10

In der Eingangshalle brannte Licht, als Jeremy Cramer nach Hause kam. Er parkte den Wagen vor dem Haus, ohne sich wie üblich die Mühe zu machen, ihn in die Garage zu fahren, stieg aus und warf die Tür achtlos hinter sich ins Schloß, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten, immer pedantisch abzuschließen.

Als er quer über den gepflegten Rasen auf die Haustür zuging, bewegte sich ein Schatten hinter der Gardine. Cramer zögerte unmerklich im Schritt und runzelte die Stirn. Es entsprach eigentlich nicht Mary-Lous Gewohnheiten, auf ihn zu warten. Er kam oft spät nach Hause, und seine Frau hatte sich schon lange damit abgefunden, ihn manchmal wochenlang nur zum Frühstück zu Gesicht zu bekommen. Und oft genug nicht einmal das.

Mary-Lou öffnete ihm die Tür, als er nach dem Schlüssel suchte. Sie sah müde und übernächtigt aus. Unter ihren Augen lagen tiefe, dunkle Ringe, ihr dunkelblondes Haar wirkte strähnig, und ihre Haut hatte einen ungesunden grauen Schimmer. Die Falten, die sich in den letzten Jahren immer deutlicher in ihrem Gesicht bemerkbar machten und sich auch mit Make-up nicht mehr völlig verdecken ließen, schienen sich nicht nur vertieft, sondern auch verdoppelt zu haben.

»Du bist noch auf?« fragte er. Seine Stimme wirkte kalt und emotionslos, aber wenn Mary-Lou es bemerkte, dann verbarg sie es geschickt.

»Ich ... habe auf dich gewartet«, sagte sie schleppend.

Cramer warf seinen Hut mit gekonntem Schwung auf die Garderobe, schob die Tür hinter sich ins Schloß und ging mit schnellen Schritten an Mary-Lou vorbei. »Warum?« fragte er, ohne sie anzusehen.

Mary-Lou starrte ihm einige Sekunden lang fassungslos nach, als er in die Küche ging, dann folgte sie ihm langsam. Sie wußte seit langem, daß ihre Ehe im Grunde zerrüttet war, aber noch nie war es ihr so deutlich geworden wie in diesen Minuten. Jeremy war mit seinem Beruf verheiratet, mehr als mit ihr. Damit hatte sie sich abgefunden, und obwohl sie ihn meist nicht länger als ein paar Minuten am Tag sah, hatte sie dennoch nie aufgehört, ihn zu lieben. Was sie Vivian Taylor darüber gesagt hatte, war die reine Wahrheit gewesen. Wenigstens diese wenigen Minuten waren Jeremy und ihr immer noch geblieben, doch nicht einmal mehr daran schien ihm nun noch etwas zu liegen. Es hätte ihr nichts ausgemacht, wenn er wütend gewesen wäre, wenn er sie angebrüllt hätte, weil er beruflich in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte und sich auf diese Art abreagieren wollte, aber alles, was ihr entgegenschlug, war Gleichgültigkeit.

Zum ersten Mal kam Mary-Lou Cramer der Gedanke, daß es eine andere Frau geben könnte, doch sie verwarf ihn sofort wieder. Jeremy war nicht der Mann für Seitensprünge, alles, was ihn interessierte, war seine Arbeit. Und doch ...

»Ich habe ein paarmal versucht, dich bei Conelly anzurufen«, sagte sie. Sie versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen, konnte aber nicht verhindern, daß in ihrer Stimme leichter Vorwurf mitklang. »Es ist niemand ans Telefon gegangen.«

Jeremy öffnete die Kühlschranktür und griff nach einer Milchflasche. »Wahrscheinlich hat niemand das Läuten gehört«, sagte er achselzuckend. »Du weißt ja, wie das auf solchen Partys ist. Hunderte von Leuten, ein Heidenlärm - die haben was Besseres zu tun, als ans Telefon zu gehen.« Er riß den Verschluß von der Flasche, warf ihn achtlos zu Boden und trank mit gierigen, tiefen Zügen. »Warum wolltest du mich überhaupt anrufen?« fragte er, ohne sich umzudrehen.

