3

»Wie reizend, daß Sie gekommen sind, meine Liebe«, grüßte Missis Masterton und eilte Vivian entgegen, nachdem ein Butler sie in den Salon des vornehmen Hauses an der Park Avenue geführt hatte. Ihre Gastgeberin war eine aufgedrehte, zur Magersucht neigende Endvierzigerin mit hochtoupiertem, blondgefärbtem Haar und einer Brille, die ihr ohnehin schmales Gesicht noch hagerer und länger aussehen ließ. Sie reichte Vivian die Hand. Obwohl sie Mark gegenüber bei der telefonischen Einladung vor einigen Tagen ausdrücklich betont hatte, daß es sich nur um eine gemütliche Kaffeerunde im kleinen Kreis handeln sollte, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, sich ebenso wie ihre acht oder neun Freundinnen, die hinter ihr um den gedeckten Tisch herum Platz genommen hatten, in ein teures Modellkleid zu hüllen und mit reichlich Schmuck zu behängen, so daß sich Vivian in ihrem zwar teuren, aber in erster Linie lässigen und bequemen Hosenanzug ziemlich deplaziert vorkam. Aber das war angesichts der Tatsache, daß jede der Frauen mindestens doppelt so alt war wie sie, ohnehin der Fall.

»Es war sehr nett von Ihnen, mich einzuladen«, sagte sie steif.

»Aber ich bitte Sie, nicht so förmlich.« Missis Masterton blinzelte ihr zu. »Kommen Sie, damit ich Sie meinen Freundinnen vorstellen kann.«

Sie führte Vivian an den Tisch und machte sie mit den Frauen bekannt. Es gelang Vivian nicht, sich alle Namen auf Anhieb zu merken, sie bekam jedoch mit, daß es sich ebenso wie bei ihrer Gastgeberin auch bei den übrigen ausnahmslos um die Frauen bedeutender Unternehmer oder einflußreicher Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens handelte, zumal Missis Masterton nicht nur ihre Namen nannte, sondern über jede der Anwesenden auch ein paar Worte verlor.

Vivian fühlte sich nicht besonders wohl, obwohl die Stimmung locker und freundlich war. Die erste Zeit bestritt hauptsächlich Missis Masterton selbst die Unterhaltung, indem sie allerlei bedeutungslosen Tratsch aus der gehobenen New Yorker Gesellschaft verbreitete. Nach einiger Zeit bat sie Vivian, von London zu erzählen.

Auch von der scheinbar gelösten Atmosphäre ließ sich Vivian während der ganzen Zeit nicht darüber hinwegtäuschen, daß man sie nicht nur aus purer Freundlichkeit eingeladen hatte, sondern daß dieses Treffen hauptsächlich dazu diente, sie einer strengen Prüfung zu unterziehen, die darüber entscheiden würde, ob man sie gesellschaftlich akzeptierte oder nicht. Das Ergebnis würde nicht ohne Auswirkungen auf den gesamten Taylor-Konzern bleiben, zumal Marks Verhandlungen hauptsächlich dem Ziel der Expansion dienten. Er wollte auch in den USA Niederlassungen seines in vielfältige Bereiche aufgegliederten Firmenkonglomerats errichten und seine Geschäftsbeziehungen verstärkt auf den amerikanischen Markt ausdehnen. Beziehungen konnten dafür ebenso bedeutsam sein wie die Finanzkraft, Größe und Leistungsfähigkeit seiner Unternehmen. Ob es ihm gelingen würde, diese Beziehungen zu knüpfen und in die entsprechenden Kreise der amerikanischen Wirtschaft und Hochfinanz aufgenommen zu werden, hing nicht nur von ihnen ab, sondern zu einem beträchtlichen Teil auch von ihr als seiner Ehefrau. Dieser Druck lastete auf Vivian. Jede ihrer Bewegungen wurde mit Argusaugen beobachtet, und das machte es ihr unmöglich, sich frei und unbefangen zu geben, auch wenn sie sich mit aller Macht bemühte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen.

»Stimmt es eigentlich«, erkundigte sich Missis Masterton nach einer Weile mit beiläufig klingender Stimme, »daß Sie bis zu Ihrer Verlobung mit Mark Taylor als Wahrsagerin gearbeitet haben? Gewissermaßen als eine Art moderne Hexe?«

Vivian konnte nicht verhindern, daß sie zusammenzuckte. Es war die Frage, auf die sie die ganze Zeit über gewartet hatte, aber die unverhohlene Bezeichnung als Hexe brachte sie für einen kurzen Moment aus der Fassung. Zu stark waren die negativen Assoziationen, die sie gerade in den letzten Tagen mit diesem Wort verband. Sie hatte Mark nichts davon gesagt, daß sie sich selbst die Karten gelegt hatte, und ihm vor allem den erschreckenden Ausgang dieses Experiments verschwiegen. Statt dessen hatte sie ihn betont heiter am Morgen zu seiner Besprechung zum Masterton-Building an der Fifth Avenue gefahren. Dann aber war sie anstelle des geplanten Stadtbummels ins Hotel zurückgekehrt, hatte sich eine Weile hingelegt und tatsächlich mehr als zwei Stunden tief und traumlos geschlafen. Anschließend hatte sie sich etwas besser gefühlt, aber der Schrecken nistete immer noch tief in ihr und lauerte nur auf eine Gelegenheit, wieder von ihr Besitz zu ergreifen.

