19

Obwohl Melissa Conellys Killergeschöpf schwer zusetzte, gab es noch nicht auf. Ulthar wich den zuschnappenden Kiefern im letzten Augenblick aus. Die fingerlangen Reißzähne schlugen ins Leere. Das dumpfe, an eine zuschnappende Bärenfalle erinnernde Geräusch, mit dem die Kiefer der Bestie aufeinanderschlugen, vermischte sich mit seinem wütenden Fauchen.

Quaraans kleine, heimtückischen Augen funkelten boshaft. Das Wesen schien eingesehen zu haben, daß Ulthar auf normalem Wege nicht zu besiegen war. Die Echsenkreatur besaß Körperkräfte, mit denen sie einen Elefantenbullen hätte niederringen können. Aber den unsichtbaren Gewalten, mit denen sie hier konfrontiert wurde, war sie trotz allem nicht gewachsen. Der kleine, schuppige Kopf ruckte in einer wütenden Bewegung herum, während er abwechselnd Ulthar und die schlanke, dunkelhaarige Frau musterte, deren übersinnliche Kräfte ihn immer wieder von seinem Opfer zurückrissen.

Der Magier kroch mit schmerzverzerrtem Gesicht von dem tobenden Ungeheuer weg. »Vernichte ihn«, stöhnte Ulthar. Seine Stimme zitterte, aber es war nicht festzustellen, ob sie von Haß oder Schmerz entstellt war. Quaraans Zähne hatten sich tief in seine Schulter gegraben, ehe sein erster Angriff abgeschlagen worden war. Blut lief aus Ulthars zerfetztem Hemd und bildete eine langsam größer werdende Lache unter seinem Körper. Aber das lodernde, fanatische Feuer in seinen Augen war ungebrochen. Im Gegenteil - der heimtückische Angriff schien seine Entschlossenheit noch gesteigert zu haben.

Quaraan zischte drohend. Sein Schädel pendelte wie der Kopf einer angreifenden Kobra hin und her, während er sich dem neuen Gegner zuwandte.

»Vernichte ihn!« schrie Ulthar noch einmal. Er richtete sich mühsam auf Hände und Knie auf, versuchte auf die Beine zu kommen und sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück. Die Wunde an seiner Schulter begann stärker zu bluten.

Aber sein Befehl war gehört worden. Hinter der Stirn der jungen Frau ballten sich unbegreifliche Energien zusammen. Quaraan schrie gellend auf, als die PSI-Kräfte seiner Gegnerin erbarmungslos zuschlugen. Er kippte nach hinten, wurde haltlos durch die Luft geschleudert und mit brutaler Wucht auf den Steinboden geschmettert. Roter Nebel wallte vor seinen Augen, und in seinem Mund war plötzlich scharfer, bitterer Blutgeschmack. Der Geschmack der Niederlage. Ein helles, grausames Lachen drang durch den Vorhang aus Schmerz und aufkommender Bewußtlosigkeit. Seine Gegnerin bewegte sich, tänzelte leichtfüßig auf ihn zu und hob fast beiläufig die Hand. Sengender Schmerz brannte sich in Quaraans Körper und schmetterte ihn abermals zu Boden.

Dennoch gab er auch jetzt noch nicht auf. Er hätte es gar nicht gekonnt, selbst wenn er gewollt hätte. Er war geschaffen worden, um zu töten, und deshalb würde er einen Kampf niemals aufgeben. Notfalls würde er bis zu seinem eigenen Tod kämpfen.

Trotz seiner nur geringen Intelligenz erkannte er, daß die Frau die gefährlichere Gegnerin war. Sie hinderte ihn daran, das Opfer zu töten, also würde er erst sie vernichten müssen. Quaraan schüttelte sich, sprang auf und ging seinerseits zum Angriff über. Er fauchte, bäumte sich auf und schlug mit allen vier Pfoten und dem stachelbewehrten Schwanz nach dem Körper seiner Gegnerin.

Sein kleiner, gepanzerter Körper schnellte wie eine Stahlfeder durch die Luft.

Er erreichte die Frau nicht.

Eine unsichtbare Hand schien ihn mitten im Sprung zu packen und schleuderte ihn mit solcher Wucht zurück, daß er gegen die Wand krachte. Diesmal klang sein Fauchen eher kläglich.

Melissa kam mit langsamen Schritten näher. Ein hartes, grausames Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Ihre dunklen Augen richteten sich mit hypnotischer Kraft auf das kleine Echsenwesen. »Sieh mich an«, flüsterte sie. »Sieh mich an. Schau mir in die Augen!«

Quaraans Kopf kam in einer unendlich langsamen Bewegung hoch. Sein Körper zitterte wie unter einem Krampf, und aus seiner Brust drang ein dumpfes, wehleidiges Stöhnen.

