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Kaum einen Monat nach dem Niedergang des Hauses Portus war Cernus der unbestrittene Herr des Sklavenhandels in Ar. Er hatte vom Staat die Gebäude und das Personal seines Konkurrenten übernommen – zu lächerlichen Beträgen.

Ich hatte nun erwartet, daß die Preise für Sklaven ansteigen würden, doch Cernus ließ das nicht zu, sondern unterbot weiterhin seine wenigen verbleibenden Konkurrenten. Dies wurde in der Stadt allgemein als Großzügigkeit Cernus' gefeiert.

Wegen seiner Dienste für den Staat, einschließlich der Finanzierung von Rennen und Spielen, wurde Cernus auf Betreiben des Saphronicus, Anführer der Taurentianer, mit der roten Robe eines Kriegers ausgezeichnet und somit in eine Hohe Kaste erhoben. Ich glaube nicht, daß der hinrabische Administrator diesen Schritt sehr begrüßte, doch es fehlte ihm der Mut, sich den Wünschen der Taurentianer und der Stadt im allgemeinen zu widersetzen. Der Hohe Rat stimmte der Erhebung ohne Einwände zu. Daß er nun der Kaste der Krieger angehörte, bewirkte bei Cernus keinerlei Änderung, außer daß er nun einen roten Seidenstreifen am linken Ärmel trug. Ich wußte, daß der Sklavenhändler seit Jahren an den Waffen ausgebildet worden war und sogar das erste Schwert in seinem Hause führte. Er hatte zahlreiche fähige Kämpfer angeworben, die ihn trainierten – nicht nur weil er seinen Mann stehen wollte, sondern weil er sicherlich schon seit langem die Hoffnung nährte, zum Krieger erhoben zu werden. Als Angehöriger dieser Kaste konnte er nun endlich in den Hohen Rat der Stadt und sogar auf den Thron gewählt werden. Cernus feierte seine Erhebung, indem er die ersten Spiele und Rennen der neuen Saison finanzierte, die im En'Kara begannen.

Es war ein langer und kalter Winter gewesen, und die ganze Stadt freute sich auf den ersten Monat des neuen Jahres. Doch zunächst waren noch die fünf Tage der Wartenden Hand zu überwinden, die letzten fünf Tage im alten Jahr. Die Portale der Stadt wurden weiß gestrichen und bei Angehörigen der niederen Kasten sogar mit Pech verschlossen, damit sie erst im neuen Jahr wieder geöffnet werden konnten. Während der Wartenden Hand liegen die Straßen fast verlassen da, und in den Häusern wird viel gefastet, wenig gesprochen und überhaupt nicht gesungen. Sogar im Haus des Cernus wurden die Rationen halbiert, und Paga und Ka-la-na kamen nicht auf die Tische. Die Sklaven in den Gehegen bekamen fast nichts. Beim Morgengrauen des ersten Tages – En'Kara begrüßt der Administrator der Stadt die Sonne, heißt sie am ersten Tage des neuen Jahres in Ar willkommen. Die großen Metallstangen über den Wänden der Stadt werden dann über eine Ahn lang geläutet, die Türen in der Stadt springen auf und die Menschen drängen in die Straßen hinaus, auf die unzähligen Brücken, singend und lachend und in ihre schönsten Sachen ; gekleidet. Die Türrahmen werden grün angestrichen, das Pech wird abgewaschen. Prozessionen finden statt und Liederfeste und Turniere und Spiele und Dichterlesungen und Wettbewerbe und Ausstellungen. Wenn auf den Brücken die Laternen angezündet werden, kehren die Menschen singend nach Hause zurück, kleine Lampen in den Händen. Sogar die Sklaven in den Gehegen erhalten an diesem Tag einen kleinen Kuchen mit Öl und bekommen mit Paga vermischtes Wasser zu trinken. Am nächsten Tag sollten die Rennen und Spiele beginnen, die vom Hause des Cernus finanziert wurden.

Am ersten Tag des En'Kara war das alte Jahr fast vergessen – aber es gab Menschen, die nicht so leicht vergessen konnten: Portus, der angekettet in den Verliesen des Zentralzylinders lag, Claudia Tentia Hinrabia, die wieder frei war, aber die Schande der Sklaverei erlebt hatte, und schließlich Tarl Cabot, der von seinen Zielen ebensoweit entfernt schien wie am ersten Tage seines Aufenthaltes in der Stadt.

Während der Wartenden Hand hatte ich mich Caprus erneut genähert und wütend verlangt, er solle uns nun endlich sein Material überlassen.

