18

Sie wartete auf einen Aufprall, der niemals kam. Das Gefühl zu fallen verschwand so übergangslos, wie es gekommen war, und Vivian fand sich in einer engen, kaum anderthalb Meter hohen Kammer wieder. Von irgendwoher kam Licht; hartes, grelles, in den Augen schmerzendes Licht, und der Boden unter ihren Händen fühlte sich seltsam warm und weich an. Schwache, rhythmische Erschütterungen, die sie unwillkürlich an das Schlagen eines gigantischen Herzens erinnerten, liefen über Boden und Wände, dann veränderte sich der Raum. Warnungslos, von einem Augenblick auf den anderen, wichen die Wände zurück, wurden erst grau, dann silbern und verwandelten sich schließlich in große, leicht gebogene Spiegel. Gleichzeitig schien die Decke mit rascher Geschwindigkeit in die Höhe zu wachsen.

Vivian hatte immer mehr den Eindruck, sich nicht in einem Haus, sondern im Inneren eines riesigen, unbegreiflichen Organismus zu befinden. Sie stand auf, sah sich um und ging zögernd los. Die Kammer hatte sich in einen endlosen, sanft ansteigenden Gang verwandelt, von dem unzählige weitere Gänge und Tunnel abzweigten. Ihre Schritte erzeugten ein hallendes, metallisches Echo auf dem Boden. Von den Wänden starrten ihr Tausende von Spiegelbildern entgegen, aber es waren nicht ihre eigenen Spiegelbilder. Während Vivian den Gang entlang schritt, betrachtete sie die Abbilder der gefangenen Menschen, die Opfer von Ulthars unheimlichem Kabinett geworden waren. Männer, Frauen, Kinder, alte, junge - Ulthar schien in der Wahl seiner Opfer sehr großzügig gewesen zu sein. Ihr fiel auf, daß dieser Teil des Labyrinths schon sehr alt sein mußte. Die abgebildeten Menschen trugen Kleider, wie man sie vor dreißig oder vierzig Jahren getragen hatte. Vivian hatte den Eindruck, sich zwischen den Statisten eines Films zu bewegen, der irgendwann Ende der fünfziger Jahre spielte.

Und noch etwas fiel ihr auf: Die Bilder waren nicht alle gleich. Viele der Menschen wirkten irgendwie dünn, farblos, teilweise mit verschwommenen Konturen und kaum noch erkennbaren Gesichtern. Ähnlich einer Fotografie, die zu lange in der Sonne gelegen hatte, waren sie verblaßt, unwirklich geworden, so, als sickerten sie langsam, unendlich langsam durch den Spiegel hindurch in eine andere, fremde Welt. Vivian trat dicht an einen der Spiegel heran und fuhr prüfend mit den Fingerspitzen darüber. Das Glas fühlte sich porös an, brüchig, als wäre seine Oberfläche von Millionen unsichtbaren Rissen durchzogen.

Ein leises Schleifen ließ Vivian herumfahren. Sie runzelte die Stirn. Das Geräusch schien aus einem der angrenzenden Gänge zu dringen - ein helles, kratzendes Quietschen, als würde jemand mit einem Nagel über eine Glasscheibe fahren. Vorsichtig bewegte sie sich auf die Abzweigung zu, hinter der sie die Quelle des Geräusches vermutete.

Was Vivian sah, ließ sie erschrocken zusammenfahren. Das Wesen war kaum größer als einen Meter, und es schien eine Mischung aus einem zwergenwüchsigen Menschen und einer übergroßen Eidechse zu sein, aber ihm fehlte die grazile Feingliedrigkeit dieser kleinen Echsen. Und in seinen Augen funkelte eine böse, mordlustige Intelligenz. Der kräftige, gedrungene Rumpf ging in ein paar muskulöse Beine über, die in schrecklichen Raubtierkrallen endeten. Die Arme waren überlang und schienen ein zusätzliches Gelenk zu haben. Das Wesen besaß einen langen, schuppigen Schwanz, einen langgestreckten Schädel mit einem Krokodilgebiß und kleine, glühende Augen. Die Ähnlichkeit mit den Echsenwesen auf der Party und am Riesenrad war nur vage, aber unverkennbar. Es mußte sich ebenfalls um eine von Conellys Kreaturen handeln.

