24

Sheldon Porters Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt. Er stand breitbeinig in der Mitte des Ganges, stemmte die Handflächen gegen die Decke und versuchte unter Aufbietung aller Kraft, den langsam niedersinkenden Tod aufzuhalten. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Die Muskeln an Hals und Rücken traten vor Anstrengung sichtlich hervor. Dennoch senkte sich die Decke weiter. Langsam vielleicht einen Zentimeter in der Minute, vielleicht weniger, aber unbarmherzig.

»Ich - ich schaffe es nicht«, stöhnte er. Seine Stimme war vor Anstrengung verzerrt und kaum verständlich. »Sie müssen mir ... helfen.«

Cramer erwachte aus seiner Erstarrung. Er fluchte wütend, riß sich das Jackett vom Leib und baute sich neben dem jungen Hünen auf. Seine ausgestreckten Fingerspitzen berührten kaum die Decke.

Porter schnaufte, ließ die Arme sinken und trat keuchend zurück. »Sinnlos. So halten wir sie nie auf. Sie können aufhören, Jeremy.«

Cramer knurrte, stellte sich auf die Zehenspitzen und preßte noch einmal die Hände gegen die silberne Decke. Über ihm schien ein kopfstehendes Spiegelbild die Geste zu erwidern.

»Hören Sie auf«, wiederholte Sheldon. »Es muß einen anderen Weg geben.«

Cramer ließ wütend die Arme sinken. »Wissen Sie einen?«

»Natürlich nicht. Aber wir helfen uns nicht, wenn wir unsere Kräfte vergeuden.«

Cramer erwiderte Sheldons Blick zornig, bückte sich dann und hob seine Jacke auf. »Vielleicht haben Sie einen Sesam-öffne-dich-Spruch oder so etwas auf Lager«, sagte er halblaut.

»Jeremy! Bitte ...« Mary-Lou eilte zu ihrem Mann hinüber und versuchte ihre Hand auf seine Schulter zu legen.

Cramer streifte sie wütend ab. »Ihr beiden scheint euch ja prächtig angefreundet zu haben«, sagte er aggressiv.

Zwischen Sheldons Augen erschien eine steife Falte. »Sie werden unsachlich, Mister Cramer«, sagte er betont freundlich. »Ihre Frau hat mir zweimal das Leben gerettet. Wenn sie nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt ebenfalls in einem dieser verdammten Spiegel gefangen. Sie übrigens auch noch.«

Cramer schwieg eine Weile. »Sie haben recht«, sagte er dann. »Es ... es tut mir leid. Ich bin nervös.«

»Das sind wir alle«, gab Sheldon kalt zurück. »Aber das ist kein Grund, den wilden Mann zu spielen.«

»Bitte, fangt nicht schon wieder an, euch zu streiten«, sagte Mary-Lou. »Überlegt lieber, wie wir hier herauskommen.«

»Wahrscheinlich gar nicht«, sagte Cramer dumpf. »Die Falle ist zugeschnappt. Und wir sind wie blinde Schafe hineingerannt.«

»Ich hätte diesem Ulthar den Schädel einschlagen sollen, als ich ihm gegenüberstand«, grollte Sheldon.

»Sie haben es doch versucht, oder?« Mary-Lou lächelte flüchtig, als sie Sheldons betroffenes Gesicht sah. »Außerdem glaube ich nicht, daß Ulthar für diese Falle verantwortlich ist.«

»Wie meinst du das?« fragte Jeremy.

Mary-Lou zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich weiß, es ... es hört sich verrückt an, aber ...«

»Das macht nichts. Die ganze Sache ist verrückt. Reden Sie«, drängte Sheldon.

