17

Coney Island tauchte wie ein monströses Ungeheuer am Horizont auf. Selbst jetzt, am hellen Tag, schien die Insel finster und drohend.

»Okay«, murmelte Sheldon. »Runter jetzt.« Vivian hörte, wie Jack und Steve sich hinter die Sitzlehne bückten, um nicht sofort entdeckt zu werden. Sie widerstand der Versuchung, sich umzudrehen.

Sheldon griff nervös nach seinem Hut, setzte ihn auf und zog ihn tief in die Stirn. Vivian musterte seine Verkleidung ein letztes Mal. Niemand, der Mark kannte, würde darauf hereinfallen. Sheldon glich Mark Taylor nur sehr oberflächlich. Er war ein gutes Stück größer und muskulöser, aber er hatte die gleiche Haarfarbe, trug eine spiegelnde Sonnenbrille und hatte sich von Jack den Bart abnehmen lassen, so es mit einer kleinen Nagelschere möglich gewesen war. Marks Anzug, die Sonnenbrille und der weit ins Gesicht gezogene Hut konnten Ulthar vielleicht für einige Augenblicke täuschen, und das war alles, was Vivian brauchte. Einen winzigen Augenblick. Nur eine einzige Chance, gegen den Magier vorgehen zu können. Wenn Waffen und physische Gewalt schon nichts nutzten, dann vielleicht ihre verborgenen Kräfte.

Schon einmal hatte sie sich auf diese Art gegen die Macht von Ulthars Spiegeln behaupten können, und nun besaß sie zusätzlich noch das Amulett.

Vivian war sich darüber im klaren, wie winzig ihre Chance dennoch war, Ulthar bezwingen zu können. Im Grunde war es ein Selbstmordunternehmen, sich gegen den Magier zu stellen, aber was blieb ihr schon anderes übrig? Wenn sie zu fliehen versuchte, würde Ulthar sie sicherlich nicht einfach ziehen lassen, nachdem sie nun einen Teil seines Geheimnisses kannte, sondern würde sie von seinen Dienern jagen lassen und sie über kurz oder lang auch aufspüren. Besser war es, selbst die Initiative zu ergreifen.

Vor allem aber konnte sie Mark nicht einfach im Stich lassen, sich damit abfinden, daß er bis zum Ende seines Lebens im Spiegelgefängnis des Magiers gefangen war und statt seiner diese künstliche Kreatur existierte. Bislang hatte sie ihre geistigen Kräfte noch nie mit denen eines anderen gemessen, aber wie es aussah, bildeten sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt die einzige Hoffnung, gegen Ulthar bestehen zu können.

Kurz bevor sie den Vergnügungspark erreichten, entdeckten sie einige Männer, die auf der Straße standen und die Weiterfahrt blockierten. Sheldon murmelte einen Fluch und trat auf die Bremse. Einer der Männer näherte sich dem Wagen, sah neugierig durch die Windschutzscheibe und starrte Vivian einige endlos erscheinende Sekunden lang an. Dem vermeintlichen Mark Taylor schenkte er keinerlei Beachtung. Schließlich trat er zurück und bedeutete ihnen mit einem Wink, weiterzufahren. Auch die anderen Männer gaben den Weg frei. Vivian atmete hörbar auf, als sie an ihnen vorbei waren. »Ich glaube, es hat geklappt«, stieß sie hervor.

Sheldon nickte knapp. Ein Netz feiner, glitzernder Schweißperlen überzog seine Stirn.

Sie fuhren langsam über den mit Schlaglöchern und Abfall übersäten Weg. Außer den Männern, an denen sie gerade vorbeigefahren waren, waren keine weiteren Wächter zu entdecken, aber Vivian hatte das Gefühl, von tausend unsichtbaren Augen angestarrt zu werden. Überall in den Schatten und Winkeln zwischen den baufälligen Gebäuden schienen Bewegungen zu sein. Vivian ertappte sich bei dem irrsinnigen Gedanken, daß die gesamte Halbinsel zu dunklem Leben erwacht war - ein lauernder, schleimiger Moloch, der ungeduldig auf seine ahnungslosen Opfer wartete. Sie war beinahe froh, als sie ihr Ziel erreichten.