Obwohl es relativ klein war, spürte Vivian die Gefahr, die von dem Wesen ausging, überdeutlich. Es bewegte sich mit schnellen, eleganten Bewegungen durch den Gang, hielt an jeder Abzweigung an, um zu schnüffeln und den Kopf witternd in den Nacken zu legen, und huschte weiter.

Vivian folgte ihm, ohne zu zögern. Da Conelly und Ulthar verfeindet waren, vermutete sie, daß das Wesen sie zu dem Magier führen würde, vielleicht sogar den Auftrag hatte, ihn zu töten. Das würde ihre Probleme noch nicht lösen, ihr aber beträchtlich helfen. Und vielleicht würden die Spiegel nach Ulthars Tod ihre Macht verlieren, und Mark wäre wieder frei.

Das Labyrinth schien endlos zu sein. Vivian hatte schon nach wenigen Augenblicken vollständig die Orientierung verloren. Sie wußte nicht mehr, ob sie sich hinauf oder hinunter, im Kreis oder geradlinig bewegten. Aber das Ungeheuer vor ihr schien den Weg zu kennen. Es huschte auf seinen kleinen flinken Füßen durch die Gänge, hetzte über Treppen und Flure, so daß Vivian Mühe hatte, es nicht aus den Augen zu verlieren.

Schließlich blieb ihr unfreiwilliger Führer vor einer hohen, spiegelnden Tür stehen. Seine plumpen Finger kratzten über die Klinke und rüttelten daran. Sie war verschlossen. Das Wesen zischte ärgerlich, richtete sich auf die Hinterpfoten auf und schlug mit einer blitzschnellen Bewegung zu. Die Tür bebte. Es klirrte vernehmlich, als das Schloß zersplitterte, dann schwang die Tür mit leisem Quietschen nach innen.

Dahinter lag ein schmaler, niedriger Raum, der in schattiges Halbdunkel getaucht war. Nach der blendenden Helligkeit im Korridor hatte Vivian Schwierigkeiten, im Inneren des Raumes etwas zu erkennen. Sie nahm eine Anzahl schattenhafter Gestalten wahr, die sich um einen großen, rechteckigen Gegenstand versammelt hatten und scheinbar überrascht aufsahen, als die Tür aufgesprengt wurde.

Dann brach der Tumult los.

Das Wesen stieß ein triumphierendes Zischen aus und stürzte sich durch die Tür. Ein vielstimmiger Aufschrei erklang. Zwei, drei der Gestalten stellten sich dem Ungeheuer in den Weg, doch sie wurden einfach niedergerannt. Mit einer Kraft, die seiner geringen Größe und scheinbaren Harmlosigkeit spottete, fegte das Ungeheuer die Männer beiseite und stürzte sich auf Ulthar.

Der Magier wich mit schreckgeweiteten Augen zurück und hob die Hand.

Das Echsenmonster sprang. Vivian erwartete, es genau wie vorhin Sheldon gegen ein unsichtbares Hindernis prallen zu sehen, aber diesmal handelte es sich um den echten Ulthar. Die Kreatur warf sich auf ihn und riß ihn von den Füßen. Messerscharfe Krallen blitzten auf. Ulthar brüllte entsetzt und riß den Arm vors Gesicht, als die Reißzähne nach seiner Kehle schnappten. Er bäumte sich auf, warf den unheimlichen Angreifer mit der Kraft der Verzweiflung ab und kroch auf Händen und Knien davon. Die Kreatur folgte ihm wütend.

