Der schrille Schmerzensschrei des Tarn übertönte das Brüllen der aufgeregten Menge.
»Blau! Blau!« kreischte der Mann neben mir, der ein blaues Stoffstück auf der linken Schulter trug und einige emaillierte blaue Tonplatten in der rechten Hand.
Der kreischende Tarn, dessen Flügel nicht mehr zu gebrauchen war, taumelte haltlos um die Kante des großen gepolsterten Ringes, der über dem Netz der Rennstrecke schwebte, und stürzte in das Netz, wobei sein Reiter seinen Sicherheitsgurt durchschnitt und rechtzeitig absprang, um von dem wild zuckenden Tier nicht getötet zu werden.
Der andere Vogel, der den Gestürzten gegen die Ringkante gedrückt hatte, flog ungeschickt hindurch, drehte sich in der Luft, den ruckartigen Kommandos der Kontrollzügel folgend, und reagierte schließlich auf ein gelbes Aufblitzen des Tarnstabs, bekam wieder Gewalt über sich und eilte auf den nächsten Ring zu.
»Rot! Rot!« hörte ich in der Nähe rufen.
Die nächsten sieben Tarns hasteten hintereinander durch den Ring und wirbelten herum, um den nächsten Ring in Angriff zu nehmen. Ihr Anführer war ein brauner Renntarn, dessen Reiter in rote Seide gekleidet war und dessen Sattel und Zügel aus rotem Leder bestanden.
Es war erst die dritte Runde in einem Rennen, das über zehn Runden ging, und schon hingen zwei Tarns im Netz. Ich sah, wie sich die Netzleute vorsichtig über die breiten Taue bewegten, mit großen Schlingen in den Händen, um den großen Schnabel des Tiers und seine gekrümmten Krallen festzubinden. Bei einem Vogel war offensichtlich der Flügel gebrochen, denn man schnitt ihm blitzschnell die Kehle durch; Blut sickerte durch das Netz, befleckte es und bildete im Sand darunter eine bräunlich-rote Lache. Der Reiter nahm dem noch zitternden Vogel Sattel und Zügel ab und ließ sich mit ihnen durch das Netz zu Boden fallen, knapp zwei Meter darunter. Das andere Tier war offenbar nur betäubt, denn es wurde an den Netzrand gerollt, von wo es auf einen großen massigen Wagen geschoben wurde, den zwei Gehörnte Tharlarions heranzogen.
»Gold! Gold!« rief ein Mann zwei Reihen von mir entfernt. Schon hatten die Vögel die aus zwölf Ringen bestehende Strecke zum vierten Mal zurückgelegt und näherten sich erneut. Ein Vogel der Gelben Mannschaft bildete die Spitze, gefolgt von Rot, Blau, Orange, Grün und Silber.
In der Menge hörte ich die schrillen Schreie von Sklavenmädchen und freien Frauen. Während eines Rennens gaben die Verkäufer für Süßigkeiten, Kal-Da, Teigwaren und Paga Ruhe; sie standen in den Gängen und sahen zu. Vielen lag ebenfalls sehr am Ausgang der Rennen, denn zweifellos hatte jeder von ihnen ein paar der blanken Tontäfelchen der Buchmacher in den Taschen.
Die Vögel flatterten wieder an uns vorbei. »O Priesterkönige!« rief ein Mann in der Nähe. »Beschleunigt die Flügel des Roten!« Alle sprangen auf, auch jene Zuschauer, die in den marmornen Reihen unter den Baldachinen aus purpurner Seide saßen. Ich stand ebenfalls auf, um überhaupt noch etwas sehen zu können. In der Nähe der Zielstangen, von denen für dieses Rennen neun aufgestellt worden waren, befanden sich die Bereiche, die für den Administrator, den Höchsten Wissenden und die Mitglieder des Hohen Rates reserviert waren, Veranden, die sich über die üblichen Tribünen hinaus erstreckten, mit Baldachinen bedeckt.
Auf Verschiedenen Ebenen waren geschnitzte Holzsessel angebracht.
