Als ich es für ratsam hielt, mich von Vella zu trennen, knotete ich ihr die gelbe Sklaventunika um den Hals und rief: »Verschwinde, Sklavin!« Im gleichen Augenblick klatschte ich in die Hände, und sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sei sie geschlagen worden. Hysterisch weinend krabbelte sie aus der Nische und kletterte zum Vergnügen der Gäste hastig und ungeschickt die Leiter hinab und stürzte schluchzend aus der Pagataverne.
Sekunden später folgte ich ihr nach unten und trat vor den Tresen hin.
Doch der Wirt verlangte keine Bezahlung, sondern senkte nur den Blick.
Also ging auch ich hinaus auf die Straße.
Obwohl es noch hell war, hatte ich keine Sorge, erkannt zu werden.
Immerhin war ich seit einigen Jahren nicht mehr in Ar gewesen und hatte mein Haar schwarz gefärbt. Außerdem trug ich die Toga der Kaste der Attentäter, der Meuchelmörder von Gor.
Ich sah mich um.
Ar hatte mich schon immer sehr beeindruckt, denn es ist die größte, bevölkertste und luxuriöseste Stadt des erforschten Gor.
Ihre Pracht ist unglaublich, besonders wenn sie von der Höhe ihrer Türme oder vom Rücken eines Tarn aus gesehen wird. Ich erinnerte mich an eine Nacht vor vielen, Vielen Jahren, als ich am Abend des Erntefestes zum erstenmal über die Mauern der Stadt schwebte, um den Heimstein des Herrlichen Ar zu erobern. Auch die Erinnerung an ein Mädchen gehörte dazu, an Talena, die Tochter des damaligen Ubar Marlenus. Sie war zur Freien Gefährtin eines einfachen Kriegers der Stadt Ko-ro-ba geworden, Tarl Cabot, der ihr jedoch nach dem Willen der Priesterkönige wieder entrissen worden war. Als ihn nach langen Jahren des Wartens auf der Erde neue Aufgaben wieder nach Gor führten, war das Mädchen verschwunden. Trotz jahrelanger Suche hatte er sie nicht gefunden. Er hatte keine Ahnung, ob sie lebte oder bereits tot war.
»Spiel! Spiel!« hörte ich plötzlich eine Stimme.
Ich drehte mich um. Das Wort ›Kaissa‹, das in der goreanischen Sprache ganz allgemein Spiel bedeutet, bezieht sich meist auf ein ganz bestimmtes Brettspiel. Der Mann, der jetzt rufend die Straße entlangkam, trug eine Robe aus gelb-rot- kariertem Stoff. Das Spielbrett, eine Fläche aus zehn mal zehn gelben und roten Quadraten, hing auf seinem Rücken. Über der Schulter hing ein Lederbeutel mit den Figuren, zwanzig für jeden Spieler, rot und gelb. Steine, die für Speerwerfer, Tarnkämpfer, Tharlarionreiter und so weiter standen. Das Ziel des Spiels ist die Eroberung des gegnerischen Heimsteins. Die Ausschaltung einzelner Figuren ähnelt etwas dem heimatlichen Schach, was vielleicht kein Zufall ist. Wie ich wußte, waren Menschen aus vielen Kulturen und Perioden der irdischen Geschichte auf die Gegenerde Gor verschleppt worden. Es war durchaus denkbar, daß sie Gewohnheiten, Fertigkeiten und Spiele von der Erde mitgebracht hatten, die mit der Zeit auf diesem Planeten dann eine gewisse Wandlung durchmachten. Das Spiel, das sehr wohl aus einem gemeinsamen Vorgänger oder dem Schach selbst hervorgegangen sein mag, ist auf Gor sehr populär; schon Kinder beschäftigen sich damit. Es gibt zahlreiche Clubs und Wettbewerbe zwischen verschiedenen Kasten. Listen mit Turnieren und ihre Sieger werden im Zylinder der Dokumente aufbewahrt; es gibt in den meisten goreanischen Bibliotheken Abteilungen, die sich mit der Technik, Taktik und Strategie des Spiels beschäftigen.
