24. Kapitel

»Bestürzt und entsetzt begriffen wir, daß wir nichts weiter tun konnten.«

Probst Howard


Im Labor • Eine längst fällige Ankunft • Ein Brief an den Herausgeber • Im Turm • Ich versuche herauszufinden, wo im Raumzeitgefüge ich mich befinde • In der Kathedrale • Ich handle, ohne nachzudenken • Zigarren • Ein Drache • Eine Prozession • In der Polizeiwache • In einem Bunker • Fisch • Verity wird schließlich gefunden • »Unsere schöne, schöne Kathedrale« • Eine Antwort


Und hoffentlich 2057 und nicht 2018. Ich schaute hoch. Gott sei Dank. Miss Warder beugte sich über mich und streckte die Hand aus, um mir aufzuhelfen. Als sie merkte, daß ich es war, richtete sie sich auf und blaffte, die Hände in die Hüften gestemmt: »Was machen Sie denn hier?«

»Was ich hier mache?« Ich erhob mich mühsam. »Was, um alles in der Welt, machte ich in 1395? Was machte ich bei Blackwell’s in 1933? Ich suche Verity.«

»Raus aus dem Netz«, kommandierte sie, bereits auf dem Weg zur Konsole zurück, wo sie wieder zu tippen anfing. Die Schleier begannen sich zu heben.

»Finden Sie heraus, wo Verity ist«, sagte ich und folgte ihr. »Sie sprang gestern, und irgend etwas ging schief. Sie…«

Miss Warder machte eine Geste, daß ich schweigen solle. »Elfter Dezember«, sagte sie ins Konsolenmikrofon. »Zwei Uhr nachmittags.«

»Sie haben mich nicht verstanden«, sagte ich. »Verity ist verschwunden. Mit dem Netz stimmt was nicht.«

»Moment noch.« Miss Warder starrte auf den Bildschirm. »Sechs Uhr nachmittags. Zehn Uhr abends. Carruthers steckt in Coventry fest«, erklärte sie, die Augen fest auf den Schirm geheftet. »Ich versuche…«

»Verity steckt vielleicht in einem Kerker. Oder mitten in der Schlacht von Hastings. Oder im Zoo. In einem Löwenkäfig.« Ich schlug mit der Faust auf die Konsole. »Finden Sie heraus, wo sie sich befindet.«

»Eine Sekunde noch«, sagte sie. »Zwölfter Dezember. Zwei Uhr nachts. Sechs Uhr morgens…«

»Nein!« Ich riß ihr das Mikrofon weg. »Jetzt gleich!«

Dunworthy und T. J. betraten den Raum, besorgt über einen Handcomputer gebeugt. »Ein Gebiet mit erhöhtem Schlupfverlust«, sagte T. J. gerade. »Sehen Sie, hier ist…«

»Geben Sie mir das Mikrofon zurück«, schimpfte Miss Warder, und Dunworthy und T. J. schauten hoch.

»Ned!« sagte Dunworthy und kam auf mich zu. »Wie lief’s in Coventry?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte ich.

Miss Warder schnappte sich wieder das Mikrofon, um es weiter mit Zeitangaben zu füttern.

»Kein Mr. C, kein lebensentscheidendes Ereignis«, sagte ich. »Verity wollte es Ihnen berichten, aber sie landete woanders. Sagen Sie Miss Warder, daß Sie sie suchen soll.«

»Ich habe gerade die Beschleunigung eingestellt«, sagte Miss Warder.

»Es ist mir egal, was Sie gerade eingestellt haben«, entgegnete ich. »Das kann warten. Kümmern Sie sich sofort darum, wo Verity steckt.«

»Ein Moment noch, Ned.« Dunworthy nahm beruhigend meinen Arm. »Wir versuchen, Carruthers zurückzuholen.«

»Carruthers kann warten!« sagte ich. »Schließlich wissen Sie, wo er ist. Verity kann überall und nirgends sein!«

»Sagen Sie mir, was passiert ist«, bat Dunworthy, immer noch ganz ruhig.

»Das Netz ist am Zusammenbrechen«, erklärte ich. »Das ist’s, was passiert ist. Verity sprang durch, um Ihnen zu sagen, daß wir in Coventry keinen Erfolg gehabt haben, und kaum war sie weg, kam Finch durch und sagte, sie sei im Labor nicht angekommen. Also versuchte ich es und landete in 2018 und dann 1933 bei Blackwell’s. Schließlich endete ich im…«

»Sie waren in 2018? Im Labor?« Dunworthy schaute T. J. an. »Das ist genau das Gebiet mit dem erhöhten Schlupfverlust. Was haben Sie dort gesehen, Ned?«

»…im Turm der Kathedrale von Coventry. Im Jahre 1395.«

»Zielort verfehlt«, sagte T. J. bestürzt.