»Vorhin«, begann Mary-Lou, »als Sie ... den Spiegel zerschlugen, da ... da hatte ich den Eindruck, als ob der ganze Raum sich krümmen würde. Fast so, als ... als hätte er Schmerzen.«

»Du meinst, diese Lichteffekte, das Beben ...«

Mary-Lou nickte. »Ja. Ich habe mir den Spiegel angesehen, den Sheldon zertrümmert hat. Ich weiß, ihr werdet mich für verrückt halten, aber er ... ich finde, er sah fast wie eine Wunde aus.«

Cramer sah seine Frau verblüfft an. »Das hört sich an, als ob du glaubst, dieses ganze verdammte Labyrinth würde leben. Willst du das damit andeuten?«

Mary-Lou schüttelte den Kopf. »Ich will gar nichts andeuten. Ich hatte nur den verrückten Gedanken, daß dieses Ding sich ... gewehrt hat, wenn du so willst.«

»Aber das ist doch Unsinn!« protestierte Cramer.

»Vielleicht«, murmelte Sheldon. »Aber vielleicht auch nicht. Wenn diese Spiegel in der Lage sind, Menschen in sich aufzusaugen und ihren Kopien eigenes Leben einzuhauchen ... Nach allem, was ich in den letzten Stunden erlebt habe, bin ich langsam bereit, buchstäblich alles zu glauben.« Er sah Mary-Lou nachdenklich an, versuchte zu lächeln und gab es dann auf, als er merkte, wie mißlungen die Geste wirkte. Auf seiner Stirn perlte feiner, glitzernder Schweiß. »Wir haben sowieso nichts mehr zu verlieren«, sagte er achselzuckend.

»Was haben Sie vor?« Cramer trat unruhig auf der Stelle und beobachtete ihn mißtrauisch.

Sheldon grinste. »Ausprobieren, ob Ihre Frau recht hat.« Er griff in die Jackentasche und zog die zusammengerollte Kette hervor. Seine Muskeln entspannten sich, als er die Waffe über dem Kopf schwang. »Wenn das hier die Reaktion auf Schmerzen war, dann wollen wir sehen, was passiert, wenn wir diesen Spiegeln noch mehr weh tun«, murmelte er.

Die Kette sauste mit hellem Pfeifen nieder. Glas klirrte. Ein Hagel winziger scharfkantiger Geschosse überschüttete Sheldon, während der Spiegel in zwei große und unzählige kleinere Scherben zerbarst. Ein ungeheures Stöhnen ließ die drei Menschen zusammenzucken. Der gesamte Raum schien sich aufzubäumen. Der Boden hob sich ruckhaft und sackte gleich darauf wie ein bockendes Pferd wieder zurück. Sheldon prallte hart mit dem Hinterkopf auf. Für einen Moment versank seine Umgebung hinter einem Vorhang aus rotem, pulsierendem Schmerz. Er kämpfte gegen das Gefühl an, stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch und suchte mit ungeschickten Bewegungen nach seiner Kette, die irgendwo zwischen den Glassplittern auf dem Boden lag.

»Volltreffer«, murmelte er. »Sie hatten recht, Mary-Lou.« Er lächelte verzerrt, stemmte sich vollends hoch und holte zu einem weiteren Schlag aus.

Diesmal hatte er den Eindruck, der ganze Raum würde zusammenstürzen. Ein fürchterliches, schmerzerfülltes Brüllen peinigte seine Ohren. Die Wände zogen sich zusammen, verdrehten sich. Der Boden kippte, wurde für einen Moment zur Wand und kippte dann mit einem Ruck zurück. Die Decke sackte mit einem schmatzenden Geräusch einen halben Meter herunter. Wellen und schnelle, rhythmische Zuckungen liefen über die Spiegel. Sheldon, Mary-Lou und Jeremy purzelten haltlos durcheinander. Ein dumpfes, vibrierendes Gefühl von Schmerz und hilfloser, unbändiger Wut schien den Raum zu erfüllen.