Von zwei Wächtern in der roten Uniform der Krieger flankiert, sah ich den Thron, auf dem nun das Mitglied der Hinrabia-Familie saß, das in Ar zur Zeit das höchste Amt bekleidete. In der Nähe, ein wenig uninteressiert, ebenfalls von zwei Kriegern flankiert, saß der Höchste Wissende. Vor ihm hockten zwei Reihen Wissende, die – ohne das Rennen zu beobachten – Gebete an die Priesterkönige anstimmten.
Ich bemerkte, daß vor dem Thron des Administratos wie auch vor dem Sitz des Höchsten Wissenden grüne Banner hingen, zum Zeichen, daß sie für die Mannschaft der Grünen eintraten.
Bei den Kriegern, die neben den beiden wichtigsten Männern der Stadt Wache hielten, handelte es sich um Taurentianer, Angehörige der Palastwache, eine Elitetruppe aus Schwertkämpfern und Bogenschützen, die sorgfältig ausgesucht und speziell ausgebildet worden waren und einen von der allgemeinen militärischen Gruppierung der Stadt unabhängigen Block bildeten. Ihr Anführer war Saphronicus, ein Söldner aus Tyros. Ich konnte ihn einige Schritte hinter dem Thron stehen sehen, in einen roten Umhang gehüllt, ein großer, hagerer Mann mit langen Armen und schmalem Gesicht, der dauernd unruhig den Kopf bewegte und die Menge zu überblicken versuchte.
Es gab auch noch andere bevorzugte Bereiche auf den Tribünen, nämlich vorn, unter Baldachinen, Bereiche, in denen sich die Mitglieder der zahlreichen hochstehenden Familien Ars niederließen; ich stellte fest, daß dort nun auch viele Familien von Kaufleuten zu finden waren, was vor einigen Jahren noch ganz undenkbar gewesen wäre.
Auf der anderen Seite der Rennstrecke hörte ich die Glocke eines Schiedsrichters anschlagen zum Zeichen, daß einer der Vögel einen Ring verfehlt hatte. Eine silberfarbene Scheibe wurde an einem Mast emporgezogen. Einige Zuschauer stöhnten auf, andere wiederum brüllten vor Freude. Der Reiter zog sein Tier herum, versuchte es wieder in die Gewalt zu bekommen, um es noch durch den Ring zu führen.
Doch inzwischen waren die anderen Tarns längst hindurchgerast.
Unter mir sah ich einen Süßigkeitenverkäufer, der ärgerlich vier silberne Tonscheiben fortwarf.
Die Vögel schössen nun durch die großen Ringe vor mir.
Gelb hielt die Führung, gefolgt von Rot. Grün war auf den dritten Platz aufgerückt.
»Grün! Grün!« rief eine Frau mit geballten Fäusten.
Der Administrator beugte sich auf seinem Thron vor. Wie es hieß, verwettete er große Summen bei den Rennen.
Auf der niedrigen Mauer, die mit zwei Meter Höhe die Rennbahn trennte, war zu sehen, daß nur noch drei große hölzerne Tarnköpfe auf ihren Pfosten saßen – ein Zeichen, daß das Rennen noch über drei Runden ging.
Sekunden später brachte der Reiter der Gelben Mannschaft sein Tier mit einem Siegesschrei auf die erste Sitzstange, dichtauf gefolgt von Rot und Grün. Schließlich setzten nacheinander auch Gold, Blau, Orange und Silber auf. Die beiden letzten Stangen blieben leer.
Ich blickte zum Administrator hinüber und sah, wie sich der Hinrabier enttäuscht abwandte und einem Schriftgelehrten etwas diktierte, der einen Stapel Papiere in der Hand hielt. Der Höchste Wissende war aufgestanden und nahm von einem anderen Wissenden einen Krug entgegen, der vermutlich aromatisches Eiswasser enthielt, denn der Nachmittag war heiß.
Die Menge ging nun verschiedenen Tätigkeiten nach, nachdem der zentrale Punkt des Interesses verloren war. Einige suchten die Buchmacher auf, von denen zahlreiche in den Tribünen herumwanderten, während andere sich diskutierend vor den Bänken im Sand versammelten, am Rand der Netze, die sich unter den Ringen hinzogen. Die Süßigkeitenverkäufer priesen ihre Waren an. Hier und dort sah ich freie Frauen, die verstohlen einen Bissen unter ihre Schleier steckten.