»Sieh mich an«, flüsterte Melissa noch einmal. »Komm her zu mir!« Das Ungeheuer stand langsam auf. Seine Bewegungen wirkten mit einemmal hölzern und roboterhaft. Gehorsam wie ein gut dressierter Hund ging er auf Melissa zu und blieb dicht bei ihr stehen.

»Gut gemacht!« lobte Ulthar. Er rappelte sich mühsam hoch, humpelte an Melissas Seite und bedachte das wehrlose Echsenwesen mit einem halb triumphierenden, halb verächtlichen Blick. Dann drehte er sich mit einer abrupten Bewegung um und verließ den Raum. »Töte es!« befahl er im Hinausgehen.

Melissa nickte unmerklich. Um ihre Lippen spielte ein böses Lächeln ...


Es war noch immer heller Tag, als Vivian erwachte, obwohl sie das Gefühl hatte, sehr lange geschlafen zu haben. Sie öffnete die Augen, atmete tief ein und richtete sich mühsam auf die Ellbogen auf. In ihr war die dumpfe, verschwommene Erinnerung an einen Alptraum, in dem sie das Gefühl gehabt hatte, irgendeine phantastische, unbegreifliche Grenze durchbrochen zu haben.

Alptraum?

Sie blinzelte, schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht und besah sich ihre Umgebung genauer. Das Labyrinth, das Gebäude, die blitzenden, zum Wahnsinn treibenden Spiegel - alles war verschwunden. Sie lag auf nacktem, unebenen Lehmboden. Früher einmal mußte hier ein Gebäude gestanden haben - seine Umrisse waren noch vage zu erkennen, und rechts von ihr reckte sich wie ein mahnend stehengelassenes Monument ein leerer Türrahmen in die Luft. Dahinter waren die Konturen weiterer Gebäude zu erkennen.

Vivian blinzelte zu dem grellen Feuerball der Sonne empor. Ihre Armbanduhr war kaputt, aber es mußte bereits ziemlich spät sein. Die Sonne stand tief im Westen, senkte sich dem Ende ihrer täglichen Wanderung entgegen und übergoß den Himmel mit einem wahren Feuerwerk von Rot und Orange, durchzogen mit Streifen von Gold und dem ersten, kaum merklichen Schimmer der Dämmerung.

Vivian stand auf. Im ersten Augenblick wurde ihr schwindelig. Sie schwankte, kämpfte das Gefühl mit aller Willenskraft nieder und ging mit zitternden Knien auf den Türrahmen zu. Darüber war noch ein Bruchteil der ursprünglichen Wellblechverkleidung des Gebäudes zu erkennen.

Ulthars Spiegelkabinett stand seitenverkehrt darauf geschrieben.

Vivian kam nicht mehr dazu, sich weitere Gedanken darüber zu machen. Ein plötzlicher, eisiger Windstoß ließ sie erschauern. Papierfetzen und trockenes Laub trieben über den Platz, und das Geräusch des Windes, der sich zwischen den Resten der zusammengestürzten Häuser ringsum fing, echote wie grausames, höhnisches Gelächter in ihren Ohren. Sie bückte sich, hob einen Papierfetzen vom Boden auf und strich ihn glatt. Es war ein Fetzen uralter, längst verblichener Reklame, aber Vivians Augen sahen weder die bunten Bilder noch die marktschreierische Aufmachung. Ihr Blick hing wie hypnotisiert an der Schrift unter den Fotografien.

Es war Spiegelschrift, so wie auch die Buchstaben über dem Türrahmen nicht nur seitenverkehrt angeordnet waren, sondern in Spiegelschrift an der Ruine von Ulthars Kabinett prangten.

Es dauerte lange, bis Vivian die schreckliche Wahrheit begriff. Minutenlang stand sie regungslos da, starrte den Papierfetzen an und kämpfte gegen die aufsteigende Panik. Schließlich, nach einer Ewigkeit, riß sie ihren Blick von der Schrift los. Sie ließ den Papierfetzen fallen, drehte sich um und ging mit schleppenden Schritten auf die Silhouette New Yorks zu, die sich wie ein künstliches Gebirge am Horizont auftürmte.

Eines spiegelverkehrten New Yorks.

Vivian wußte nun, daß sie sich nicht an einen Alptraum erinnerte. Sie war wirklich über eine Grenze gegangen, hatte eine Barriere durchbrochen, die so phantastisch war, daß sie bisher nicht einmal an die Möglichkeit ihrer Existenz gedacht hatte.

