»Kajuralia!« rief das Sklavenmädchen und schüttete einen Eimer warmes Wasser über mir aus. Sie warf mir einen Handkuß zu und entfloh.
Ein Baumeister, dessen Robe von allerlei Fruchtgeschossen befleckt war, eilte hastig vorbei. »Bei Kajuralia sollte man zu Hause bleiben.«
Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig, um einer Larmafrucht zu entgehen, die an der Wand des Zylinders hinter mir zerplatzte.
An der nächsten Straßenecke klirrten Töpfe, gefolgt von wütendem Geschrei, dann klang das Gelächter von Mädchen auf.
Ich kam zu dem Schluß, daß ich am besten sofort in das Haus des Cernus zurückkehrte.
Ich wandte mich in eine andere Straße, stieß dort jedoch auf eine Gruppe aus fünfzehn oder zwanzig Mädchen, die lachend über mich herfielen und mich mit einer Halsschlinge fesselten.
»Gefangener!« riefen sie.
Die Schlinge zog sich unangenehm zusammen, als ich weitergezerrt wurde. Ein schwarzhaariges Mädchen hatte das Kommando an sich gerissen.
»Sei gegrüßt, Krieger«, sagte sie. Drohend zog sie an dem Seil. »Du bist nun Sklave der Mädchen aus der Straße der Töpfe.«
»Was tun wir mit dem Gefangenen?« wurde gefragt.
Verschiedene mehr oder weniger unangenehme Vorschläge wurden laut. Schließlich brachte man mich in einen großen Raum, in dem sich zahlreiche Körbe und Kisten befanden. Es handelte sich offenbar um eine Art Lagerraum. An einer Wand standen zwei Männer, ebenfalls gefesselt, ein Krieger und ein gutaussehender junger Tarnzüchter.
»Kajuralia«, sagte der Krieger mit schiefem Lächeln.
»Kajuralia«, erwiderte ich säuerlich.
»Kein schlechter Fang«, sagte das schwarzhaarige Mädchen, und die anderen Sklavinnen lachten. Einige sprangen auf und nieder und klatschten in die Hände.
»Jetzt werdet ihr uns dienen, Sklaven!« verkündete die Anführerin.
Wir wurden freigelassen und bekamen kleine Krüge in die Hand gedrückt. Dann mußten wir den Mädchen verdünnten Ka-la-na-Wein servieren, den sie wahrscheinlich irgendwo gestohlen hatten.
Als ich mich mit meiner Schale der Anführerin näherte, blitzte sie mich an und sagte: »Auf die Knie!«
Die anderen Mädchen schienen den Atem anzuhalten.
Mit gesenktem Kopf näherte ich mich der langbeinigen Anführerin der Bande, hielt ihr die Weinschale hin, ergriff, als sie die Hände danach ausstreckte, ihre Handgelenke und zog sie an mich. Die anderen kreischten auf, und das Sklavenmädchen versuchte, sich zu befreien, doch mit schneller Bewegung warf ich sie mir über die Schulter, eilte mit ihr in einen Nebenraum und verriegelte die Tür. Ich hörte die wütenden Schreie der anderen und das Hämmern ihrer Fäuste an der Tür, doch der Lärm ließ schnell nach und wurde von anderen entsetzten Lauten abgelöst, als seien Sklavenhäscher über sie hergefallen. Ich löste meine restlichen Fesseln und lauschte. Nach etwa fünf Ehn war auf der anderen Türseite nur noch leises Schluchzen zu hören.
Vorsichtig öffnete ich die Tür und stellte zu meiner Freude fest, daß der Tarnzüchter und der Krieger die Überraschung meines Angriffs zu nutzen gewußt und die anderen Mädchen aus der Straße der Töpfe überwältigt hatten.
Ich brachte das schwarzhaarige Mädchen in den großen Lagerraum zurück.
»Kajuralia!« sagte der Krieger fröhlich und überprüfte noch einmal die Fesseln aller Gefangenen.
»Nehmt euch vor den Mädchen aus der Straße der Töpfe in acht«, erwiderte ich seinen Gruß.
Niedergeschlagen musterte mich die schwarzhaarige Schönheit. »Ich bringe dir Wein, Herr«, sagte sie.
»Nein.«
Sie starrte mich ratlos an.
»Nein«, sagte ich. »Ich gebe dir Wein.«
Sie riß ungläubig die Augen auf, als ich eine Weinschale nahm, sie füllte und ihr das Getränk reichte. Ihre Hand zitterte, als sie trank.
Ich nahm ihr die Schale schließlich ab, warf sie zur Seite und nahm das Mädchen in die Arme.
Der Krieger, der Tarnzüchter und ich verbrachten den größten Teil des Tages bei den Mädchen aus der Straße der Töpfe, die mit uns Kajuralia, den Ferientag der Sklaven, feierten. Die meisten zivilisierten Städte des erforschten Gor kennen diesen Feiertag, wenn er auch zu verschiedenen Zeiten begangen wird; in Ar fiel er stets auf den letzten Tag des fünften Monats, den Tag vor dem Liebesfest.
Es war ein seltsamer und ereignisreicher Sommer gewesen, der für mich manche phantastischen Aspekte hatte. Woche um Woche wurde Ar wilder und gesetzloser. Herden zogen durch die Straßen, offenbar unbehelligt von den Kriegern, offenbar außerhalb dem Zugriff des Gesetzes. Zur gleichen Zeit nahm das öffentliche Interesse an den Rennen und den Spielen immer mehr zu, fast als wollte man sich von den Ungesetzlichkeiten ablenken. Es war eine Art böses Fieber.