Doch er versicherte mir, daß Cernus erst vor kurzem neue wichtige Dokumente und Landkarten erhalten hätte, die vielleicht entscheidende Informationen enthielten, und die Priesterkönige wären sicherlich enttäuscht, wenn er nicht auch Kopien dieser Papiere beschaffte. Er wiederholte, daß er keine Unterlagen aus der Hand gäbe, bis seine Arbeit vollendet sei und er sich gleichzeitig in Sicherheit bringen könne.

Ich war wütend, konnte jedoch nichts machen.

Die Spiele und Rennen begannen unter großer Anteilnahme des Publikums. Murmilius kehrte in die Arena zurück und wurde seinem Ruf wieder einmal gerecht. In einem aufregenden Kampf besiegte er gleich zwei Gegner auf einmal. Bei den Rennen trugen die Gelben die meisten Siege davon, angeführt von Menicius aus Port Kar, dem berühmtesten Reiter seit Melipolus aus Cos, der zu seinen Lebzeiten schon eine Legende gewesen sein soll. Die Gelben gewannen sieben Rennen, bei denen fünfmal Menicius der Reiter war, die Grünen gewannen drei von elf Wettbewerben.

An diesem Tage wurde es Elizabeth, Virginia und Phyllis zum erstenmal gestattet, das Haus zu verlassen, wobei sie natürlich angemessen bewacht werden mußten. Ich hatte die Führung dieser Expedition übernommen, nur um Elizabeth keinem anderen überlassen zu müssen, und erhielt von Ho-Tu ein Ledersäckchen mit Silber- und Kupfermünzen, mit denen die Kosten des Tages bestritten werden sollten. Die beiden anderen abkommandierten Wächter waren zur Überraschung der Mädchen Relius und Ho-Sorl.

Die Sklavinnen wurden mit Handfesseln an uns befestigt, und gemeinsam verließen wir das Haus.

Als wir um eine Ecke gebogen waren, nahm ich Elizabeth den störenden Armreifen ab.

»Warum hast du das getan?« wollte Ho-Sorl wissen.

»So hat sie es bequemer«, sagte ich.

»Du kannst mir das Armband ja auch abnehmen«, sagte Phyllis von oben herab. »Ich greife dich schon nicht an.« Sie reichte Ho-Sorl den Arm hin, wobei sie hochmütig den Kopf abwandte.

»Also, ich möchte ja umnichts in der Welt angegriffen werden«, sagte Ho-Sorl.

Phyllis stampfte mit dem Fuß auf.

Relius musterte Virginia und hob mit einer Hand ihr Kinn an, und zum erstenmal begegneten ihre dunkelgrauen, schüchternen Augen seinem Blick. »Wenn ich dir das Armband abnehme«, sagte Relius, »dann wirst du mir doch nicht davonlaufen?«

»Nein«, sagte sie leise und setzte noch leiser hinzu: »Herr.«

Sekunden später war ihre Fessel beseitigt. »Danke, Herr«, sagte sie und senkte den Kopf.

»Schöne Sklavin«, brummte Relius anerkennend.

Ohne den Kopf zu heben, lächelte sie. »Hübscher Herr«, erwiderte sie.

Ich war verblüfft. Das sah Virginia Kent so gar nicht ähnlich.

Relius lachte und setzte sich in Bewegung. Virginia folgte ihm in zwei Schritten Abstand, den Kopf gesenkt, lächelnd.

Ho-Sorl wandte sich an Phyllis. »Ich nehme dir auch die Fessel ab.«

Als sie befreit war, rieb sich das Mädchen die Handgelenke. »Jetzt willst du wahrscheinlich mein Versprechen haben, daß ich nicht zu fliehen versuche.«

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Ho-Sorl und ging Relius nach. »Du wirst nicht fliehen!«

»Oh!« rief Phyllis und eilte ihm nach.

Ich reichte Elizabeth den Arm, und wir folgten ihnen.

Wir nahmen unsere Plätze auf den Tribünen ein, und Virginia kniete zufrieden neben Relius nieder, der ihr den Arm um die Schultern legte.

So verfolgten sie ein Rennen nach dem anderen und sahen sich dabei oft an.

Nach etwa vier Rennen gab Ho-Sorl Phyllis eine Münze und befahl ihr, etwas Sa-Tarna-Brot für ihn zu kaufen. Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Phyllis' Gesicht, ehe sie gehorsam verschwand.

Ich blickte Ho-Sorl an. »Sie wird fliehen wollen«, sagte ich.

Der schwarzhaarige Krieger lächelte. »Natürlich.«

»Wenn es ihr gelingt«, sägte ich, »wird Cernus dich aufspießen lassen.«

»Zweifellos. Aber mach dir keine Sorgen.«

Unauffällig beobachtete er Phyllis, wie sie sich an zwei Verkäufern mit Sa-Tarna-Brot vorbeidrückte. »Siehst du?« fragte er.