Sie hatte die Welt hinter den Spiegeln betreten.

Es war keine Gefangenschaft innerhalb der Spiegel, wie bei Ulthars anderen Opfern und wie er es auch für sie geplant hatte, sondern etwas viel Phantastischeres. Vivian konnte sich noch genau an Conellys Heimtücke erinnern, wie er versucht hatte, sich zu befreien und sie zu töten, indem er ihr ihre Lebensenergie auszusaugen begann, aber an alles, was danach passiert war, besaß sie nur noch eine undeutliche, verschwommene Erinnerung. Conelly hatte eine Mauer in ihrem Inneren durchbrochen und dabei Kräfte freigelegt, die keiner von ihnen zu beherrschen vermochte; Kräfte, die ihn getötet und Ulthars Illusion zerstört hatten, und sie von den freiwerdenden Gewalten in diesen Riß geschleudert worden sein mußte, um hier zu stranden.

Für immer?

Vivian hatte es gespürt, als sie aus der Bewußtlosigkeit erwacht war - das Gefühl, daß hinter ihr eine Tür zugeschlagen wurde, das endgültige und unwiderrufliche Schließen einer Bruchstelle im Gefüge der Schöpfung, die überhaupt niemals hätte geöffnet werden dürfen.

Sie schloß die Augen, konzentrierte sich und tastete nach ihren magischen Fähigkeiten, versuchte, sie noch einmal zu aktivieren.

Es ging nicht.

Es war, als hätte sie niemals die Kräfte einer Hexe besessen. In ihr war nichts als eine große, bedrückende Leere. Ihre Kräfte hatten ihr den Weg hierher gebahnt, aber zurückkehren konnte sie auf dem gleichen Weg nicht.

Tiefe Mutlosigkeit überfiel sie.

Diese Welt glich ihrer alten, bekannten zumindest bis zu einem gewissen Grad, und dennoch war sie völlig fremdartig. So ähnlich, dachte Vivian, mußte sich ein Mensch fühlen, der eines Tages nach Hause kommt und feststellt, daß er zu einem Fremden in seinem eigenen Heim geworden ist.

Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an die bevorstehende Nacht dachte. Obwohl alles, was sie in den letzten Tagen auf der ehemaligen Vergnügungshalbinsel erlebt hatte, nur unangenehme Erinnerungen in ihr wachrief, schreckte sie instinktiv davor zurück, das Festland zu betreten. Coney Island bot trotz all seiner Schrecken den Schutz des Vertrauten, Bekannten. Es gab genug leerstehende Gebäude, in denen sie übernachten konnte.

Sah man von Ulthars völlig verfallenem Kabinett ab, befand sich diese spiegelverkehrte Ausgabe des Vergnügungsparks seltsamerweise in einem viel weniger fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls. Auch hier waren die Zeichen des beginnenden Zusammenbruchs zu sehen - abblätternde Farben, zerbrochene Fensterscheiben, fingerdicke Staubschichten auf dem Boden, Holzwände und Balken, die sich unter dem Gewicht der Jahre zu biegen begannen. Aber es war, als wäre die Zeit hier vor dreißig oder vierzig Jahren einfach stehengeblieben. So oder ähnlich mußte Coney Island ausgesehen haben, kurz nachdem es aufgegeben worden war.

Vivian trat auf eine der Buden zu, um darin Schutz vor der hereinbrechenden Nacht zu suchen. Der Eingang war mit Brettern vernagelt, doch es fiel ihr nicht sonderlich schwer, sie zu entfernen.

Dahinter lag das Nichts.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis ihr bewußt wurde, daß sie nicht einfach vor einem Abgrund oder am Eingang eines großen Raumes stand. Auf eine unbegreifliche Art endete die Welt schlichtweg jenseits des Torbogens, so als wäre die Schöpfung an dieser Stelle einfach nicht zu Ende geführt worden. Vivian wagte es nicht, den Raum zu betreten. Statt dessen prallte sie mit einem Schrei zurück und wandte den Blick ab.

Sonderbarerweise war es nicht dunkler geworden, es schien eher sogar heller geworden zu sein. Sie schaute noch einmal zum Himmel hinauf, und ihre Ahnung wurde zur Gewißheit. Statt sich zu vertiefen, war das Rot der Dämmerung blasser geworden, und die Sonne stand zweifellos höher als noch vor Minuten. Vivian schalt sich selbst eine Närrin. Sie hatte sich vom Stand der Sonne täuschen lassen; was sie sah, war keine Abend-, sondern bereits die Morgendämmerung, und in einer spiegelverkehrten Welt ging die Sonne natürlich nicht im Osten, sondern im Westen auf. Der Gedanke war nur eine logische Schlußfolgerung, und dennoch führte er ihr erst richtig vor Augen, wie fremd diese Welt wirklich war, wenn selbst die elementarsten Gesetzmäßigkeiten der Natur umgekehrt worden waren.