Sheldon lenkte den Wagen dicht an den flachen Wellblechbau heran, der den Eingang zu Ulthars Spiegelkabinett beherbergte, zog den Zündschlüssel ab und stieß die Tür auf. Dann eilte er um den Wagen herum, riß die Beifahrertür auf und zerrte Vivian grob aus dem Wagen.

Die Tür öffnete sich lautlos von innen, als sie sich dem Gebäude näherten, und schlug mit einem unnatürlich dumpfen, hallenden Geräusch hinter ihnen zu, kaum daß sie eingetreten waren. Für einen Augenblick umfing sie abgrundtiefe Schwärze, ehe irgendwo im Hintergrund des Raumes ein trübes, gelbes Licht aufglomm, das jedoch kaum ausreichte, mehr als vage Konturen wahrzunehmen. Vivian schauderte. Das Geräusch der zufallenden Tür hatte etwas Endgültiges gehabt. Sie hatte plötzlich das Gefühl, in einer überdimensionalen Gruft gefangen zu sein, und sie spürte, daß sie nicht allein waren. Außer ihr und Sheldon war noch etwas im Raum, dessen dunkle Präsenz die Luft wie ein übler Geruch zu durchdringen schien.

Vivian tastete verstohlen nach dem Amulett um ihren Hals. Es fühlte sich warm und irgendwie tröstlich an.

Eine Tür knarrte irgendwo, und sie hörte den Klang langsamer, unregelmäßiger Schritte, die sich näherten.

Am entgegengesetzten Ende des Raumes schwang eine Tür auf. Gleichzeitig verstummten die Schritte.

Sheldon setzte sich zögernd in Bewegung und stieß Vivian vor sich her. Sie stolperte, verlor das Gleichgewicht und wäre gestürzt, wenn Sheldon nicht blitzschnell nach ihrem Arm gegriffen und sie hochgerissen hätte. Er spielte seine Rolle fast ein wenig zu gut, fand Vivian. Sie gingen langsam auf die einladend offenstehende Tür zu. Der Gang dahinter schimmerte in kaltem, metallischem Licht, das die Konturen der Tür zu verwischen schien. Vivian hatte das Gefühl, daß sich das Gebäude sanft bewegte. Der rechteckige Umriß der Tür, die schimmernden Wände des Ganges dahinter - alles schien in gleitender, pulsierender Bewegung zu sein, fast, als atmete das Haus wie ein gigantisches, lebendes Wesen.

Sie taumelte vorwärts.

Sheldon stöhnte auf, als er hinter ihr in den spiegelnden Gang trat. Vivian konnte das Gefühl des jungen Mannes nur zu gut verstehen. Selbst in ihr wallte eine kaum zu beherrschende Panik auf, obwohl sie schon einmal hier gewesen war und wußte, was sie erwartete.

Ein leises, gehässiges Lächeln ließ sie herumfahren.

»Ich wußte, daß wir uns wiedersehen würden«, sagte Ulthar kichernd. »Mein Kompliment, Missis Taylor. Sie haben sich tapfer geschlagen.« Er trat vollends aus der Nische heraus, in der er gelauert hatte, schob die Tür ins Schloß und nickte Sheldon anerkennend zu. »Gut gemacht, Mark.«

Sheldon grunzte etwas Unverständliches, schob den Hut noch tiefer ins Gesicht und postierte sich so hinter Vivian, daß Ulthar von seinem Gesicht fast nichts mehr erkennen konnte. »Wirklich, Missis Taylor«, fuhr der Magier im Plauderton fort, »ich bewundere Ihren Mut. Und Ihren Einfallsreichtum. Sie könnten eine wertvolle Verbündete für mich sein, wenn es nicht schon jemanden gäbe, dessen Existenz unendlich viel wichtiger für mich ist.«

»Sie ...« begann Vivian aufgebracht, brach aber sofort wieder ab. Sie durfte Ulthar nicht zu sehr reizen. Sie war noch nicht nahe genug bei ihm, und Ulthar würde ihr nur diese eine Chance geben - wenn überhaupt. Sie griff unter ihre Jacke, senkte mit gespielter Niedergeschlagenheit den Blick und trat einen Schritt auf Ulthar zu. Sheldon setzte ihr sofort nach, griff nach ihrem Oberarm und tat so, als würde er sie festhalten. Sie sträubte sich gegen seinen Griff, und während des kurzen Handgemenges stolperten sie zwei weitere Schritte auf den einarmigen Magier zu.

