11

»Verräter!« tobte Conelly. Blanker Haß funkelte in seinen Augen, während er wuchtig die Tür aufstieß und in den gleichen Raum stürmte, in dem er schon am Mittag mit Ulthar gesprochen hatte. Der einarmige Magier erwartete ihn an einem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand gelehnt. Er wirkte ruhig, fast gelassen, und um seine Mundwinkel spielte die Andeutung eines Lächelns. Es war gerade diese Ruhe, die Conelly mitten im Schritt verharren ließ. Er hatte erwartet, daß Ulthar sich in seinem Kabinett verbarrikadiert und jeden einzelnen seiner Spiegelsklaven zu seinem Schutz aufgeboten hatte, nachdem er es durch den Bruch des Abkommens offenbar auf eine gewaltsame Auseinandersetzung anlegte. Darauf wäre Conelly vorbereitet gewesen, aber er hatte nicht erwartet, ungehindert bis an den Eingang des Kabinetts zu gelangen, um dort von einem der Spiegelwesen in aller Freundlichkeit zum Eintreten aufgefordert zu werden. Vor allem aber überraschte ihn, daß Ulthar ihm allein und schutzlos gegenübertreten würde. In seine Wut mischte sich aufkeimende Nervosität.

»Eine harte Anschuldigung«, sagte der Magier, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich nehme an, du sprichst von dieser ...« Ulthar tat, als müßte er einen Moment nachdenken. »... dieser Vivian Taylor?«

»Natürlich.« Conelly schnaubte. »Wovon wohl sonst? Es war abgemacht, daß sie stirbt. Sie saß bereits in der sicheren Falle, aber deine Leute haben ihr zur Flucht verholfen.«

Ulthar machte mit seinem einen Arm eine gleichgültige Geste. »Ein Versehen«, erklärte er. »Meine Leute wußten nichts von unserem Abkommen. Sie haben diese Taylor für irgendeinen ganz normalen Gast gehalten.«

»Und wo ist sie jetzt?«

»Wie es aussieht, haben wir sie unterschätzt. Noch bevor ich mich mit ihr beschäftigen konnte, ist es ihr gelungen, zu fliehen.« Ulthars Stimme wurde vorwurfsvoll. »Du hättest mich warnen können, daß sie magische Kräfte besitzt, dann wäre das nicht passiert.«

»Zum Teufel mit dir!« stieß Conelly hervor. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, daß ich dir das glaube? Ich habe meinen Teil des Abkommens erfüllt, und ich habe nur einen sehr geringen Preis dafür verlangt. Willst du dich selbst davor drücken?«

Ein flüchtiges, kaltes Lächeln huschte über Ulthars Gesicht. »Du solltest dich nicht so aufregen, Howard, das schadet deinem Blutdruck. Ich verstehe, daß du wütend bist, trotzdem solltest du dir besser überlegen, was du sagst. Vivian Taylor ist wirklich geflohen, aber es wird nicht lange dauern, bis meine Leute sie aufgespürt haben.« Er machte eine kurze Pause. »Es würde übrigens bestimmt schneller gehen, wenn du deinen Beobachter da draußen anweisen würdest, ihnen zu helfen. Aus der Luft wird sie schneller zu entdecken sein.«

Er strich mit der Hand über die Oberfläche des Spiegels hinter sich. Das Glas wurde für einen Augenblick milchig und zeigte dann gestochen scharf wie ein Fernseher die am Himmel kreisende Flugbestie.

Conelly zögerte. Schließlich nickte er, konzentrierte sich und sandte seinem Geschöpf einen kurzen gedanklichen Befehl. Die Flugbestie, die bislang hoch über der Halbinsel ihre Kreise gedreht hatte, änderte ihren Kurs, stieß herab und verharrte schließlich krächzend über einem der Gebäude.

»Na also.« Ulthar nickte zufrieden. »Meine Geschöpfe werden sie einfangen, und ich werde sie dir wie auf dem berühmten Silberteller servieren.«

Während der Spiegel ihnen Vivians Flucht bis zur Gondel des Riesenrades zeigte, wandte Conelly den Kopf und sah Ulthar nachdenklich an. War es möglich, daß der Magier wirklich noch nicht gemerkt hatte, wer Vivian Taylor in Wirklichkeit war? Sie war geflohen, insofern hatte er die Wahrheit gesagt. Möglicherweise hatte er Ulthar überschätzt, und der alte Magier hatte bei der fanatischen Suche nach Melissa soviel von seinem Verstand eingebüßt, daß er blind für die Realität geworden war, vielleicht war alles aber auch nur ein Ablenkungsmanöver. Er wurde aus Ulthar einfach nicht schlau; es gelang ihm nicht, den Magier zu durchschauen. Das, was er von Ulthar sah, war nur eine Maske. Der Alte besaß Macht, ungeheure Macht. Er hatte sie schon damals besessen, auch noch nach Melissas Tod, und nur deshalb hatte Conelly darauf verzichtet, ihn zu vernichten. Damals war Ulthar angeschlagen gewesen, aber ein Kampf hätte dennoch furchtbare Opfer gekostet. Der in seinem Schmerz halbverrückte Magier schien niemals wieder eine Gefahr darzustellen, solange man ihn nicht reizte, und Conelly hatte nicht geglaubt, daß Melissa wirklich eines Tages wieder auftauchen würde. Beides war ein Irrtum gewesen, wie er nun wußte. Er hatte sich selbst ein Vierteljahrhundert lang etwas vorgemacht und sich dabei auch noch eingeredet, daß es Ulthar wäre, der dies täte und nur einem Phantom nachjagen würde.