Die Verzweiflung schlug wie eine erdrückende Woge über Vivian zusammen. Einen Moment lang fragte sie sich allen Ernstes, welchen Sinn es noch hatte, überhaupt weiterzugehen und sich irgendwelche Hoffnungen zu machen, statt sich gleich an Ort und Stelle hinzusetzen und auf den Tod zu warten - oder den Wahnsinn. Bei allem, was ihr in den vergangenen Tagen widerfahren war, hätten die meisten anderen Menschen wahrscheinlich schon längst den Verstand verloren. Auch sie hatte nie an dämonische Flugmonster und Echsenungeheuer geglaubt, so wenig wie an zum Leben erwachende Spiegelbilder, aber aufgrund der in ihr steckenden paranormalen Fähigkeiten wußte sie bereits von Kindheit an, daß es das gab, was andere als übernatürlich bezeichneten, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als andere sich auch nur träumen ließen. Dieses Wissen hatte ihr bislang geholfen, mit dem Erlebten fertig zu werden, und es bewahrte sie auch jetzt davor, in Verzweiflung zu versinken und sich selbst aufzugeben. Bis zu ihrer Hochzeit mit Mark hatte sie in ihrem Leben um alles kämpfen müssen, nichts war ihr geschenkt worden, und deshalb wußte sie nur zu gut, daß nur der wirklich verloren war, der sich selbst verloren gab. Sie würde auch jetzt nicht einfach resignieren, selbst wenn ihre Situation noch so aussichtslos erscheinen mochte.

Beinahe ohne es zu merken, hatte Vivian die Richtung zum Strand eingeschlagen, dorthin, wo sie am gestrigen Morgen das Boot entdeckt hatte. Sie blieb stehen. Die Wellen bewegten sich sonderbar träge und schwerfällig. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, die Zeitlupenaufnahme einer Meeresbrandung zu betrachten. Vivian kniete nieder, beugte sich vor und tauchte die Finger ins Wasser. Es war überraschend warm und fühlte sich kaum wie normales Wasser, sondern eher wie eine zähflüssige Flüssigkeit an. Ihre Hand bewegte sich gegen ihren Willen, als die nächste Welle heranrollte. Vivian stand stirnrunzelnd auf, betrachtete die glitzernde Flüssigkeit auf ihren Fingerspitzen und ging weiter. Diese Welt würde noch mehr Überraschungen und Rätsel für sie bereithalten, und sie hatte das Gefühl, daß die wenigsten davon angenehmer Natur sein würden.

Der feinkörnige, weiße Sand knirschte unter ihren Füßen, als sie am Strand entlangging. Schließlich erreichte sie eine Uferböschung an der Übergangsstelle zwischen Coney Island und dem Festland und stieg sie hinauf. Am Ende einer zerbröckelnden Asphaltstraße, die vom Highway zum Strand hinunterführte, stand ein uralter Dodge Station Car. Vivian blieb unwillkürlich stehen und hielt nach dem Fahrer Ausschau. Der Wagen war das erste sichtbare Zeichen von menschlichem Leben, das sie seit ihrer unfreiwilligen Ankunft hier bemerkte. Aber es gab in weitem Umkreis nicht die geringste Spur eines Menschen. Der Strand schien genauso leer und ausgestorben wie der übrige Teil der Halbinsel, den sie bislang gesehen hatte. Und wie wahrscheinlich diese ganze Welt, wisperte eine Stimme in Vivians Gedanken. Es war gut möglich, daß sie der einzige Mensch hier war, vielleicht sogar das einzig lebende Wesen überhaupt. Bislang hatte sie keinen einzigen Vogel gehört, obwohl noch am vergangenen Tag zahlreiche Möwen über dem Meer gekreist hatten. Es schien außer ihr einfach keine Lebewesen in dieser Welt zu geben.

Sie ging auf der Uferböschung entlang, betrat den Highway und näherte sich vorsichtig dem Wagen. Die Tür auf der Beifahrerseite stand offen. Das Fenster war halb heruntergelassen, und der Zündschlüssel steckte noch im Schloß, als wäre der Besitzer nur kurz weggegangen, um sofort zurückzukommen. Vivian umrundete den Dodge einmal und betrachtete ihn eingehend. Solche Modelle waren schon nicht mehr gebaut worden, als sie selbst noch nicht einmal geboren war, trotzdem machte der Wagen einen relativ neuen Eindruck. Der Lack wies nicht den geringsten Kratzer auf, und der Chrom auf Radkappen, Stoßstangen und Türgriffen glänzte so makellos, als wäre er erst vor kurzer Zeit frisch poliert worden.