»Zwei Uhr mittags. Sechs Uhr abends«, murmelte Miss Warder, den Blick konzentriert auf den Schirm gerichtet.

»Das Netz ist am Zusammenbrechen«, sagte ich, »und Verity ist irgendwo dort draußen. Wir brauchen eine Fixierung auf sie und…«

»Miss Warder«, sagte Dunworthy. »Stoppen Sie die Beschleunigung. Wir brauchen…«

»Moment! Ich habe was gefunden!«

»Jetzt gleich«, sagte Dunworthy. »Ich brauche eine Fixierung auf Miss Kindle.«

»Eine Sekun…«

Und Carruthers erschien im Netz.

Er trug dieselbe Kleidung wie letztes Mal, als ich ihn gesehen hatte, seine Hilfsfeuerwehruniform und den falschen Helm, bloß war sie diesmal nicht mit Ruß bedeckt. »Na, das wurde aber auch Zeit!« sagte er und nahm den Helm ab.

Miss Warder rannte zum Netz hinüber, riß die Schleier auseinander und warf die Arme um seinen Nacken. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht!« rief sie. »Geht’s dir gut?«

»Ich wäre beinahe verhaftet worden, weil ich keinen Ausweis hatte«, erwiderte Carruthers etwas zurückweichend. »Und um Haaresbreite hätte mich ein Spätzünder erwischt, aber sonst geht’s mir gut.« Er entwand sich Miss Warders Armen. »Ich glaubte schon, das Netz arbeite nicht mehr und ich müsse den ganzen verdammten Krieg lang dort bleiben. Wo, um alles in der Welt, wart ihr?«

»Dabei, dich rauszuholen«, erwiderte Miss Warder und strahlte ihn an. »Wir dachten auch, mit dem Netz sei etwas nicht in Ordnung. Dann kam ich auf die Idee, eine Beschleunigung laufen zu lassen, um damit die Blockade, oder was es auch war, zu umgehen.« Sie hakte sich bei ihm ein. »Bist du sicher, daß alles in Ordnung ist? Brauchst du irgendwas?«

»Ich bräuchte von Ihnen Verity«, mischte ich mich ein. »Und zwar jetzt! Geben Sie eine Fixierung auf sie ein. Sofort!«

Dunworthy nickte.

»Schon gut!« sagte Miss Warder giftig und stapfte zur Konsole hinüber.

»Sie hatten doch keine Probleme beim Sprung, oder?« fragte T. J. Carruthers.

»Abgesehen davon, daß sich das Netz drei Wochen lang nicht öffnete, nein«, entgegnete dieser.

»Ich meine mit dem Ziel. Kamen Sie zuerst woanders an, bevor Sie hier landeten?«

Carruthers schüttelte den Kopf.

»Haben Sie irgendeine Vermutung, warum sich das Netz nicht öffnete?«

»Nein«, sagte Carruthers. »Ein Spätzünder ging etwa hundert Meter neben dem Absetzort hoch. Ich dachte, es hätte vielleicht damit zu tun.«

Ich ging zur Konsole. »Schon irgend etwas rausbekommen?«

»Nein«, sagte Miss Warder. »Und hängen Sie nicht über mir wie ein Geier. Ich muß mich konzentrieren.«

Ich kehrte zu Carruthers zurück, der sich vor T. J.’s Simulationscomputer gesetzt hatte und gerade seine Stiefel auszog.

»Etwas Gutes hatte die Sache jedenfalls«, meinte er und zog einen unglaublich schmutzigen Socken aus. »Ich kann Lady Schrapnell definitiv berichten, daß sich des Bischofs Vogeltränke nicht in den Trümmern befindet. Wir haben jeden Zentimeter der Kathedrale abgesucht und sie nicht gefunden. Aber sie war während des Angriffs dort. Die Vorsitzende des Blumenausschusses, so eine schreckliche alte Jungfer namens Sharpe — Sie wissen schon, graues Haar, lange Nase, hart wie Stahl — sah das Ding um fünf Uhr an jenem Nachmittag. Sie war auf dem Heimweg von einem Treffen des Adventsbasars zugunsten des Komitees ›Päckchen-für-unsere-Soldaten‹ und sie bemerkte, daß ein paar der Chrysanthemen welk geworden waren. Also blieb sie stehen und entfernte sie.«

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, damit beschäftigt, Miss Warder zu beobachten, die auf die Tastatur schlug, den Schirm anstarrte, sich nachdenklich zurücklehnte, wieder die Tastatur bearbeitete. Sie hat keine Ahnung, wo Verity sein könnte, dachte ich.