Das Duell um die Spitzenposition beim Rennen fand zwischen drei Mannschaften statt – zwischen den Grünen, den Gelben und den Stählernen, der neuen Mannschaft. Die Erfolge und der verblüffende Aufstieg der Stählernen hatten mit dem ersten Tag der Rennen ihren Anfang genommen, als beim elften Wettbewerb Gladius aus Cos auf einem Riesentarn das starke Feld klar besiegte. Sein riesiger Vogel war kein Renntarn, doch er bewegte sich auf der Bahn mit einer Schnelligkeit und Sicherheit und einer Flugkraft:, die alle Kontrahenten weit abschlug.
Das Tier hatte noch kein einziges Rennen verloren, und auch viele andere Tarns der Stählernen waren keine gezüchteten Renntarns, sondern Kriegstarns, von unbekannten Reitern gelenkt, geheimnisvollen Gestalten, die angeblich aus fernen Städten kamen. Die neue Mannschaft, die die etablierten Gruppen Ars herausforderte, gab ein Schauspiel ab, das die Phantasie der Bürger anfeuerte. Tausende von Anhängern, die aus diesem oder jenem Grunde enttäuscht von ihrer Mannschaft waren oder etwas Neues suchten oder an dem großen Kampf teilnehmen wollten, nähten sich das blaugraue Tuch auf ihre Kleidung, den Mannschaftsstreifen der Stählernen.
Unter der entstellenden Ledermaske hatte ich immer wieder den großen schwarzen Tarn für die Stählerne Mannschaft geritten. Der Name Gladius aus Cos hatte in der Stadt einen guten, wenn auch geheimnisvollen Klang; niemand kannte das Aussehen dieses Mannes.
Ich ritt für die Stählernen, weil sich mein Tarn dort befand, und weil Mip, den ich mochte, das so wünschte. Ich wußte, daß ich mich auf gefährliche Spiele einließ, doch ich machte mit, auch wenn ich das Endziel nicht recht begriff. Relius und Ho-Sorl halfen mir oft. Ich begann zu vermuten, daß sie nicht zufällig im Haus des Cernus aufgetaucht waren. Nach jedem Rennen besprach Mip in allen Einzelheiten das Rennen mit mir und gab mir wertvolle Ratschläge, auch über meine nächsten Konkurrenten, über die Angewohnheiten der Reiter und Eigenarten der Vögel, die gegen mich antraten.
Gladius aus Cos wurde in seinem Ruhm nur noch von dem Schwertkämpfer Murmilius übertroffen, der sich bei den Kämpfen im Stadion der Klingen wieder hervortat. Seit Anfang E n'Kara hatte er bei hundertundzwanzig Kämpfen gesiegt, ohne einen Gegner zu töten, so sehr die Menge das auch verlangt hatte. Einige der besten Schwertkämpfer der Stadt, sogar aus Hoher Kaste, fühlten sich herausgefordert und waren begierig, den geheimnisvollen Murmilius zu besiegen, hatten sich gegen ihn in die Arena gewagt, doch jeden dieser kühnen Herren hatte er mit größerer Verachtung behandelt als seine sonstigen Gegner niedrigen Standes, hatte mit ihnen gespielt und dann spielerisch ihren Schwertarm verletzt, so daß manche von ihnen nie wieder kämpfen würden. Verurteilte Verbrecher und Männer aus niederer Kaste, die um Geld oder Freiheit kämpften, behandelte er mit der groben Höflichkeit, die zwischen Schwertbrüdern üblich ist. Das Publikum geriet bei jedem seiner Kämpfe vor Begeisterung außer Rand und Band Inzwischen begannen sich die Intrigen des Cernus mit den Ereignissen des Frühlings und Frühsommers zu entwickeln. In einer Pagataverne sah ich einmal einen Mann, in dem ich einen der Wächter aus den Gehegeräumen im Hause des Cernus wiedererkannte. Jetzt jedoch trug er die Tunika eines Lederarbeiters und erklärte, daß die Stadt als Administrator nicht nur einen Baumeister, sondern einen Krieger benötigte, damit das Gesetz wieder Gewicht erhalte.
»Aber welchen Krieger stellst du dir vor?«
»Cernus – aus dem Haus des Cernus«, sagte der verkleidete Wächter.
»Er ist doch aber Sklavenhändler.«
»Er weiß, was Ar braucht. Er wäre besser als ein Hinrabier.«
»Er hat viele Rennen finanziert«, gab ein Weinhändler zu.
»Und das Haus des Cernus hat mir oft den Eintritt bezahlt«, bemerkte ein Müller.
»Ich würde meinen«, sagte der verkleidete Wächter, »es könnte Ar schlechter ergehen als einen solchen Mann auf dem Thron zu haben.«
Mehrere am Tisch nickten zustimmend.
»Ar steht im Krieg mit sich selbst«, sagte ein Schriftgelehrter.
»In diesen Tagen brauchen wir vielleicht wirklich einen Ubar mit dem Schwert.«
»Das meine ich ja«, sagte der Wächter. »Cernus sollte Ubar von Ar werden!«
Die Männer am Tisch begannen zu diskutieren. »Bringt Paga!« rief der Verkleidete und winkte eine Sklavin herbei, die einen Großen Pagakrug trug. Ich wußte daß das Geld, das hier so großzügig ausgegeben wurde, im Büro des Caprus sorgfältig gezählt und ausbezahlt worden war. Das hatte mir Elizabeth erzählt. Ich wandte mich um und ging, als die Männer am Tisch unter der Anleitung des Wächters ihre Schalen auf das Wohl Cernus' aus dem Hause Cernus erhoben. »Auf daß Cernus, aus dem Hause Cernus, Ubar in Ar werde.«
Als ich die Taverne verließ, erblickte ich einen Mann, der ebenfalls gegangen war. Ich drehte mich um und sah mich Ho-Tu gegenüber.
»Ich dachte, du trinkst keinen Paga«, sagte ich.