Doch sofort hatte sie sich wieder in der Gewalt und nickte. »Ein etwas ausgefallener Beruf, zugegeben, aber ich hatte eine Begabung dazu«, erklärte sie, um einen beiläufigen Tonfall bemüht. »Ich habe mich auch einer Reihe wissenschaftlicher Tests unterzogen, die starke mediale Kräfte ergaben.«

Erwartungsgemäß löste ihre offene Antwort keine schroffe Ablehnung aus. In Amerika mochte man in mancherlei Beziehung noch puritanischer als in England sein, aber man besaß auch nicht den typisch britischen Standesdünkel. In der englischen Gesellschaft hatte es Bestürzung, ja teilweise geradezu Empörung ausgelöst, als Mark Taylor, Erbe des Taylor-Konzerns und einer der begehrtesten Junggesellen Europas, seine Verlobung mit der aus einfachsten Verhältnissen stammenden Wahrsagerin Vivian Baker bekanntgegeben hatte. Vor allem die Regenbogenpresse hatte sich auf dieses Thema gestürzt und über Wochen hinweg die Emotionen mit gehässigen, hauptsächlich frei erfundenen Artikeln über sie angeschürt. Die Geschichte vom Aschenputtel war für Vivian wahr geworden, mitsamt aller Konsequenzen, die das Märchen verschwieg, die aber auch in der heutigen Zeit in gewissen Gesellschaftskreisen immer noch unvermeidlich waren. Es war für sie eine Zeit des Spießrutenlaufens gewesen, doch ihre Liebe zu Mark hatte sie diese schlimme Zeit überstehen lassen.

In Amerika, vor allem im Schmelztiegel New York, würde man wesentlich eher bereit sein, ihren früheren Beruf als exotische Note zu akzeptieren. Insofern überraschte es sie nicht sonderlich, daß Missis Masterton keineswegs verärgert reagierte. Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, das war die offenbar aufrichtige Erleichterung und Freude, die ihre Antwort unter allen Anwesenden auszulösen schien.

»Das ist wundervoll«, sagte Missis Masterton. »Wirklich wundervoll.«

Die Stimmung im Raum hatte sich schlagartig verändert. Vivian begriff, daß die Prüfungen vorüber waren, und man sie allem Anschein nach akzeptiert hatte, aber das allein erklärte den krassen Stimmungsumschwung nicht. Fragend runzelte sie die Stirn. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«

Missis Masterton beugte sich zu ihr herüber und berührte ihren Arm. »Sie wissen ja sicher selbst, daß es auf dem Gebiet, auf dem Sie früher gearbeitet haben, von Schwindlern nur so wimmelt. Scharlatane, die den Leuten nur etwas Hokuspokus vorgaukeln, um sich an deren Gutgläubigkeit zu bereichern. Wir waren nicht sicher, ob Sie nicht ebenfalls dazugehören.«

»Und was macht Sie jetzt plötzlich so sicher, daß es nicht so ist?« erkundigte sich Vivian. Ihr Mißtrauen war erwacht. Das starke Interesse an ihrem früheren Beruf machte sie nervös. »Ich meine, niemand wird bereitwillig zugeben, ein Schwindler zu sein.«

Missis Masterton lächelte. »In diesem Fall schon. Niemand, der nicht aus Überzeugung dazu steht, würde sich zu einem so extravaganten, so ... obskuren Beruf bekennen. Es wäre viel unverfänglicher, sich damit herauszureden, daß man es nur wegen des Geldes getan hat. Und um Geld dreht sich ja schließlich fast alles, das ist in Ihrem Land nicht anders, als bei uns. Ich meine, eine Tänzerin in einer Nachtbar würde schließlich auch nicht versuchen, ihre Darbietungen damit zu rechtfertigen, daß es sich um einen ungeheuer ausdrucksstarken Tanz handelt, nicht wahr?« Sie kicherte leise. »Ich hoffe, Sie nehmen mir den Vergleich nicht übel.«

»Also schön, ich habe niemandem etwas vorgegaukelt«, gab Vivian zu. Das unbehagliche Gefühl in ihr hatte sich noch verstärkt. »Ich wußte nicht, weshalb ich mich dafür schämen sollte, daß ich eine mediale Begabung habe.«