Schon dieser erste Angriff zeigte deutlich, daß Ulthar nicht den Hauch einer Chance hatte. Er hatte sich zu sicher gefühlt, doch hier nutzten ihm seine Spiegel nichts; ohne sie war er nur ein hilfloser Greis. Die Bestie schlug nach seinen Beinen, warf ihn abermals zu Boden und stürzte sich mit triumphierendem Kreischen auf ihn. Ihre Zähne gruben sich in Ulthars Schultern.

Der Magier brüllte. Seine Sklaven versuchten in den Kampf einzugreifen, doch sie verschafften ihm nur eine kurze Atempause. Im Gegensatz zu Conellys übrigen Kreaturen schüttelte das Ungeheuer die Spiegelwesen mit geradezu spielerischer Leichtigkeit ab, schleuderte sie wie Puppen zur Seite und schnappte sofort wieder nach Ulthar.

Es erreichte ihn nicht. Eine unsichtbare Faust griff plötzlich nach dem Körper der Bestie, riß sie von ihrem zappelnden Opfer fort und schmetterte sie mit brutaler Gewalt gegen den Boden.

Hinter Ulthar erschien eine schlanke, hochgewachsene Gestalt. Vivian Taylor zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als sie das Gesicht der Gestalt erkannte ihr eigenes Gesicht! Hinter dem hilflosen Magier stand eine genaue Kopie ihrer selbst.

Melissa.

Vivians Gedanken überschlugen sich. Sie hatte den magischen Spiegel zerbrochen, bevor sie zu seiner Gefangenen werden konnte, und sie war bislang überzeugt davon gewesen, damit gleichzeitig auch Melissas Erwachen verhindert und ihr Duplikat vernichtet zu haben. Anderenfalls hätte es für Ulthar auch keinen Grund gegeben, weiterhin solche Anstrengungen zu unternehmen, sie in die Hände zu bekommen, und zu einer Gefangenen seiner Spiegel zu machen. Ging es ihm nur darum, sie als lästige Mitwisserin auszuschalten? Vivian glaubte nicht daran. Dafür hätte es wesentlich leichtere Möglichkeiten gegeben. Schon ein paarmal hätte er die Möglichkeit gehabt, sie zu töten.

Vivian beobachtete, wie Melissa gegen das Ungeheuer kämpfte. Das Echsenwesen krümmte sich wie unter unsichtbaren Schlägen und versuchte verzweifelt, vom Boden hochzukommen. Es war ein Kampf, der mit übersinnlichen Waffen ausgetragen wurde, und Melissa besaß ungeheure Kräfte, denen das Ungeheuer nichts entgegenzusetzen hatte.

Vivian konnte nicht glauben, daß es die gleichen Kräfte waren, die auch sie selbst besaß oder zumindest besessen hatte, und doch mußte es so sein. Nur konnte Melissa sie anscheinend unendlich viel besser beherrschen.

Mühsam riß Vivian sich von dem phantastischen Anblick los und wich lautlos zurück. Sie mußte handeln, solange Ulthar und Melissa mit dem Ungeheuer beschäftigt waren. Wenn sie es erst einmal besiegt hatten, würden sie die gnadenlose Jagd auf sie wieder aufnehmen. Sie drehte sich um und lief los. Der Gang schien sich endlos vor ihr zu erstrecken, aber Vivian wußte jetzt, daß dieses Bild nicht echt war.

Illusion! hämmerten ihre Gedanken. Alles nur Illusion! Dieser Gang, die Spiegel, dieses ganze, endlose Labyrinth waren nichts als eine geschickte Täuschung, das Werk einer Magie, die sich grundlegend von allem unterschied, was sie kannte. Sie prallte gegen eine Wand, blieb stehen und schloß die Augen.