»Tue ich auch nicht«, sagte Ho-Tu.
»Wie kommt es, daß du dann in einer Pagataverne bist?« fragte ich.
»Ich habe gesehen, wie Falarius das Haus verließ – in der Verkleidung eines Lederarbeiters. Da bin ich neugierig geworden.«
»Sieht so aus, als handelte er im Interesse des Cernus«, sagte ich.
»Ja.«
»Hast du gehört, wie sie von Cernus als möglichem Ubar dieser Stadt sprachen?«
Ho-Tu sah mich an. »Cernus«, sagte er, »dürfte nicht Ubar sein.«
Ich zuckte die Achseln.
Ho-Tu machte kehrt und verschwand zwischen den Häusern.
Während die Männer Cernus' in den Pagatavernen ihre Arbeit verrichteten und ebenso in den Straßen, auf den Märkten und Rampen und Tribünen bei den Spielen und Rennen, übten das Gold und der Stahl des Cernus offenbar ihren Einfluß auch anderweitig aus. Seine Kredite an die Hinrabier, eine reiche Familie, doch offenbar unfähig, die ständige finanzielle Last der Spiele und Rennen zu tragen, wurden kleiner und hörten schließlich ganz auf. Mit großer Zurückhaltung, ein Bedürfnis vorschützend, drängte Cernus bald auf die Rückzahlung kleiner, doch wichtiger Teile seiner Kredite. Da diese aus den Privatschatullen der Hinrabier bezahlt werden konnten, verlangte er schließlich immer größere Zahlungen, forderte immer größere Teile seiner Außenstände zurück.
Demzufolge gab es bald keine Rennen und Spiele mehr, die von den Hinrabiern finanziert wurden, und Festlichkeiten, die gemeinsam unterstützt worden waren, trugen nicht mehr den Namen des Administrators. So erschien nun allein Cernus als Schirmherr und Wohltäter auf den Anschlagtafeln. Schließlich begannen sich auch kleinere Omen, von dem Höchsten Wissenden verkündet, gegen die hinrabische Dynastie zu wenden. Zwei Mitglieder des Hohen Rates, die sich offen gegen den Einfluß der Kaufleute in der städtischen Politik ausgesprochen hatten, wurden ermordet aufgefunden, der eine erstochen, der andere in der Nähe seines Hauses aufgehängt. Der erste Schwertkämpfer der Militärstreitkräfte Ars, Maximus Hegesius Quintilius, der in seiner Kommandogewalt direkt Minus Tentius Hinrabius unterstellt war, wurde seines Postens enthoben. Er hatte kurz zuvor noch Bedenken darüber geäußert, daß Cernus in die Kaste der Krieger aufgenommen werden sollte. Er wurde von einem Mitglied der Taurentianer ersetzt, Seremides aus Tyros, benannt von Saphronicus aus Tyros, Anführer der Taurentianer. Kurz danach wurde Maximus Hegesius Quintilius tot aufgefunden. Er war an dem Todesbiß eines Mädchens aus seinem Vergnügungsgarten gestorben, die – ehe sie vor die Schranken des Gerichts gebracht werden konnte – von wütenden Taurentianern erdrosselt wurde. Es war allgemein Bekannt, daß die Taurentianer Maximu s Hegesius Quintilius sehr verehrt hatten. Ich erinnerte mich an ihn aus der Zeit des großen Kampfes um Ar, als er gegen Pa-Kur und seine Horde gekämpft hatte. Er war ein guter Soldat gewesen, und ich bedauerte seinen Tod. Bei seinem Begräbnis erhielt er alle militärischen Ehren; seine Asche wurde vom Rücken eines Tarn über einem Gebiet verstreut, über das er vor einigen Jahren als General die siegreichen Truppen Ars geführt hatte.
Cernus' Verlangen nach Schuldentilgung bei den Hinrabiern wurde immer dringlicher. Er gab vor, selbst große Summen zu benötigen, und ließ sich nicht mehr abweisen. Die Bürger Ars nahmen es nicht sehr positiv auf, daß es mit den Hinrabiern finanziell so schlecht war. Wie zu erwarten war, kamen sehr bald Gerüchte über mögliche Prüfungen auf, theoretisch um den Namen der Hinrabier reinzuwaschen – diese Forderung wurde dann im Hohen Rat von einem Arzt gestellt, den ich schon des öfteren im Haus des Cernus gesehen hatte. Die Schriftgelehrten des Zentralzylinders untersuchten die Dokumente und stellten zu ihrem Entsetzen Differenzen fest. Offenbar waren an Familienmitglieder Zahlungen geleistet worden, bei denen nicht deutlich wurde, ob dafür je Leistungen erbracht worden waren, offenbar schienen auch Beträge verschwunden zu sein, die für den Bau von neuen Ställen für Kriegstarne bestimmt gewesen waren. Zugleich ließen die Buchmacher im Stadion der Tarns verlauten, daß der Administrator große Schulden habe, und auch sie begannen ihre Forderungen anzumelden, um nicht Verluste zu erleiden.
Es schien unausweichlich, daß Minus Tentius Hinrabius seine braune Amtsrobe ablegen würde. Er tat den erforderlichen Schritt Ende des Frühlings, am sechzehnten Tag des dritten Monats, der in Ar Camerius und in Ko-ro-ba Selnar genannt wird. Am Tag vor seiner Abdankung hatte der Höchste Wissende aus einer Boskleber gelesen, was alle anderen schon vermuteten – daß die Chancen für die hinrabische Dynastie absolut nicht gut standen.