Mehr als nur einmal hatte er sich seit dem gestrigen Mittag insgeheim gefragt, ob es nicht ein weiterer Fehler gewesen war, den Pakt mit Ulthar zu schließen und zu versuchen, zunächst mehr über dessen gegenwärtige Macht herauszufinden, statt sofort mit aller Härte zuzuschlagen. Aber auch er war von Melissas plötzlichem Auftauchen überrascht worden. Er mußte Zeit gewinnen. Natürlich hatte er Ulthar während der vergangenen Jahre beobachten lassen, aber je mehr Zeit verstrich, und je länger der Magier nur noch wie ein Eremit vor sich hinvegetierte, ohne noch das geringste Anzeichen von Machtstreben zu zeigen, desto flüchtiger und oberflächlicher war die Überwachung geworden. Das Geheimnis der Spiegel war für Conelly unlösbar geblieben; statt dessen hatte er seine eigenen Fähigkeiten und damit seine Macht ausgebaut. Bereits die wenigen Kostproben jedoch, die Ulthar ihm in den letzten Stunden von der Macht der Spiegel geboten hatte, zeigten überdeutlich, daß auch er sich weiterentwickelt hatte, und das in weitaus stärkerem Maße, als Conelly befürchtet hatte. Entgegen seiner Erwartung, Ulthar mit dem Köder, ihm die einflußreichsten Männer der Stadt in die Hände zu spielen, stundenlang so sehr zu beschäftigen, daß der Magier zu nichts anderem mehr käme, hatte dieser sowohl den Köder wie auch die Beute scheinbar mühelos an sich gerissen.

»Was habe ich gesagt?« riß ihn Ulthars Stimme aus seinen Gedanken. »Meine Leute haben sie.«

Conelly schaute auf und sah in dem Spiegel, wie zwei von Ulthars Geschöpfen Vivian Taylor aus dem Gestänge des Riesenrades herunterholten. »Befiehl ihnen, sie zu töten!« verlangte er. »Sofort!«

Ulthar schüttelte den Kopf. »Ich habe versprochen, sie dir zu übergeben, Howard, und das werde ich tun. Was du dann mit ihr machst, ist deine Sache.« Er musterte Conelly abschätzend. »Warum eigentlich bist du so daran interessiert, daß sie stirbt?« fragte er wie beiläufig. »Sie besitzt beachtliche Kräfte und könnte uns überaus nützlich sein.«

Mehr und mehr hatte Conelly das Gefühl, zu einem Statisten in einem bösen Spiel des Magiers degradiert zu werden. Andererseits bestand immer noch die Möglichkeit, daß Ulthar tatsächlich nicht wußte, daß es sich bei Vivian Taylor um Melissa handelte. »Dafür ist sie zu gefährlich«, erwiderte er. »Vergiß nicht, daß sie auch dir entkommen ist. Sie könnte zu einer bedrohlichen Gegnerin werden, und gerade jetzt können wir keine unnötigen Schwierigkeiten gebrauchen. Deshalb ist es besser, wenn sie stirbt.«

Ulthar wirkte für einige Sekunden unschlüssig. Wenn er sich nur verstellte, war er ein brillanter Schauspieler. Schließlich nickte er. »Vielleicht ist es wirklich besser so.«

»Dann töte sie.«

»O nein.« Ulthar lächelte sardonisch. »Ich bin kein Mörder, habe noch nie jemanden umgebracht. Ich verwandle die Menschen nur. Wenn du willst, daß Vivian Taylor stirbt, mußt du sie schon selbst töten. Ich lasse sie hierherbringen, und damit betrachte ich dann auch meinen Teil des Paktes als erfüllt.«

Conelly überlegte blitzschnell. Falls Ulthar noch nichts über Melissa wußte, durfte sie auf keinen Fall hierhergebracht werden. Spätestens dann würde der Magier ihre wahre Identität erkennen. Conelly entschied sich, die Maske fallenzulassen und aufs Ganze zu gehen. Es wurde Zeit zum Handeln. Die Zeit arbeitete gegen ihn, nicht für ihn, wie er sich bislang eingebildet hatte. Er durfte nicht mehr länger warten.