Vivian zögerte nicht länger. Der Wagen würde wahrscheinlich noch in hundert Jahren hier stehen, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte. Sie schob die Tür zu, umrundete das Fahrzeug noch einmal und ließ sich auf den Fahrersitz fallen.

Das Steuer befand sich auf der falschen Seite.

Vivian seufzte, zog die Tür hinter sich ins Schloß und rückte ächzend auf den vermeintlichen Beifahrersitz hinüber. Solche Fehler würden ihr noch öfter unterlaufen. Es war nicht leicht, Gewohnheiten, die sich ein Leben lang eingeprägt hatten, von einer Minute zur anderen zu andern.

Sie versuchte zu starten, griff automatisch nach einem nicht vorhandenen Sicherheitsgurt und lächelte flüchtig. Der Dodge war vierzig Jahre alt. Damals hatte noch niemand an Sicherheitsgurte gedacht. Vivian drehte den Zündschlüssel gegen den Uhrzeigersinn, trat mit dem rechten Fuß die Kupplung durch und legte vorsichtig den Gang ein. Der Motor heulte protestierend auf und machte einen wilden Satz, als sie viel zu hastig Gas gab und die Kupplung mit einem Ruck kommen ließ. Es war gar nicht so leicht, mit dem linken Fuß Gas und Bremse zu bedienen. Der Dodge schaukelte und bockte wie ein Boot im Sturm, als sie auf den Highway einbog und nach Süden fuhr. Sie hatten New York in südlicher Richtung verlassen, um nach Coney Island hinauszukommen. Also mußte sie - den spiegelverkehrten Gesetzen dieser Welt gehorchend - auch wieder in südlicher Richtung zurückfahren. Allmählich bekam sie eine ungefähre Vorstellung, von den Schwierigkeiten, die ein längerer Aufenthalt in dieser seitenverkehrten Umgebung mit sich bringen würde.

Sie fuhr an einem spiegelverkehrten Hinweisschild vorbei, ohne sich die Mühe zu machen, es zu entziffern.

Und dann sah sie plötzlich das Gespenst.

Natürlich war es nicht wirklich ein Gespenst, aber es wirkte zumindest so, wie man sich im allgemeinen einen Geist vorzustellen pflegte. Vivian brachte den Wagen mit einem harten Ruck zum Stehen und starrte verblüfft auf die schemenhafte Gestalt, die vor ihr die Straße überquerte.

Eigentlich war der Mann nur in Umrissen zu erkennen. Sein Körper wirkte transparent, als bestünde er nicht aus fester Materie, sondern aus einem farbigen Gas, das sich auf geheimnisvolle Weise zu den Konturen eines Menschen zusammengeballt hatte. Vivian konnte deutlich sehen, wie sich Büsche und Gras hinter ihm im Wind bewegten.

Der Mann blieb stehen, sah sich nach allen Seiten um und trat dann mit schnellen Schritten auf den Highway hinaus. Er überquerte die Straße, sprang mit einem Satz über die Leitplanke und blieb aufatmend stehen. Sein Verhalten erinnerte Vivian unwillkürlich an das Gehabe eines Mannes, der froh war, eine stark befahrene Straße unbeschadet überquert zu haben - nur daß die Straße völlig leer war. Mit Ausnahme von Vivians Dodge war weit und breit kein weiteres Fahrzeug zu entdecken.

Vivian legte den Gang ein und fuhr hinter dem Mann her. Er war weitergegangen, aber er schien es jetzt nicht mehr besonders eilig zu haben. Trotz ihrer unheimlichen Erscheinung wirkte die Gestalt nicht bedrohlich, aber Vivian hatte aus bitterer Erfahrung in den letzten Tagen lernen müssen, daß oft ganz reale Gefahren hinter scheinbar harmlosen Dingen steckten. Sie gab behutsam Gas, lenkte den Wagen auf die andere Straßenseite und fuhr langsam an der Erscheinung vorbei. Der Mann schien sie nicht zu bemerken. Er ging ruhig weiter, blieb einmal kurz stehen, um sich mit umständlichen Bewegungen eine Zigarette anzuzünden, und schlenderte dann weiter in Richtung City.

Und dann verschwand er.

Vivian trat verblüfft auf die Bremse und sprang aus dem Wagen. Mit zwei, drei großen Schritten war sie an der Stelle, an der die Erscheinung vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte. Sie konnte keine Spur mehr von ihr entdecken. Der Mann hatte sich so spurlos aufgelöst, als hätte er nie existiert.