Als der Hohe Rat das Versprechen Minus Tentius Hinrabius' erhielt, die Stadt zu verlassen, wurde auf eine offizielle Verbannung verzichtet. Mit seiner Familie und seinen Getreuen verließ er Ar am siebzehnten Tag des Camerius. Am Ende des Monats liquidierten die anderen Hinrabier hastig ihre Besitztümer, flohen aus der Stadt und stießen einige Pasang außerhalb der Mauern auf Minus Tentius Hinrabius. Zusammen zogen die Hinrabier dann in Richtung Tor weiter, das ihnen Unterkunft gewähren wollte. Leider wurde die Karawane kaum zweihundert Pasang vom großen Tor Ars entfernt von einer bewaffneten Streitmacht unbekannter Herkunft angegriffen und bis auf den letzten Mann aufgerieben; auch die Frauen wurden getötet, was eigentlich ungewöhnlich war, denn weibliche Beutestücke eines Überfalls werden gewöhnlich versklavt und profitbringend verkauft. Ein einziges Mitglied der hinrabischen Familie wurde nicht zwischen den Toten gefunden – und das war interessanterweise Claudia Tentia Hinrabia.
Am zwanzigsten Tag des Camerius verkündeten die großen Signalstangen auf den Mauern die Inthronisierung eines neuen Ubar von Ar. Cernus war zum Ubar ernannt worden, und die Taurentianer hoben grüßend ihre Schwerter, und die Mitglieder des Hohen Rates applaudierten dem neuen Ubar von Ar. Prozessionen fanden statt, es gab Turniere, Dichter und Poeten priesen den Augenblick, der eine ekstatischer als der andere, und schließlich – das war vielleicht das Wichtigste – wurden Ferien ausgerufen, und in den nächsten zehn Tagen fanden ununterbrochen Rennen und Spiele statt, sogar über die Dritte Passage-Hand hinaus.
Ich sah darin natürlich mehr als nur die Arbeit des Cernus. Ich sah hier einen Teil des Plans der Anderen verwirklicht. Mit einem der ihren auf dem Thron von Ar hatten sie in dieser Stadt einen bemerkenswerten Rückhalt für die Beeinflussung von Menschen und die Anwerbung von Partisanen – wie Misk schon angedeutet hatte, kann ein bewaffneter Mensch einem Priesterkönig schon gefährlich werden.
Es gab jedoch einen Aspekt, der mir Anlaß zu ungetrübter Freude war.
Elizabeth und Virginia und Phyllis sollten aus dem Haus des Cernus entfernt und in Sicherheit gebracht werden. Caprus, der zugänglicher und offenbar auch kühner geworden war, informierte mich, daß er mit einem Agenten der Priesterkönige gesprochen habe. Dies war wahrscheinlich darauf zurückzuführen, daß Cernus nach seiner Inthronisierung nun weitaus seltener im Haus anzutreffen war.
Caprus' Plan war einfach, aber genial. Die Mädchen sollten beim Liebesfest, das tags darauf beginnen würde, von einem Agenten der Priesterkönige erworben werden, der die Möglichkeit hatte, jeden Konkurrenten auszustechen. Dadurch wurden sie so natürlich und problemlos aus dem Haus genommen, wie Elizabeth ursprünglich eingeschleust worden war. Es stimmte, daß Elizabeth nicht mehr benötigt wurde, schon lange nicht mehr; meine Anwesenheit war natürlich noch erforderlich, um die kopierten Dokumente und Caprus aus dem Haus zu schmuggeln. Elizabeth gefiel es natürlich nicht, ohne mich reisen zu müssen, doch auch sie erkannte die positiven Seiten des Plans; wenn sie bereits fort war, brauchten sich Caprus und ich keine Sorgen über die Mädchen mehr zu machen, zumal sie sich natürlich wünschte, daß auch Virginia und Phyllis ihre Freiheit erlangten.
Außerdem konnte sie sich vorstellen, daß es recht schwierig werden würde, die Dokumente, Caprus und drei Mädchen unbemerkt aus der Stadt zu bringen.
Alles in allem war Caprus' Plan geradezu ideal. Natürlich wurden weder Virginia noch Phyllis eingeweiht. Je weniger Mitwisser es gab, desto besser. Sie würden sich auch viel natürlicher bewegen können, wenn sie nicht wußten, worum es ging. Sollten sie doch denken, daß sie auf dem Block verkauft wurden. Um so größer dann später die Überraschung, wenn sie entdeckten, daß ihnen die Freiheit winkte. Ich lachte leise. Mich heiterte auch der Gedanke auf, daß Caprus mich von sich aus über die Fortschritte seiner Arbeit unterrichtet hatte. Er hoffte die Dokumente und Landkarten zu Beginn des Se'Kara fertig zu haben; offenbar hatte er nun mehr Gelegenheit zum Arbeiten, da sich Cernus oft im Zentralzylinder der Stadt aufhielt.
Se'Kara bedeutete trotzdem noch eine lange Zeit des Wartens. Es war aber besser als nichts, und ich freute mich. Elizabeth und ihre beiden Freundinnen wurden gerettet. Und Caprus schien guter Dinge zu sein; das war wichtig. Ich machte mir klar, daß Caprus ein sehr mutiger Mann sein mußte. Ich hatte seinen Mut und seine Arbeit bisher viel zu gering eingeschätzt. Er hatte viel riskiert, wahrscheinlich mehr als ich. Ich schämte mich. Er war nur ein Schriftgelehrter, doch seine Taten hatten einen Mut erfordert, den wahrscheinlich mancher Krieger nicht aufgebracht hätte.
Ich pfiff vor mich hin. Die Dinge entwickelten sich gut. Ich bedauerte nur, daß ich noch nicht in Erfahrung gebracht hatte, wer den Krieger aus Thentis erstochen hatte.
Cernus kehrte gelegentlich in sein Haus zurück, um dort an der Abendtafel zu speisen und – wie immer – mit Caprus ein Spielchen zu machen, um sich in den Bewegungen der roten und gelben Spielfiguren auf dem großen Brett zu verlieren.