Sheldon rappelte sich mühsam hoch, schwang die Kette und ließ sie abermals gegen die Wand krachen. Der Spiegel zerbarst klirrend. Dahinter war eine amorphe, dunkelrote Masse zu sehen. Sheldon schwang mit wütendem Knurren seine Waffe und ließ sie in die fleischähnliche Masse klatschen. Die Kettenglieder drangen zentimetertief ein, rissen eine lange, blutige Spur und kamen mit einem saugenden Geräusch wieder frei.

Ein ungeheurer, unmenschlicher Schrei ließ die drei Menschen mit schmerzverzerrten Gesichtern zusammenbrechen. Mit einem fürchterlichen Knall zerbarsten sämtliche noch intakten Spiegel. Schwarze, schleimige Flüssigkeit tropfte von der Decke herunter, und die Beleuchtung ging in ein tiefes, pulsierendes Dunkelrot über.

Noch einmal schwang Sheldon seine Kette und schlug zu. Die Wand schien vor ihm zurückzuweichen, aber die Bewegung war ziellos und viel zu langsam.

»Sheldon!« Mary-Lous Stimme war über dem körperlichen, gequälten Schrei kaum zu verstehen. »Hinter dir!«

Sheldon wirbelte herum, auf einen heimtückischen Angriff gefaßt. Aber es gab keine neuen Ungeheuer, keine neuen Schrecken, mit denen sie Ulthars Kabinett überraschte. Hinter ihm war ein niedriger, pulsierender Durchgang entstanden. Sheldon zögerte keinen Augenblick. Er riß Mary-Lou mit sich, stürmte durch die Öffnung und blieb schweratmend stehen. Cramer kam prustend und keuchend hinterhergelaufen.

Unmittelbar hinter ihm schloß sich der Durchgang wieder.

»Geschafft«, sagte Sheldon. Seine Stimme zitterte. »Wir sind draußen. Dieses Ding hat wohl eingesehen, daß wir unverdaulich sind. Bevor wir ihm noch mehr weh tun können, hat es uns lieber nach draußen gelassen.«

»Draußen?« Mary-Lou teile Sheldons Optimismus nicht so ganz. Sie waren zwar aus der Falle entkommen, aber es schien, als wären sie vom Regen in die Traufe geraten.

Der Raum war gigantisch. Die Decke schien so hoch zu sein, daß sich der Blick irgendwo in der Höhe verlor, und die gegenüberliegende Wand verschwamm im Dunst der Entfernung. Es gab hier keine Gänge und Kreuzungen, aber Boden und Wände waren mit Tausenden und Abertausenden von hohen, rechteckigen Spiegeln bedeckt.

Und noch während Mary-Lou hinsah, erwachten einige der Spiegelbilder zu gespenstischem, tödlichem Leben.


Eisiger Wind wehte von Norden her über die Ebene, spielte raschelnd mit Laub und trockenen Blättern und zauberte kleine Wellenmuster auf die Oberflächen der Pfützen, die die Straße wie ein Muster achtlos hingeworfener Spiegelscherben bedeckten. Die Luft roch nach Regen, und über dem Meer ballten sich dunkle, drohende Wolkenberge auf. Die Sonne hatte ihre Wanderung fast beendet. Der große goldene Ball senkte sich dem östlichen Horizont entgegen; seine Konturen zerfaserten im unteren Drittel, lösten sich in rote und orangefarbene Streifen auf und verschmolzen mit der verschwommenen Trennlinie zwischen Meer und Horizont.

Die Frau stand hoch aufgerichtet auf dem Hügelkamm. Gegen den grellen Hintergrund des Sonnenunterganges wirkte ihr Körper wie eine schwarze, scherenschnittähnliche Silhouette. Ihr Haar bewegte sich wie ein Schleier im Wind. Der Blick der großen, dunklen Augen war starr auf die schwarze Silhouette Manhattans gerichtet, die sich wie die Zinnen einer mittelalterlichen Burg am Horizont erhob.

Deutlich spürte sie die Gefahr, die ihr von dort drohte. Sie dachte gar nicht daran, Ulthars Befehl zu befolgen und dorthin zu gehen.