Er hörte, wie Mary-Lou einen Stuhl zurückschob und sich setzte. »Es ist ... eigentlich nichts ...« Ihre Stimme klang müde, unsicher. Sie wollte nicht von dem erzählen, was im Haus der Mastertons geschehen war. »Was ist mit dem Spiegel geschehen?«

»Welchen Spiegel meinst du?«

»Den Spiegel im Schlafzimmer. Er ist zerbrochen.« Sie lachte nervös. »Ich war ziemlich erschrocken, als ich es bemerkte. Im ersten Moment dachte ich, jemand hätte eingebrochen. Aber das ist ja wohl nicht möglich.«

»Nein, das ist nicht möglich.« Cramer drehte sich um, nahm einen weiteren Schluck aus der Milchflasche und lehnte sich gegen die Kühlschranktür. »Du siehst müde aus«, sagte er. »Geh schlafen. Bist du die ganze Nacht wach geblieben?« Seine Stimme hörte sich nicht so an, als ob es ihn wirklich interessieren würde.

»Nein. Ich ... ich habe im Wohnzimmer geschlafen. Im Sessel.«

»Wegen eines zerbrochenen Spiegels?« fragte Cramer.

»Ich war beunruhigt, und als ich dich dann nicht erreichen konnte ...« Sie brach ab, rang verlegen mit den Händen und sah ihren Mann fragend an. »Was ist passiert? Das Zimmer sieht aus, als ob ein Kampf stattgefunden hätte.«

Jeremy zuckte erneut mit den Achseln, eine Geste, die sie früher nur selten bei ihm bemerkt hatte. »Ich bin gestolpert und mit dem Ellbogen gegen die Frisierkommode gefallen«, sagte er. »Reicht dir das als Erklärung?«

Mary-Lou antwortete nicht. Ihr Blick tastete unsicher über das Gesicht ihres Mannes, dann über seine Hände und blieb schließlich an dem achtlos weggeworfenen Milchverschluß hängen. Irgend etwas an Jeremy störte sie. Es war nicht nur seine Gleichgültigkeit, wie sie sich einen Moment lang einzureden versuchte. Er wirkte ... fremd. Sie versuchte, in seine Augen zu schauen, und mußte feststellen, daß sie es nicht konnte.

Jeremys Blick war der eines Fremden. Sie hatte es gleich gespürt, schon in der ersten Sekunde, als er zur Tür hereingekommen war. Ihr Mann hatte sich verändert. Nicht äußerlich jedenfalls. Aber sie spürte einfach, daß mit Jeremy eine Veränderung vor sich gegangen war.

»Du solltest wirklich ins Bett gehen«, sagte er. »Es reicht, wenn ich mir die Nächte um die Ohren schlagen muß, geh nach oben.« Der Ton, in dem er die Worte aussprach, machte ihren freundlichen Inhalt zunichte. Es war kein gutgemeinter Rat, sondern ein Befehl.

Mary-Lou stand zögernd auf. »Ich ...« Sie verstummte, als sie der Blick seiner grauen Augen traf. Sie waren kalt wie Glasmurmeln. In ihrer Kehle schien plötzlich ein harter, bitterer Kloß zu sitzen.

Und plötzlich hatte sie Angst vor ihrem eigenen Mann.

Sie drehte sich gehorsam um, schlurfte zur Tür und ging mit schleppenden Schritten die Treppe hinauf. Die Spiegelscherben auf dem Fußboden schienen sie höhnisch anzugrinsen, als sie das Schlafzimmer betrat.

Später, als sie im Bett lag und im Dunkeln die Decke anstarrte, hörte sie Jeremy irgendwo im Haus rumoren. Das Geräusch schien aus dem Bad zu kommen.

Es war das Klirren von Glas.

Nach einigen Minuten kehrte wieder Ruhe ein, aber Mary-Lou fand in dieser Nacht keinen Schlaf mehr. Eine Zeitlang wälzte sie sich unruhig im Bett und versuchte, eine Erklärung für die seltsame Unruhe zu finden, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Der Gedanke war verrückt - aber während sie die geschlossene Schlafzimmertür anstarrte und darauf wartete, daß Jeremy erschien, vertiefte sich in ihr immer mehr die Überzeugung, daß dieser Mann ein Fremder war.