Es war der Abend der Kajuralia.
Lebhaftes Treiben herrschte in der Halle des Hauses, und obwohl es noch früh war, flössen Paga und Ka-la-na in Strömen.
Ho-Tu warf angewidert den Löffel hin und grinste mich schief an.
Sein Brei war so sehr versalzen worden, daß er nicht weiteressen mochte; mürrisch starrte er auf das nasse Gemisch aus Weizenkeimen und Salz.
»Kajuralia, Herr«, sagte Elizabeth Cardwell zu Ho-Tu und lächelte ihn süß an. Ho-Tu packte sie am Arm.
»Was ist los, Herr?« fragte das Mädchen unschuldig.
»Wenn ich annehmen müßte, daß du meinen Brei versalzen hast«, knurrte der Oberaufseher, »müßtest du die Nacht über auf einem Sklavenstab sitzen!«
»So etwas würde mir nie einfallen«, protestierte Elizabeth mit weit aufgerissenen Augen.
Ho-Tu knurrte. Dann grinste er. »Kajuralia, Kleine«, sagte er.
Elizabeth lächelte, wandte sich ab und setzte ihre Arbeit fort.
»Kleine Schönheit!« rief Relius. »Ich möchte bedient werden!«
Virginia Kent eilte mit ihrem Krug Ka-la-na herbei.
»Was ist los, meine Kleine?« fragte Relius, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte.
»Ich werde morgen verkauft«, sagte sie betrübt.
»Vielleicht findest du einen freundlichen Herrn, kleine Sklavin.«
Das Mädchen legte den Kopf an seine Schulter und weinte. »Ich möchte nicht verkauft werden, wenn Relius mich nicht kauft.«
»Möchtest du wirklich meine Sklavin sein?«
»Ja!«
»Aber du bist mir leider zu teuer«, sagte Relius und drückte sie an sich.
Ich wandte mich ab.
An der Sandfläche knieten mehrere Sklavenmädchen und klatschten rhythmisch in die Hände. In der kleinen Arena vollführte ein betrunkener Wächter einen Schiffstanz, wobei seine Beine auf plastische Weise das Schwanken eines Bootes nachmachten; seine Hände bewegten sich, als hole er ein Seil, als spleiße er es oder mache komplizierte Knoten. Ich wußte, daß der Mann aus Port Kar stammte. Er war ein Halsabschneider, doch nun standen ihm Tränen in den Augen, als er herumhüpfte. Es heißt, daß Männer, die einmal die Thassa gesehen haben, nie davon loskommen, daß jene, die dem Meer dennoch den Rücken kehren, niemals wieder wirklich glücklich werden. Einen Augenblick später sprang ein anderer Wächter vor und begann einen Tanz der Larljäger, gefolgt von zwei oder drei anderen, die mit ihm pantomimisch eine Jagd darstellten.
»Bring mir Wein«, wandte sich Ho-Sorl an Phyllis Robertson, obwohl sie sich gerade auf der anderen Seite des Raums aufhielt.
Ich hörte Caprus mit staunender Stimme sagen: »Ich schlage deinen Heimstein in drei Zügen!«
Cernus grinste und schlug dem Schriftgelehrten eine Hand auf die Schulter. »Kajuralia!« lachteer. »Ka juralia!«
»Kajuralia«, murmelte Caprus etwas deprimiert und machte seinen ersten Zug, allerdings ohne rechten Schwung.
»Was ist denn das?« rief Ho-Sorl entrüstet.
»Boskmilch«, informierte ihn Phyllis. »Die ist gut für dich.«
Ho-Sorl brüllte wütend auf.
»Kajuralia«, sagte Phyllis und wandte sich ab.
Ho-Sorl sprang über den Tisch und verschüttete dabei die Milch. Er warf sich das Mädchen über die Schulter. Phyllis kreischte auf und begann mit den Fäusten seinen Rücken zu bearbeiten.
Ho-Sorl schleppte sie zu Ho-Tu.
»Ich zahle den Unterschied zwischen ihrem Erlös als Sklavin von Weißer Seide und von Roter Seide!«
Ho-Tu tat, als überlegte er.
»Nein! Nein!« schrie das Mädchen.
»Morgen abend bist du vielleicht sowieso schon von Roter Seide!«
»Wo willst du sie zu Roter Seide machen?« wollte Ho-Tu wissen.
»Hier in der Sandarena!«
Phyllis begann zu jammern.
»Ein interessanter Vorschlag – aber meinetwegen.«
Ho-Sorl trug die kreischende Phyllis Robertson in das Sandviereck und ließ sie zu Boden fallen. Dann stand er über ihr, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie stützte sich auf die Ellbogen und starrte ihn entsetzt an.
Er lachte und beugte sich vor, und sie schrie auf und versuchte zu fliehen. Doch er drückte sie wieder zu Boden.
Seine Hand tastete sich zu dem Knoten ihrer Sklaventunika an der Schulter, und sie erschauderte und wandte den Kopf.
Doch anstatt den Knoten zu lösen, hob er das Mädchen hoch und setzte sie auf einen Stuhl, wo sie ihn verständnislos und verwundert anstarrte.
»Kajuralia!« lachte Ho-Sorl und kehrte zu seinem Platz zurück.
Ho-Tu lachte jetzt womöglich am lautesten und hämmerte mit der Faust auf die Tischplatte. Sogar Cernus blickte von seinem Spiel auf und lächelte.
Phyllis rappelte sich wie betäubt auf.
»Ihr seid ja grausam!« rief Virginia Kent.
Wütend nahm sie Ho-Tus Schale zur Hand und klatschte ihm seinen Brei auf den Kopf.
»Kajuralia«, sagte sie.