Eine Schiedsrichterglocke schlug zweimal an. Das nächste Rennen sollte in zehn Ehn beginnen.
Nun geriet wieder Bewegung in die Zuschauer, die noch schnell ihre Wetten plazieren wollten.
Fast jeder trug das Zeichen ›seiner‹ Mannschaft auf der Schulter. Im allgemeinen handelte es sich nur um ein kleines Stoffstück, doch einige der reichen Männer hatten ihre Sklavinnen mit Tuniken ausgestattet, die die Farbe der unterstützten Mannschaft offenbarten.
»Als Marlenus noch Ubar war, konnten die Rennen sich sehen lassen«, sagte ein Mann hinter mir und beugte sich vor.
Ich zuckte die Achseln. Es überraschte mich nicht, daß der Mann mich angesprochen hatte. Vor Verlassen des Hauses hatte ich meine schwarze Kastenkleidung abgelegt und die rote Tunika eines Kriegers angezogen. So konnte ich mich unauffälliger in der Stadt bewegen.
»Aber«, sagte der Mann düster, »was kann man schon erwarten, wenn ein Hinrabier auf dem Thron des Ubar sitzt?«
»Auf dem Thron des Administrators«, sagte ich, ohne mich umzudrehen.
»Es gibt nur einen Mann an der Spitze Ars«, sagte der Mann. »Marlenus, der Ubar der Stadt war, Ubar aller Ubars.«
»Das würde ich nicht sagen«, bemerkte ich. »Es gibt Leute, denen solche Äußerungen nicht gefallen würden.«
Ich hörte, wie der Mann amüsiert durch die Nase schnaubte und sich zurücklehnte.
Marlenus, der vor vielen Jahren der Ubar dieser Stadt gewesen war, hatte das Imperium Ar gegründet und die Hegemonie der Stadt über mehrere Städte im Norden ausgedehnt. Er war gestürzt worden, als ich den Heimstein seiner Stadt eroberte. Später hatte er bei der Befreiung Ars geholfen, nachdem sie der Horde Pa-Kurs, des Anführers der Attentäter, in die Hände gefallen war. Marlenus, der den Heimstein verloren hatte und der in seinem Ehrgeiz von allen gefürchtet wurde, mußte unter Verzicht auf Brot, Salz und Feuer die Stadt verlassen. Bei Todesstrafe durfte er nicht zurückkehren. Er hatte als Geächteter in den Voltai- Bergen gelebt, von wo aus er die Türme des Herrlichen Ar sehen konnte Ich wußte, daß viele gegen das Exil dieses Herrschers waren.
Kazrak, der mehrere Jahre lang sein Amt innegehabt hatte, war nicht unbeliebt gewesen, hatte sich aber den zahlreichen komplizierten Problemen – wie der Reform des Justizwesens und den Gesetzen und Kontrollen des Handels – mit solcher Geradlinigkeit gewidmet, daß ihm die Begeisterung des einfachen Bürgers versagt blieb – besonders jener, die sich mit Nostalgie an die Herrschaft Marlenus' erinnerten, dieses Larls von einem Mann, dieses großartigen Kriegers, eitel und egoistisch, mächtig, eingebildet – doch ein Träumer, der sich eine sichere und ungeteilte Welt vorzustellen wagte. Auch ich erinnerte mich gern an Marlenus.
Ich hörte das dreifache Läuten der Schiedsrichterglocke und sah, wie die Tarns Aufstellung nahmen. Erwartungsvolles Rufen wurde laut. Letzte Wetten wurden geschlossen. Die Zuschauer schoben ihre Kissen zurecht.
Acht Tarns flogen dieses Rennen, und mit Häubchen über den Köpfen wurden sie auf niedrigen Fahrzeugen herangerollt. Die Wagen leuchteten in den Farben der Mannschaften. Der Reiter stand auf der Plattform neben seinem Tier, in die Seide- seiner Mannschaft gehüllt.