»Das sollen Sie ja auch nicht, ganz und gar nicht«, entgegnete Missis Masterton aufgeregt. »Wir haben sogar gehofft, daß es sich so verhält. Um ehrlich zu sein - es war sogar einer der Hauptgründe, weshalb ich Sie für heute eingeladen habe.« Sie seufzte. »Viele Menschen glauben, New York wäre so etwas wie der Nabel der Welt, eine Stadt, in der einem nie langweilig werden könnte. Aber das ist Unsinn. Hier gibt es von allem etwas mehr, und das Leben ist etwas lauter und schneller, doch im Grunde ist es hier nicht anders als anderswo auch. Wenn man sich die Langeweile vertreiben will, muß man sich schon selbst etwas einfallen lassen.«

»Amy will sagen, daß wir alle ein gemeinsames Hobby haben«, ergänzte die Frau, die links von Vivian saß. Wenn Vivian sich recht erinnerte, hieß sie Mary-Lou Cramer und war die Frau des Chefs des New Yorker FBI. »Wir haben in gewisser Hinsicht die gleiche Leidenschaft wie Sie. Mindestens einmal im Monat treffen wir uns, um eine ... na ja, eine spiritistische Sitzung abzuhalten.«

»Natürlich keine richtige Beschwörung«, ergriff Missis Masterton rasch wieder das Wort, als sie die starke Ablehnung auf Vivians Gesicht sah. »Wir feiern keine Schwarzen Messen oder versuchen, den Teufel heraufzubeschwören, wenn Sie so etwas befürchten. Nein, es ist nur ein harmloses, kleines Vergnügen, ein Nervenkitzel, wenn Sie so wollen. Aber niemand von uns ist als Medium sonderlich geeignet.«

»Zweimal haben wir Versuche mit professionellen Spiritisten unternommen«, fügte eine der anderen Frauen hinzu. »Aber beide entpuppten sich als Betrügerinnen. Als wir dann erfuhren, daß Sie zusammen mit Ihrem Mann nach New York kommen würden, stand für uns fest, daß wir Sie unbedingt kennenlernen müßten.«

Vivian schluckte. Anfangs hatte sie befürchtet, die Fragen nach ihrer spiritistischen Veranlagung würden nur dazu dienen, sie auch über diesen Abschnitt ihres Lebens auszuhorchen, doch was sich nach dieser unerwartet eingetretenen Wendung abzeichnete, bereitete ihr noch wesentlich größeres Unbehagen. »Sie meinen, ich soll an Ihrer Seance teilnehmen?«

»Sie würden uns eine große Freude damit machen«, bestätigte Missis Masterton. »Ich bin davon überzeugt, Sie wären eine echte Bereicherung für unsere kleine Runde.«

Vivian zögerte. Sie hatte diesen Abschnitt ihres Lebens nie als ein abgeschlossenes Kapitel betrachtet, sondern gewußt, daß die Vergangenheit sie wieder einholen würde, zumal sie immer noch die gleiche Veranlagung wie früher besaß, doch war es ihr niemals nur um das Geld gegangen. Und auch wenn sie seit ihrer Hochzeit mit Mark nicht mehr darauf angewiesen war, sich auf diese Art ihren Lebensunterhalt zu verdienen, zierte sie sich gewöhnlich nicht, wenn einer ihrer Bekannten sie um ihre Hilfe als Wahrsagerin bat.

Diesmal jedoch lag die Situation aus gleich zweierlei Gründen anders. Hier ging es nicht darum, jemandem zu helfen. Sie betrachtete sich nicht als eine Jahrmarktskünstlerin, und hatte wenig Lust, ihre Fähigkeiten dazu zu mißbrauchen, ein paar alten Damen eine wohlige Gänsehaut zu bereiten.

Der zweite Grund beruhte auf einem wesentlich weniger edlen Motiv. Bereits seit sie nach New York gekommen war, verspürte sie eine seltsame innere Unruhe. Irgendwo in dieser Stadt drohte ihr eine noch ungewisse Gefahr. Vielleicht war es nur eine alberne Überreaktion auf die Alpträume, und sie bildete sich nur etwas ein, zumal sie sich bereits seit dem Vormittag schon nicht mehr sicher war, ob ihr nicht in ihrer Nervosität beim Legen der Karten einfach nur ein Fehler unterlaufen war, da sie vor allem für die zweite der beiden dominierenden Karten - den Januskopf - noch keine Erklärung gefunden hatte. Aber falls ihr Gefühl sie nicht trog, würde sie diese drohende Gefahr vielleicht unnötig vergrößern, wenn sie an dieser spiritistischen Sitzung teilnahm.

»Tun Sie uns doch den Gefallen«, drängte Missis Masterton. »Es handelt sich doch wirklich nur um ein harmloses Vergnügen. Gerade eine sachkundig durchgeführte Seance ist schließlich völlig ungefährlich. Meinen Freundinnen und mir aber liegt wirklich viel daran.«

Vivian ließ ihren Blick über die Gesichter der Anwesenden wandern. In allen entdeckte sie die gleiche Mischung aus Aufregung und erwartungsvoller Vorfreude; sie freuten sich fast wie kleine Kinder darauf. Wenn sie sich jetzt weigerte, würde sie alle vor den Kopf stoßen, und man würde es ihr übelnehmen.