Sie fühlte es. Sie spürte es mit dem untrüglichen Gespür einer Frau, die seit fünfundzwanzig Jahren mit dem gleichen Mann zusammenlebte, die jede seiner Reaktionen, seine Art zu reden, sich zu bewegen, kannte. Vor ihrem inneren Auge erschien wieder die kleine, banale Szene, wie Jeremy die Milchflasche aufriß und den Verschluß achtlos zu Boden fallen ließ. Jeremy war ein Pedant, den jede Kleinigkeit störte, die sich nicht exakt am richtigen Platz befand. Irgend etwas einfach in der Gegend herumzuwerfen war ein Verhalten, das absolut nicht zu ihm paßte. Aber das war nur eine Kleinigkeit, viel schlimmer war sein Verhalten ihr gegenüber, denn es entsprach ganz und gar nicht seiner Art, so grob mit ihr zu sprechen. Es war nicht einmal so sehr das, was er gesagt hatte, sondern der Tonfall, der sie getroffen hatte.

Sie seufzte, schwang die Beine aus dem Bett und tastete im Dunkeln nach den Zigaretten auf dem Nachttisch. Sie hörte Jeremy im Erdgeschoß rumoren; Türen klappten, ein Möbelstück wurde lautstark gerückt, dann hörte sie seine Stimme, als er im Wohnzimmer mit irgend jemandem telefonierte. Mary Lou steckte eine Zigarette zwischen die Lippen, ließ das Feuerzeug aufschnappen und zog den Rauch fast gierig ein. Jeremy mochte es nicht, wenn sie hier im Schlafzimmer rauchte. Aber sie brauchte einfach etwas, mit dem sich ihre Hände beschäftigen konnten.

Unten klappte eine Tür. Mary-Lou stand auf, ging zum Fenster und schob die Jalousien auseinander. Ihr Mann ging mit schnellen Schritten über den Rasen, öffnete die Wagentür und ließ sich hinter das Steuer fallen. Augenblicke später war er abgefahren.

Sie zögerte noch, das Schlafzimmer zu verlassen. Erst, als der Wagen um die Ecke gebogen und außer Sichtweite war, drehte sie sich um, ging zur Tür und ins Erdgeschoß hinunter. Das Haus war seltsam still. Die Kinder waren im Ferienlager, und auch von den beiden Katzen, die normalerweise mit dem ersten Sonnenstrahl erwachten, fehlte jede Spur. Sie ging unschlüssig ins Wohnzimmer hinüber, sah sich prüfend um, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich suchte, und schlenderte schließlich in die Diele.

Ihr Blick fiel auf einen rechteckigen, hellen Fleck über der Garderobe, wo gestern abend noch der Spiegel gehangen hatte. Jetzt war er fort. Jeremy mußte ihn entfernt haben.

Mary-Lou starrte den Fleck verblüfft an und versuchte, eine Erklärung zu finden. Die Geräusche, die sie beim Hinaufgehen gehört hatte, fielen ihr wieder ein. Sie drehte sich um, eilte ins Wohnzimmer zurück, dann ins Bad, in die Gästetoilette ...

Fünf Minuten später hatte sie das Haus vom Keller bis zum Dachboden durchsucht. Ihr Verdacht hatte sich bestätigt, aber das Rätsel war dadurch eher größer geworden.

Jeremy hatte sämtliche Spiegel aus dem Haus entfernt.


Nackte Panik wallte in Vivian empor. Ihre Hände verkrampften sich um den schartigen Rand der Gondel, und sie begann zu schreien, während der Boden langsam unter ihr wegsackte und die Menschen und Gebäude auf Spielzeuggröße zusammenschrumpften. Der Wind schien mit einemmal wesentlich kälter geworden zu sein, und sein Heulen steigerte sich in ihren Ohren zu einem höhnischen Lachen.