Ulthar verzog das Gesicht zu einem amüsierten Lächeln. »Sie hätten eine gute Schauspielerin abgegeben, Missis Taylor«, sagte er tonlos. »Und Sie auch, Mister Porter.«

Sheldon ächzte. Für eine Zehntelsekunde schien sich sein Körper zu versteifen, dann federte er mit einem wütenden Knurren an Vivian vorbei und warf sich auf den Magier.

Ulthar erwartete seinen Angriff vollkommen ruhig. Sheldon schrie wütend auf, schwang die Fäuste und warf sich nach vorne, doch er erreichte den Magier nicht. Sein Körper stieß mitten in der Luft gegen ein unsichtbares Hindernis. Ulthars Gestalt verzerrte sich, schien sich für einen kurzen Moment zu biegen wie eine Fotografie, die in der Mitte geknickt wird.

Ein Spiegelbild! zuckte es durch Vivians Bewußtsein. Sie hatte die ganze Zeit nur Ulthars Spiegelbild gesehen!

Sheldon fiel stöhnend zu Boden und blieb mit seltsam verrenkten Gliedern liegen. Unter seinem Kopf breitete sich langsam eine dunkle, feucht schimmernde Pfütze aus.

Vivian fuhr herum. Die Tür, durch die sie hereingekommen waren, war verschwunden.

»Es ist aus, Missis Taylor!« dröhnte Ulthars Stimme in ihrem Kopf. »Sie haben verloren, warum also sträuben Sie sich noch länger gegen das Unvermeidliche? Ich habe schon zu lange auf diesen Augenblick gewartet. Meine Spiegel erwarten Sie, damit Melissa leben kann.«

»Ich werde niemals ...«

»Ihre Meinung ist völlig unerheblich«, unterbrach Ulthar sie. »Ihnen wird gar keine andere Wahl bleiben, als mir zu gehorchen. Aber vorher möchte ich noch etwas von Ihnen haben, das Melissa vielleicht von Nutzen sein wird. Ich hatte es bereits einmal, aber Sie haben es Ihrem Mann wieder abgenommen. Geben Sie mir Ihr Amulett!«

»Mein ... Amulett?« Vivian hielt es unter ihrer Jacke fest umklammert. Bereits seit sie das Kabinett betreten hatte, konzentrierte sie all ihre paranormalen Sinne darauf, lud es wie eine Batterie auf.

»Her damit!« Auffordernd streckte Ulthar die Hand aus.

»Also gut. Du hast gewonnen«, sagt Vivian schleppend, zog die Hand so heftig unter der Jacke hervor, daß die Kette zerriß, dann schmetterte sie die Faust mit dem Amulett darin mit aller Kraft gegen das Spiegelbild des Magiers.

Ulthars überlegenes Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse des Schreckens. Der Spiegel klirrte, verwandelte sich in ein abstraktes Muster aus unzähligen Rissen und Sprüngen und zerbarst. Ein gellender, schmerzerfüllter Schrei schnitt durch die Luft. Vivian taumelte zurück, preßte ihre Hände auf die Ohren und sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um. Sie spürte, wie sich das Amulett in ihrer Hand erwärmte. Eine ungeheure, pulsierende Kraft schien plötzlich von dem harmlosen Stein auszugehen.