Relius sprang entsetzt auf.
Ho-Tu erstickte das Lachen in der Kehle.
Plötzlich spürte ich, wie es auf meinem Kopf feucht wurde und mir Wein über Stirn und Nacken rann. Elizabeth hatte ihren Krug über mir ausgeleert. »Kajuralia, Herr«, sagte sie und marschierte hoch aufgerichtet davon.
Nun begann Ho-Tu heftig zu lachen, daß ihm das Wasser in die Augen trat. Er nahm die Schale vom Kopf und wischte sich das Gesicht mit dem Unterarm ab. Dann begann er mit den Fäusten auf die Tischplatte zu trommeln. Andere fielen in das Gelächter ein, bis schließlich der ganze Saal widerhallte.
Ich trocknete mich ab und folgte Elizabeth in eine Ecke des Raums, wo sie ihren Weinkrug wieder füllte.
»Hast du Ho-Tu den Brei versalzen?«
»Möglich«, sagte sie.
»Heute nacht sind wir zum letzenmal beisammen, paß nur auf!«
Sie lachte. »Nein, das ist vorbei! Heute schon komme ich in die Wartezellen. Morgen werden wir versteigert.«
Ich stöhnte.
»Freust du dich schon darauf? Auf die Lichter, die Sägespäne, die Gebote?«
»Ich möchte wissen, welchen Preis ich bringe. Ich hoffe nur, ich bekomme einen hübschen Herrn.«
Ich küßte sie.
Wir hörten Ho-Tus Stimme durch den Saal dröhnen: »Die achtzehnte Ahn ist vorbei! Sklaven in die Zellen!«
Rufe der Enttäuschung klangen auf.
»Vielleicht sehen wir uns schon morgen abend wieder«, sagte sie.
Ich bezweifelte das. Der Agent der Priesterkönige wollte sie wahrscheinlich sofort aus der Stadt bringen. Doch erst wenn meine Arbeit mit Caprus beendet war, konnte ich ihr nachreisen. Elizabeth löste sich von mir und folgte der Gruppe von Sklavinnen, die langsam den Saal verließ.
Ich sah mich um. Nur noch Wächter und Bedienstete waren zurückgeblieben. Es war wohl am besten, wenn ich gleich in mein Quartier zurückkehrte. Elizabeth würde mir fehlen.
Plötzlich traten zwei Wächter ein, die eine Frau zwischen sich führten.
Ich sah, wie Ho-Tu aufblickte und erbleichte. Seine Hand berührte die Hakenklinge an seinem Gürtel.
Die Frau wurde vor Cernus' Tisch gestoßen; die Hände waren ihr auf dem Rücken gefesselt, und ihr wirres Haar hing ihr ins Gesicht. Sie trug keinen Sklavenstab mehr.
Ho-Tu sprang auf. »Laßt sie in ihr Quartier zurückkehren. Sie hat uns gut gedient. Sie ist die beste Trainerin in Ar.«
»Sie soll daran erinnert werden«, sagte Cernus eisig, »daß sie nur ein Sklavin ist.«
»Ich erbitte eure Gunst!« rief Ho-Tu.
»Abgelehnt!« sagte Cernus barsch. »Das Spiel soll beginnen.«
Eine Gruppe Männer fand sich zwischen den Tischen zusammen und begann in einem kleinen Metallbehälter Verrwürfel zu schütteln. Ich begann zu verstehen, was hier vorging, eine der Überraschungen des Kajuralia-Festes, vielleicht aber auch mehr. Suras Stolz und ihre Stellung im Hause war vermutlich vielen Männern und Bediensteten ein Dorn im Auge; vielleicht hatte sogar Cernus das Gefühl, daß sie sich manchmal zuviel herausgenommen hatte.
»Ich bin der erste!« rief ein Mann.
Lautes Gebrüll klang auf, und die Männer setzten das Spiel fort. Es ging darum, in welcher Reihenfolge das Mädchen den Männern zu Gefallen sein mußte.
Ich sah Ho-Tu an. Zu meiner Überraschung entdeckte ich Tränen in seinen dunklen Augen. Seine Hand ruhte auf dem Griff des Hakenmessers..
Ich blickte zu Sura hinüber, die apathisch auf den Steinniesen kniete.
Ihre Schultern zuckten; ich sah, daß sie weinte.
Mit schnellen Schritten näherte ich mich den spielenden Männern und drängte mich wortlos in ihren Kreis. Sie sahen mich ärgerlich an, wagten jedoch keine Einwände zu machen, als ich den Behälter mit den Würfelknochen nahm und sie ausschüttete.
Es war kein sehr hoher Wurf, und schon wurde erleichtertes Lachen laut, doch im nächsten Augenblick war mein Schwert aus der Scheide, und die scharfe Klinge kippte mit kurzen anmutigen Bewegungen die Würfel um, so daß jeweils die höchste Zahl oben lag.
Die Männer starrten mich wütend an.
»Ich bekomme sie«, sagte ich. »Ich allein. Und wer damit nicht einverstanden ist, soll mich herausfordern!«
Murrend senkten die Männer die Blicke.
Ich wandte mich an Cernus, der lachend den Arm hob.
»Bring mich in deine Räume, Sklavin!« befahl ich.
Sie rappelte sich mühsam auf und ging taumelnd voraus.
Cernus lachte hinter mir. »Ich habe gehört, daß der Attentäter sich mit Sklavinnen auskennt!«
Ho-Tu starrte mich mit großen Augen an, als ich an seinem Tisch vorbeiging. »Sie ist eine ungewöhnliche Sklavin«, sagte er leise.
»Dann habe ich ja auch ungewöhnliche Freuden zu erwarten«, sagte ich und trat in den Korridor hinaus.