Der Magier hatte einen tödlichen Fehler begangen. Nicht nur einmal, sondern gleich zweimal, und er wußte es noch nicht einmal. Selbst der Magier schien nicht alle Geheimnisse der Spiegelwelt zu kennen. In dieser Welt endete seine Macht. Er hätte schon Mark niemals hierherschicken dürfen. Melissa zweifelte nicht daran, daß auch er und seine Begleiter sich von Ulthars Einfluß befreit hatten. So wie sie. Sie war kein willenloser Roboter mehr, keine Puppe, die seinen Befehlen bedingungslos gehorchen mußte.

Und sie würde es auch nie wieder werden.

Ulthar war ein Narr. Früher einmal hatte sie ihn geliebt, hatte es sich zumindest eingebildet, auch wenn sie es heute nicht mehr nach vollziehen konnte. Aber damals war er immerhin ein stattlicher Mann gewesen, voller Energie und hochtrabender Pläne. Mit ihm zusammen wäre sie unschlagbar gewesen, und vermutlich hatte diese Aussicht ihre Gefühle verwirrt, bis sie sich eingebildet hatte, sie würde ihn lieben.

Aber es war gleichgültig, was damals gewesen war. Heute waren die Bedingungen anders. Ulthar war alt geworden, alt und häßlich. Bildete er sich ernsthaft ein, sie würde einen Greis wie ihn lieben können? Mehr noch als sein körperlicher Verfall jedoch stieß ihn seine seelische Veränderung ab. Ulthar war nur noch ein Fossil, das nicht in diese Zeit paßte, nicht mehr als ein Schatten seiner selbst. Seine Macht war größer als je zuvor, doch er besaß nicht mehr die Energie, sie sinnvoll einzusetzen. Ein ganzes Vierteljahrhundert hatte er vergeudet und ihre gemeinsame Sache dadurch verraten. Seine Suche nach ihr war nur ein Vorwand, eine Ausrede, mit der er sein Versagen vor sich selbst gerechtfertigt hatte. In Wahrheit war er damals zusammengebrochen, hatte seinen Lebenswillen verloren und sich vor der Welt verkrochen. Wenn er nicht in der Lage war, mit Schicksalsschlägen fertig zu werden, zeigte das nur, wie schwach er in Wahrheit war.

Sie hatte ihm sicher viel zu verdanken, ohne ihn wäre sie immer noch ein Teil Vivian Taylors, ohne sich ihres wahren Ichs bewußt zu sein. Aber ihre Befreiung war nicht allein auf Ulthars Anstrengungen zurückzuführen. In fünfundzwanzig Jahren hatte er sie nicht gefunden, und wahrscheinlich wäre es auch in Zukunft nicht anders gewesen, wenn Vivian nicht durch Zufall nach New York gekommen wäre. Selbst ein Blinder hätte sie unter diesen Umständen entdecken müssen.

Ulthar jedoch hatte auch dann noch versagt. Eine schwache und hilflose Frau wie Vivian Taylor hatte seiner ganzen Macht getrotzt und war ihm entkommen. Nur ihren verweichlichten, sentimentalen Gefühlen für diesen Mark hatte er es zu verdanken, daß sie zu ihm zurückgekehrt und sein Vorhaben doch noch gelungen war. Ulthar begann wieder Initiative zu entwickeln, aber es war zu spät für ihn, die verlorene Zeit aufzuholen. Melissa machte sich keine Illusionen, er konnte ihr nicht mehr nützen. Sein zaghaftes Vorgehen gegen Conelly, den Mann, der sie getötet hatte, zeigte deutlicher als alles andere, wie sehr sich Ulthar verändert hatte. Statt den Monstermacher mit einem harten, gezielten Schlag zu vernichten, hatte er bedächtig und ängstlich taktiert, hatte sogar einen Pakt mit Conelly geschlossen, und wenn sie nicht gewesen wäre, hätte die Kreatur des Monstermachers ihn sogar besiegt. Damit war ihre Schuld Ulthar gegenüber abgegolten.