Andererseits - was war denn schon dabei? Anders als die meisten Menschen es sich vorstellten, diente eine ernsthafte Seance nicht dem Zweck, den Geist irgendeines Toten heraufzubeschwören, der dann als grünes Schemen über dem Tisch tanzte, sondern es ging darum, ähnlich wie bei einem Orakel Antworten auf bestimmte Fragen zu erhalten, die detaillierter waren, als die Karten sie zu geben vermochten, die nur grundsätzliche Richtungen andeuteten. Statt sich alle bisher errungenen Sympathien mit einer Weigerung zu verscherzen, erschien es Vivian günstiger, wenn sie wenigstens zum Schein auf die Bitte einging.

Nur bei ganz wenigen Seancen gelang es, die Tür in die Bereiche jenseits der normalen menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit mehr als nur einen winzigen Spalt zu öffnen. Mehr dürfte in diesem Fall für einen kleinen Nervenkitzel auch nicht nötig sein, und es lag an ihr, dafür zu sorgen, daß es selbst bei einer günstigen Konstellation, die ein tieferes Vordringen ermöglichen würde, bei diesem Spalt blieb. Niemand konnte sie dazu zwingen, weiter zu gehen, als sie es wollte.

»Also gut«, gab sie nach. »Versuchen wir es. Aber ich kann nicht für einen Erfolg garantieren, Missis Masterton.«

»Sagen Sie doch einfach Amy zu mir, dafür werde ich Sie Vivian nennen, einverstanden?« Amy Masterton wartete keine Antwort ab, sondern fuhr fort: »Und was den Erfolg der Seance betrifft, so bin ich durchaus Realistin. Wir alle wissen, daß es auf diesem Gebiet keine Garantien gibt.« Sie lachte kurz und etwas nervös auf. »Kommen Sie, gehen wir in die Bibliothek hinüber.«

Genau wie die anderen stand sie auf und wollte ihrer Gastgeberin in einen Nebenraum folgen, als Missis Cramer neben sie trat und sie am Arm zurückhielt. »Bitte warten Sie einen Moment, Vivian.« Ihre Nervosität war unverkennbar, und als sie weitersprach, sprudelten die Worte so schnell aus ihr heraus, daß man merken konnte, daß sie sie sich schon vorher zurechtgelegt hatte, es ihr nun aber nicht mehr gelang, sich richtig an sie zu erinnern. »Ich befinde mich in einer ziemlich bedrückenden Situation. Mein Mann lebt schon seit langem nur noch für seine Arbeit, unsere Kinder und ich spielen in seinem Leben kaum noch eine Rolle. Ich ... ich habe mich damit zwar abgefunden, aber es fällt mir immer schwerer, so zu leben.«

»Warum wenden Sie sich damit gerade an mich?« fragte Vivian. »Ein Eheberater dürfte Ihnen sicherlich eher helfen können.«

Mary-Lou Cramer schüttelte hastig den Kopf. »Darum geht es nicht. Sehen Sie, ich liebe meinen Mann noch immer, und ich habe Andeutungen aufgeschnappt, daß man ihn wegen seiner angeschlagenen Gesundheit demnächst in den vorzeitigen Ruhestand versetzen wird. Der Streß, wissen Sie, und ich möchte gerne wissen, ob es nach seiner Pensionierung noch eine Chance gibt, unsere Ehe zu retten. Obwohl ich meinen Mann liebe, möchte ich nicht neben jemandem alt werden, der mir nur noch Gleichgültigkeit entgegenbringt. Noch bin ich nicht zu alt, um irgendwo einen Neuanfang zu versuchen, aber die Zeit rinnt immer unbarmherziger davon. Wenn ich weitere Jahre unnütz opfere, um etwas zu retten, was nicht mehr zu retten ist, wird es zu spät sein. Können Sie verstehen, was ich meine?« Sie streckte Vivian die Hand entgegen. »Wenn Sie wirklich Wahrsagerin sind, dann können Sie auch aus der Hand lesen. Sagen Sie mir, was in meiner geschrieben steht.«

»Das ist nicht so einfach, wie Sie es sich vielleicht vorstellen«, entgegnete Vivian zögernd. »So etwas bedarf einer längeren Vorbereitung. Ich müßte mehr über Sie wissen, um überhaupt zu wissen, nach welchen Hinweisen ich suchen muß. Und selbst dann hätte ich wahrscheinlich keinen Erfolg. Die Zukunft ist keine starre Linie, sondern sie wird in jedem Moment durch eine Unmenge von Faktoren beeinflußt. Aus der Hand eines Menschen kann man ersehen, ob diese Faktoren gegenwärtig eher auf Glück oder Unglück hindeuten oder auf andere allgemeine Tendenzen. Dies ist kein Rollenspielbuch, in dem man einfach ein paar Seiten weiterzublättern braucht, um nachzulesen, welche von zwei oder drei möglichen Entscheidungen richtig ist und zu welchem Ergebnis führt. Das ...«

»Wo bleiben Sie denn, Vivian?« Amy Masterton erschien in der Türöffnung und schaute sie tadelnd an.