Das Riesenrad kam mit fürchterlichem Knirschen zum Stehen, als irgendwo in dem altersschwachen Getriebe ein Zahnrad endgültig seinen Geist aufgab und blockierte. Ein harter Ruck fuhr durch die Stahlkonstruktion, schleuderte Vivian zu Boden und ließ das gewaltige Gebilde wie ein waidwundes Tier erzittern. Die Gondel schaukelte wild, als Vivian wieder hochkam. Der Horizont führte einen irren Tanz um das kreisende Gefährt auf, und irgendwo in dem gewaltigen Rund des Riesenrades löste sich durch die Erschütterung ein Teil und stürzte polternd und krachend in die Tiefe. Vivian hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben.

Schwindel überschwemmte ihren Geist wie eine gewaltige Woge. Sie hatte das Gefühl zu fallen und glaubte, sich übergeben zu müssen. Alles in ihr verkrampfte sich, und sie konnte nicht einmal mehr schreien, als sie auf die wild schaukelnde Spielzeuglandschaft tief unter sich herabsah. Ameisengroße Gestalten liefen mit kleinen, hektischen Schritten über das Betonfundament des Rades, deuteten wild gestikulierend nach oben und riefen sich unverständliche Worte zu.

Einer der Männer baute sich unmittelbar unter der Gondel auf, formte mit den Händen einen Trichter und legte den Kopf in den Nacken. »Geben Sie auf, Missis Taylor!«

Vivian hatte Mühe, die Worte und das Heulen des Windes zu verstehen. Die Gondel hing etwa zwanzig Meter über dem Boden, und sie konnte fast das gesamte Gelände überblicken. Zwischen den verfallenen Gebäuden bewegten sich weitere Gestalten. Zehn, vielleicht fünfzehn von Ulthars Sklaven, die auf das Riesenrad zuströmten. Rasch wandte sie den Blick wieder ab und schloß die Augen, doch das Bild ließ sich nicht verdrängen, und bei jedem Windstoß, der das Rad traf, spürte sie die Konstruktion beben. Obwohl ein kleiner Teil ihres Verstandes ihr einflüsterte, daß es unmöglich war, glaubte sie mit unumstößlicher Sicherheit zu fühlen, wie das gesamte Gebilde sich mehr und mehr neigte und umzustürzen begann.

»Geben Sie auf, Missis Taylor!« wiederholte der Mann. »Wir holen Sie jetzt herunter! Es hat keinen Sinn, sich zu wehren! Sie sind umstellt!«

Seine Worte rissen sie aus ihrer Erstarrung und machten ihr wieder die wirkliche Gefahr bewußt, in der sie schwebte. Aus irgendeinem Grund schienen die Spiegelwesen immer noch daran interessiert zu sein, sie unverletzt in ihre Gewalt zu bringen, aber das Schicksal, das ihr in Ulthars Kabinett drohte, erschien ihr schlimmer noch als der Tod. Sie würde auf ewig in einem der Spiegel gefangen sein, während Melissa ihre Stelle einnehmen würde. Vivian biß sich so fest auf die Lippen, daß sie zu bluten begannen. Der Schmerz half ihr, die Fesseln der Panik wenigstens für einen Moment abzuschütteln. Sie trat vom Rand der Gondel zurück und sah sich verzweifelt nach irgend etwas um, das sie als Waffe verwenden konnte. Aber auf dem Boden lag nichts außer jahrzehntealtem Schmutz und den Resten der zusammengeknüllten Zeltplane.

Wieder fuhr ein Ruck durch das Riesenrad. Der Motor heulte tief unter ihr gequält auf, und die Konstruktion setzte sich widerwillig in Bewegung.

Vivian strauchelte, hielt sich an der Mittelachse der Gondel fest und kämpfte mühsam um ihre Selbstbeherrschung. Sie machte sich keine Illusionen über das, was ihr bevorstand. Ulthars Männer mußten praktisch jede Sekunde gewußt haben, wo sie war. Aber sie hatten seelenruhig abgewartet, bis sie sich selbst in eine Lage manövriert hatte, aus der es absolut kein Entkommen mehr gab. Sie brauchten nur in aller Ruhe abzuwarten, bis das Riesenrad seine Drehung vollendet hatte, um sie in Empfang zu nehmen.