Der Mann, der mir nun entgegenkam, war aber kein Amateur; er war ein professioneller Spieler, der sein Einkommen am Spielbrett gewann.
Die Spieler bilden keine eigene Kaste und auch keinen Clan, jedoch sind sie eine eigenständige Gruppe. Ihre Mitglieder kommen aus den verschiedensten Kasten und haben oft nur das Spiel gemein, aber das reicht völlig. Es gibt Wettbewerbe zwischen Spielern, deren Gewinne von Amateurorganisationen und manchmal auch von der Stadt ausgesetzt werden, und diese Börsen sind manchmal groß genug, um einen Mann reich zu machen. Im Allgemeinen leben die Spieler jedoch mehr schlecht als recht, indem sie auf der Straße spielen. Die Chancen werden gewöhnlich eins zu vierzig angesetzt, eine kupferne Tarnmünze gegen ein Vierzigerstück, manchmal auch gegen ein Achtzigerstück. Manchmal besteht ein Amateur auch auf weiteren Vorgaben, so zum Beispiel auf der Erlaubnis, zu einem Zeitpunkt seiner Wahl drei Züge hintereinander zu machen, oder daß der Berufsspieler vor Spielbeginn seine beiden Tarnkämpfer oder seine Tharlarionreiter vom Brett zu nehmen hat. Um Gegner zu bekommen, wird der kluge Spieler jedoch ab und zu verlieren, was bei dem Chancenverhältnis ziemlich teuer ist, und dabei darf er das Spiel nicht offenkundig verlieren.
Obwohl sie von den meisten Goreanern bewundert werden, fristen diese Spieler oft ein recht armseliges Dasein. In der Straße der Münzen hätten sie Mühe, ein Darlehen zu bekommen. Sie waren bei den Tavernenwirten nicht gern gesehen, die Vorauskasse verlangten. Sehr oft fand ein Meister des Spiels in irgendeiner Pagataverne Unterschlupf, gegen freies Spiel mit den Gästen für einen Abend. Viele Spieler träumten von dem Tag, da sie bei den Sardarjahrmärkten gegen andere Städte spielen durften, denn ein Sieger dort verdiente ausreichend, um einige Zeit gut zu leben. Geld ließ sich für sie auch durch Mitarbeit an Artikeln oder Lehrbüchern über das Spiel verdienen und vor allem in der Unterweisung von Schülern, die ihre Fähigkeiten verbessern wollten. Im ganzen jedoch führten die Spieler ein sehr mageres Leben, zumal zwischen ihnen ständig ein harter Wettbewerb um die besten Positionen auf Brücken und in den Straßen im Gange war. Die beliebtesten Stellen sind natürlich die hohen Brücken in der Nähe der reicheren Zylinder, die teuren Pagatavernen und ähnliche Orte. Diese Positionen werden durch Spiele zwischen den Spielern entschieden. In Ar wurde die hohe Brücke am Zentralzylinder mit dem Palast des Ubar seit vier Jahren von dem jungen und brillanten Scormus aus Ar gehalten.
»Spiel!« vernahm ich und hörte einen antwortenden Schrei, und ein dicker Mann aus der Kaste der Weinhändler trat schweratmend aus einer Toreinfahrt.
Wortlos ließ sich der Spieler am Straßenrand nieder und stellte das Brett vor sich auf. Ihm gegenüber nahm der Weinhändler Platz.
»Stell die Figuren auf«, sagte der Spieler.