»Wir kommen gleich«, versprach Mary-Lou. »Einen Moment noch. Bereitet in der Zwischenzeit schon mal alles vor.« Sie schaute Vivian an. »Bitte, versuchen Sie es wenigstens.«

Vivian erwiderte den Blick. Sie las aufrichtige Verzweiflung in Mary-Lou Cramers Gesicht. Dies war kein Test und auch kein Spiel wie die geplante Seance; die Frau brauchte wirklich Hilfe und griff nach jedem Strohhalm, der sich ihr bot. »Bitte«, drängte sie noch einmal.

Vivian ergriff ihre Hand, drehte die Handfläche nach oben und betrachtete die darin eingegrabenen Linien. »Ich glaube allerdings kaum, daß ich Ihnen weiterhelfen kann«, warnte sie vor allzu großen Hoffnungen und konzentrierte sich. »Aber ...«

Es war wie ein Stromstoß, der durch ihre Gedanken fuhr. Unwillkürlich zuckte Vivian zusammen. Ihre Augen weiteten sich; immer noch starrte sie auf die Hand vor sich, doch ihr Blick ging durch diese hindurch ins Nichts.

»Was ist los mit Ihnen?« fragte Mary-Lou besorgt.

»Ihre Kinder ... sie sind nicht zu Hause«, murmelte Vivian und zog ihre Hände ruckartig zurück.

»Was?« Verwirrt schaute Mary-Lou Cramer sie an, dann nickte sie. »Ja, die Kinder sind mit der Schule ein paar Tage weggefahren, aber was ...« Sie stockte. »Sie können es tatsächlich, nicht wahr? Wie hätten Sie sonst davon wissen können?« Sie rang sich ein Lächeln ab, doch irgend etwas in ihrem Blick hatte sich verändert, auf eine Art, die Vivian nur allzu vertraut war. »Ist ... ist etwas mit den Kindern?«

»Nein, machen Sie sich keine Sorgen.« Vivian schüttelte den Kopf. »Mit den Kindern ist alles in Ordnung.«

»Dann ist es gut.« Mary-Lou atmete erleichtert auf. »Hören Sie, seien Sie mir nicht böse, aber ich habe es mir anders überlegt. Ich weiß nicht, was Sie gesehen haben, aber es ... ich glaube, es ist besser, wenn Sie mir nichts darüber sagen. Ich möchte es nicht mehr wissen, egal, was es ist.«

Vivian nickte. Sie hätte ihr ohnehin nichts erzählen können. Dafür war alles zu schnell gegangen und viel zu überraschend gekommen. Sie hatte sich nur Mary-Lous Handlinien ansehen und dann vielleicht mit einem ganz leichten geistigen Stoß über das Sichtbare hinaus vordringen wollen, aber wofür sie gewöhnlich intensive Konzentration benötigte, war diesmal fast von alleine geschehen, und in viel, viel stärkerem Maße, als sie es beabsichtigt hatte. Da sie instinktiv sofort abgeblockt und ihren Geist verschlossen hatte, hatte sie nur einige ganz vage Eindrücke aufgeschnappt. Es war um Mary-Lous Mann, Jeremy Cramer, gegangen, und um das Haus und darum, daß es gut war, daß die beiden Kinder der Cramers fort waren. Auch hatte in irgendeiner Form ein Spiegel eine Rolle gespielt. Sämtliche Eindrücke waren von drohendem Unheil überschattet gewesen. Mehr hatte sie nicht mitbekommen, bevor sie ihren Geist erschrocken vor den fremden Sinneseindrücken abgeschirmt hatte.

Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Mary-Lou zu raten, nach Hause zu fahren, schwieg dann aber doch. Dies wäre genau die Art von Rat gewesen, die dazu dienen sollten, irgendein Unheil zu verhindern, statt dessen aber eine verhängnisvolle Entwicklung womöglich erst in Gang setzten. Es war immerhin vorstellbar, daß Mary-Lou ihren Mann mit einer anderen im Bett erwischte, wenn sie jetzt nach Hause fuhr, oder in sonst irgend etwas hineingeriet, was ihr ohne diesen Ratschlag erspart geblieben wäre. Die Vision war zu kurz gewesen, als daß Vivian sich zutraute zu entscheiden, was das beste wäre, und sie war noch viel zu verwirrt, um klar denken zu können.

Aus irgendeinem Grund war es ihr diesmal nicht gelungen, ihre Kräfte wie gewohnt zu kontrollieren.

Wahrscheinlich hätte sie trotz ihrer vorherigen Zustimmung ihre Teilnahme an der Seance doch noch verhindert, wenn ihr nur ein paar Sekunden mehr Zeit zum Nachdenken geblieben wären, doch genau in diesem Moment kehrte Amy Masterton in den Salon zurück.