Bei den Tarns handelte es sich natürlich um Renntarns, Vögel, die sich in mancher Hinsicht von den gewöhnlichen goreanischen Tarns unterscheiden. Die Unterschiede liegen nicht nur im Training, sondern auch in der Körpergröße, in der Flugkraft, im Allgemeinen Körperbau und in den Neigungen des Tiers. Einige Tarns werden wegen ihrer Körperkräfte gezüchtet und sind für den Transport von Waren mit dem Tarnkorb bestimmt. Sie fliegen gewöhnlich langsamer und sind weniger bösartig als die Kriegstarns oder die Renntarns. Die Kriegstarns müssen natürlich sowohl kräftig als auch schnell sein, dazu beweglich, schnell in der Reaktion und furchtlos im Kampf. Kriegstarns, deren Krallen mit messerscharfem Stahl besetzt werden, sind sehr gefährlich, mehr noch als gewöhnliche Tarns, die schon nicht als voll gezähmt angesehen werden können. Der Renntarn ist nun ein sehr leichter Vogel; zwei Männer können ihn anheben; sogar sein Schnabel ist schmaler und leichter als der anderer Tarns; die Spannweite seiner Flügel ist größer, so daß er schneller starten kann und in der Luft außerordentlich wendig ist; das Tier vermag keine großen Lasten zu tragen, der Reiter muß ungewöhnlich klein sein; gewöhnlich ist er von niederer Kaste, kampfwütig und aggressiv.
Den Tarns wurden die Häubchen abgenommen, sogleich sprangen sie mit peitschenden Flügeln auf die vorgesehenen Startstangen. Die Startpositionen werden durch Los bestimmt. Wer dabei die innere Stange zieht, hat einen Vorteil. Ich bemerkte, daß diesmal Grün den inneren Startplatz bekommen hatte. Die Stangen im Start und Ziel sind übrigens dieselben; nur daß beim Ziel die äußere Stange, die beim Start am wenigsten beliebte, zuerst angeschlagen werden muß.
Ich stellte fest, daß zwei Tarns in diesem Rennen nicht einer bestimmten Mannschaft angehörten, sondern Privatbesitz waren; ihre Reiter gehörten ebenfalls nicht zu den etablierten Mannschaften. Der Reiter ist beim Rennen übrigens nicht minder wichtig als der Vogel, denn ein guter Reiter vermag ein junges unerfahrenes Tier oft auf die erste Stange zu führen, während selbst ein erfahrener Vogel, der schon viele Rennen geflogen ist, bei einem schlechten Lenker schnell ins Hintertreffen geraten kann.
»Süßigkeiten!« verkündete eine piepsige Stimme einige Meter unter mir.
»Süßigkeiten!«
Ich wandte den Kopf und entdeckte dort zu meiner Überraschung die unförmige Gestalt von Hup dem Narren. Er hatte mich nicht gesehen, sondern hüpfte im Gang herum, wobei sein großer Kopf hierhin und dorthin wackelte, während seine Zunge dann und wann unkontrolliert hervorschnellte. Seine knochigen Hände umfaßten ein kleines Tablett, das er sich mit einem Strick um den Hals gebunden hatte.
Viele Leute in seiner Nähe wandten sich ab. Die freien Frauen zogen ihre Schleier enger. Einige Männer gaben dem kleinen Narr hastige Zeichen, sich zu entfernen, damit er ihren Frauen das Rennen nicht verderbe. Ich bemerkte, daß ein junges Sklavenmädchen, vielleicht fünfzehn Jahre alt, ein kleines Päckchen Süßigkeiten von ihm kaufte. Ich hätte selbst etwas gekauft, doch ich wollte nicht, daß er mich erkannte, sofern sein kleiner Geist überhaupt in der Lage war, sich an unsere erste Begegnung in der Taverne des Spindius zu erinnern.
Allerdings hatte ich ihm das Leben gerettet.
Hup ließ wahrscheinlich keine Chance aus, auch wenn er die meiste Zeit wohl mit Betteln verbrachte. Ich fragte mich, ob er die goldene Tarnmünze des Portus dazu verwendet hatte, sich eine Lizenz für den Süßigkeitenverkauf zu beschaffen.