Ich war überrascht und sah mir den Spieler genauer an. Er war ein ziemlich alter Mann, was auf Gor ziemlich ungewöhnlich war, nachdem die Kaste der Ärzte in Ar und Ko-ro-ba schon vor Jahrhunderten ein Unsterblichkeitsserum entwickelt hatte. Das Altern wurde auf Gor weitgehend als Krankheit und nicht als unvermeidliche Naturerscheinung betrachtet. Die Tatsache, daß jeder von dieser Krankheit befallen schien, brachte die Kaste der Ärzte nicht von ihren Bemühungen ab.
Krankheiten überhaupt waren in goreanischen Städten nun fast unbekannt, mit der Ausnahme der gefürchteten Dar-Kosis oder der Heiligen Krankheit, deren Erforschung von der Kaste der Wissenden unterbunden worden war. Die Wissenden, Wahrer der Interessen der Priesterkönige, bestanden darauf, daß die Krankheit nicht bekämpft wird, da sie ein Ausdruck des göttlichen Mißvergnügens sei. Ich nehme auch an, daß der goreanische Erfolg bei der Bekämpfung des Alterns teilweise auf die einschneidenden Beschränkungen auf anderen Gebieten zurückzuführen ist, denen sie in mancher technologischen Hinsicht unterliegen. Die Priesterkönige haben nicht die Absicht, den Menschen eine Machtposition erreichen zu lassen, in der er ihnen die Vorherrschaft über den Planeten streitig machen könnte. So haben sie stets durchgegriffen, wenn es um die Entwicklung auf den Gebieten Rüstung, Kommunikation und Transport ging. Auf diese Weise wurde die Intelligenz, mit der sich der Mensch destruktiven Zielen zugewandt hätte, fast zwangsläufig auf andere Gebiete gelenkt, vorwiegend auf Medizin und Architektur.
Das Unsterblichkeitsserum, das nach allgemeiner Auffassung jedem Menschen zusteht, ob nun zivilisiert oder barbarisch, ob Freund oder Feind, wird in mehreren Injektionen verabreicht und hat eine langsame Umwandlung gewisser genetischer Strukturen zur Folge, aus der sich eine permanente Zellerneuerung ohne Zerfall ergibt. Die Wirkung ist in den meisten Fällen gesichert; es gibt jedoch auch Fälle, in denen die Zellstruktur nicht gekräftigt, sondern im Gegenteil in ihrem Zerfall beschleunigt wird, aber dieser Effekt tritt nur sehr selten auf. So gibt es nur wenige Goreaner, die es sich nicht spritzen lassen. Der Spieler, der sich gegenüber dem Weinhändler hingehockt hatte, war ziemlich alt; sein Gesicht war bleich und zerfurcht, sein Haar schlohweiß. Er war glattrasiert.
Das Verblüffendste an dem Mann war jedoch nicht sein ungewöhnliches Alter, sondern die Tatsache, daß er blind war. Seine Augen boten keinen angenehmen Anblick, denn ihnen schienen Iris und Pupille zu fehlen; sie waren zernarbte, überkrustete, unregelmäßige Ovale. Sogar die Augenhöhle war von weißem Gewebe umgeben. Ich wußte sofort, wie der Mann geblendet worden war. Man hatte ihm ein heißes Eisen in jedes Auge gedrückt, wahrscheinlich schon vor langer Zeit. Auf seiner Stirn trug er ein großes Brandzeichen, der erste Buchstabe des goreanischen Wortes für Sklave. Aber ich wußte, daß er kein Sklave mehr war, denn ein Spieler kann niemals Sklave sein. Aufgrund des Zeichens vermutete ich, daß der Mann einmal einen Sklavenhändler beleidigt hatte, einen mächtigen Mann in dieser Stadt.
»Die Figuren stehen«, sagte der Weinhändler mit zitternden Fingern.
»Deine Bedingungen?« fragte der Spieler.