Vielleicht hat er auch nicht existiert, wisperte eine kleine, boshafte Stimme in ihren Gedanken. Vielleicht hast du dir nur eingebildet, ihn zu sehen. Vielleicht wirst du langsam verrückt.

Verrückt ... verrückt ... verrückt ...

Vivian stöhnte, preßte die Fäuste gegen die Schläfen und versuchte, die quälende, flüsternde Stimme zu verdrängen. Sie war nicht verrückt. Sie wußte, daß sie den Mann gesehen hatte - oder vielmehr den Schatten eines Mannes. Und für einen kurzen, flüchtigen Moment erinnerte sie sich auch, wo sie ein ähnliches Bild schon einmal gesehen hatte, aber der Gedanke entschlüpfte ihr, bevor sie ihn richtig fassen konnte. Sie starrte eine Weile hilflos auf die Stelle, an der die geisterhafte Erscheinung gestanden hatte, ehe sie sich umdrehte und mit erzwungenen ruhigen Schritten zum Wagen zurückging. Nein - sie war nicht verrückt. Weder sie noch diese Welt. Der Mann stellte nur ein weiteres Fragezeichen in einer Kette ungelöster Rätsel dar, die die Spiegelwelt für sie bereit hielt. Sie würde sie lösen. Irgendwie.

Sie setzte sich hinter das Steuer, ließ den Motor an und fuhr langsam weiter. Ihr Blick fiel in den Rückspiegel. Das Hinweisschild, hinter dem die Erscheinung aufgetaucht war, war zu einem winzigen, streichholzschachtelgroßen Rechteck zusammengeschrumpft, das im Grün und Braun der Küstenlandschaft seltsam deplaziert wirkte. Und davor stand der Mann.

Vivians Augen weiteten sich ungläubig. Für einen Moment verlor sie die Kontrolle über den Wagen. Der Dodge brach aus, schlitterte über die Straße und kam mit kreischenden Reifen zum Stehen. Der Motor erstarb mit einem würgenden Husten, und irgendwo im Kofferraum löste sich schleppend ein Metallteil und krachte gegen die Rückbank. Aber von alledem bemerkte Vivian nichts. Ihr Blick hing wie gebannt an der winzigen, halbtransparenten Gestalt, die vor dem Reklameschild aufgetaucht war.

Die Verblüffung dauerte nur eine Sekunde. Dann reagierten Vivians Instinkte. Ihre Hände schienen sich ohne ihr Zutun zu bewegen. Sie drehte den Zündschlüssel, trat unbewußt Kupplung und Bremse in umgekehrter Reihenfolge und wendete den Wagen mit aufbrüllendem Motor und protestierend kreischenden Reifen. Der Dodge machte einen Satz, der seinem scheinbaren Alter Hohn sprach, und preschte auf der Gegenfahrbahn zurück. Sie erreichte die Reklametafel in dem Augenblick, als der Mann sich anschickte, die Straße zu überqueren. Vivian riß das Steuer herum, trat hart auf die Bremse und stellte den Wagen quer. Fünf Meter schwarzlackiertes Blech blockierten den Weg der Erscheinung. Der Mann reagierte jedoch überhaupt nicht auf den Dodge. Er schien aufmerksam nach rechts und links zu sehen, trat dann auf die Fahrbahn hinaus und lief mit weitausgreifenden Schritten los ... auf den Wagen zu ... und hindurch!

Obwohl Vivian Taylor fast damit gerechnet hatte, daß so etwas passieren würde, verschlug ihr der Anblick für einen Moment den Atem. Die Gestalt ging direkt auf den Wagen zu, ohne ihre Geschwindigkeit auch nur zu verringern. Der transparente Körper schien für einen Moment mit dem Kühler des Dodge zu verschmelzen und ging ungerührt weiter. Das Hindernis schien für ihn gar nicht zu existieren. Er schien es nicht einmal zu sehen.

Genausowenig, wie ich den Verkehr sehe, der auf dieser Straße fließt, dacht Vivian. Oder den Körper dieses Mannes. Ich sehe nur seinen Schatten, sein ... Spiegelbild.

Plötzlich wußte sie, wieso ihr die Erscheinung so sonderbar vertraut gewesen war. Und sie wußte auch wieder, wo sie ähnliche Bilder schon einmal gesehen hatte. In Ulthars Kabinett.

