13

Vivians Erwachen geschah langsam und qualvoll, ganz anders als sonst, wenn sie aus einem tiefen Schlaf aufwachte. Ihr Körper schien in Flammen gebadet zu sein, und irgend etwas Dunkles, Schleimiges hielt ihren Geist wie mit klebrigen Spinnenfäden umfangen und versuchte immer wieder, sie in den schwarzen Sumpf der Bewußtlosigkeit zurückzuziehen. Sie stöhnte, versuchte sich zu bewegen und die Augen zu öffnen, aber es ging nicht.

Durch das dumpfe Rauschen ihres eigenen Blutes drangen Geräusche an ihr Ohr. Schritte, das Rascheln von Kleidung und Worte, deren Sinn sie nicht begriff. Jemand berührte sie sanft, aber kraftvoll am Arm, richtete sie auf und setzte irgend etwas Kühles, Hartes an ihre Lippen. Automatisch öffnete sie den Mund und schluckte. Die Flüssigkeit schmeckte bitter und scharf; sie brannte in ihrer Kehle. Vivian hustete, machte eine schwache Abwehrbewegung, und diesmal gelang es ihr, die Augen zu öffnen.

Ein grinsendes, stoppelbärtiges Gesicht hing über ihr. »Ich wußte doch, daß ein kräftiger Schluck Sie wieder auf die Beine bringt.« Er nickte auffordernd und wartete, bis sie wieder trank. Der Whisky brannte wie Feuer in ihrer Kehle, aber gleichzeitig machte sich ein warmes, wohltuendes Gefühl in ihrem Magen breit. Das Schwindelgefühl hinter ihrer Stirn verging allmählich.

»Wer ... wer sind Sie?« fragte sie stockend. »Und wo bin ich hier?«

»Mein Name ist Sheldon Torter«, antwortete der Mann. »Ich habe Sie am Strand aufgelesen - erinnern Sie sich nicht?«

Vivian überlegte, aber hinter ihrer Stirn war nichts als Chaos. Schließlich schüttelte sie widerwillig den Kopf. »Um ehrlich zu sein, nicht«, erklärte sie mit schwachem Lächeln. »Was ist passiert?«

»Ich hatte gehofft, daß Sie mir das erklären könnten«, sagte Sheldon seufzend. Er stellte das Whiskyglas auf den Tisch, setzte sich neben Vivian auf den Bettrand und legte in einer kameradschaftlichen Geste den Arm um ihre Schulter. »Sie haben ziemlich viel geredet, während Sie hier lagen«, sagte er. »Wer ist Ulthar?«

Vivian schrak zusammen. »Ich habe von ihm gesprochen?«

»Und noch von einigem mehr«, bestätigte Sheldon. »Sie haben eine ganze Menge gesagt, allerdings muß ich zugeben, daß ich kaum ein Wort verstanden habe.« Er lächelte schwach. »Und ich hätte nichts von allem geglaubt, wenn ich Sie nicht beobachtet hätte.« Seine Stimme zitterte unmerklich, als er fortfuhr: »Dieses Wesen, das Sie gejagt hat ... was war das für ein Ungeheuer?«

Vivian ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie spürte, daß Sheldon es ehrlich meinte, immerhin hatte er ihr das Leben gerettet, aber sie zögerte, ihn noch tiefer in die Geschichte hineinzuziehen. Sie streifte seinen Arm ab, stand behutsam auf und ging mit kleinen, vorsichtigen Schritten durch den Raum. Es klappte besser, als sie erwartet hatte.

Sie blickte an sich herunter. Der schwarze Hosenanzug, den sie getragen hatte, war verschwunden und durch schmuddelige Jeans und ein um mehrere Nummern zu großes Herrenhemd ersetzt worden. Ihre Handgelenke waren mit mehr gutem Willen als medizinischem Wissen verbunden worden; auf die Schnittwunden an ihren Handflächen hatte jemand ein ganzes Sammelsurium von Pflastern geklebt. »Haben Sie mich ... verarztet?«

Sheldon nickte. »Ja. Ich fürchte, ich mache mich nicht sehr gut als Krankenpfleger, aber ich wollte keinen Arzt rufen. Er hätte zu viele Fragen gestellt.«

Vivian lächelte. Sheldon wurde ihr mit jeder Sekunde sympathischer, dabei sah der junge Mann nicht gerade vertrauenerweckend aus. Er war groß, ein Hüne, hinter dem sich selbst Mark spielend hätte verstecken können. Seine Hände erinnerten Vivian an Schaufeln, und die muskulösen Oberarme schienen beständig darum bemüht zu sein, das dünne, karierte Baumwollhemd zu sprengen. Seine Beine steckten in hautengen, zerschlissenen Lederhosen und schwarzen Motorradstiefeln. Sein Haar war schulterlang, verfilzt und wahrscheinlich seit dem letzten Unabhängigkeitskrieg nicht mehr gewaschen worden. Aber Vivian spürte, daß hinter diesem ungepflegten Äußeren ein guter Kerl steckte.