»Ich glaube, ich nehme eine Süßigkeit!« rief der Mann hinter mir.
Ich stand auf und wandte mich ab, damit ich von Hup nicht gesehen wurde. Ohne nach rechts oder links zu schauen, ging ich ein paar Schritte weiter.
Ich fand einen Sitz einige Meter entfernt und bemerkte nach einiger Zeit, daß sich Hup in die andere Richtung entfernte.
»Welche ist deine Mannschaft?« fragte der Mann, neben dem ich mich niedergelassen hatte, ein Metallarbeiter.
»Ich bin für die Grünen«, sagte ich, ohne nachzudenken.
»Ich unterstütze die Goldenen«, sagte er. An der Schulter trug er ein goldenes Stoffstück.
Die Schiedsrichterglocke gellte einmal auf, und die Menge begann zu schreien und sprang auf, als sich die Tarns mit schwirrenden Flügeln in die Luft erhoben, kaum daß die weiße Schnur vor ihnen fortgezogen wurde.
Der Grüne, der die innere Stange gezogen hatte, übernahm sofort die Führung.
Eine Runde mißt etwa einen Pasang, so daß die beiden Seiten der Spur je etwa fünfhundert Meter lang sind und in der Breite an den Enden etwa fünfzig Meter erreichen. Die ganze Anlage ähnelt einem schmalen Rechteck mit abgerundeten Enden. Der Flugkurs ist durch zwölf Ringe ausgelegt, die mit Ketten an Stützpfeilern befestigt sind; sechs ›Ringe‹ verteilen sich zu dritt auf jede Längsstrecke; die kleineren runden Ringe befinden sich an den Ecken und je einer auf der Schmalseite der Bahn.
Wenn die Tarns also die Startstangen verlassen, kommen sie zuerst durch drei rechteckige ›Ringe‹, dann zur ersten Wende, wo mit der Biegung drei runde Ringe zu durchfliegen sind; auf der geraden Strecke erreichen sie wieder drei rechteckige ›Ringe‹ und kommen schließlich zur zweiten Wende, wo wiederum drei runde Ringe überwunden werden müssen. Einen solchen Kurs zu fliegen erfordert Geschicklichkeit, besonders beim Herumziehen in den Kurven und beim Passieren der kleinen runden Ringe. Wenn vier Tarns in engster Formation fliegen, zwei übereinander und je einer links und rechts, passen sie eben durch einen runden Ring. Natürlich liegt den Reitern daran, ihre Tiere so zu steuern, daß sie die Mitte des Ringes einnehmen und die nachfolgenden Vögel zwingen, gegen den Ring zu stoßen oder ihn ganz zu verfehlen.
Dieses Rennen war nur kurz, über fünf Pasang, und zum Mißvergnügen des Publikums gewann einer der Tarns, der keiner Mannschaft angehörte.
Ein Mann in meiner Nähe zählte offenbar zu den wenigen Glücklichen, die auf den Sieger gesetzt hatten, denn er hüpfte freudig auf und ab. Er drängte sich durch die Menge und näherte sich den Tischen der Buchmacher.' Ich stellte fest, daß Minus Tentius Hinrabius diesen Augenblick wählte, um die Rennen zu verlassen. Sichtlich irritiert zog er sich zurück, gefolgt von seinen Wächtern, von Saphronicus, dem Führer seiner Garde, und dem übrigen Hofstaat. Zu meiner Überraschung nahm auf den Tribünen kaum jemand Notiz davon.
Es sollten noch mehrere Rennen folgen, doch die Nachmittagssonne war nun hinter dem Zentralzylinder verschwunden; ich wollte nun ebenfalls gehen.
In diesem Augenblick dröhnte die Schiedsrichterglocke zweimal. Das nächste Rennen begann in zehn Ehn.
Ich erhob mich von meinem Sitz und drängte zum Ausgang. Einige Zuschauer sahen mir tadelnd nach. Die Rennbegeisterten Ars bleiben gewöhnlich bis zum letzten Rennen. Zudem trug ich nicht einmal einen Mannschaftsstreifen.