Vivian kauerte sich auf den Boden. Immer noch konnte sie das Beben und Schwanken des riesigen Gebildes überdeutlich spüren, aber wenigstens hatte sie den schrecklichen Anblick der Tiefe nun nicht mehr vor Augen. Mit aller Macht versuchte sie, an etwas anderes zu denken, sich abzulenken, doch es gelang ihr nicht. Höhenangst war eine Phobie, eine abgrundtiefe, ureigene Furcht, die nichts mit normaler Angst zu tun hatte, sondern tief in ihrem Inneren verborgen lag und sich jeder bewußten Kontrolle durch ihren Verstand entzog. Mit jeder Sekunde durchlitt sie Höllenqualen, sah sich mit ihrem schlimmsten nur vorstellbaren Alptraum konfrontiert, der hier Realität wurde, vermutlich, ohne daß Ulthars Spiegelgeschöpfe überhaupt wußten, was mit ihr geschah.

Das Riesenrad hatte jetzt eine halbe Umdrehung vollendet. Vivians Gondel schwebte im Zenit des stählernen Kreises und schickte sich langsam, aber mit tödlicher Unerbittlichkeit an, auf der anderen Seite abzusteigen.

Wieder ging ein harter Ruck durch das Rad und brachte es zum Stehen. Diesmal bebte die ganze Konstruktion so stark, daß Vivian für einen Moment völlig sicher war, das Gebilde würde auseinanderbrechen. Sie war schweißüberströmt und zitterte am ganzen Körper, aber noch war das Maß ihres Schreckens nicht ausgeschöpft.

Mit einem hellen, durchdringenden Geräusch sprang einer der drei Haltebolzen, die die Gondel an der Achse hielten, heraus und sauste wie ein improvisiertes Schrappnellgeschoß an ihr vorbei. Die Gondel knirschte, schien einen Moment wie ein lebendiges Wesen zu stöhnen und legte sich merklich auf die Seite. Vor Vivians entsetzt aufgerissenen Augen löste sich der zweite Bolzen aus seiner Halterung, polterte zu Boden und verschwand durch einen Riß im Boden in der Tiefe.

Die Todesangst half ihr, die Lähmung abzuschütteln. Sie schrie auf, griff nach oben und hielt sich an einer Querverstrebung fest. Das Riesenrad glitt erneut ein Stück tiefer und blieb wieder stehen.

Die Erschütterung ließ auch den letzten Bolzen brechen.

Für einen kurzen, schrecklichen Moment hatte Vivian das Gefühl, haltlos in die Tiefe zu stürzen. Der Boden sackte unter ihren Füßen weg, als sich die Gondel losriß und abstürzte.

Unter ihr klang ein vielstimmiger Schrei auf. Ein Dutzend winziger Gestalten stürmte in wilder Panik auseinander, als die Gondel wie eine überdimensionale Bombe auf sie hinunterstürzte und auf dem Boden zerbarst.

Vivian klammerte sich verzweifelt an dem Träger fest und zwang sich, nicht nach unten zu schauen. Ihre Finger fanden auf dem glatten Metall kaum Halt. Sie spürte, wie sie Zentimeter für Zentimeter abzurutschen begann, schlug wild mit den Beinen um sich und versuchte verzweifelt, sich festzuklammern. Ihre Fingernägel brachen ab. Ihre Hände waren blutig und zerschunden, und der Druck auf die Handgelenke wurde unerträglich.

Ein wütendes, schrilles Kreischen klang neben ihr auf. Sie drehte mühsam den Kopf und erblickte das fliegende Ungeheuer, das ihre Verfolger auf ihre Spur gehetzt hatte. Erst jetzt war zu erkennen, wie riesig es war. Es hing zwei, drei Meter neben ihr, schien sie aus boshaften Augen zu mustern und balancierte mit vorsichtigen Flügelschlägen auf der Stelle. Sein Raubtierschnabel schien sich zu einem höhnischen Grinsen verzogen zu haben.