»Sie nehmen also an, daß die Vogeltränke den Flammen zum Opfer fiel?« fragte Dunworthy.

»Ich ja«, sagte Carruthers, »und jeder andere auch, ausgenommen Miss Sharpe, diese fürchterliche Harpyie. Sie behauptet felsenfest, sie sei gestohlen worden.«

»Während des Angriffs?« fragte Dunworthy.

»Nein. Sie sagt, sobald der Alarm losging, sei sie zurückgekommen, um Wache zu stehen, also muß das Ding nach fünf und vor acht Uhr entwendet worden sein und wer immer es auch genommen hat, muß gewußt haben, daß in jener Nacht ein Angriff erfolgen würde.«

Auf dem Schirm tauchten rasch hintereinander Zahlenkolonnen auf. Miss Warder beugte sich vor, ihre Finger huschten über die Tasten.

»Haben Sie die Fixierung?« fragte ich.

»Ich bin dabei«, sagte sie gereizt.

»Miss Sharpe war geradezu besessen von ihrem Verdacht«, fuhr Carruthers fort, streifte den zweiten Socken ab und stopfte ihn in den Stiefel. »Befragte jeden, der sich während des Angriffs in oder in der Nähe der Kathedrale aufgehalten hatte, beschuldigte den Schwager des Kirchendieners, schrieb sogar einen Brief an den Herausgeber der Örtlichen Zeitung. Sie machte jeden damit fix und fertig. Ich brauchte mich überhaupt nicht zu bemühen, sie erledigte alles für mich. Falls jemand des Bischofs Vogeltränke gestohlen haben sollte — Sie können sicher sein, Miss Sharpe hätte den Dieb gefunden.«

»Ich hab’s«, sagte Miss Warder. »Verity ist in Coventry.«

»Coventry?« fragte ich. »Wann?«

»Vierzehnter November 1940.«

»Wo?«

Sie tippte und die Koordinaten erschienen auf dem Bildschirm.

»Das ist die Kathedrale«, sagte ich. »Welche Uhrzeit?«

Wieder tippte sie. »Fünf Minuten nach acht Uhr abends.«

»Der Angriff.« Ich ging aufs Netz zu. »Schicken Sie mich durch.«

»Wenn das Netz nicht funktioniert…« sagte T. J.

»Schicken Sie ihn durch«, sagte Dunworthy.

»Das haben wir doch schon probiert, oder?« fragte Carruthers. »Niemand kam an diesen Ort heran, du auch nicht, Ned. Wieso denkst du, daß…«

»Gib mir deinen Overall und den Helm«, sagte ich.

Er schaute zu Dunworthy und machte sich daran, seine Sachen auszuziehen.

»Was hatte Verity an?« wollte Dunworthy wissen.

Carruthers reichte mir den Overall, und ich zog ihn über den Tweedanzug. »Ein langes hochgeschlossenes Kleid«, sagte ich und bemerkte im selben Moment, daß ich vorher einer irrigen Annahme erlegen war. Ihre Kleider würden inmitten eines Luftangriffs keine Inkonsequenz erzeugen. Keiner würde sie überhaupt bemerken. Und wenn ja, würde man denken, sie trüge ein Nachthemd.

»Hier, nehmen Sie das«, sagte T. J. und reichte mir einen Regenmantel.

»Ich brauche ein fünfminütiges Intermittent.« Ich nahm den Regenmantel und trat ins Netz. Miss Warder senkte die Schleier.

»Falls du auf dem Gemüsekürbisfeld landest«, rief Carruthers, »die Scheune liegt westlich.«

Das Netz begann zu schimmern.

»Achte auf die Hunde«, sagte Carruthers. »Und die Bauersfrau…«

Und ich fand mich genau dort wieder, wo ich hergekommen war. In der gleichen pechschwarzen Finsternis. Das hieß, ich war in der darauffolgenden Nacht gelandet oder in einer von Tausenden oder Hunderttausenden von Nächten, während die Kathedrale sich ihren Weg durchs Mittelalter bahnte. Und in der Zwischenzeit steckte Verity mitten in einem Luftangriff. Und alles, was ich tun konnte, war stehenzubleiben und darauf zu warten, daß sich das verdammte Netz wieder öffnete.