Ich wollte mich ein wenig in den Capacischen Bädern entspannen. Es gab da ein süßes Mädchen namens Nela, das am Becken der Blauen Blumen Dienst tat, mit dem ich gern schwamm. Wenn ich dann ins Haus des Cernus zurückkam, hatte Elizabeth ihr Abendessen zu sich genommen und wartete bereits auf mich, um mir über ihren Tag zu berichten. Wenn sie im Verlauf ihres Trainings das Haus öfter verlassen durfte, wollte ich sie auch mit zu den Rennen nehmen.
Etwa zwanzig Tage waren vergangen, seit die Mädchen aus den Voltai-Bergen gebracht worden waren. Das Training Elizabeths und der beiden anderen Mädchen Virginia und Phyllis hatte vor fünf Tagen begonnen.
Vierzehn Tage waren offenbar als Zeit der Eingewöhnung für die Neuen gedacht. Als die Gruppe schließlich beginnen sollte, begleitete ich Elizabeth zur ersten Stunde ihrer Ausbildung.
Wir wurden in den Raum geführt, in dem die Sklavenkäfige der neuen Mädchen standen. Flaminius und Ho-Tu waren ebenfalls anwesend.
Virginia und Phyllis wurden aus ihren Zellen gelassen. Ihr Verhalten hatte sich spürbar geändert; sie hatten inzwischen auch ihre Brandzeichen bekommen.
Ich hörte eine Frau den Raum betreten. Verblüfft sah ich mich um. Eine Frau in Vergnügungsseide stand auf der Schwelle, eine Erscheinung von bemerkenswerter Schönheit, von der jedoch spürbare Härte und Verachtung ausging. Sie trug einen gelben Sklavenkragen, die Farbe des Hauses Cernus. Um ihren Hals hing eine Sklavenpfeife, und in der rechten Hand hielt sie einen Sklavenstab. Sie hatte helle Haut, doch dunkles Haar und fast schwarze Augen, dazu sehr rote Lippen. Jede Bewegung ihres herrlichen Körpers war eine Freude für die Augen. Sie betrachtete mich mit leichtem Lächeln, registrierte das Schwarz meiner Tunika und das Zeichen des Dolchs.
»Ich bin Sura«, stellte sie sich vor. »Ich lehre die Mädchen, den Männern Vergnügen zu bereiten.«
»Dies sind die drei«, sagte Ho-Tu und hob den Arm.
»Kniet!« sagte Sura auf Goreanisch.
»Kniet nieder«, übersetzte Flaminius.
Die drei Mädchen gehorchten zögernd.
Sura ging um sie herum und musterte Elizabeth. »Du bist das Erste Mädchen der Gruppe?«
»Ja«, sagte Elizabeth.
Suras Finger schaltete den Sklavenstab ein und drehte den Hebel. Die Spitze begann hellgelb zu glühen.
»Ja, Herrin«, sagte Elizabeth.
»Du bist eine Barbarin?«
»Ja, Herrin.«
»Alle drei sind Barbarinnen«, sagte Ho-Tu.
Sura fuhr herum und musterte ihn angewidert. »Wie stellt sich Cernus das vor? Wie soll ich Barbarinnen ausbilden?«
Ho-Tu zuckte die Achseln.
»Tu, was du kannst«, sagte Flaminius. »Sie sind intelligent und haben Talent.«
»Du hast doch keine Ahnung«, erwiderte Sura.
Flaminius senkte wütend den Blick.
Sura trat vor die Mädchen hin, hob Virginias Kopf, blickte Ihr in die Augen und sagte: »Ihr Gesicht ist zu mager und sie hat Striemen. Und die hier« – sie deutete auf Elizabeth –, »war eine Tuchuk. Sie weiß bestimmt nur, wie man Bosks versorgt und Leder gerbt.«
Elizabeth enthielt sich klugerweise eines Kommentars.
»Und diese hier hat zwar den richtigen Körper für eine Sklavin – aber wie bewegt sie sich? Diese Mädchen können ja nicht einmal richtig stehen oder gehen!«
»Tu was du kannst«, wiederholte Flaminius.