Der Raum verschwamm. Im ersten Sekundenbruchteil glaubte Vivian, daß irgend etwas mit ihrem Sehvermögen nicht in Ordnung war, aber ein schneller Blick auf Sheldons reglosen Körper überzeugte sie davon, daß es die Kammer war, die sich veränderte, und nicht sie. Die Wände schienen sich zu krümmen, verzerrten, verbogen sich wie lebende Wesen. Gleichzeitig schienen ihre Konturen an den Ecken zu zerfasern, an Substanz und Wirklichkeit zu verlieren und zu verblassen. Für einen kurzen Moment konnte Vivian den Raum sehen, wie er wirklich war: Ein flacher, aus unbearbeiteten Brettern zusammengefügter Schuppen, durch dessen Wände Sonnenlicht in fahlen Streifen hereinsickerte. Der Boden bestand aus unbearbeitetem Lehm, und in der Ecke hockte ein wimmernder, tatteriger Greis, der sie aus schreckgeweiteten Augen anstarrte. Vivian begriff, daß sie Ulthar so sah, wie er wirklich war. Und trotz der abgrundtiefen Abscheu, die sie vor ihm empfand, stieg fast so etwas wie Mitleid in ihr auf.

Dann stabilisierten sich die Wände wieder. Der Schuppen verschwand, und Vivian starrte erneut auf die blinkende Front der Spiegel. Mit einem wütenden Aufschrei hob sie die Faust und schlug noch einmal mit aller Kraft zu.

Die Wände wichen vor ihr zurück. Plötzlich gähnte direkt vor ihr ein bodenloser Abgrund. Sie warf sich zurück, kämpfte mit wildrudernden Armen um ihr Gleichgewicht und ließ das mittlerweile glühend heiß gewordene Amulett fallen, aber es nutzte nichts. Der Boden zuckte wie ein lebendes Wesen, bäumte sich auf und brachte sie vollends aus dem Gleichgewicht.

Vivians Schrei verhallte ungehört, als sie in die Tiefe stürzte.


Mary-Lou Cramer preßte sich zitternd in den zweifelhaften Schutz eines Hauseinganges. Sie hatte Angst, panische, lähmende Angst, wie sie sie nie zuvor kennengelernt hatte. Sie hätte niemals hierher kommen dürfen, das wußte sie nun, aber die Einsicht kam zu spät. Ohne es zu wollen, war sie in etwas hineingeraten, das weit über alles hinausging, was sie erwartet hatte. Was sie hier miterlebte, war kein Spiel, sondern blutiger Ernst.

Sie hatte ihren Wagen auf einem unbefestigten Seitenweg abgestellt, nachdem sie hinter einer Kurve die Männer gesehen hatte, die die Straße sperrten und Jeremy kontrollierten, bevor sie ihn passieren ließen. Von dort aus war Mary-Lou zu Fuß weitergegangen, querfeldein bis zu dem verlassenen Freizeitpark auf Coney Island. Jeremys Wagen war irgendwo in dem unübersichtlichen Durcheinander von Häusern und Ruinen verschwunden, aber das Gelände war nicht allzu groß - früher oder später würde sie ihn finden. Die einsame, irgendwie bedrohlich wirkende Umgebung hatte ihr Angst eingeflößt, aber sie war trotzdem weitergegangen.

Dann waren die Motorräder gekommen.

Selbst jetzt verspürte Mary-Lou noch ein flaues Gefühl im Magen, als sie daran dachte, wie knapp sie der Entdeckung entgangen war. Es war eine Gruppe von vier schweren Motorrädern, die auftauchten, kaum daß der Lärm der Motorräder Mary-Lou gewarnt hatte. Buchstäblich im letzten Augenblick hatte sie sich in den Hauseingang geworfen, um nicht gesehen zu werden. Und dann ...

Obwohl sie es mit eigenen Augen gesehen hatte, weigerte sich Mary-Lou, an das Erlebte zu glauben. Männer waren aufgetaucht. Zehn, fünfzehn, vielleicht zwanzig Gestalten, die plötzlich wie aus dem Boden gewachsen auf dem Platz erschienen waren und die Motorradfahrer angegriffen hatten. Der Kampf war ebenso bizarr wie gnadenlos gewesen. Die Motorradfahrer waren in eine Falle gelaufen, aus der es für sie kein Entkommen mehr gegeben hatte. Die Angreifer hatten sich den schweren Maschinen in den Weg geworfen, ungeachtet der Gefahr, die von den heranrasenden Kolossen ausging. Übermenschlich starke Arme hatten die Männer aus den Sätteln gezerrt, ihren verzweifelten Widerstand gebrochen und sie niedergerungen. Das Ganze hatte nicht einmal eine Minute gedauert.