Vivian rutschte ein weiteres Stück ab, schrie auf und prallte mit dem Schädel gegen einen Eisenträger. Der Schmerz raubte ihr fast das Bewußtsein. Sie spürte, wie sich ihr Griff lockerte, und warf instinktiv einen Blick nach unten. Alles begann sich um sie herum zu drehen, und sie schloß blitzschnell die Augen, aber vorher sah sie noch die beiden Spiegelgestalten, die im Gewirr der Stahlträger und Querverstrebungen zu ihr hochzuklettern begannen.

Die Sekunden schienen sich endlos zu dehnen. Ohne die Augen zu öffnen, klammerte sich Vivian mit der Kraft der Verzweiflung weiterhin fest, ignorierte den Schmerz in ihren Fingern und Armen, bis sie schließlich glaubte, gar nicht mehr loslassen zu können.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie endlich Hände spürte, die nach ihr griffen und ihre Finger von dem Stahlträger lösten. Einen Moment lang glaubte sie, wie ein Stein zu fallen, aber die Hände hielten sie eisern fest. Erst jetzt wagte sie die Augen wieder zu öffnen. Sie befand sich im Griff der beiden Spiegelgeschöpfe, die sie mit je einer Hand unter den Achseln gepackt hielten, und mit der anderen vorsichtig von Verstrebung zu Verstrebung tiefer kletterten. Das letzte Stück sprangen sie.

Der weiche Sand dämpfte den Aufprall ein wenig, aber er war immer noch so hart, Vivian fast das Bewußtsein zu rauben. Sie konnte vor Schmerz und Erschöpfung kaum noch denken. Mühsam hob sie den Kopf, blinzelte die Tränen weg und sah mit schmerzverzerrtem Gesicht zu den mehr als ein Dutzend Spiegelgestalten auf, die im Kreis um sie herumstanden. Einer der Männer trat vor, riß sie brutal vom Boden hoch und hielt sie am Arm fest, als sie wieder zusammenzubrechen drohte. Instinktiv versuchte sie mit dem Rest ihrer noch verbliebenen Kraft sich zu wehren, doch ein harter Schlag traf ihr Gesicht, ließ ihre Lippe aufplatzen und sie erneut zu Boden stürzen. Die Welt um sie herum verschwand hinter einem blutigen Nebel. Sie wartete darauf, daß man sie wieder packte und hochriß, um sie fortzuschaffen, doch nichts dergleichen geschah. Statt dessen drangen mit einemmal Kampfgeräusche durch den Schleier aus Schmerz und Erschöpfung, der sich um ihr Bewußtsein gelegt hatte, an ihr Ohr: wütendes Knurren, das dumpfe Geräusch von Schlägen, Schmerzensgeheul. Sie hob unter Aufbietung aller Kräfte den Kopf.

Vor ihren Augen spielte sich eine schier unglaubliche Szene ab. Mehr als zwanzig weitere Gestalten waren plötzlich auf dem Platz vor dem Riesenrad erschienen und hatten sich auf Ulthars Spiegelgeschöpfe gestürzt. Erst nachdem Vivian ein paarmal geblinzelt hatte, um den Tränenschleier vor ihren Augen zu vertreiben, erkannte Vivian, daß es sich nicht um Menschen handelte, sondern um stämmige, reptilienhafte Kreaturen mit krokodilartigen Schädeln, scharfen Klauen und einer Haut aus grünlichen Hornschuppen. Auf Conellys Party hatte sie noch geglaubt, es wären Menschen in Kostümen, aber jetzt, als sie sah, wie sich die Kreaturen auf die Spiegelgeschöpfe stürzten, erkannte sie, daß sie sich getäuscht hatte.

Binnen zwei, drei Sekunden waren die beiden unterschiedlichen Gruppen in einen wilden, erbarmungslosen Kampf verstrickt. Vivian sah, wie sich zwei der grüngeschuppten Gestalten auf einen Mann stürzten, mit all ihrer unmenschlichen Kraft auf ihn einschlugen und ihre Raubtierzähne in seinen Körper zu graben versuchten. Das Spiegelgeschöpf lachte schrill, schleuderte eine der Kreaturen mit einer spielerischen Bewegung zur Seite und schlug der anderen die geballte Faust gegen den Schädel. Der Getroffene brüllte auf, preßte die Hände an den Kopf und taumelte zurück. Schwarzes Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor.