»Hoffnungslos«, sagte Sura. »Aber wir müssen es wohl Versuchen.« Sie wandte sich an Ho-Tu. »Das Tuchukmädchen wohnt bei dem Attentäter.
Dagegen habe ich nichts. Die anderen sollen in die Zellen der Roten Seide gebracht werden.«
»Aber sie sind von Weißer Seide«, wandte Ho-Tu ein.
Sura lachte. »Na gut – also in die Zellen der Weißen Seide. Ernährt sie gut. Sie sind ja fast ganz vom Fleisch. Wie ich verkrüppelte Barbarinnen ausbilden soll, ist mir noch nicht klar.«
»Du wirst es sicher schaffen«, sagte Flaminius überzeugt.
Sura starrte ihn mürrisch an, und der Arzt senkte den Blick.
»In den ersten Wochen brauche ich auch jemand, der ihre Sprache versteht. Außerdem müssen sie in ihrer Freizeit das Goreanische lernen, und zwar schnell.«
»Ich lasse jemanden holen, der ihre Sprache spricht«, sagte Flaminius.
»Auch sorge ich für ihren Unterricht.«
»Übersetze für mich«, sagte Sura zu Flaminius. Dann begann sie in kurzen Sätzen zu sprechen, wobei sie Pausen ließ, damit Flaminius übersetzen konnte.
»Ich bin Sura«, erklärte sie. »Ich bilde euch aus. In den Stunden der Ausbildung seit ihr meine Sklaven. Ihr werdet tun, was ich sage. Ihr werdet arbeiten und lernen. Ihr werdet mir zu Gefallen sein. Ich werde euch ausbilden. Ihr werdet arbeiten und lernen.«
Dann hob sie den Kopf. »Fürchtet mich«, sagte sie, und Flaminius übersetzte.
Ohne ein weiteres Wort schaltete sie nun den Sklavenstab ein und drehte den Hebel herum. Die Spitze des Stabes begann zu glühen, und sie versetzte den drei knienden Mädchen einen überraschenden Hieb.
Nach dem heftigen Funkenregen und den Schmerzensschreien der Mädchen zu urteilen war die Ladung ziemlich hoch. Immer wieder schlug Sura zu, und die Sklavinnen schienen sich vor Schmerz gar nicht mehr bewegen zu können. Sogar Elizabeth schien von dem Angriff überrascht. Schließlich schaltete Sura den Stab ab. Die drei Mädchen starrten sie angstvoll an, auch die stolze Vella. In ihren Augen stand die nackte Angst.
»Fürchtet mich«, wiederholte Sura leise. Flaminius übersetzte ihre Worte. Dann wandte sich Sura an ihn. »Laß sie zur sechsten Ahn in meinen Trainingsraum schicken«, sagte sie, machte kehrt und verließ den Raum.
Langsam ging ich den breiten Tribünengang hinab. Nur wenige gingen so früh, und ich begegnete sogar einigen Nachzüglern, die jetzt erst eintrafen. In einer Ecke sah ich eine kleine Gruppe junger Männer, die mit Würfeln aus Verrknochen spielten.
Unter den schrägen Tribünen herrschte ein weitaus bunteres Leben. Hier formten kleine Verkaufsstände eine Art Arkadendurchgang, in dem verschiedene Waren zum Verkauf standen, meistens billige und wenig ansprechende Dinge. Ich sah schlecht gewobene Teppiche, Amulette und Talismane, geknotete Papierketten – Papiere mit Segnungen von Priesterkönigen –, die man als Glücksbringer bei sich tragen konnte; dann zahlreiche Glas und Metallschmuckstücke, Perlen der Vosk- Sorp, polierte Muschelbroschen, Nadeln mit geschnitzten Köpfen aus den Spießen des Kailiauk-Dreihorns, Sleenzähne, die angeblich Glück bringen sollten, Stapel mit Roben, Schleier und Tuniken der verschiedensten Kastenfarben, billige Messer und Gürtel und Beutel, Fläschchen mit Parfüms, denen unglaubliche Dinge nachgesagt wurden, kleine Tonfiguren, Nachbildungen des Stadions und der Renntarns. Ich erblickte auch einen Stand, an dem billige und schlecht genähte Sandalen verkauft wurden, die nach Angaben des Verkäufers von der gleichen Art waren, wie Menicius aus Port Kar sie trug. Dieser Mann, der für die Gelben ritt, hatte nämlich vorhin eins der Rennen gewonnen. Er beanspruchte über sechstausend Siege und galt in Ar und gewissen anderen Städten des Nordens als Volksheld; im Privatleben sollte er allerdings grausam, rücksichtslos und eitel sein, doch wenn er in den Sattel eines Renntarns stieg, konnten sich nur wenige seiner Wirkung verschließen; es hieß, daß keiner so reiten könne wie Menicius aus Port Kar. Die Sandalen, so stellte ich fest, fanden guten Absatz.