»Ich habe den ersten Zug.«
Das gab ihm natürlich schon einen Vorteil, nämlich die Möglichkeit, seine Eröffnung zu wählen, eine Folge von Zügen, die er vielleicht schon sein ganzes Leben hindurch geübt hatte. Außerdem konnte er sein Spiel schneller entwickeln und seine Figuren in die Mitte des Brettes bringen, wo sie die wichtigen Kreuzwege, deckten. Schließlich brachte ihm der erste Zug auch die Initiative des Angriffs, die er möglicherweise bis zum Schluß in der Hand behalten konnte.
»Gut«, sagte der Spieler.
»Außerdem«, fuhr der Weinhändler fort, »nehme ich die 3-Züge-Option nach Wahl in Anspruch, und du mußt ohne Ubar und Ubara und ohne den ersten Tarnkämpfer spielen.«
Inzwischen hatten sich einige andere Neugierige eingefunden, die das Spiel verfolgen wollten. Da waren ein Baumeister, zwei Sattelmacher, ein Bäcker und ein Tarnzüchter, der an der Schulter ein grünes Stoffstück trug zum Zeichen, daß er die Mannschaft der Grünen unterstützte. Da heute in Ar keine Rennen stattfanden und er das Stoffstück trug, arbeitete er vielleicht sogar in den Tarnställen der Grünen. Niemand schien etwas gegen meine Anwesenheit zu haben, obwohl sich niemand in meine Nähe wagte. Als der Weinhändler seine Bedingungen bekanntgab, wurde ärgerliches Gemurmel laut.
»Einverstanden«, sagte der Spieler und starrte blicklos auf das Spielbrett.
»Und ich spiele eins zu achtzig«, fuhr der Weinhändler fort.
Die Umstehenden protestierten noch lauter, doch wieder erklärte sich der Spieler einverstanden.
»Ubars Tarnkämpfer auf Arzt Sieben«, sagte der Weinhändler.
»Die Eröffnung des Centius«, sagte einer der Sattelmacher, und alle beugten sich vor, um zu sehen, welchen Gegenzug der Spieler machen würde.
Zu meiner Überraschung wählte der Blinde den Rückzug des Speerwerfers der Ubara zur Deckung von Ubar Zwei, was mir ziemlich defensiv gedacht erschien und ihn zweifellos die Chance eines riskanten, aber vielversprechenden Gegenangriffs kostete. Zwei oder drei Zuschauer sahen sich enttäuscht an. Der Weinhändler jedoch schien nichts zu merken, sondern führte seinen Standardangriff weiter, indem er den Zweiten Speerwerfer auf Wissenden Fünf vorrückte. Das Gesicht des Spielers blieb unbeweglich. Ich selbst war sehr enttäuscht.
Es wollte mir in diesem Augenblick erscheinen, als habe der Spieler absichtlich einen schwachen Zug gemacht, um das Spiel gegen sich zu wenden. Ich selbst hatte Centius aus Cos in Ko-ro-ba ein Dutzendmal spielen sehen, ohne daß er einen solchen Rückzug gemacht hätte. Als ich die Erregung des Weinhändlers spürte, war ich traurig, denn der Spieler mußte nun verlieren. Der Weinhändler spielte nämlich für einen Amateur recht gut.
Unzufrieden verfolgte ich das Spiel weiter. Hier und da bemerkte ich kleine, wirkungslose Züge des Spielers, bei denen er sich Blößen gab, die sich nach vier oder fünf Zügen sehr fatal auswirken mußten. Als das Spiel seinen Fortgang nahm, schien der Spieler aus sich herauszugehen, und der Weinhändler begann zu schwitzen, rieb sich die Finger, stützte den Kopf in die Hände und musterte das Spielfeld, als wollte er es mit den Blicken durchbohren.
Von den Zuschauern zeigte sich niemand überrascht, daß der Blinde jeden Zug aus dem Kopf vornahm, denn viele Goreaner spielen sogar ohne Brett und ohne Figuren, um in Übung zu bleiben, obwohl es natürlich praktischer und weniger anstrengend ist, sich anhand der Figuren über den Spielstand zu informieren.