Mary-Lou schloß die Augen, versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen und wünschte sich weit, weit weg. Ihr Herz hämmerte zum Zerspringen, und ihre Knie zitterten so stark, daß sie Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Sie mußte weg, egal wie.

Mary-Lou raffte all ihren Mut zusammen und spähte vorsichtig über den Platz. Der Kampf war vorüber. Die Motorradfahrer lagen regungslos an Händen und Füßen gefesselt neben ihren zerstörten Maschinen. Die Männer, die sie überwältigt hatten, schienen zur Bewußtlosigkeit erstarrt, große, lebensechte Skulpturen, in denen nicht einmal eine Spur von Leben zu sein schien, und ihre jetzige Regungslosigkeit wirkte ebenso unheimlich wie die unvorstellbare Kraft, Schnelligkeit und Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber, mit der sie zuvor gekämpft hatten. Sie hatten nicht wie Menschen gekämpft, sondern wie seelenlose Maschinen, wie Roboter.

Mary-Lou schob sich vorsichtig ins Freie. Keine der unheimlichen Gestalten blickte in ihre Richtung. Mit etwas Glück konnte sie den Platz verlassen und entkommen, doch gerade als sie es wagen wollte, hörte sie plötzlich Schritte. Sie sprang in ihre Deckung zurück, kauerte sich, so gut es ging, in den Schatten des Türrahmens zusammen und sah mit klopfendem Herzen über den Platz.

Auf der anderen Seite des Platzes erschien Jeremy und trat näher.

Mary-Lou unterdrückte einen Aufschrei, als sie ihn sah. Er hatte sich noch mehr verändert. Der Ausdruck in seinem Gesicht war ... Sie suchte nach einer passenden Bezeichnung, doch sie fand keine. Jeremy wirkte auf eine unmöglich zu beschreibende Art unmenschlich, grausam. Mary-Lou hatte das irrsinnige Gefühl, in das Gesicht eines Menschen zu blicken, der von einem bösen Geist beseelt war, in dessen Seele jede Spur seiner früheren Existenz ins Gegenteil verkehrt worden war. Er ging zu der schweigenden Gruppe im Zentrum des Platzes hinüber, sah die überwältigten Männer einen Augenblick triumphierend an und machte eine befehlende Geste. »Bringt sie ins Kabinett!« ordnete er an, so laut, daß auch Mary-Lou ihn hören konnte. »Die Maschinen könnt ihr irgendwo verstecken.«

Die unheimlichen Gestalten machten sich stumm an die Ausführung seiner Befehle. Arme von übermenschlicher Stärke rissen die Motorradfahrer auf die Füße und stießen sie grob vor sich her, dann hoben sie die zentnerschweren Motorräder hoch und trugen sie wie Spielzeuge davon. Nach wenigen Augenblicken lag der Platz einsam und verlassen da wie zuvor.

Sie stand auf, trat aus ihrem Versteck hervor und folgte Jeremy in sicherem Abstand. Sie war halb wahnsinnig vor Angst, aber sie war zugleich entschlossen, das Geheimnis, das ihren Mann umgab, zu klären. Dieser Mann dort vorne war nicht mehr Jeremy. Und sie würde herausfinden, was mit ihm geschehen war.

Die Gruppe bewegte sich auf das Zentrum von Coney Island zu. Mary-Lou wußte hinterher nicht, wie lange sie gelaufen war - es konnten nur wenige Minuten gewesen sein, aber ihr kam es so vor, als würde sie seit Stunden durch dieses Gruselkabinett irren. Überall schienen bedrohliche Schatten zu lauern, flüsternde, kichernde Stimmen, die sie aus der Dunkelheit in Ecken, Nischen und Hauseingängen heraus verspotteten, grotesk verzerrte Umrisse, die zusammengestürzten Reste der ehemaligen Gebäude, die sich in ihrer Einbildung in gierige Klauen verwandelten, die nach ihr zu greifen schienen.