Zweimal kamen Männer auf mich zu, die kleine Schriftrollen verkaufen wollten, angeblich mit wichtigen Informationen über bevorstehende Rennen über die Tarns, ihre Reiter, die Zeiten, die sie bei früheren Rennen erreicht hatten, und so weiter; ich war der Meinung, daß ich mir die gleichen Angaben billiger und zuverlässiger von den großen Anschlagtafeln beschaffen konnte; es wurde indessen immer wieder behauptet, daß solche Männer über wichtige Informationen verfügen, zu denen die Öffentlichkeit keinen Zugang hat.
Als ich den Haupttorbogen des Stadions durchschritt und auf die breite Straße trat, die Straße der Tarns, hörte ich eine Stimme hinter mir: »Vielleicht haben dir die Rennen nicht gefallen?«
Es war die Stimme des Mannes, der hinter mir gesessen hatte, ehe ich fortgegangen war, um von dem kleinen Hup nicht erkannt zu werden.
Der Mann, der sich abfällig über den Hinrabier auf dem Throne Ars geäußert und dem kleinen Narren etwas abgekauft hatte.
Seine Stimme kam mir seltsam vertraut vor.
Ich drehte mich um.
Glattrasiert, das massive, königliche Gesicht von der Kapuze eines Bauern gerahmt, der riesige Körper in der schlichten Tunika der niedrigsten Kaste Gors – so stand mir ein Mann gegenüber, in dessen Identität ich mich einfach nicht irren konnte, obwohl ich ihn jahrelang nicht gesehen hatte, obwohl sein mächtiger Bart nun abrasiert war. In der Rechten trug er einen schweren Bauernstab, fast zwei Meter lang.
Der Mann lächelte mich an und wandte sich ab.
Ich hob die Hand und begann ihm nachzugehen, doch im Nächsten Augenblick stolperte ich über den kleinen Hup und verschüttete seine Süßigkeiten. »Oh! Oh!« rief der Narr betrübt, krabbelte auf dem Boden herum und klaubte seine Waren wieder zusammen. Ärgerlich stieg ich über den Zwerg hinweg, doch schon drängten sich andere zwischen mich und den großen Mann in der Bauerntunika, und im nächsten Moment war er verschwunden. Ich lief ihm nach, vermochte ihn in der Menge jedoch nicht zu finden.
Hup hüpfte mir entrüstet nach und zupfte an meinem Umhang. »Zahlen!
Zahlen!« wimmerte er.
Ich beugte mich zu ihm hinab und sah in seinen weitaufgerissenen, ungleichen Augen keinerlei Erkennen aufdämmern. Sein armseliger Geist vermochte sich nicht mehr an das Gesicht des Mannes zu erinnern, der ihm einmal das Leben gerettet hatte. Ich gab ihm ein silbernes Vierziger-Stück, weitaus mehr, als alle seine Süßigkeiten wert waren, und eilte weiter. »Danke, Herr!« kreischte der Narr ir nach und hüpfte hin und her. »Danke, Herr!«
Meine Gedanken überstürzten sich. Was mochte es bedeuten, fragte ich mich, daß er sich in Ar aufhielt? Ein Irrtum war ausgeschlossen. Der Mann in der Tunika eines Bauern, der Mann mit dem großen Stab war eindeutig – Marlenus, der frühere Ubar der Stadt.