Es ist nicht echt! redete sie sich verbissen ein. Es ist alles nicht echt! Es gibt diesen Gang nicht. Dieses ganze Labyrinth ist eine Täuschung. Mit aller Kraft versuchte sie sich das Gebäude vorzustellen, wie es wirklich war. Vor ihren Augen erschien das Bild, das sie in dem kurzen Moment gesehen hatte, in dem die Kraft ihres Amuletts die Macht der Spiegel gebrochen hatte - ein schäbiger, altersschwacher Bau mit schmutzigem Lehmboden und undichten Wänden.

Der Gang um sie herum verschwamm. Graue, schmierige Flecke begannen sich in das makellose Silber des Bodens zu mengen. So, wie sich ein Tintenfleck auf Löschpapier ausbreitete, breiteten sich auf den Wänden große, blinde Flecken aus. Die Spiegel wurden unwirklich, verloren mehr und mehr an Substanz und Realität. Für einen endlos erscheinenden Augenblick sah sie die wirklichen Umrisse des Gebäudes durch das Silber der Spiegel schimmern.

Gleich darauf verschwand das Bild wieder, und der Korridor sah genauso aus wie zuvor. Erschöpft lehnte sich Vivian gegen einen Spiegel. Sie war zu schwach, um die Illusion zu brechen, kam gegen Ulthars Macht nicht an.

Ein leises Geräusch ließ sie herumfahren. Schritte näherten sich ihr. Hatten der Magier oder seine Sklaven sie aufgespürt? Instinktiv wollte Vivian zu laufen beginnen, begriff aber gleichzeitig, daß es ihr nichts genutzt hätte. Die Spiegelgeschöpfe waren ihr sowohl an Kraft wie an Schnelligkeit überlegen. Sie würde einen Verfolger nicht abschütteln, und es gab nichts, wo sie sich verstecken konnte. Sie blieb reglos stehen.

Ein Mann tauchte wenige Schritte vor ihr entfernt an der Abzweigung des Ganges auf, bog dann in ihren Korridor ein und blieb abrupt stehen, als er sie entdeckte.

Es war Conelly.

Einen Moment lang starrte er sie ebenso überrascht an, wie sie ihn, dann verzog er die Lippen zu einem häßlichen Grinsen. »Vivian Taylor«, zischte er. »Welch eine Freude, Sie zu treffen. Ich fürchte, Ulthar wird keine Gelegenheit mehr haben, Melissa zu neuem Leben zu erwecken. Sie werden nicht länger leben als er.« Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Hasses. Langsam kam er näher.

Vivian widerstand dem Impuls, vor ihm zurückzuweichen. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, daß es sich bei Conelly um den gleichen Mann handelte, der ihr zu Beginn der Party so sympathisch erschienen war. Aber sie wußte, daß sein Haß nicht ihr persönlich galt, sondern nur Ulthar, und das einzige, was im Moment zählte, war ihre gemeinsame Feindschaft mit dem Magier.

»Meinen Sie dieses Echsenwesen, das Sie ausgeschickt haben, um ihn zu töten?« fragte sie und bemühte sich, jedes Anzeichen von Furcht aus ihrer Stimme zu verbannen. »Ich fürchte, es wird seinen Auftrag nicht mehr ausführen können. Falls es überhaupt noch am Leben ist. Als ich es vor ein paar Minuten zuletzt sah, hatte es Ulthar nicht mehr viel entgegenzusetzen.«

»Sie lügen!« behauptete Conelly. »Niemand kann Quaraan besiegen, nicht einmal Ulthar.«

»Auch Melissa nicht?«

Vivian hatte ihre Frage bewußt in beiläufigem Ton gestellt, was die Wirkung noch verstärkte. Conelly blieb stehen. Ihre Worte hatten ihn getroffen. Für einen kurzen Moment hatte er sich nicht mehr völlig unter Kontrolle, und es gelang ihm nicht, seinen Schrecken zu verbergen. Deutlich war die Bestürzung auf seinem Gesicht zu erkennen. »Melissa?«

»Ulthar hat sie bereits erweckt. Ich hatte geglaubt, daß ich es verhindert hätte, aber vorhin habe ich sie gesehen. Sie kämpfte gegen Ihre Kreatur.«

»Lüge!« stieß Conelly noch einmal hervor. »Wenn Melissa wirklich frei wäre, wären Sie zu einer Gefangenen von Ulthars Spiegeln geworden. Sie versuchen nur, Ihr Leben mit dieser Lüge zu retten.«

Er kam weiter auf sie zu.