Es herrschte Stille ringsum. Von Zeit zu Zeit stießen neue Zuschauer zu unserer Gruppe, die jedoch bald wieder absprangen, als sie sahen, was da geschah. Etwa sieben oder acht Interessenten hielten den beiden jedoch die Treue.
Schließlich wurde es spät, und das Spiel neigte sich seinem Ende zu; es konnte nur noch vier oder fünf Züge dauern, bis der Heimstein des Spielers verloren war. Der Weinhändler hatte seine 3-Zug-Option sehr spät in Anspruch genommen und damit einen unglaublich gefährlichen Angriff aufgebaut. Der Spieler steckte derart bös in der Klemme, daß ich der Meinung war, nicht einmal Centius aus Cos oder Quintus aus Tor oder sogar der Stadtmeister Scormu s hätten noch etwas unternehmen können. Wütend ergriff ich das Wort. Der Spieler konnte natürlich nur meine Stimme hören. »Eine Tarnmünze aus Gold, doppeltes Gewicht, auf Rot, wenn Rot gewinnt.«
Verblüffte Ausrufe wurden laut. Der Weinhändler zuckte zusammen. Der Spieler richtete seine blicklosen Augen auf mein Gesicht.
Ich zog eine doppelte Tarnmünze aus der Gürteltasche und reichte sie dem Spieler, der sie in den Fingern drehte, ihr Gewicht abschätzte und das Metall mit den Zähnen testete. Dann gab er mir das Geldstück zurück. »Es ist wirklich Gold«, sagte er. »Verspotte mich nicht.«
»Ein doppelter Tarn«, wiederholte ich, »auf Rot, wenn Rot gewinnt.«
Einen solchen Betrag verdient ein Spieler kaum in einem Jahr. Der Spieler wandte seinen Kopf in meine Richtung. Jeder Nerv in diesem alten Gesicht schien angespannt zu sein, als versuche er zu verstehen, was dort in der Schwärze außerhalb seiner Welt vorging. Er streckte seine Hand über das Spielbrett aus, und ich umfaßte sie in festem Griff.
»Zweiter Tarnkämpfer«, sagte er, »auf Ubars Baumeister Neun.« Ein verblüffter Aufschrei erklang. Sogar der Weinhändler erhob seine Stimme.
Der Alte muß wahnsinnig sein, dachte ich. Ein solcher Zug hatte mit dem Spiel überhaupt nichts zu tun, ein bedeutungsloser Zufallswurf. Der Spieler sah sich einem der vernichtendsten Angriffe gegenüber, die das Spiel überhaupt entwickeln konnte. In vier Zügen mußte sein Heimstein fallen. Er mußte sich verteidigen, mußte um sein Leben kämpfen!
Mit zitternder Hand schob der Weinhändler seinen Zweiten Speerträger nach links und schlug damit den Ersten Speerkämpfer des Spielers, der ungedeckt gewesen war.
Ich stöhnte innerlich auf.
»Ubars Tharlarionreiter«, sagte der Spieler, »auf Ubara Acht.«
Ich schloß die Augen. Wieder ein sinnloser Zug. Die Menge starrte sich sprachlos an. War dieser Mann überhaupt ein Spieler?
Erbarmungslos drang der Weinhändler mit seinem Zweiten Speerträger weiter vor und schlug diesmal den Ubara-Tharlarion-reiter des Spielers.
»Ubars Schriftgelehrter auf Ubara-Schriftgelehrten Sechs«, sagte der Spieler.
Normalerweise wäre ich jetzt gegangen, aber da ich das Goldstück ausgesetzt hatte, mußte ich bis zum Schluß bleiben, der – und das war ein schwacher Trost – nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte.
Sogar der Weinhändler schien unruhig zu werden. »Möchtest du deinen letzten Zug noch einmal bedenken?« fragte er, womit er dem anderen eine seltene Chance bot, eine Handlungsweise, die ich von diesem Mann nicht erwartet hatte.