Conelly mußte erkannt haben, daß Ulthar ihn zu hintergehen versuchte, und allem Anschein nach hatte er die echsenhaften Bestien geschickt, damit sie Vivian töteten, bevor Ulthar eine weitere Gelegenheit erhielt, Melissa zu befreien. Jetzt, mit einemmal wurde ihr auch bewußt, wieso ihr die Kreaturen schon auf der Party so bekannt vorgekommen waren: Es handelte sich um die gleichen Bestien wie in ihrem Alptraum, aber wenn es in Wahrheit kein Traum war, sondern die Erinnerungen Melissas, dann bedeutete das, daß schon damals Conelly für deren Tod verantwortlich gewesen war, und daß er alles in seiner Macht Stehende tun würde, um sie zu töten und die Wahrheit vor Ulthar zu verbergen.

Vivian begriff, daß sie fliehen mußte, ohne eine Sekunde zu zögern, und sie erkannte die Chance, die sich ihr unverhofft noch einmal bot. Mühsam kroch sie ein paar Meter weit durch den Sand, richtete sich schwankend auf und taumelte blindlings weiter. Ohne eigene Schuld war sie in die Auseinandersetzung zwischen zwei ungeheuren Mächten geraten, in der sie wie ein Staubkorn zerrieben werden würde, wenn es ihr nicht gelang, zu entkommen.

Eine der Kreaturen tauchte auf einmal direkt vor ihr auf. Vivian sah die Hand der Bestie herabsausen und wandte im letzten Augenblick den Kopf zur Seite. Die dolchartigen Krallen zischten Millimeter vor ihrem Gesicht durch die Luft, schlitzten ihre Bluse auf und hinterließen blutige Striemen auf ihrer Haut. Die Wucht des Schlages schleuderte Vivian zu Boden, doch noch bevor sich die Bestie auf sie stürzen konnte, wurde das Ungeheuer von einem der Spiegelwesen gepackt und zurückgerissen.

Vivian richtete sich mühsam auf. Sie taumelte weiter, strauchelte und rappelte sich wieder hoch. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, daß Ulthars Geschöpfe trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit den Kampf immer mehr für sich entschieden, obwohl die Echsenkreaturen mit unglaublicher Wut und dem Mut der Verzweiflung kämpften, immer wieder ihre schrecklichen Fänge und die messerscharfen Krallen einzusetzen versuchten. Aber Vivian hatte selbst erlebt, daß die Spiegelwesen so gut wie unbesiegbar waren, sich jede ihnen geschlagene Wunde sofort wieder schloß. Lange würde der Kampf nicht mehr dauern.

Sie lief weiter, so schnell sie konnte. Ihre Beine drohten immer wieder unter ihr wegzuknicken, aber Angst und Verzweiflung gaben ihr neue Kraft und ließen sie weitertaumeln.

Etwa fünfzig Meter vor ihr lag ein dunkler, langgestreckter Umriß auf dem Strand.

Ein Boot!

Der Anblick mobilisierte noch einmal ihre Kräfte. Sie rannte los, warf sich verzweifelt gegen den Rumpf und schob das Boot ins Wasser. Hinter ihr zerschnitt ein wütender Aufschrei die Luft, aber das registrierte sie kaum noch. Sie watete zwei, drei Meter weit ins Meer hinaus, bis das Boot genug Wasser unter dem Kiel hatte, zog sich mit letzter Kraft über den Bootsrand und schlug schmerzhaft auf den harten Planken auf. Ihre Finger tasteten müde nach dem Anlasser des Außenborders. Kaum war der Motor angesprungen, drehte sie das Boot, richtete den Bug auf den verschwommen sichtbaren Strand des Festlandes und ließ sich einfach vornüber fallen, hinein in die weichen, warmen Arme der Bewußtlosigkeit.

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