»Ich weiß nicht, was es hier noch zu tuscheln gibt. Wir warten bereits alle«, sagte sie gespielt vorwurfsvoll, ergriff Vivian am Arm und zog sie mit sich, so daß Vivian kaum eine andere Möglichkeit blieb, als ihr zu folgen.

Die Wände der Bibliothek waren bis unter die Decke mit Regalen gesäumt, auf denen Tausende von Büchern standen. Vivian sah sich von einer ganzen Galerie von Buchrücken umgeben, die meisten davon aus kostbarem Leder und viele mit Einlagen aus Blattgold verziert. Es gab nur drei Unterbrechungen in den Regalen: Die Tür, durch die sie gerade gekommen war, und zwei Fenster, die jedoch so gründlich mit schweren Vorhängen verdeckt waren, daß nicht der kleinste Strahl Tageslicht hereinfiel. Die einzigen Lichtquellen bildeten ein großer Kristallüster und eine wesentlich kleinere Lampe, die in einem langen Kabel von der Decke herunterhing, bis nicht einmal einen Meter über einem großen, runden Tisch, der neben einer ledernen Sitzgruppe in einer anderen Ecke des Raumes die einzige Einrichtung des Raumes bildete.

»Setzen Sie sich, Vivian«, sagte Missis Masterton und deutete auf einen der drei noch freien Stühle am Tisch. »Was ist mit dir, Mary-Lou?«

Mary-Lou Cramer schüttelte fahrig den Kopf. »Ich ... ich werde diesmal nicht teilnehmen«, verkündete sie mit vor Nervosität bebender Stimme, ging zu einem der Ledersessel hinüber und setzte sich dort. »Ich werde von hier aus zusehen.«

»Wie du meinst.« Amy Masterton runzelte die Stirn, zuckte dann aber mit den Schultern und stellte einen der Stühle zur Seite. »Rücken wir ein wenig, um den Kreis gleichmäßig zu schließen.«

Mit einem Knopfdruck löschte sie den Kristallüster, dann drehte sie an einem Dimmer, bis die andere Lampe nur noch matt glühte und der Schein gerade noch ausreichte, über dem Tisch eine Oase trüben Dämmerlichts zu erzeugen. In der Mitte des Tisches, genau im Zentrum des schwachen Lichtkegels, stand ein aus dünnen Metallstäben konstruiertes Gebilde, in dessen Mitte ein Pendel an einem dünnen Faden herabbaumelte. Um dieses Pendel waren kreisförmig Metallplättchen angeordnet, von denen jedes einen Buchstaben des Alphabets zeigte.

»Wir haben bereits verschiedene Hilfsmittel ausprobiert«, erklärte Amy Masterton und nahm Vivian gegenüber auf dem einzigen noch freien Stuhl Platz. »Dieses hier habe ich mir selbst ausgedacht und anfertigen lassen. Da unsere Runde stets recht groß ist, haben wir damit bessere Erfahrungen gemacht als mit einem Ouija-Brett und all den anderen Möglichkeiten, die es gibt.«

Vivian verkniff sich taktvoll die Frage, welche Erfolge sie denn bislang schon erzielt hätten. Statt dessen betrachtete sie das Gebilde genauer. Sie mußte zugeben, daß es zwar einfach, aber äußerst geschickt ausgetüftelt war - vorausgesetzt, daß genügend mediale Energie freigesetzt wurde, um überhaupt etwas zu bewirken, aber das galt schließlich für alle anderen Hilfsmittel auch. Wenn es gelang, das Pendel zum Ausschlagen zu bringen, stieß es die Plättchen mit den Buchstaben an und war auf diese Art in der Lage, Worte zu bilden. Die Plättchen waren so angeordnet, daß sie von jeder Seite des Tisches aus zu sehen waren. Missis Masterton beugte sich vor und stieß das Pendel mit der Hand leicht an. Es mußte durch eine Batterie mit Strom versorgt werden, denn es ließ die Plättchen bei der Berührung kurz aufleuchten. Außerdem waren sie mit unterschiedlich großen Hohlkörpern versehen, so daß jedes beim Anstoßen einen geringfügig anderen Ton erzeugte.