In Suras Quartier angekommen, löste ich ihr Sofort die Fesseln, die ungewöhnlich fest gesessen hatten. Sie blieb mit gesenktem Kopf in der Mitte des Zimmers stehen und rieb sich die Handgelenke. Ihr schwarzes Haar fiel ihr bis weit über die Schultern; ihre wunderschönen Augen waren schwarz und ausdrucksvoll.
Ich wandte mich ab, suchte nach etwas Ka-la-na oder Paga. Ich begann eine der Truhen zu durchwühlen, dann eine zweite. Sie bewegte sich nicht.
Ich öffnete eine weitere Truhe. »Bitte schau nicht hinein«, bat sie.
»Unsinn«, erwiderte ich, in der Annahme, daß ich hier die gewünschten Getränke finden würde. »Bitte!« rief sie.
Ich stocherte in der Truhe herum, die zahlreiche Ketten, Schmuckstücke und Seidengewänder enthielt. Suras Garderobe schien recht umfangreich zu sein.
Unten in der Kiste entdeckte ich eine große, arg zerfledderte Puppe, die in eine verblaßte Robe der Verhüllung gekleidet war. »Was ist denn das?« fragte ich amüsiert und hob die Puppe. Mit einem Wutschrei eilte Sura an mir vorbei, riß einen Sklavenstab von der Wand und schaltete ihn ein. Ich sah, wie der Hebel auf höchste Leistung gestellt wurde – die den sofortigen Tod herbeiführt. Die Spitze des Stabes wurde weißglühend, so daß man nicht mehr hinsehen konnte.
»Stirb!« kreischte Sura und eilte auf mich zu.
Ich ließ die Puppe fallen, wirbelte herum und ergriff im letzten Augenblick ihr Handgelenk. Ihre Hand ließ den Sklavenstab fallen; ich stieß Sura zur Seite, griff nach dem gefährlichen Instrument und schaltete es ab.
Dann bückte ich mich nach der Puppe und näherte mich damit Sura, die sich verzweifelt gegen eine Wand preßte.
»Hier«, sagte ich und reichte ihr die Puppe. »Es tut mir leid.«
Sie starrte mich wortlos an.
Ich durchquerte das Zimmer und hängte den Sklavenstab wieder an seinen Haken. »Tut mir wirklich leid, Sura«, sagte ich noch einmal. »Ich habe nur nach Ka-la-na gesucht.«
Sie starrte mich verwirrt an.
»In der letzten Truhe«, flüsterte sie.
Ich ging zu der vierten Truhe an der Wand, öffnete den Deckel und fand darin eine Flasche Ka-la-na-Wein und einige Schalen.
»Es ist Kajuralia«, sagte ich, »also bediene ich dich.«
Sie starrte mich verständnislos an. Ich schenkte zwei Schalen voll und reichte ihr eine davon. Mit zitternden Händen trank sie daraus.
Dann machte ich kehrt und setzte mich im Schneidersitz in die Mitte des Raums . Die Flasche stellte ich neben mich.
»Wie kommt es«, fragte ich, »daß du eine solche Puppe hast?«
Sie schwieg und brachte das Spielzeug wieder in ihr Versteck.
»Du brauchst mir nicht zu antworten«, sagte ich.
»Meine Mutter hat sie mir gegeben. Ich wurde verkauft, als ich fünf war – das ist alles, was ich noch von ihr habe.«
»Es tut mir leid«, sagte ich.
Sie hob ihre Weinschale.
»Ho-Tu«, sagte ich, »liebt dich.«
»Ja«, sagte sie.
»Mußt du am Kajuralia-Fest immer leiden?« fragte ich.
»Wenn sich Cernus daran erinnert«, erwiderte sie. »Einmal, vor vielen Jahren, wurde ich vor aller Augen begattet.«
»Weißt du von wem?« fragte ich.
»Nein«, sagte sie. »Man hatte mich gefesselt und mir die Augen verbunden.« Sie erschauderte. »Er wurde von der Straße geholt. Ich weiß es noch wie heute. Der winzige, verformte Körper, die kleinen, ungeschickten Hände. Sein Jammern und Kichern. Die Männer bei Tisch haben dabei gebrüllt vor Lachen. Es war bestimmt sehr amüsant.«
»Und das Kind?« fragte ich.
»Ich habe es ausgetragen«, sagte sie, »aber bei der Geburt trug ich wieder die Haube. Ich habe es also nie gesehen. Bei dem Vater war es bestimmt ein Monstrum.«
»Vielleicht auch nicht. Besucht Ho-Tu dich oft?« fragte ich.
»Ja. Ich spiele ihm auf der Kalika vor. Er mag das. Er war früher Sklave, aber er hat sich mit dem Hakenmesser seine Freiheit erobert. Er war dem Vater des Cernus sehr ergeben. Als dieser ermordet wurde und sich Cernus das Medaillon des Hauses umlegte, leistete Ho-Tu Widerstand. Dafür mußte er Säure trinken. Er ist trotzdem all die Jahre im Haus geblieben.«
»Und warum das?«
»Vielleicht weil auch Sura in diesem Hause Sklavin ist.« Sie senkte lächelnd den Blick.
Ich sah mich um. »Ich habe keine Lust, sofort in mein Quartier zurückzukehren. Außerdem wird von mir erwartet, daß ich hier einige Zeit verbringe. Liebst du Ho-Tu?«
Sie betrachtete mich nachdenklich. »Ja«, sagte sie dann.
»Wir finden sicherlich eine Beschäftigung, die dir gefällt.«
Sie lachte.