Dennoch ging sie weiter. Jeremy war ein Teil ihres Lebens, und sie würde nie wieder Ruhe finden, ehe sie nicht wußte, was ihn so verändert hatte.

Die Gruppe verschwand schließlich im Inneren eines flachen, langgestreckten Gebäudes, über dessen Tür die Reste einer Neonschrift hingen. Ulthars Spiegelkabinett, las Mary-Lou. Sie spürte, daß sie der Aufklärung des Geheimnisses ganz nahe war. Es mußte irgend etwas mit Spiegeln zu tun haben. Mit dem zerbrochenen Spiegel im Schlafzimmer hatte alles angefangen, und die ganze Zeit schon suchte sie nach einer Erklärung dafür, warum Jeremy scheinbar ohne jeden ersichtlichen Grund sämtliche übrigen Spiegel aus dem Haus entfernt hatte.

Mary-Lou wartete, bis der letzte Mann der Gruppe im Inneren des Gebäudes verschwunden war, ehe sie sich langsam auf die Tür zubewegte.

In diesem Augenblick ging eine seltsame Veränderung mit dem Gebäude vor sich. Ein hoher, klagender Ton erfüllte die Luft. Die Umrisse des Hauses verschwanden, zerflossen für einen Augenblick, als wären sie hinter einem Schleier aus treibendem Wasser verschwunden. Ein unmerkliches Zittern lief durch den Boden, begleitet von einem seufzenden, schmerzerfüllten Laut, der aus keiner menschlichen Kehle stammte.

Mary-Lou rannte instinktiv los. Ohne zu überlegen, stürzte sie durch die Tür und in das Gebäude hinein. Ein kleiner, spartanisch eingerichteter Raum nahm sie auf. Sie blieb einen Augenblick lang stehen, sah sich mit klopfendem Herzen um und ging dann weiter. Unter einer Tür an der rechten Seite schimmerte Licht hindurch. Sie ging vorsichtig hinüber, schob die Tür auf und spähte durch den entstandenen Spalt in den angrenzenden Raum hinüber. Der Anblick verschlug ihr den Atem. Die Größe der Kammer war nicht zu bestimmen; sie konnte zehn Meter, aber auch fünfzig oder hundert Meter durchmessen. Die Wände waren mit unzähligen, schimmernden Spiegeln bedeckt, Spiegeln, die in allen denkbaren Winkeln und Richtungen angeordnet waren, so daß Mary-Lous Blick keinen Halt fand und hilflos von einem zum anderen glitt.

Ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen klang auf. Sie schob die Tür weiter auf und trat mit zitternden Knien ein. Eine Welle der Bewegung schien durch den Raum zu laufen, als die Spiegel ihr Bild aus unzähligen Richtungen und Perspektiven zurückwarfen. Das Stöhnen wiederholte sich. Mary-Lou fuhr herum und zuckte unwillkürlich zusammen, als sie die Gestalt am Boden liegen sah.

Der Mann war verletzt. Sein Gesicht lag in einer Lache halb geronnenen Blutes, und seine Hände bewegten sich krampfhaft. Mary-Lou vergaß ihre Angst und eilte zu ihm hinüber. Behutsam schob sie die Hand unter seinen Kopf und drehte ihn vorsichtig herum. Warmes, klebriges Blut sickerte zwischen seinen Haaren hervor, lief über ihren Arm und tropfte auf ihr Kleid. Der Mann stöhnte lauter, als sie ihn aufrichtete.

»Was ist passiert?« fragte Mary-Lou besorgt. Der Mann öffnete die Augen, versuchte etwas zu sagen und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Verstehen Sie mich?« erkundigte sich Mary-Lou.