Das Bild des endlosen Ganges erschien wieder vor ihren Augen. Die Spiegel hatten die Abbilder der Sklaven gezeigt, die Ulthar unter seinen Willen gezwungen hatte. Aber einige waren leer gewesen, und viele von ihnen hatten seltsam unwirklich gewirkt; verblaßt, undeutlich und mehr oder weniger transparent. Es gab nur eine Erklärung. Die Spiegel mußten eine Verbindung zu dieser Welt darstellen. Ein Tor, über das die gefangenen Menschen allmählich in diese Welt vordrangen, wenn auch nur ganz langsam. Es geschah auf eine ganze andere Art als bei Vivian und änderte nichts daran, daß die Umstände, durch die sie selbst hierhergelangt war, einen vermutlich einmaligen Vorgang darstellten, aber dennoch bedeutete es, daß durch die Spiegel eine direkte Verbindung zwischen der Realität und dieser Welt bestand, eine Verbindung, die möglicherweise nicht nur von einer Seite aus durchlässig war.

Und es bedeutete auch, daß sie nicht allein war. Vivian hatte nur einen winzigen Teil des endlosen Labyrinths gesehen, aber selbst dort war ihr bereits die große Zahl der leeren Spiegel aufgefallen. Wenn alle ursprünglich darin gefangenen Menschen hierher gelangt waren, mußte es sich um Hunderte handeln. Nicht übermäßig viel, wenn sie bedachte, daß sich diese Welt wohl kaum nur auf eine Spiegelausgabe New Yorks beschränken würde, aber Vivian vermutete, daß sich die meisten Gefangenen irgendwo in der Nähe aufhielten, statt sich allein oder in kleinen Gruppen über diese leere, fremde Welt auszubreiten.

Sie wendete erneut, fuhr an der schemenhaften Gestalt vorbei und gab Gas. Die Silhouette der City zeichnete sich deutlich gegen den Morgenhimmel ab. Sie wirkte noch immer tot und öde, aber Vivian wußte jetzt, daß es irgendwo dort vorne Menschen geben mußte. Menschen, die wie sie Opfer des wahnsinnigen Magiers geworden waren. Zum ersten Mal, seit sie die Spiegelwelt betreten hatte, spürte sie so etwas wie Zuversicht. Sie gab Gas, beschleunigte und sah ungeduldig auf den Tachometer. Die Nadel schien mit quälender Langsamkeit nach oben zu kriechen. Der Motor des Dodge heulte protestierend. Der Wagen war ein schweres, eher gemütlich wirkendes Fahrzeug, das nicht für solche Beanspruchungen gedacht war, aber Vivian beschleunigte unbarmherzig weiter.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis die wellige Graslandschaft allmählich zurückwich und die ersten Wohnblocks rechts und links der Coney Island Avenue auftauchten, die sich durch ganz Brooklyn hindurchzog. Vivian trat das Gaspedal bis zum Boden durch, fegte mit kreischenden Reifen über Kreuzungen und um Kurven und jagte den Wagen in einem Tempo über die verlassenen Straßen, der selbst einem routinierten Rennfahrer den Schweiß auf die Stirn getrieben hätte. Die schwarzen Türme der Hochhäuser von Manhattan ragten wie die Zinnen einer surrealistischen Burg vor ihr empor. Sie spürte instinktiv, daß sie dort vorne die Lösung des Rätsels finden würde. Manhattan war in der realen Welt das Herz der Stadt, der pulsierende, lebende Kern, ohne den New York nichts weiter als irgendeine ganz normale Großstadt wäre.

Die zyklopischen Pfeiler der Manhattan-Bridge tauchten vor ihr auf. Vivian riß den Wagen mit einem halsbrecherischen Manöver die Auffahrt empor, schaltete herunter und jagte mit über achtzig Meilen über das breite, verlassene Asphaltband. Wenige Minuten später erreichte sie den Broadway und hielt mit kreischenden Reifen. Erst jetzt kam sie dazu, sich ihre Umgebung genauer anzusehen. Der Anblick war entsetzlich.

Eigentlich konnte sie nicht einmal sagen, worin die Veränderung bestand. Die Häuser und Straßenzüge wirkten auf den ersten Blick, wie sie sie von früher kannte: riesige, wuchtige Gebilde aus Stahl, Beton und Glas, die wie die Wände einer künstlich errichteten Schlucht rechts und links in den Himmel zu wachsen schienen. Die Veränderung war nicht äußerlich, aber sie existierte. Vivian spürte sie überdeutlich. Irgendwie, ohne daß sich irgend etwas an ihrer Umgebung sichtlich geändert hatte, war der Gesamteindruck falsch. Es war, als lauere hinter den vertrauten Umrissen eine dumpfe, boshafte Macht, ein schweigendes Grauen, das darauf wartete, über jeden Fremden herzufallen, der es wagte, seinen Fuß in sein Territorium zu setzen.