»Meines und auch Ihres«, sagte Vivian leise, aber mit um so größerem Nachdruck. Sie erreichte ihr Ziel, Conelly blieb erneut stehen. Sie hatte sein Interesse geweckt und fuhr rasch fort: »Ich bin Ulthar zwar entkommen, aber ich bin immer noch in diesem Labyrinth gefangen. Genau wie Sie.«

»Entkommen ...«

»Wenn es nicht so wäre, wären Sie doch längst nicht mehr hier«, fiel ihm Vivian ins Wort. Ihre Angst war fast völlig verschwunden, jetzt kam es nur darauf an, Conelly zu überzeugen. »Nicht hier, und vor allem nicht allein in Ulthars direktem Machtbereich. Im Moment ist er anscheinend noch zu beschäftigt, um sich um uns zu kümmern, aber wir sitzen beide in der Falle, und er hat uns sicherlich nicht vergessen.«

Conelly zögerte. Er rang sichtlich mit sich. »Angenommen, Sie hätten recht«, sagte er schließlich mißtrauisch. »Was schlagen Sie vor?«

Vivian atmete auf. Sie hatte noch nicht gewonnen, aber sie hatte die erste Hürde genommen. Conelly schien zumindest bereit, ihr zuzuhören. »Wir sind nicht gerade Freunde«, sprach sie weiter. »Aber im Grunde sind wir auch keine Feinde. Ich weiß kaum etwas über Sie, und vielleicht ist es auch besser so. Aber ich weiß, daß Sie mich nur wegen Melissa töten wollten. Mittlerweile hat Ulthar sie wieder erweckt, es gibt also keinen Grund mehr, warum Sie mich länger verfolgen sollten.«

»Woher weiß ich, daß Sie die Wahrheit sagen? Bislang habe ich keinen Beweis, daß Melissa nicht mehr in Ihnen steckt.«

Auch auf diesen Einwand war Vivian vorbereitet. »Dieses Killerwesen«, entgegnete sie. »Ich habe gesehen, wie es gegen Ulthar und seine Spiegelsklaven gekämpft hat. Der Magier hatte keine Chance, wie Sie es gesagt haben. Ihre Kreatur müßte ihn längst getötet haben, und ich nehme an, sie sollte anschließend zu Ihnen zurückkehren.« Demonstrativ schaute sich Vivian um. »Bis jetzt ist nichts von ihr zu entdecken. Glauben Sie mir, sie ist tot.«

Conellys Nervosität steigerte sich plötzlich. »Nicht einmal Melissa könnte Quaraan aufhalten«, stieß er hervor, doch es klang nicht sehr überzeugt.

»Ich habe lange Zeit Melissas Kräfte gehabt«, erinnerte Vivian. »Auch wenn ich immer nur einen Bruchteil davon benutzen konnte, habe ich immer gespürt, daß da viel mehr Potential war. Aber ich habe mich nie getraut, es anzuwenden, auch nur mit ihnen zu experimentieren. Ich wußte, daß ich dieses Potential nicht beherrschen könnte. Aber Melissa kann es, und sie hat keine Skrupel, diese Kräfte einzusetzen. Dieser ... Quaraan hatte keine Chance. Und wir werden sie auch nicht haben, wenn es uns nicht gelingt, von hier zu fliehen.«

Conelly schwieg einige Sekunden lang. Aufgeregt ging er im Gang auf und ab. Seine Augen glühten in einem unheiligen Feuer. »Und was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?«