»Ich möchte Sie nicht in die Geschichte hineinziehen, Sheldon«, sagte sie schließlich. »Es könnte gefährlich werden.«

Sheldon machte eine gleichgültige Handbewegung und zündete sich eine Zigarette an. »Ich stecke schon tief genug drin«, sagte er zwischen zwei Zügen. Sein Gesicht verschwand hinter einer blauen Qualmwolke. »Also - was war das für ein fliegendes Monstrum?«

»Eine Art ... Beobachter«, sagte Vivian zögernd. »Wahrscheinlich hat er auch gesehen, daß Sie mich hergebracht haben. Wir müssen ...«

Sheldon schüttelte den Kopf. »Glaube ich kaum«, sagte er ruhig. »Weil das Biest nämlich nicht mehr lebt. Ich mußte es erschlagen, als es mich angriff. Und ich fürchte, irgend jemand wird darüber nicht besonders glücklich sein. Das heißt, daß ich schon mittendrin stecke, und ich möchte wenigstens wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Er grinste flüchtig. »Also sagen Sie mir schon, was das für Leute sind, die hinter Ihnen her sind, und was es mit dieser ... dieser Kreatur auf sich hat. Ich glaube, Sie sind es mir schuldig, mich einzuweihen.«

Vivian sah Sheldon zweifelnd an, dann senkte sie den Kopf. Es widerstrebte ihr auch jetzt noch, ihn tiefer als unbedingt nötig in die Auseinandersetzung mit Ulthar zu verstricken, aber wenn es sich so verhielt, wie er sagte, hatte sie wohl keine andere Wahl. Sie seufzte, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Dann begann sie mit ruhiger, leiser Stimme zu erzählen. Sie berichtete alles - angefangen damit, wer sie war und welchen Beruf sie aufgrund der seltsamen Fähigkeiten, die sie manchmal in sich spürte, bis vor kurzem ausgeübt hatte, bis hin zu Conellys Party, auf der sie und die Spitze der New Yorker Gesellschaft Ulthar in die Falle gegangen waren. Lediglich davon, daß angeblich der Geist einer toten Hexe in ihr schlummern sollte, sagte sie nichts.

Als sie von dem Spiegelkabinett und den monströsen Geschöpfen erzählte, die Ulthars Sklaven angegriffen hatten, runzelte Sheldon zweifelnd die Stirn, schwieg aber und hörte weiterhin geduldig zu.

Erst als sie nach mehr als zwanzig Minuten geendet hatte, ergriff er wieder das Wort. »Die Geschichte hört sich ziemlich phantastisch an«, sagte er. »Aber ich muß Ihnen wohl glauben. Schließlich habe ich einen kleinen Teil davon selbst miterlebt. Auch«, fügte er kopfschüttelnd hinzu, »wenn ich es immer noch nicht begreife.«

»Mir geht es ja selbst kaum anders«, murmelte Vivian. »Vor allem soweit es diese ... Ungeheuer betrifft. Sie haben gegen Ulthars Spiegelgeschöpfe gekämpft, aber das bedeutet noch nicht, daß sie auf ...« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich meine, ich habe keine Ahnung, welche Ziele sie verfolgen und wer hinter ihnen steckt. Ich vermute, daß sie zu Conelly gehören, aber inzwischen weiß ich selbst nicht mehr, was ich glauben soll. Hören Sie, Sheldon, Sie sollten sich nicht weiter in diese Sache einmischen. Ich bin Ihnen wirklich dankbar - aber die Mächte, mit denen wir es hier zu tun haben, sind gefährlicher, als wir uns vielleicht überhaupt nur vorstellen können. Das beste wäre, wenn ich jetzt gehe, und Sie die ganze Geschichte so schnell wie möglich vergessen.«