»Ja, ich seh's.«

Mit verstohlenem Seitenblick machte Phyllis plötzlich kehrt und verschwand auf einer der Rampen, die nach unten führten.

Ho-Sorl sprang auf und eilte ihr nach. Ich wartete einen Augenblick und wandte mich dann an Elizabeth. »Bleib hier!«

Ich ließ Elizabeth, Relius und Virginia zurück und eilte Ho-Sorl und Phyllis nach. Dreimal klang die Schiedsrichterglocke auf, zum Zeichen, daß die Tarns nun für das nächste Rennen in die Startpositionen gebracht wurden.

Ich hatte mich kaum fünfzig Meter durch die Menge gedrängt, als ich den entsetzten Schrei eines Mädchens hörte. Ich eilte weiter, stieß Männer und Frauen zur Seite und rannte zu der dunklen Passage, in der Phyllis verschwunden war. Von dort hörte ich nun ärgerliche Rufe und den Lärm eines Kampfes.

Ich kam gerade noch rechtzeitig, um einen jungen Mann davon abzuhalten, Ho-Sorl von hinten anzugreifen, der noch mit einem anderen Gegner beschäftigt war. Links und rechts lagen mit blutenden Nasen zwei weitere junge Männer, Phyllis stand mit halb zerrissener Tunika an ein Geländer gefesselt; sie zitterte und atmete heftig. Ho-Sorls Handschelle hielt sie am Geländer fest. Wahrscheinlich war er zwischen die Männer gesprungen, die das Mädchen überfallen wollten, hatte sie zurückgetrieben, Phyllis schnell gefesselt, damit sie nicht wieder davonlaufen konnte, und sich dann in den Kampf gestürzt.

Als ich nun in die Auseinandersetzung eingriff, war der Streit schnell beendet; die vier Gestalten ergriffen mehr oder weniger humpelnd die Flucht. Ho-Sorl löste die Fessel des Mädchens.

»So«, sagte er, »du wolltest also fliehen? Aber wohin wolltest du denn?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Phyllis entsetzt. »Ich weiß es nicht.« Ho-Sorl schlug sie nicht, sondern nahm die Münze auf, die sie verloren hatte und schickte sie noch einmal los. Wir kehrten zu unseren Plätzen auf der Tribüne zurück, und kurz darauf kam auch Phyllis und brachte Ho-Sorl sein Brot und zwei kupferne Tarnmünzen als Wechselgeld.

Ein Rennen folgte auf das andere, und schließlich hörten wir das Zeichen zum elften Rennen, zum letzten des Tages.

»Was hältst du von den Stählernen?« fragte Relius und beugte sich vor.

Die Stählernen waren eine neue Mannschaft in Ar, die die blaugraue Farbe zeigte. Sie hatte jedoch noch keine Anhängerschaft. Tatsächlich hatte noch kein Tarn der Stählernen an einem Rennen teilgenommen.

Ich hatte jedoch gehört, daß dieses Rennen, das elfte des Tages, die Premiere sein sollte. Ich wußte auch, daß die Stählernen im Se'Var einen Tarnstall gemietet und Reiter angeworben hatten. Die Herkunft der Mannschaft war ein wenig seltsam. Es war nicht klar, welches Gold hinter den Leuten stand. Eine Mannschaft zu finanzieren, ist stets eine große Investition. Oft werden Mannschaften gegründet, doch viele Versuche verlaufen erfolglos. Wenn in den ersten beiden Rennperioden nicht viele Rennen gewonnen werden, wird der Mannschaft nach den strengen Vorschriften die Rennlizenz aberkannt. Das investierte Geld unterliegt einem hohen Risiko – es geht ja nicht nur um die Tarnställe, um die Tarns, die Reiter und Tarnzüchter und die sonstigen Angehörigen der Organisation – auch die Renngebühr für neue Mannschaften ist sehr hoch, besonders in den ersten beiden Probejahren. Auch eingeführte Mannschaften müssen mit höheren Gebühren rechnen, wenn ihre letzte Saison sehr schlecht ausgefallen ist. Außerdem ist das auftauchen neuer Mannschaften eine Bedrohung für die alteingesessenen Gruppen, denn jeder Sieg der Neuen gilt als Verlust für alle anderen. Es ist also zu aller Vorteil, daß die Zahl der Mannschaften gering gehalten wird, und so kommt es, daß manche Reiter, auch wenn sie nicht selbst Siegen können, oft zu verhindern suchen, daß Reiter einer neuen Mannschaft gute Rennen fliegen. Außerdem ist es bei alten Mannschaften üblich, keine Reiter einzustellen, die für neue Gruppen gearbeitet haben, obwohl diese Praxis natürlich manchmal bei besonders guten Leuten umgangen wird.

