Psychiater abgegeben«, erwiderte Ulthar mit einem kalten Lächeln, doch diesmal reagierte Conelly nicht auf den Spott.

»Du hast über zwanzig Jahre um Melissa getrauert und alles unternommen, um sie zu finden«, fuhr er fort. »Du bist alt, viel Zeit bleibt dir nicht mehr. Willst du den Rest deines Lebens auch noch vergeuden?« Er machte eine kurze Pause. »Auch ich merke, daß ich allmählich älter werde, und es gibt noch vieles, was ich erreichen will. Diese Stadt wird mir allmählich zu klein. Ich habe größere Ziele.«

»Dann werde Präsident.«

»Warum nicht?« Conelly blieb ernst. »Vielleicht habe ich genau das vor. Ich habe New York immer nur als ein Sprungbrett gesehen, aber diese Sache mit der Prostituierten hängt mir auch nach all den Jahren noch nach. Ich komme nicht richtig voran. Ich kann dank meiner Helfer jeden ausschalten, der sich mir in den Weg stellt, aber im Gegensatz zu dir kann ich niemanden unter meinen Willen zwingen. Gemeinsam aber könnte uns niemand aufhalten. Ich kann dafür sorgen, daß jede auch nur einigermaßen einflußreiche Person in den Bann deiner Spiegel gerät.«

Ulthar überlegte. Wenn es ihm um diese Art von Macht ginge, brauchte er Conellys Hilfe nicht. Er war längst nicht mehr darauf angewiesen, zu warten, bis jemand aus freiem Willen in sein Kabinett kam. Bislang jedoch hatte er keinerlei Ambitionen in dieser Richtung gehegt. Wichtiger war es ihm gewesen, Melissa zu finden, und wenn er gleichzeitig versucht hätte, größere Macht zu erlangen, wäre der alte Konflikt mit Conelly oder möglicherweise auch anderen wie ihnen beiden neu entbrannt und hätte ihn von seinem eigentlichen Ziel abgelenkt. Mit Melissas Auftauchen hatte sich die Situation grundlegend verändert, aber die Suche hatte lange gedauert, viel, viel länger als anfangs erwartet. Er war alt geworden, doch das spielte nun keine Rolle mehr. Es war ein Irrtum zu glauben, ihm bliebe deshalb nicht mehr viel Zeit. Es war nur gerecht, wenn er zum Ausgleich für die ihretwegen verlorenen Jahre von Melissa die Preisgabe ihres besonderen Geheimnisses als Preis für ihre Befreiung verlangte.

In anderer Hinsicht sah er wegen der verstrichenen Zeit viel größere Schwierigkeiten auf sich zukommen. Er hatte sich weitgehend hier vergraben, und die Welt war in den zweieinhalb Jahrzehnten nicht stehengeblieben. Mit Sicherheit hatte sich vieles verändert, und Ulthar war sich nicht sicher, ob er sich auf Anhieb so zurechtfinden würde, wie nötig sein würde. Insofern kam ihm das Angebot nicht einmal ungelegen. Natürlich würde ihn Conelly nicht auf Dauer neben sich dulden, so wenig, wie er selbst es umgekehrt vorhatte, aber eine vorübergehende Zusammenarbeit würde Ulthar nur Vorteile bringen. Er konnte die Stärken und Schwächen seines Gegners kennenlernen und dieses Wissen dann gegen ihn verwenden. Der Monstermacher würde sich sein eigenes Grab schaufeln.

»Nun?« drängte Conelly.

Ulthar nickte bedächtig. »Warum eigentlich nicht? Vielleicht hast du recht. Die Welt ist groß genug für uns beide, wir sollten zusammenarbeiten. Und wie ich dich kenne, hast du doch bestimmt schon einen Plan.«

»Sogar mehr als das«, bestätigte Conelly mit einem zufriedenen Lächeln. »Ich habe schon konkrete Vorkehrungen getroffen. In ein paar Stunden findet bei mir ein Empfang statt, zu dem fast alle einflußreichen Persönlichkeiten der Stadt kommen werden. Eine ideale Gelegenheit, sie alle auf einmal in unsere Gewalt zu bringen. Ich werde dafür sorgen, daß du leichtes Spiel mit ihnen hast. Allerdings fordere ich dafür eine Gegenleistung.«

»Und die wäre?« erkundigte sich Ulthar gespannt. Er hatte von Anfang an gewußt, daß es einen Haken geben würde. Conelly wäre nicht Conelly, wenn er nicht irgendwelche Hintergedanken hegte.

»Nur eine Kleinigkeit«, erklärte Conelly. »Es geht um eine Frau. Sie könnte uns vielleicht gefährlich werden. Ich will sie haben. Ihr Name ist Vivian Taylor.«

Ulthar hatte Mühe, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. Vivian Taylor war Melissas gegenwärtige Identität. Er hätte sich denken können, daß Conelly nur gekommen war, weil er Bescheid wußte und ihm zuvorkommen wollte. Aber dafür war es bereits zu spät.

»Einverstanden«, antwortete Ulthar mit einem ebenso freundlichen wie falschen Lächeln.

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