»Nein!« Ich schlug mit der Faust gegen den rauhen Stein. Und die Welt um mich herum explodierte.

Wamm! machte es, krachte laut, und im Osten ratterte Flakfeuer los. Die Dunkelheit flammte weißblau auf und dann in erlöschendem Rot, und ich roch beißenden Rauch.

»Verity!« schrie ich und hetzte die Stufen zum Glockenturm hinauf, wobei ich diesmal nicht vergaß zu zählen. Um mich herum war genügend orangefarbenes Licht, damit ich etwas sah. Auch hier hing Rauchgeruch in der Luft.

Ich erreichte die Plattform des Glockenturms. »Verity!« schrie ich die Treppe hoch. »Bist du dort oben?« Tauben, ohne Zweifel Nachfahren derjenigen, die ich vor sechshundert Jahren aufgestört hatte, flogen wild mit den Flügeln schlagend vom Turm herunter und mir ins Gesicht.

Sie war nicht dort oben. Rufend rannte ich die Stufen wieder hinab, bis ich die Stelle erreicht hatte, wo ich durchgekommen war. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, zählte ich von dort ab. »Verity!« Meine Stimme versuchte, das Dröhnen der Flugzeuge und das Heulen der Luftschutzsirene, die verspätet und nutzlos eingesetzt hatte, zu übertönen.

Dreiundfünfzig, vierundfünfzig, zählte ich. »Verity! Wo bist du?«

Ich erreichte die letzte Stufe. Achtundfünfzig. Vergiß das bloß nicht, dachte ich und stieß die Turmtür auf. Ich befand mich in der westlichen Vorhalle. Hier roch es stärker nach Rauch, mit einem würzigen scharfen Beigeschmack wie Zigarrenqualm.

»Verity!« rief ich. Ich öffnete die schwere innere Tür des Turms. Und befand mich im Kirchenschiff.

Die Kirche war dunkel, bis auf das Ewige Licht beim Kruzifix und einen roten Schein hinter den Fenstern der Lichtgaden. Ich versuchte, die Zeit zu bestimmen. Ein Großteil der Explosionen schien drüben im Norden erfolgt zu sein, und von dort hörte man auch Sirenengeheul. Dichter Rauch stieg neben der Orgel auf, aber in der Girdlerschen Kapelle brannte es nicht, die doch frühzeitig getroffen worden war. Also konnte es nicht später als halb neun sein und Verity nicht länger hier als ein paar Minuten.

»Verity!« rief ich, und meine Stimme hallte in der dunklen Kirche wider.

Die Mercersche Kapelle war bei der ersten Serie Brandbomben getroffen worden. Ich ging den Mittelgang zum Chor hoch. Warum hatte ich bloß keine Taschenlampe mitgebracht?

Das Flakfeuer brach ab, nur um sofort wieder mit vermehrter Stärke einzusetzen, und das Brummen der Flugzeuge wurde lauter. Man hörte die dumpfen Einschläge der Bomben genau östlich, und greller Feuerschein erhellte die Fenster. Die Hälfte von ihnen, bei denen das Buntglas entfernt und in Sicherheit gebracht worden war, war mit Verdunklungspapier abgedeckt oder mit Brettern vernagelt, aber drei der Fenster im nördlichen Teil der Kirche waren noch in ihrem ursprünglichen Zustand, und der grünliche Schein, der durch sie fiel, erleuchtete für einen Moment die Kirche mit einem morbiden Rötlichblau. Verity war nirgends zu sehen. Wo mochte sie hingegangen sein? Ich hätte angenommen, daß sie dicht beim Netz bleiben würde, aber vielleicht hatte sie der Angriff so in Schrecken versetzt, daß sie irgendwo Schutz gesucht hatte. Doch wo?

Das Dröhnen der Flugzeuge wurde zum wütenden Röhren. »Verity!« schrie ich durch das Getöse. Auf dem Dach hörte man Getrappel, wie Hagelschauer, dann ein Klopfen und erstickte Rufe. Die Brandwache, die oben auf dem Dach Brandbomben löschte. Hatte Verity sie gehört und sich irgendwo versteckt, damit man sie nicht sah?

Über mir krachte es. Ein scharfes Zischen folgte, und ich schaute hoch, glücklicherweise, denn dadurch entging ich dem Schicksal, von einer Brandbombe getroffen zu werden. Sie fiel auf eine der Kirchenbänke, zischend und bronzene Funken auf das Holz sprühend. Ich schnappte ein Gesangbuch vom Rückenteil der nächsten Bank und schleuderte damit die Bombe auf den Boden. Sie rollte in den Gang, an die Bank auf der gegenüberliegenden Seite.