Der Unbekannte antwortete mit einem kaum merklichen Nicken. »Wir müssen ... weg«, stöhnte er. »Schnell ...«

Mary-Lou zögerte nicht länger. Sie stand auf, griff unter seine Schultern und zog ihn ächzend hoch. Er war schwerer, als sie erwartet hatte, aber es ging. Sie legte seinen Arm um ihre Schultern, drehte sich mühsam um und stolperte auf den Ausgang zu, der plötzlich viel weiter als vorher entfernt zu sein schien.

Ein helles Glitzern am Boden erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie blieb stehen und sah genauer hin. Es handelte sich um eine zerrissene Damenhalskette, an der ein bläulich schimmernder Stein hing, der in einen silbernen, sternförmig gezackten Kranz eingefaßt war. - Der Mann schien den Stein ebenfalls zu bemerken. Er machte eine schwache Handbewegung in seine Richtung und murmelte etwas, das Mary-Lou nicht verstehen konnte. Aber es war eindeutig, daß er den Stein mitnehmen wollte. Sie nickte entschlossen und bückte sich. Irgendwie brachte sie das Kunststück fertig, das Medaillon vom Boden aufzuheben, ohne den Verletzten dabei loszulassen oder unter seiner Last ebenfalls zusammenzubrechen. Sie verstaute das Schmuckstück in der Hosentasche und taumelte weiter. Das Gewicht des Mannes auf ihren Schultern wurde immer unerträglicher. Sie keuchte, taumelte gegen die Wand und stolperte mühsam vorwärts.

Als sie endlich den Ausgang erreicht hatten, merkte sie, daß sie sich verirrt hatte. Vor ihr lag ein endloser, spiegelnder Gang.

Von irgendwoher ertönte leises Gelächter.


Der Schatten bewegte sich unruhig durch die endlosen Gänge des Kabinetts. Quaraan war verwirrt, hilflos, und er hatte Angst. Er war von seinem Herrn getrennt worden, bevor sein Herr ihm genauere Befehle erteilen konnte, und er spürte, daß ihm etwas zugestoßen war, aber seine Intelligenz reichte nicht aus, um die Natur der Gefahren zu erkennen.

Er war ein Wesen, das nur geschaffen worden war, um zu töten, wenn sein Herr es befahl, nicht um zu denken. Quaraan spürte seine Anwesenheit deutlich, aber da war irgend etwas, das ihn daran hinderte, zu ihm zu gelangen.

Seine Umgebung verwirrte ihn. Er witterte Gefahr, spürte, daß er von Feinden eingekreist war, und alles in ihm drängte danach, seiner Bestimmung zu folgen und zu kämpfen, doch es war keine Gefahr, wie er sie kannte. Es war kein körperlicher Gegner. Die Wände selbst schienen Gefahr zu atmen; der Boden strömte Gefahr aus wie einen durchdringenden Geruch, und von der hohen, spiegelnden Decke schien Gefahr in dünnen schleimigen Fäden herabzuhängen.

Quaraan ließ sich auf allen vieren nieder, senkte die Schnauze und begann wie ein Hund am Boden zu schnüffeln. Leise wimmernd machte sich das Killergeschöpf auf die Suche nach seinem Herren. Unruhig lief Quaraan durch die scheinbar endlosen Gänge des Labyrinths. Er hatte die Orientierung längst verloren, und seine anfängliche Zuversicht, Conelly wiederzufinden, war einer dumpfen, mit hilflosem Zorn gepaarten Niedergeschlagenheit gewichen.

Er richtete sich auf die Hinterpfoten auf, streckte die Nase in die Luft und schnüffelte. Ein neuer Geruch hatte sich in das sinnverwirrende Aroma des Labyrinths gemischt - Menschen!

Quaraan kratzte unruhig mit den Krallen über den stahlharten Fußboden, stieß ein ärgerliches Zischen aus und ließ seine gespaltene Zunge vorschnellen. Seine Erregung wuchs. Alles in ihm drängte danach, vorzustürzen und die Krallen in seine Beute zu schlagen, aber der Herr hatte ihm befohlen, unauffällig zu bleiben und auf den Befehl zum Angriff zu warten. Außerdem konnte er die Richtung aus der die Witterung kam, nicht feststellen. So, wie die spiegelnden Wände seine Augen narrten, schien das Labyrinth auch alle anderen Sinne zu verwirren. Er fauchte ärgerlich, ließ sich auf allen vieren nieder und lief mit überraschender Schnelligkeit los.