»Ich sagte schon, wir sind keine Feinde. Unser gemeinsamer Feind ist Ulthar, und wenn wir zusammenhalten, können wir ihn vielleicht besiegen, zumindest aber von hier entkommen.«

»Und wie?«

»Dieses ganze Labyrinth ist eine Täuschung. Deshalb gibt es auch keinen Ausgang. Ich habe es schon einmal geschafft, Ulthars Illusion zu zerstören, allerdings nur für einen kurzen Moment. Sie müssen es gemerkt haben.«

Conelly nickte langsam. »Sie also waren das. Durch Sie bin ich Ulthars Spiegeln überhaupt erst entkommen. Wie haben Sie es gemacht?«

»Ich ... ich weiß es nicht«, gestand Vivian. »Es war ein Zufall. Ich habe es noch einmal versucht, aber ich war nicht stark genug. Beim ersten Mal hatte ich ein Amulett, das mir half, meine Kräfte zu kontrollieren, doch ich habe es verloren.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Es war der richtige Weg. Nur fehlt mir allein die Kraft. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam.«

Erneut blitzte Mißtrauen in Conellys Augen auf. »Ihre Kräfte?« wiederholte er gedehnt. »Ich denke, Sie besaßen diese Kräfte nur durch Melissa? Wie könnten Sie immer noch Melissas Hexenkräfte besitzen, wenn Ulthar Sie beide angeblich getrennt hat?« Er packte Vivian hart an den Schultern und schüttelte sie. »Antworten Sie!«

Vivian überlegte fieberhaft. Conellys Frage war durchaus berechtigt, stellte sich aber erst, seit sie wußte, daß Melissa als eigenständige Person existierte. Während ihrer von Panik erfüllten Flucht hatte sich Vivian über diesen Punkt keine Gedanken gemacht. Eigentlich hätte sie ihre Kräfte verlieren müssen im gleichen Moment, in dem Melissa ihren Körper verlassen hatte. Noch einmal sah sie den Kampf Melissas mit dem Echsenwesen vor sich, und erst jetzt erinnerte sie sich, wie maskenhaft starr Melissas Gesicht gewesen war, wie leblos ihr Blick, wie hölzern ihre Bewegungen. Es hatte Vivian überrascht, daß die Trennung überhaupt stattgefunden hatte, aber anscheinend war sie nicht vollständig gelungen. Wenn ihre Theorie stimmte, bedeutete das letztlich, daß zumindest ein Teil Melissas immer noch in ihr schlummerte und Ulthar nicht mehr als ein weiteres Spiegelbild erzeugt hatte. Ein Spiegelbild, das die gleichen Kräfte besaß und sie auch perfekt einzusetzen vermochte, das aber dennoch nicht Melissa war.

Das jedoch konnte sie Conelly unmöglich sagen. Obwohl er sich meisterhaft zu verstellen verstand, herrschte in seinem Inneren ein Aufruhr, der blitzschnell in unbeherrschte Hysterie umschlagen konnte. Wenn sie auch nur andeutete, daß sie möglicherweise immer noch Melissa in sich beherbergte, würde er sie ungeachtet aller Konsequenzen aus purer Angst töten.

»Sie tun mir weh«, keuchte sie, um Zeit zu gewinnen.

»Sie sollen mir antworten«, rief Conelly, lockerte seinen Griff jedoch ein wenig.

»Verdammt, ich weiß es nicht. Vielleicht hatte ich diese Kräfte von Anfang an, und deshalb ist Melissa überhaupt erst in meinen Körper gelangt. Oder sie sind im Laufe der Zeit so sehr zu einem Teil von mir geworden, daß ich sie auch ohne Melissa noch besitze. Ich weiß es nicht, begreifen Sie das doch. Ich weiß nur, daß wir von hier weg müssen. Oder wollen Sie, daß Ulthar uns wieder einfängt?«