»Sie werden selbstverständlich das Medium sein«, fuhr Missis Masterton fort. »Wie wir bereits aus bitterer Erfahrung wissen, eignet sich keine von uns sonderlich gut für diese Aufgabe. Hoffen wir, daß Sie mehr Erfolg haben.« Sie räusperte sich. »Wir werden unsere gemeinsame Konzentration auf Sie richten, und Sie werden versuchen, sie auf das Pendel zu übertragen.«

»Haben wir nicht noch eine Kleinigkeit vergessen?« fragte Vivian mit angedeuteter Ironie. »Bei aller Begeisterung dafür, möglicherweise eine Antwort durch das Pendel zu bekommen, sollten wir uns vielleicht erst einmal Gedanken darüber machen, welche Frage wir überhaupt stellen.«

Missis Masterton lächelte. »Nun, es gibt eine Menge Fragen, die wohl jeden von uns brennend interessieren. Aber in diesem speziellen Fall schlage ich vor, daß wir uns an den Anlaß halten, aus dem Sie und Ihr Mann überhaupt nach New York gekommen sind. Während unsere Männer über Geschäfte verhandeln, sollten wir versuchen, schon mal im voraus etwas über das Ergebnis dieser Verhandlungen herauszufinden. Was halten Sie davon?«

»In Ordnung.« Vivian nickte. »Allerdings nur unter einer Bedingung. Wir sollten uns verpflichten, Stillschweigen über das zu bewahren, was wir vielleicht erfahren, bis die Verhandlungen wirklich abgeschlossen sind. Sonst greifen wir auf eine Art in diese Verhandlungen ein, die den normalen Lauf der Dinge möglicherweise verändern.«

Das war zwar äußerst unwahrscheinlich, aber Vivian hatte gar nicht vor, dem Pendel eine exakte Aussage zu entlocken, da sie wußte, daß sich trotz aller Zusicherungen höchstwahrscheinlich niemand an diese Bedingung halten würde, dennoch wartete sie, bis die anderen ihr Einverständnis erklärt hatten.

»Also gut. Fassen wir uns nun an den Händen, um den Kreis zu schließen.«

Sie griff nach den Händen ihrer beiden Tischnachbarn und begann, sich zu konzentrieren. »Werden die Geschäftsverhandlungen zwischen William Masterton und Mark Taylor Erfolg haben?« fragte sie laut.

Zwei, drei Minuten lang geschah gar nichts. Dann spürte sie einen Strom schwacher mentaler Kräfte, die auf sie eindrangen, sog sie in sich auf und bündelte sie, bevor sie sie kontrolliert an das Pendel weitergab. Es begann sich zu bewegen, fast unmerklich zunächst, als würde es nur von einem Lufthauch gestreift, dann schwang es etwas stärker, bis es deutlich sichtbar hin und her schwang.

»Es funktioniert!« stieß Amy Masterton hervor. Allem, was sie zuvor gesagt hatte zum Trotz, schien sie selbst nicht recht an einen Erfolg geglaubt zu haben. Der Konzentrationsfluß riß ab, und Vivian warf ihr einen strafenden Blick zu.

Wieder dauerte es mehrere Minuten, bis sie das Pendel zum Ausschlagen brachte, aber die Bewegungen waren noch unkoordiniert, in keiner Weise zielgerichtet. Die eigentliche Arbeit würde erst noch beginnen. Langsam und behutsam begann Vivian, mit ihren Gedanken nach dem Bewußtsein der anderen zu tasten, wobei sie das durch die gemeinsame Konzentration gewobene Band der Verbundenheit wie einen Leitfaden benutzte, an dem sie sich entlangtasten konnte. Spätestens an diesem Punkt wäre jedes unbegabte Medium gescheitert, doch ihr gelang es ohne große Anstrengung, die gesamte Gruppe unbemerkt in einen Zustand leichter Trance zu versetzen, in dem sie sich die kollektiven unterbewußten Kräfte leichter zunutze machen konnte.

»Werden die Geschäftsverhandlungen Erfolg haben?« wiederholte sie die Frage.

Erneut wirkte sie auf das Pendel ein, aber sie versuchte nicht, es als Werkzeug zu benutzen, um eine wahre Antwort zu erhalten, sondern beeinflußte es in ihrem Sinne. Sie ließ es stärker pendeln, bis es nacheinander einige der Buchstaben anschlug. Zunächst wollte sie ein vielleicht formen. Das Pendel schlug gegen das ›VIELLEICHT‹, das ›I‹, das ›E‹ und das ›L‹, dann setzte es ihr plötzlich Widerstand entgegen. Irritiert verstärkte Vivian ihre Bemühungen, zwang das Pendel erneut gegen das ›L‹, dann das ›E‹ und das ›I‹, dann wurde der fremde Einfluß größer.

Als würde es mit einemmal ein Vielfaches seines ursprünglichen Gewichts wiegen, blieb das Pendel unbeweglich in der Ausgangsposition ruhen, widersetzte sich all ihren Bemühungen, bis es plötzlich von selbst wild auszuschlagen begann.

C-H-T formte es das von Vivian geplante Wort zu Ende, fügte aber ohne ihr Zutun weitere Buchstaben hinzu: E-R--A-L-S--I-C-H--D-A-C-H-T-E.

Vivian begriff, daß es sich nicht mehr länger nur um ein Spiel handelte. Ihr geistiger Kontakt mit den anderen war abgebrochen, sie saßen reglos wie Statuen auf ihren Stühlen, mit weit aufgerissenen Augen ins Leere starrend. Anscheinend bekamen sie nicht einmal mehr mit, was geschah. Vivian wollte ihre Hände zurückreißen, um den Kreis zu durchbrechen, doch es gelang ihr nicht. Die Hände ihrer Tischnachbarn hielten ihre wie Schraubstöcke umfangen. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn.