Erst jetzt war sie wirklich frei geworden, und sie erinnerte sich daran, wie Ulthar sie behandelt hatte. Sie hatte seine Gedanken gelesen und seine Abscheu ihr gegenüber gespürt. Sie wußte sogar, daß er vorhatte, sie zu vernichten, sobald er Vivian Taylor wieder in seiner Gewalt hatte.

Soweit aber würde es nicht kommen.

Sie hatte nicht vor, ihm Vivian zu bringen, und Mark Taylor verfolgte vermutlich auch schon längst ganz andere Ziele. Vivian würde aller Voraussicht nach hier in der Spiegelwelt sterben, und mit etwas Glück würde es dem Spiegelbild Marks nicht anders ergehen.

Keiner der beiden würde je nach England zurückkehren. Sie hingegen würde es tun.

Noch war sie nicht stark genug, gegen Ulthar zu kämpfen. Der Taylor-Konzern jedoch besaß Macht, und Melissa war nicht gewillt, darauf zu verzichten. Man würde sich vielleicht über ihr verändertes Verhalten wundern, aber niemand würde bezweifeln, daß sie Vivian Taylor wäre, Mark Taylors Frau und seine Alleinerbin. Sie würde den Taylor-Konzern übernehmen und leiten, würde ihre Macht ausbauen, und irgendwann würde sie Ulthar vernichten. Sie empfand keinen Haß gegen ihn, er war ihr gleichgültig, aber er kannte ihre wahre Identität, und er war der einzige, der ihr gefährlich werden könnte. Deshalb war es besser, diese Gefahr sobald wie möglich zu beseitigen. Ulthar war schon jetzt verloren, auch wenn er es noch nicht wußte.

Ganz gleichgültig, welche Gefühle sie einmal für ihn gehegt hatte, er wäre in jedem Fall nur eine kurze Episode ihres Lebens gewesen. Sie lebte bereits seit Jahrhunderten, so lange, daß Melissa selbst schon vergessen hatte, wann genau sie geboren war. Sie wußte nur, daß es in einer dreckigen, kleinen Hütte irgendwo im Norden Schottlands gewesen war. Schon damals, in ihrem ersten Leben, hatte sie magische Kräfte besessen, wenn auch zunächst nur schwach. Aber sie hatte Zeit gehabt, ihr Potential zu entwickeln, viel Zeit. Es hatte fast ihr ganzes erstes Leben gedauert, bis sie auf die Beschwörung gestoßen war, die ihr den Wechsel in einen fremden Körper ermöglichte, aber die langen Jahre des Forschens hatten sich mehr als bezahlt gemacht.

Ihr Leben war eine Odyssee durch die finsteren Jahre des Mittelalters geworden, mit seinem Aberglauben, dem kirchlichen Wahn und den Hexenverfolgungen, aber sie hatte überlebt, wenn auch manchmal nur knapp. In einer Ironie des Schicksals war sie erst ausgerechnet in diesem Jahrhundert, in dem man nicht mehr an Hexen glaubte und das Übernatürliche verleugnete, erstmals wirklich in Gefahr geraten, als Conellys Schergen sie fast getötet hatten.

Aber auch das war nur noch Vergangenheit, und im Rückblick hatten sich die Geschehnisse sogar zu ihrem Vorteil entwickelt. Sie befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht, noch nie waren ihre Kräfte so groß gewesen. Zudem verfügte sie nun über einen Körper, der nahezu unverletzlich war, weder Schwäche noch Alter kannte. Ihre bisher nur relative Unsterblichkeit war zu wirklicher Unsterblichkeit geworden. Der Triumph war ein ungeheuer köstliches Hochgefühl.