Dann spürte er urplötzlich die Erschütterung. Es war kein körperlicher Stoß, sondern vielmehr eine Art geistiges Beben, ein Schlag, der die gesamte Schöpfung zu erschüttern schien und ihn wimmernd in die Knie brechen ließ. Seine Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Für einen kurzen Moment löste sich das Labyrinth auf, und Quaraan fand sich in einem niedrigen, zugigen Schuppen wieder, der vom Heulen des Windes und trockener, moderiger Luft erfüllt war.

»Quaraan!«

Das Echsenwesen fuhr herum und sah sich aus kleinen boshaft funkelnden Augen um. Er hatte die Stimme seines Herrn vernommen, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken.

»Quaraan!« Wieder erklang die vertraute Stimme in seinem Kopf. Gleich darauf stand er wieder wie zuvor in einem von Spiegelwänden begrenzten Gang, doch diesmal hatte er erkannt, woher die Stimme kam.

Quaraan gab seine Tarnung auf, schlug mit den Krallen in die Luft und warf sich mit aller Kraft gegen einen Spiegel, doch es gelang ihm nicht, das Hindernis zu durchbrechen. Es sah aus, als würde sein eigenes Spiegelbild ihm entgegenspringen, ihn stoppen und zurückschleudern. Für einen Augenblick krümmte sich Quaraan vor Schmerzen auf dem Boden.

Es war nicht das Glas selbst, das ihn aufgehalten hatte, es hätte bei dem ungestümen Angriff zerbrechen müssen. Zusätzlich trennte ihn noch eine unbegreifliche, unsichtbare Barriere von seinem Herren, aber obwohl sein Vorstoß mißlungen war, hatte er gespürt, daß die unsichtbare Wand Risse bekommen hatte. Die gleiche Kraft, die zuvor die Realität des Labyrinths erschüttert hatte, schien sich immer noch wie eine Welle auszubreiten und gegen die unsichtbare Barriere zu brausen.

Er richtete sich mühsam auf, konzentrierte sich und wagte einen weiteren Vorstoß. Gleichzeitig spürte er, wie Conelly sich auf der anderen Seite mit aller Gewalt gegen die unsichtbaren Fesseln stemmte.

Ein hoher, klagender Ton quälte Quaraans empfindliche Ohren. Dunkle, wesenlose Schatten trübten seinen Blick, und für Bruchteile von Sekunden verschwammen die Konturen des Labyrinths ein zweites Mal vor seinen Augen, aber im gleichen Moment zerbarst das Hindernis mitsamt dem Spiegel dahinter. Aus der Öffnung kam der Herr getaumelt.

Conelly schwankte. Sein Gesicht war verzerrt, und in seinen Augen flackerte ein schwacher Abglanz der Qualen, die er durchlitt. Er machte zwei, drei unsichtbare Schritte, brach in die Knie und blieb stöhnend liegen.

»Ulthar!« flüsterte er. Seine Stimme war ein heiseres Keuchen, gleichermaßen von Schmerz wie von Wut verzerrt.

Quaraan sprang mit einem freudigen Satz auf seinen Herrn los, schnüffelte wie ein Hund an seiner Schulter und leckte seine Hände. Conelly schleuderte ihn mit einem wütenden Schlag beiseite. In seinen Augen loderte Haß. »Töte ihn«, keuchte er heiser. »Vernichte Ulthar!«

Quaraan stieß ein erregtes Zischen aus. Töten! Die Zeit des Wartens war endgültig vorbei. Er würde töten. Mit einer fließenden Bewegung fuhr er herum und verschwand mit flinken Bewegungen in den Tiefen des Labyrinths.

Er hatte einen Auftrag zu erfüllen.

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