»Dein Zimmer scheint wenig Zerstreuung zu bieten – was möchtest du tun?«
»Ich?« fragte sie amüsiert. »Meint Kuurus das ernst?«
»O ja.«
»Ich wüßte schon, was ich wollte«, sagte sie, »aber es ist etwas sehr Dummes.«
»Naja, immerhin haben wir noch Kajuralia.«
Sie sah mich an und sagte stockend: »Ob du... ob du mir wohl das Spiel beibringen könntest?«
Ich starrte sie sprachlos an. »Hast du denn ein Brett und Figuren?«
»Nein.«
»Aber dann hast du Papier und Schreibstift und Tinte?«
»Ich habe Seide und Rouge und Flaschen mit Kosmetika.«
Nach wenigen Minuten hatten wir ein großes Stück Seide auf dem Boden zwischen uns gelegt, und mit den Fingern hatte ich die Quadrate des Spielfeldes aufgezeichnet. Ich setzte einen Punkt in die Quadrate, die normalerweise rot waren. Gemeinsam suchten wir dann eine ausreichende Anzahl Fläschchen und Broschen und Schmucksteine zusammen, die uns als Figuren dienen sollten. Ich zeigte Sura die Aufstellung der Figuren und ihre Grundzüge und erklärte ihr einige grundlegende Raffinessen des Spiels. In der zweiten Ahn beugte sie sich bereits mit einer Intensität über das Brett, die mich verblüffte. Sie begann bald eine eigene Strategie zu entwickeln; ihre Züge waren selten aggressiv, doch stets intelligent. Ich begann ihre Angriffe zu erklären, diskutierte eingehend mit ihr, und sie unterbrach mich oft mit einem lauten: »Aber klar!«, und die Lektion brauchte nicht wiederholt zu werden.
»Es geschieht nicht oft, daß man eine Frau findet, die sich für das Spiel interessiert.«
»Aber es ist so schön!«
Wir spielten noch eine Ahn, und schon war zu erkennen, daß ihr Spiel noch präziser, noch intelligenter geworden war, und ich mußte mich schon darauf konzentrieren, meinen Heimstein zu schützen.
»Bist du sicher, daß du noch nie gespielt hast?« fragte ich.
Sie sah mich erfreut an. »Mache ich mich?«
»O ja«, sagte ich.
Ich glaubte ihr, wenn sie sagte, daß sie noch nie gespielt hatte.
Offenbar war ich hier auf einen jener seltenen Menschen gestoßen, die ein bemerkenswertes Talent für das Spiel haben.
»Ich schlage Heimstein« rief sie aufgeregt.
»Ich glaube nicht, daß du mir jetzt noch auf der Kalika vorspielen möchtest«, sagte ich.
»Nein! Nein!« rief sie.
Zu meiner Verblüffung entwickelte sie bei unserem nächsten Spiel ohne Anleitung die Centianische Eröffnung, die Centius aus Cos vor Jahren eingeführt hatte. Ich machte alle klassischen Gegenzüge, doch es nützte mir nichts.
Sie lachte wie ein Kind, als sie wieder gewann, und ich fiel in ihr Lachen ein.
»Du bist großartig«, sagte ich. Ich selbst hatte oft gespielt und galt als guter Taktiker. Nun mußte ich nach wenigen Runden bereits um mein Leben kämpfen gegen diese schöne, aufgeregte Gegnerin. »Du bist einfach unglaublich.«
»Ich habe schon immer spielen wollen«, sagte sie. »Ich hatte das Gefühl, daß ich es vielleicht könnte.«
»Du bist hervorragend«, lobte ich. Ich wußte natürlich, daß sie eine sehr intelligente Frau war, das hatte ich vom ersten Augenblick gespürt. Doch bei dem Spiel ging es um weitaus mehr als nur Intelligenz; sie war ein erstaunliches Naturtalent.
»Den Zug würde ich nicht machen«, sagte sie beim nächsten Spiel, »oder du verlierst deinen Heimstein in sieben Zügen.«
Ich betrachtete das Spielbrett. »Ja«, sagte ich, »du hast recht.« Aber ich fand auch keinen anderen Ausweg mehr.
Während ich die Figuren wieder aufstellte, wechselte ich das Thema: »Du hast davon gesprochen, daß Ho-Tu oft hier ist.«
»Ja«, sagte sie, »er ist ein sehr netter Mann.«
Ich dachte an den mächtigen Ho-Tu mit seiner Hakenklinge und dem Tarnstab.
»Er hat sich mit dem Hakenmesser seine Freiheit erkämpft – doch damals, zu Zeiten von Cernus' Vater, steckten die Messer bei den Kämpfen in der Scheide.«
»Aber die Kämpfe, die ich gesehen habe, fanden auch mit geschützter Klinge statt!«
»Das ist jetzt wieder so, seitdem das Ungeheuer im Hause lebt. Die Verlierer müssen überleben, um ihm zum Fraß vorgeworfen zu werden.«
»Was für ein Ungeheuer ist denn das?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe allerdings die Überreste seiner Mahlzeiten gesehen.« Sura erschauderte. »Es bleibt wenig übrig.«
»Und nur die Verlierer beim Hakenklingenkampf werden dem Wesen vorgeworfen?«
»Nein«, sagte sie. »Jeder, der Cernus mißfällt, muß mit diesem Schicksal rechnen.«
»Warum wird das arme Opfer verwundet, ehe das Ungeheuer darüber herfällt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie und starrte sinnend auf unser Spiel.
»Ho-Tu«, sagte ich, »verläßt selten das Haus.«
»Im letzten Jahr«, sagte Sura, »war er nur einmal fort.«
»Wann war denn das?«
»Im letzten En'Var. Er war unterwegs, um Sklavinnen einzukaufen.«
»Wo?«
»In Ko-ro-ba.«
Ich erstarrte.
Sie hob den Kopf. »Was ist los, Kuurus?« Plötzlich riß sie die Augen auf und hob abwehrend die Hand. »Nein, Ho-Tu!« kreischte sie.