Sheldon lachte hart. »Sie sind gut, Vivian. Wenn das, was Sie mir erzählt haben, stimmt, dann stecke ich bereits viel zu tief in der Geschichte, um noch so tun zu können, als wüßte ich nichts davon. Und nicht nur ich. Sie sagten, die Leute auf dieser Party wären alle in Ulthars Falle gegangen?«

»Zumindest die meisten, fürchte ich, und vor allem die wichtigsten.«

»Dann beherrschte Ulthar schon jetzt praktisch die Stadt«, sagte Sheldon hart. »Ich weiß zwar nicht, was er vorhat, aber er wird es kaum dabei bewenden lassen, ein paar Kopien von wichtigen Politikern und Wirtschaftsbossen anzufertigen. Er wird weitermachen, und Sie glauben doch nicht, ich würde mich hier hinsetzen, die Hände in den Schoß legen und in aller Ruhe abwarten, während ein Wahnsinniger mit solchen schrecklichen Fähigkeiten die Herrschaft über die Stadt übernimmt?« fragte Sheldon. Er beugte sich vor, senkte die Stimme und sah sie ernst an. »Nach dem, was Sie mir erzählt haben, Vivian, schweben wir alle in größter Gefahr. Und ich gehöre nicht zu den Menschen, die vor einer Gefahr davonlaufen.«

Vivian schüttelte den Kopf. »Hier geht es nicht darum, den Helden zu spielen, Sheldon. Ulthar und seine Spiegelwesen sind bereits schlimm genug, aber dazu kommt noch, daß er durch sie nun auch die Schaltstellen von Polizei und Geheimdienst beherrscht. Wir werden es mit der gesamten Polizei zu tun bekommen. Und dann ist da noch Conelly. Ich habe keine Ahnung, wie er sich verhalten wird.«

Sheldon lachte abfällig. »Ich bin es gewohnt, Ärger mit den Cops zu haben«, sagte er und stand auf. »Vermutlich mehr als Sie. Wenn Sie sich wieder einigermaßen wohl fühlen, gehen wir.«

»Wohin?« erkundigte sich Vivian.

»Die Jungs zusammenrufen. Meine Bande, Gang, Gruppe ... was Ihnen lieber ist«, erklärte er.

Vivian schüttelte erneut den Kopf. »Sheldon, Sie mißverstehen die Lage völlig. Begreifen Sie doch endlich, daß das hier kein Spiel ist. Ulthar will mich töten, und er wird jeden aus dem Weg räumen, der ihn daran zu hindern versucht.«

»Ich weiß«, sagte Sheldon ungerührt. »Aber sehen Sie, Vivian - Sie haben mir gesagt, was Sie wissen, und nun ist es wohl an mir, Ihnen etwas zu erzählen. Ich war nicht nur rein zufällig draußen am Strand, als Sie mit Ihrem Boot auftauchten. Ich war schon die halbe Nacht dort draußen und habe die Insel beobachtet, und wenn ich Sie nicht getroffen hätte, wäre ich heute wahrscheinlich rübergefahren.«

»Weshalb?« fragte Vivian.

Sheldon lächelte traurig. »Wegen Frank«, erklärte er. »Mein Bruder. Er ist vorgestern nacht mit seiner Freundin nach Coney Island hinausgerudert, aber bislang nicht wiedergekommen. Ich glaube, ich weiß jetzt, was ihm zugestoßen ist.« Sein Gesicht zuckte. Er drehte sich brüsk um, nahm zwei Motorradhelme von einer Ablage und warf Vivian einen zu. »Setzen Sie ihn auf«, sagte er, während sie über die knarrende Holztreppe in den Hinterhof hinuntergingen, in dem seine Honda stand. »In der Packtasche ist eine Jacke. Niemand wird Sie erkennen.«

Vivian sträubte sich nicht länger. Sie setzte den Helm auf, zog eine zerschlissene Lederjacke aus der Tasche und zog sie an. Sheldon schwang sich in den Sattel, betätigte den Anlasser und wartete, bis Vivian hinter ihm Platz genommen hatte. Dann fuhr er los.

Vivian versuchte, sich zu orientieren, aber der Stadtteil, durch den sie fuhren, war ihr völlig fremd. Die Häuser hier erinnerten sie nicht an das, was sie von New York im Gedächtnis hatte. Es waren zweistöckige, alte Wohnblocks mit hohen Fenstern und breiten Eingängen. Früher einmal mußte dieses Viertel eines der besseren Wohngegenden der Stadt gewesen sein, aber diese Zeiten waren längst vorbei. Halbverrostete Autowracks, überquellende Mülleimer und Scharen von schmutzigen, zerlumpten Kindern bestimmten das Straßenbild. Die wenigen Erwachsenen, die die Straßen bevölkerten, waren meist ärmlich gekleidet, und ihre Bewegungen wirkten irgendwie ängstlich und verstört, als schämten sie sich ihrer Armut und gingen nur höchst widerwillig aus ihren Behausungen.