Vivian versuchte, das Gefühl der Furcht, das in ihr emporstieg, zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. Im Gegenteil - das Gefühl schien mit jedem Augenblick stärker und drängender zu werden. Für wenige Sekunden mußte sie gegen den Impuls ankämpfen, umzudrehen und in panischer Angst davonzurasen. Diese Welt war nicht für sie geschaffen. Allein die Anwesenheit eines lebenden Wesens mit freiem Willen stellte eine Blasphemie dar, das spürte Vivian.

Mit erzwungenen ruhigen Bewegungen zog sie den Zündschlüssel ab, öffnete die Tür und stieg aus. Es war kalt. Ein eisiger, durchdringender Wind schien aus dem Zentrum Manhattans zu ihr herüberzuwehen, Wind, der nicht nur physische Kälte mit sich brachte, sondern auch etwas in ihr erschauern ließ. Sie schlug die Wagentür hinter sich ins Schloß und ging langsam über die Straße. Ihre Schritte riefen ein verzerrtes, hallendes Echo hervor, und der Wind schien plötzlich stärker und wütender zu werden, als reagiere er bereits auf die Anwesenheit eines Eindringlings in seinem Reich.

Vivian blieb stehen, atmete tief durch und drehte sich einmal um ihre Achse. Ihr Blick wanderte unruhig an der Häuserfront entlang. Ihr Herz klopfte wild und schmerzhaft, und ihre Finger zitterten. Das Licht wirkte hier anders als draußen auf Coney Island oder dem restlichen New York. Eigentlich anders als jede Beleuchtung, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte - irgendwie kälter und härter. Es gab keine Schatten, keine Grau- und Mischtöne, sondern nur harte Konturen und gerade, wie mit dem Lineal gezogene Trennlinien zwischen grellem Sonnenlicht und tiefstem Schwarz. Der Anblick schmerzte in ihren Augen. Selbst der Wagen, mit dem sie hergekommen war, wirkte plötzlich verändert. Er hatte das Aussehen der gutmütigen Familienkarosse verloren und hockte jetzt schwarz und drohend inmitten der abweisenden Einsamkeit der Straße; ein buckeliges, drohendes Ungeheuer aus schwarzem Stahl und Feindseligkeit.

Vivian drehte sich fröstelnd herum und ging langsam die Straße hinunter. Der Wind blies ihr kalt ins Gesicht, und die Aura der Feindseligkeit, die ganz Manhattan einzuhüllen schien, vertiefte sich mit jedem Schritt, mit dem sie sich dem Zentrum näherte. Sie ging langsam in östlicher Richtung weiter, wobei sie immer wieder den Kopf in den Nacken legte und nach oben blinzelte. Durch die immense Höhe der Häuser entstand der Eindruck, daß sich die Wände über ihr nach innen wölbten. Der Himmel war zu einem schmalen, azurblauen Band zusammengeschrumpft, das von der Sonne mit flüssigem Gold übergossen wurde. Die Straßen wirkten seltsam sauber und aufgeräumt. Der Wind heulte über glatten, makellosen Beton, fegte an Häuserwänden vorbei, die so aussahen, als wären sie erst vor wenigen Stunden fertiggestellt worden, und rüttelte an Läden, hinter denen sich makellos geputzte und klare Scheiben verbargen. Die Stadt war nicht nur tot, sondern unberührt. Hier hatte es niemals Leben gegeben. Vivian fühlte sich unwillkürlich an die Gräber ägyptischer Pharaonen erinnert, in denen die Umgebung der Toten perfekt nachgebildet worden war, manchmal in allen Einzelheiten. Auch dort hatte sie dieses Gefühl gespürt - nur viel, viel schwächer. Dieses Spiegelbild New Yorks war nichts als ein gigantisches, lebensgroßes Modell der wirklichen Stadt.

Sie überquerte eine Kreuzung, blieb stehen und sah sich unschlüssig um. Der Wind trug einen fremdartigen, unangenehmen Geruch mit sich, den sie nicht einordnen konnte. Sein Heulen klang geradezu bedrohlich, und einen Moment lang bildete sich Vivian ein, das Wispern heller, entfernter Stimmen darin wahrzunehmen.

Sie schüttelte ärgerlich den Kopf und ging weiter. Wenn man sich lange genug auf ein bestimmtes, monotones Geräusch konzentrierte, dann konnte man darin alles mögliche hören. Vor allem Dinge, die gar nicht existierten. Sie mußte einen klaren Kopf behalten, wenn sie den Weg zurück jemals finden wollte.

Und dazu war sie entschlossener denn je.

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