»Was hältst du von den Stählernen?« fragte Relius noch einmal.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich weiß kaum etwas über sie.« Der Unterton in seiner Stimme verblüffte mich. Auch sah mich Ho-Sorl seltsam von der Seite an. Diese beiden jungen Leute gaben mir manches Rätsel auf. Sie hatten sich nicht gerade mit mir angefreundet, doch waren sie mir auch nicht aus dem Weg gegangen.

»Das ist aber ein Vogel!« rief Ho-Sorl, als die niedrigen Plattformen auf die Rennbahn gezogen wurden.

Ich hörte die Menge überrascht aufschreien.

Ich blickte hinab und brachte kein Wort mehr heraus. Wie angewurzelt saß ich auf meinem Platz. Der Atem wollte mir in der Kehle stocken.

Durch das Stadion gellte plötzlich, die anderen Tarns aufscheuchend, der schrille, herausfordernde Schrei eines Tarn, eines Riesenvogels, eines schwarzgefiederten Vogelmonstrums, eines Prachtexemplars dieses wildesten, schönsten Raubtiers der Gegenerde.

»Das ist ja nicht einmal ein Renntarn«, sagte ein Mann in der Nähe.

Ich war aufgestanden und starrte wie betäubt auf die Wagen, auf die Vögel, die nun auf die Stangen gehoben wurden.

»Es heißt«, sagte Relius, »daß der Vogel aus Ko-ro-ba kommt.«

Wortlos stand ich auf, und mir wurde schwach. Hinter mir hörte ich Virginia und Phyllis laut aufschreien. Ich wandte mich um und sah, daß Ho-Sorl je eine Hand im Haar der beiden Mädchen vergraben hatte.

»Sklavinnen«, sagte er. »Ihr werdet nicht, von dem sprechen, was ihr heute seht.«

»Nein, Herr!« sagte Virginia.

»Nein, nein!« versicherte Phyllis.

Ich wandte mich nach links, ging an den Sitzen entlang, bis ich zu einer schmalen Treppe kam, die nach unten führte.

Ich hörte Relius hinter mir sagen: »Nimm das!« Er schob mir etwas in die Hand, etwas, das sich wie ein zusammengefaltetes Ledertuch anfühlte. Am Geländer der vordersten Reihe blieb ich stehen.

Ich war noch etwa vierzig Meter von dem Tier entfernt.

Als suchten sie nur mich in der Menge, in all dem Durcheinander aus Gesichtern und Farben, aus Lärm und Geschrei, richteten sich die glitzernden Augen des Tarn auf mich. Diese bösartigen schwarzen Augen, rund und schimmernd, ruhten auf mir. Die Federkrone auf dem Kopf schien sich zu heben, die Muskeln des gewaltigen Körpers schienen sich anzuspannen. Die langen schwarzen Schwingen, breit und gewaltig, öffneten sich und schlugen Luft, erzeugten einen Sturm, der Schmutz und Sand hochwarf, stießen fast den kleinen Tarnwächter vom Wagen. Dann warf der Tarn den Kopf zurück und kreischte erneut auf, wild, unheimlich, ein Schrei, der einem Larl Entsetzen eingeflößt hätte, doch ich fürchtete ihn nicht. Ich sah, daß die Krallen des Tarn mit Stahl versetzt waren. Er war natürlich ein Kriegstarn.

Ich blickte auf das Lederknäuel in meiner Hand, öffnete es und setzte die Haube auf, die mein Gesicht verhüllte. Dann sprang ich über das Geländer und näherte mich dem Vogel.

»Sei gegrüßt«, sagte ich zu Mip und stieg auf die Plattform.

»Du bist Gladius aus Cos«, sagte er.

Ich nickte. »Aber was soll das alles?« fragte ich.

»Du reitest für die Stählernen«, antwortete er.

Ich hob den Arm und berührte den Schnabel des mächtigen Vogels. Ich zog ihn heran und drückte meinen Kopf gegen das Gefieder unter dem runden schimmernden Auge – und unter der Lederhaube begann ich zu weinen. »Es ist lange her, Ubar des Himmels«, sagte ich. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«

Wie aus weiter Ferne drang das Lärmen von Menschen an mein Ohr, knappe Befehle, das Kreischen von Sattem, die bestiegen wurden.

Ich spürte Mip neben mir.

»Vergiß nicht, was ich dir im Stadion der Tarns beigebracht habe«, sagte er.

»O nein«, sagte ich.

»Steig auf«, befahl Mip.

Ich kletterte in den Tarnsattel, und als Mip die Fußfessel des Tiers entfernte, sprang es auf die Startstange.

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