Einen Moment spielte Melissa mit dem Gedanken, sich zu vergewissern, daß Vivian und Mark Taylor wirklich starben. Es wäre verhängnisvoll, wenn einem der beiden wider allen Erwartungen die Flucht aus der Kristallfestung gelingen sollte. Aber diese Chance war zu gering, um sich deshalb Sorgen zu machen. Kein Mensch war den Herren Morons gewachsen. In dieser Hinsicht machte sich auch Melissa nichts vor, selbst ihre Kraft reichte dazu nicht aus. Es wäre ein lebensgefährliches Unterfangen, sich der Kristallfestung auch nur zu nähern; ein völlig unnötiges Risiko, nur um Gewißheit über etwas zu erlangen, das unausweichlich war.

Wichtigere Aufgaben warteten auf sie.

Melissa drehte sich um, warf einen letzten nachdenklichen Blick auf die Stadt hinunter und ging dann langsam in entgegengesetzter Richtung davon.


Ulthar fuhr wütend herum, als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde und jemand den Raum betrat.

Der eintretende Mann wirkte gehetzt. In seinen Augen flackerte Angst, und seine Bewegungen waren von einer fast starren, nur äußerster Kraft aufrechterhaltenen Ruhe.

»Was ist los?« fauchte Ulthar.

»Die Eindringlinge, Meister ...« begann der Mann vorsichtig. »Die beiden Menschen und unser entflohener Spiegelbruder ...«

»Was ist mit ihnen?«

»Sie ... sie sind entkommen«, sagte der Mann stockend.

»Was sagst du da?« Ulthar sprang wütend auf den Mann zu, riß ihn am Kragen zu sich heran und schüttelte ihn wie eine Katze. »Wie konnte das geschehen?« brüllte er.

»Ich ... ich weiß es nicht, Herr. Sie sind aus dem Labyrinth ausgebrochen und befinden sich im Spiegelsaal.«

Ulthar stieß den Mann mit einem zornigen Fluch von sich und fuhr herum. Sein magischer Spiegel erwachte zu schimmerndem Leben, als er mit den Fingerspitzen darüberfuhr. Ein Abbild des Spiegelsaales erschien. Ulthar entdeckte die drei Menschen sofort. Einen Herzschlag lang starrte er die winzigen Gestalten voll ohnmächtiger Wut an. »Bin ich denn nur von Versagern umgeben?«

Der Mann antwortete nicht, aber Ulthar konnte seine Angst überdeutlich spüren. Das Gefühl besänftigte seine Wut ein wenig. »Fangt sie!« befahl er. »Fangt sie und bringt sie unverzüglich hierher - und zwar lebend.«

»Sie ... sind sind gefährlich.«

»Das ist mir vollkommen egal!« brüllte der Magier. »Ich will sie haben - wenigstens diesen jungen Kerl und die Frau. Ich will wissen, wie sie es geschafft haben, aus dem Labyrinth zu entkommen!«

Das Spiegelwesen nickte, senkte den Blick und entfernte sich hastig.

Ulthar fluchte lautlos vor sich hin. Die negative Entwicklung, die er gespürt hatte, setzte sich fort. Er hatte viele Jahre Zeit gehabt, sich auf diesen Moment vorzubereiten, aber im gleichen Moment, in dem er Melissa endlich aufgespürt hatte, hatten sich die Ereignisse überschlagen, und ihm war kaum Zeit geblieben, sein Vorgehen gezielt zu planen. Statt selbst zu handeln, war er die meiste Zeit gezwungen gewesen, auf die Handlungen anderer zu reagieren, und dabei waren ihm zwangsläufig Fehler unterlaufen. Fehler, die nun Folgen zeigten, auch wenn Ulthar nicht damit gerechnet hätte, daß sie so folgenschwer ausfallen würden. Sein Imperium begann Stück für Stück auseinanderzufallen. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, hatten ihm die vergangenen Tage zwar einige Siege beschert, doch hatte er selbst sie am wenigsten herbeigeführt. Bislang war ihm noch keine Zeit geblieben, seinen neuerworbenen Einfluß über die Mächtigen der Stadt auszunutzen, und daß er sie überhaupt erworben hatte, war zwar zum Teil sein Verdienst gewesen, in erster Linie aber hatte er sie Conellys Fehlern zu verdanken. Nicht einmal dessen Tod konnte er sich selbst zugute halten.