Doch der blinde Spieler wiederholte seinen Zug, und mechanisch setzte der Weinhändler die Steine für seinen Gegner.
»Mein Erster Tarnkämpfer«, sagte er dann, »schlägt Ubaras Schriftgelehrten.«
Die Entführung des Heimsteins des Blinden mußte beim Nächsten Zug erfolgen.
»Möchtest du deinen Zug noch ein mal überdenken?« fragte der Spieler und starrte lächelnd ins Leere. Ihn umgab in diesem Augenblick ein Hauch von Größe.
Der Weinhändler sah ihn verwirrt an. »Nein«, sagte er. »Und mit dem nächsten Zug schlage ich deinen Heimstein.«
»Aber du hast keinen nächsten Zug mehr«, entgegnete der Spieler.
Die Zuschauer schrien verblüfft auf, und ich und der Weinhändler musterten die Spielfläche.
»Aii!« brüllte ich los, ein Ausbruch, der kaum zu meinem düsteren Äußeren paßte, und gleich darauf sahen es auch der Tarnzüchter und der Sattelmacher. Die Zuschauer begannen sich begeistert auf die Schultern zu schlagen. Auch der Weinhändler heulte vor Vergnügen auf und klatschte sich auf die Knie. »Großartig!« rief er, umfaßte die Schultern des Spielers und schüttelte sie.
Stolz, als sei es sein eigener Zug, verkündete er den letzten Vorstoß des Spielers »Schriftgelehrter nimmt Heimstein«.
Die Zuschauer und ich brüllten, bewunderten die jetzt offenkundige Einfachheit des Angriffs, der durch die scheinbar sinnlosen Züge vorbereitet worden war, die das Brett nur klären sollten. Niemand von uns hatte den Angriff erwartet, am wenigsten der Weinhändler, der jetzt dem Spieler seinen Gewinn, eine kupferne Tarnmünze, in die Hand drückte. Der Blinde steckte die Münze in seinen Beutel. Ich überreichte ihm die goldene Tarnmünze, und er nahm das Geld und stand lächelnd auf. Der Weinhändler sammelte die Figuren ein und hängte dem Spieler den Lederbeutel über die Schulter; schließlich reichte er ihm auch das Brett.
»Vielen Dank für das Spiel. Ich wünsche dir alles Gute«, sagte er.
»Ich wünsche dir alles Gute«, entgegnete der Spieler.
Der Weinhändler wandte sich zum Gehen. Der Spieler lächelte ihm nach.
»Du bist Kaufmann?« fragte er mich.
»Nein«, antwortete ich.
»Wieso hast du dann solche Reichtümer zu vergeben?«
»Das hat nichts zu besagen. Darf ich dich nach Hause begleiten?«
In diesem Augenblick löste sich der Tarnzüchter aus der Gruppe der anderen und lächelte mich an. »Gut gemacht, Attentäter«, sagte er und ging weiter.
Ich wandte mich wieder an den Spieler, der jedoch zurückgewichen war und jetzt einsam mitten auf der Straße stand.
»Du gehörst zu den Attentätern?« fragte er.
»Ja«, sagte ich, »das ist meine Kaste.«
Er drückte mir das Goldstück in die Hand und stolperte fort, wobei er sich vorsichtig an einer Mauer entlangtastete.
»Warte!« rief ich. »Du hast es gewonnen. Nimm es!« Und ich lief ihm nach.
»Nein!« rief er und schlug abwehrend mit der Hand nach mir, versuchte mich fortzudrängen. »Es ist schwarzes Gold«, sagte er schweratmend.
»Es ist schwarzes Gold!« Dann tastete er sich weiter.
Ich stand auf der Straße und sah ihm nach und hielt das Goldstück in der Hand, das für ihn bestimmt gewesen war.