»Wie du meinst«, sagte er lächelnd und sandte erneut einen gedanklichen Befehl aus. »Eigentlich wird es gar nicht nötig sein, Vivian Taylor erst umständlich hierher zu holen. Wichtig ist nur, daß sie stirbt, und wenn du nicht in der Lage bist, dafür zu sorgen, dann tue ich es. Und zwar jetzt!«

Ulthars Augen weiteten sich entsetzt, als er begriff, was Conelly mit seinen Worten gemeint hatte. »Nicht!« schrie er. »Ruf sie zurück!«

Aber es war zu spät. Aus den Schatten eines der Gebäude rund um das Riesenrad quollen Dutzende von schuppigen, muskulösen Gestalten und stürzten sich auf Vivian Taylor.

»Du Narr«, sagte Ulthar kalt. »Glaubst du ernsthaft, auf diese Art irgend etwas zu erreichen?«

Conelly stieß einen wütenden Fluch aus, als er in dem Spiegel beobachtete, wie sich die Spiegelwesen seinen Kreaturen entgegenstellten. Für zwei, drei Sekunden hing sein Blick wie hypnotisiert an dem chaotischen Bild. Seine Lippen bebten, und über sein Gesicht zuckte eine Vielzahl von Empfindungen: Überraschung, Unglauben, Zorn, schließlich Haß, als er sah, wie seine Schergen von Ulthars Männern niedergerungen wurden.

»Verrat!« brüllte er. Er fuhr mit einer schlangengleichen Bewegung herum und stürzte auf Ulthar zu. Sein Arm zuckte vor. Der Schlag schleuderte den Magier quer durch den Raum. »Verrat!« brüllte Conelly noch einmal. Seine Stimme überschlug sich vor hysterischem Zorn. »Jetzt bist du zu weit gegangen. Diesmal wirst du dich nicht mehr herausreden können.«

»So? Wer sagt, daß ich das überhaupt vorhabe?« Ulthar rappelte sich wieder auf. Auch sein Blick flammte nun vor Haß. »Dieser ganze Pakt war ein einziger Verrat, und du hast ihn überhaupt nur geschlossen, um mich zu hintergehen. Glaubst du, ich wüßte nicht längst, wer Vivian Taylor in Wahrheit ist? Ich wußte es schon, als du gestern herkamst, auch wenn du es wohl nicht für nötig gehalten hast, dieses kleine Detail zu erwähnen.«

Conelly machte einen Schritt auf Ulthar zu, doch im gleichen Moment wurde die Tür geöffnet. Fünf der Spiegelwesen drängten sich in den Raum und bauten sich in einer Reihe zwischen ihm und dem Magier auf. Conelly ballte die Fäuste. Vermutlich hätte er Ulthars Geschöpfe vernichten können, aber vor der Tür wartete noch einmal mindestens die gleiche Zahl, und er konnte nicht gegen sie alle kämpfen.

»Es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst«, sagte Ulthar ruhig. »Ich könnte dich töten, aber ich will keinen Krieg mit dir. Ich rate dir jedoch, mir niemals wieder in die Quere zu kommen. Misch dich nicht mehr in meine Angelegenheiten, dann können wir friedlich miteinander auskommen.«

Einige Sekunden lang starrten sie sich schweigend an. Beide wußten, daß dieser Waffenstillstand nicht lange halten würde, dafür kannten sie sich zu gut, aber sie wußten auch beide, daß dies nicht der richtige Augenblick für einen Entscheidungskampf war. Conelly begriff, daß er den einarmigen Magier unterschätzt hatte. Er brauchte Zeit, um gründlichere Vorbereitungen für eine Auseinandersetzung zu treffen. Die Leichtigkeit, mit der die Spiegelwesen seine Geschöpfe vernichtet hatten, war ein Schock für ihn gewesen - und eine heilsame Lehre.

Ulthar seinerseits ahnte, daß es ein Fehler war, Conelly so einfach ziehen zu lassen. Die Gelegenheit war günstig, den Monstermacher zu töten, aber ein Kampf würde auch unter seinen Spiegelgeschöpfen verheerende Verluste kosten. Verluste, die er sich gegenwärtig nicht erlauben konnte. Es würde andere günstige Gelegenheiten geben, mit Conelly abzurechnen. Im Moment war nur Melissa wichtig. Er mußte Vivian Taylor in sein Kabinett zurückholen, statt seine Kräfte in einem Krieg gegen Conelly zu verzetteln.

»Geh!« sagte er noch einmal.

»Also gut«, zischte Conelly. »Für den Moment hast du gewonnen.« Er trat an den Spiegel und starrte wütend auf die Szene darin. Vivian Taylor hatte ein Boot bestiegen und damit bereits fast das Ufer des Festlandes erreicht. »Aber deine Heimtücke wird dir nichts nützen. Schau dir an, wie Melissa stirbt.«

Erneut sandte er einen gedanklichen Befehl aus. Dann fuhr er herum und stürmte an den Spiegelwesen vorbei aus dem Raum, während das fliegende Ungeheuer, das bislang nahezu reglos über der Halbinsel geschwebt hatte, den Kopf in den Nacken warf, einen schrillen Schrei ausstieß und pfeilschnell hinter dem Boot herjagte.

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