Neben diesen kleinen Erfolgen jedoch hatte er nur noch eine Kette von Niederlagen zu verzeichnen, die immer verheerendere Formen annahm. Vivian Taylor war ihm gleich mehrfach entkommen, Melissas Befreiung war mißlungen, von Mark Taylor und dessen Begleitern, die er zur Verfolgung Vivians in die Spiegelwelt geschickt hatte, hatte er nichts mehr erfahren. Und zu allem Überfluß begann er die Gunst der Herren Morons zu verlieren, nachdem die drei Menschen ihnen durch das Zerschlagen so vieler Spiegel Schaden zugefügt hatten. Unbehaglich drehte Ulthar den Kopf und warf einen Blick zu dem roten Samtvorhang hinüber, bevor er sich wieder dem Abbild des Spiegelsaales zuwandte.

Er mußte dringend etwas unternehmen, mußte zeigen, daß er alle Fäden immer noch fest in der Hand hielt, um zu retten, was noch zu retten war. Es ging nicht mehr länger nur darum, seine Macht auszubauen oder wenigstens zu erhalten.

Es ging um seine Existenz.

Ulthar wußte, daß seine Leute im Grund nicht daran schuld waren, daß die drei den Fallen des Labyrinths entkommen waren. Selbst hier, im Zentrum seiner Macht, umgeben von den stärksten Schutzmaßnahmen, die er sich vorstellen konnte, spürte er die unsichtbare Kraft, die die drei Menschen schützte. Es war, als gäbe es noch ein viertes, ungeheuer mächtiges Etwas, das mit diesen drei Menschen in sein Reich eingedrungen war, ein körperloses Ding, das den Zauber seiner Spiegel zurückwarf.

Diese drei hatten kein Recht, hierzusein. Kein lebendes Wesen konnte die tödlichen Fallen überwinden, die zwischen dem Eingang und dem Spiegelsaal errichtet worden waren. Die Kammer, in der sie gefangen worden waren, stellte nur die letzte in einer ganzen Reihe tödlicher Fallgruben dar. Selbst Conellys Horden wären von den magischen Spiegeln gefangen und umgedreht worden, wenn der Monstermacher wirklich so dumm gewesen wäre, das Spiegelkabinett mit geballter Macht offen anzugreifen. Aber dieser junge Mann und das Mädchen hatten der Magie der Spiegel widerstanden. Es war, als existiere der Einfluß der Spiegel für sie nicht einmal.

Der Gedanke, daß diese beiden harmlos aussehenden Menschen die tödlichen Überraschungen der Spiegel nicht einmal bemerkt hatten, nicht einmal wußten, welchen Gefahren sie entgangen waren, versetzte Ulthar in rasende Wut. Er sah, wie ein halbes Dutzend seiner Spiegelbilder zum Leben erwachten; dunkle, schattenhafte Gestalten, die lautlos zwischen den mannshohen Spiegeln hindurchhuschten und die Eindringlinge einzukreisen begannen.

Ulthar lächelte häßlich. Vielleicht waren die beiden Menschen gegen magische Kräfte gefeit - aber der reinen Körperkraft seiner Sklaven würden sie unterliegen.

Mit einer wütenden Handbewegung löschte Ulthar das Bild und fuhr herum. Sein Blick streifte den Samtvorhang. Das Rot schien dunkler geworden zu sein; drohender. Der Vorhang hatte die Farbe geronnenen Blutes angenommen.

Und diesmal sah Ulthar ganz deutlich, daß er sich bewegte.

Загрузка...