Sheldon jagte die Honda unter Mißachtung sämtlicher Verkehrsregeln über die kaum belebten Straßen, fegte in halsbrecherischem Tempo um die Kurven und hielt schließlich vor einem heruntergekommenen Gebäude, vor dem schon eine ganze Anzahl schwerer Maschinen geparkt standen. Die abblätternde Schrift auf der fleckigen Glasscheibe verriet Vivian, daß es sich um eine Nachtbar handelte. Oder vielmehr einmal gehandelt hatte. Sie bezweifelte, daß es in dieser Gegend heute noch Menschen gab, die das Geld hatten, sich in einem Night-Club zu amüsieren. Jetzt schien das Lokal den jungen Leuten hier als Treffpunkt zu dienen.

Sheldon bremste unnötig hart, zog den Zündschlüssel ab und half Vivian aus dem Sattel. Dann bockte er die Maschine auf, legte seinen Helm nachlässig auf den Sattel und machte eine einladende Geste zum Lokal hin. »Kommen Sie, Vivian.«

Vivian zögerte.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er grinsend. »Niemand wird Ihnen etwas tun. Sie dürfen nicht alles glauben, was in den Zeitungen steht.«

Vivian schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht«, erklärte sie. »Ich ...«

»Ich weiß, Sie möchten mich nicht hineinziehen«, sagte Sheldon und nickte geduldig. »Das haben Sie oft genug gesagt. Vergessen Sie den Krampf endlich. Ich bin schon längst drin, und ich möchte verdammt gerne einmal mit den Leuten reden, die für Franks Verschwinden verantwortlich sind. Die Jungs übrigens auch. Er war einer von uns, und niemand greift einen von uns an, ohne die Rechnung dafür präsentiert zu bekommen.«

Vivian konnte die Veränderung, die mit Sheldon vor sich gegangen war, deutlich erkennen. Er war nicht mehr der große, hilfsbereite Junge, der sie am Strand aufgelesen und in sein Zimmer gebracht hatte. Während sie das Lokal betraten und durch den schummrigen Innenraum auf die Bar zugingen, betrachtete sie unauffällig die anderen Mitglieder der Gruppe. Es waren sieben oder acht junge Männer, alle in der gleichen Kluft, eine Kombination aus schwarzem Leder und verwaschenem Jeans-Stoff, und alle langhaarig und bärtig. Es fiel Vivian schwer, einen Unterschied zwischen Sheldon und den anderen zu erkennen. Die Motorradkluft war fast wie eine Uniform, und durch die Haartracht und die wuchernden Bärte wirkten sie wie Brüder, Mitglieder einer einzigen, großen Familie.

Sheldon führte sie an die Theke, bestellte mit zwei erhobenen Fingern etwas zu trinken für sich und Vivian und sah sich neugierig um. »Ist Mickey nicht hier?«

Einer der Männer antwortete mit einem knappen Kopfschütteln. »Nein. Habe ihn schon seit heute morgen nicht mehr gesehen.«

»Wir wollten uns hier treffen.«

»Wer ist das?« fragte eine andere, tiefere Stimme. Vivian drehte sich um und sah in ein Paar neugieriger, gutmütiger Augen. »Deine neue Freundin?«

Sheldon grinste, stützte sich mit den Ellbogen auf die Bar auf und schüttelte bedächtig den Kopf. »Leider nicht. Wir haben uns ... zufällig kennengelernt.« Er grinste noch breiter.

»Sue wird sich freuen.«

Sheldon verzog abfällig das Gesicht. »Sie wird gar nichts sagen, wenn sie erfährt, was Vivian zu berichten hat.«

Vivian schrak bei seinen Worten unwillkürlich zusammen. Bis jetzt war ihr noch nicht richtig klargeworden, was er eigentlich vorhatte. Erst jetzt begriff sie und schaute Sheldon zornig an, ohne daß er sich davon irritieren ließ.

»Sie kann uns nämlich sagen«, fuhr er nach einer genau kalkulierten Pause fort, »was mit Frank passiert ist.«

Загрузка...