G-I-B--D-I-R--K-E-I-N-E--M-Ü-H-E, schrieb das Pendel.

Vivian hatte Mühe, die rasch aufeinanderfolgenden Buchstaben zu sinnvollen Worten zu ordnen. Das Tor in die Bereiche, mit denen sie nur als Medium Kontakt aufnehmen konnte, hatte sich sperrangelweit geöffnet, und sie hatte keinerlei Einfluß mehr auf das Geschehen.

»Mary-Lou!« rief sie. Aus der Dunkelheit jenseits des Tisches kam keine Antwort.

S-I-E--K-A-N-N--D-I-C-H--N-I-C-H-T--H-O-E-R-E-N, verkündete das Pendel. N-I-E-M-A-N-D--K-A-N-N--D-I-C-H--H-O-E-R-E-N.

»Wer bist du?« Sie hatte die Frage laut stellen wollen, doch es gelang ihr nicht. Sie war wie gelähmt, hatte nicht einmal mehr Macht über ihre Stimmbänder, aber es war auch nicht nötig, die Frage laut auszusprechen.

M-E-L-I-S-S-A, erhielt sie zur Antwort. I-C-H--B-I-N--D-U. Das Pendel verharrte kurz und fügte dann hinzu: D-E-I-N--W-A-H-R-E-S--I-C-H--D-A-S--D-U--B-I-S-L-A-N-G--S-T-E-T-S--U-N-T-E-R-D-R-U-E-C-K-T--H-A-S-T.

Die Buchstaben wurden nun so rasend schnell nacheinander angeschlagen, daß es Vivian kaum noch gelang, sie einzeln wahrzunehmen, aber sie hörte die unterschiedlichen Töne, die sich zu einer schrillen, disharmonischen Melodie zusammenfügten, deren Sinn sie auch ohne den Umweg über die einzelnen Buchstaben verstand. Verzweifelt bemühte sie sich, die Verbindung abreißen zu lassen, doch sie schaffte es nicht. Anders als zunächst geglaubt, gab es keinen fremden Einfluß, der Kontrolle über das Geschehen erlangt hatte, jedenfalls spürte sie keinen. Immer noch bestimmte sie allein mit ihren Kräften die Seance, aber sie gehorchten nicht mehr ihrem eigenen Willen, sondern schienen plötzlich ein unheimliches, furchterregendes Eigenleben entwickelt zu haben.

Ich bin Melissa, dein wahres Ich, das du bislang unterdrückt hast, durchzuckte sie noch einmal, was das Pendel behauptet hatte. Obwohl sie rund ein Dutzend Jahre Zeit gehabt hatte, sich an ihre medialen Kräfte zu gewöhnen und sie beherrschen zu lernen, waren sie ihr im Grunde immer fremd geblieben. Sie hatte es nicht wirklich ernst gemeint, als sie in der vergangenen Nacht zu Mark gesagt hatte, sie hätte Angst davor, daß ihre Fähigkeiten irgendwann sie beherrschen würde, aber bis zu einem gewissen Grad schien genau das jetzt zu passieren. Wieder mußte sie daran denken, daß sie in ihrem Traum eine Hexe gewesen war, die keinerlei Skrupel hatte, zu töten. Ihr Pulsschlag jagte, pochte dumpf in ihren Schläfen.

E-S--W-A-R--K-E-I-N--T-R-A-U-M--D-U--D-U-M-M-E-S--D-I-N-G verkündete das Pendel, wild hin und her, zu schnell, als daß das Auge den einzelnen Bewegungen noch folgen konnte, dennoch hatte Vivian keine Schwierigkeiten, die Worte anhand der aufklingenden Töne zu verstehen. Durch die rasenden Bewegungen schien sich das Pendel in eine glatte Fläche zu verwandeln, und Vivian schrie innerlich auf, als sich darin ein Gesicht zu formen begann. Es war ihr eigenes Gesicht, doch waren die Züge zu einer höhnischen Grimasse verzerrt, und die Augen schienen Vor Haß in verzehrendem Feuer zu lodern.

DU WIRST STERBEN SCHON BALD STERBEN STERBEN STERBEN ...

»Nein!« schrie Vivian gellend auf, und erst nach ein paar Sekunden wurde ihr bewußt, daß sie tatsächlich laut aufgeschrien und den Bann damit durchbrochen hatte. Die Bewegungen des Pendels hatten aufgehört, ruhig hing es an dem Faden herab. Vivian atmete tief durch.

Fragend schaute Mrs. Masterton sie an. »Wann geht es denn endlich los?« fragte sie ungeduldig.

Vivian riß ihre Hände so schnell zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Alles um sie herum schien unwirklich zu werden und begann sich zu drehen, dann sank sie ohnmächtig auf ihrem Stuhl zusammen.

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