Conelly ließ sie los. »Also gut«, sagte er schweratmend. »Sie können diese Kräfte zwar nicht annähernd so gut beherrschen wie Melissa, aber vielleicht können Sie mir noch einmal von Nutzen sein. Verschwinden wir erst einmal von hier. Sie glauben, daß wir es gemeinsam schaffen, die Illusion zu überwinden?«

Vivian nickte, zuckte dann aber gleich darauf mit den Schultern. »Wir können es wenigstens probieren. Es ist unsere einzige Chance.«

»Gut. Geben Sie mir Ihre Hand. Sonst brauchen Sie nichts zu tun, ich erledige alles. Ich werde versuchen, unsere Kräfte miteinander zu verschmelzen. Entspannen Sie sich. Je ausgeglichener Sie sind, desto eher wird es gelingen.«

Vivian nickte, zögerte noch einmal kurz und reichte ihm dann ihre Hand, während sie sich gleichzeitig zu entspannen versuchten. Sie konnte spüren, wie irgend etwas behutsam nach ihrem Geist tastete. Ein leichtes Prickeln durchfuhr sie, und sie konnte spüren, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Die körperlose Berührung war ihr zuwider. Sie hatte das Gefühl, etwas Finsteres, Mächtiges würde sich wie eine erstickende Decke über sie breiten, und schauderte. Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken.

Conelly verstärkte seine Bemühungen, drang tiefer in ihren Geist ein. Instinktiv sträubte sie sich dagegen, doch Conelly fegte ihren leichten Widerstand mühelos hinweg. Erst einen Augenblick zu spät begriff sie, was er wirklich vorhatte.

Nein! schrie sie gepeinigt, doch der Schrei hallte nur in ihrem eigenen Schädel wider.

Conelly ließ seine Maske fallen, verzichtete auf jede Rücksicht. Wie ein ausgehungertes Raubtier fiel er über ihr Bewußtsein her, sog ihr Potential begierig in sich auf und fügte sie seinen eigenen Kräften hinzu.

Erneut begann Vivian zu schreien, doch abermals drang kein Laut über ihre Lippen. Conelly hatte niemals vorgehabt, gemeinsam mit ihr von hier zu fliehen. Statt dessen zapfte er ihre Kräfte an, um sie für seine eigene Flucht zu benutzen, gleichgültig, was aus ihr wurde. Vivian begriff, daß sie sterben würde. Verbissen kämpfte sie gegen den fremden Einfluß an, stemmte sich gegen Conellys Sog, doch sie war schon zu geschwächt.

Dann ...

Sie wußte selbst nicht, was geschah. Conelly brach ihren Widerstand, doch im gleichen Moment riß er eine Schranke in ihrem Geist ein, von deren Existenz nicht einmal Vivian selbst etwas gewußt hatte. Urgewaltige Kräfte brodelten in ihr hoch und überfluteten ihr Bewußtsein. Wie beiläufig fegte sie Conellys geistige Fühler zurück, kehrte den Sog um und riß nun ihrerseits seine Kräfte mit einem urgewaltigen Griff an sich. Plötzlich war es Conelly, der gellend schrie, aber selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte Vivian nicht mehr aufhören können.

Für einen kurzen Moment nahm sie ihre Umgebung noch einmal bewußt wahr. Sie sah die spiegelnden Wände des Labyrinths um sich herum, und sie sah Conelly, der vor ihr auf dem Boden lag. Er wirkte geschrumpft, wie mumifiziert - ausgebrannt.

Vivian widmete ihm nur einen kurzen Blick, dann wandte sie sich zu dem Spiegel neben ihr um und schlug mit geballter geistiger Macht zu.

Im nächsten Moment hatte sie das Gefühl, direkt durch eine zersplitternde Glasscheibe zu stürzen. Ihre Umgebung schien zu zerbersten, in Millionen klirrender Scherben zu zerbrechen, und irgendwo schien eine gigantische Bogensaite gespannt zu werden. Vivian taumelte, fiel vornüber und prallte auf den schmutzigen Lehmboden.

Dann verlor sie das Bewußtsein.

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