Ich kickte sie fort, aber das Holz qualmte bereits. Die Bombe spuckte und sprühte, wand sich wie ein Lebewesen. Sie traf auf die Balustrade vor dem Altar und loderte feurigweiß auf.

Eine Handpumpe, dachte ich und schaute mich aufgeregt um, aber man hatte offenbar alle aufs Dach geschafft. In der Südtür hing ein Eimer. Ich rannte zurück, schnappte ihn mir und hoffte, daß Sand darin war. Ich hatte Glück. Wieder bei der Balustrade, kippte ich den Sand auf die Bombe und das bereits brennende Geländer, dann trat ich zurück und wartete, ob sie weiter Feuer spie.

Ich hatte wieder Glück. Mit dem Fuß kickte ich die Bombe in die Mitte des Hauptgangs und vergewisserte mich, daß das Feuer an der Balustrade gelöscht war. Den Sandeimer hatte ich fallenlassen, und er war unter eine der Bänke gerollt, wo ihn morgen der Kirchendiener finden und in Tränen ausbrechen würde.

Ich stand da und schaute ihn an. Was hatte ich getan? Ich hatte ohne nachzudenken gehandelt, genau wie Verity, als sie der Katze hinterher ins Wasser watete. Aber hier gab es keine Chance, den Lauf der Geschichte zu verändern. Die Luftwaffe war gerade dabei, alle möglichen Inkonsequenzen zu korrigieren.

Ich schaute hoch zu der Mercerschen Kapelle. Flammen züngelten bereits durch ihre geschnitzte Holzdecke, und kein noch so großes Aufgebot an Sandeimern würde sie ersticken können. In zwei Stunden würde die ganze Kathedrale in Flammen stehen.

Draußen vor der Girdlerschen Kapelle hörte man einen dumpfen Laut, als dort etwas aufschlug, was für einen Moment die Kapelle erhellte. In dem Augenblick, bevor das Licht wieder erlosch, konnte ich das Holzkreuz aus dem fünfzehnten Jahrhundert erkennen, zu dessen Füßen die geschnitzte Figur eines Kindes kniete. In einer halben Stunde würde Probst Howard es sehen, hinter einer Feuerwand, und der gesamte östliche Teil der Kathedrale würde lichterloh brennen.

»Verity!« rief ich, und meine Stimme hallte durch die sich wieder verdunkelnde Kirche. »Verity!«

»Ned!«

Ich wirbelte herum. »Verity!« schrie ich und hastete den Hauptgang hinunter. Am Ende des Kirchenschiffs hielt ich schlitternd an. »Verity?« Ich blieb lauschend stehen.

»Ned!«

Die Stimme kam von draußen. Das Südportal… Ich rannte quer durch die Bänke, über die Einfassungen stolpernd, und aus dem Portal heraus.

Draußen hatte sich eine Gruppe Menschen versammelt, die beklommen zum Dach hochschaute. An einem Laternenpfahl lehnten, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben, zwei flegelhaft aussehende Halbwüchsige und diskutierten über ein Feuer im Westen. »Riecht wie Zigarrenqualm«, sagte der größere der beiden, so gelassen, als sprächen sie übers Wetter. »Komisch.«

»Der Tabakladen an der Ecke Broadgate«, erwiderte der kleinere. »Wären wir bloß hin und hätten uns ein paar von den Zigarren untern Nagel gerissen, bevor der Laden futsch ist.«

»Haben Sie ein Mädchen aus der Kirche herauskommen sehen?« fragte ich den Nächststehenden, eine Frau mittleren Alters mit einem Taschentuch.

»Sie wird doch kein Feuer fangen, oder?« fragte sie.

O doch, dachte ich. »Die Brandwache ist oben«, erwiderte ich. »Haben Sie ein Mädchen aus der Kirche rausrennen sehen?«

»Nein«, sagte sie, ihren Blick sofort wieder zum Dach hoch wendend.

Ich rannte die Bayley Lane hinunter und dann wieder zurück, an der Seite der Kirche entlang, aber Verity war nirgends zu sehen. Sie mußte aus einer der anderen Türen gekommen sein. Nicht aus der Sakristei. Dort ging die Brandwache ein und aus. Das Westportal.

Ich rannte um die Kirche herum. Vor dem Westportal stand ebenfalls eine Gruppe Menschen, in der Vorhalle zusammengedrängt, eine Frau mit drei kleinen Mädchen, ein alter, in eine Decke gehüllter Mann, ein Mädchen in einer Dienstmädchenuniform. Eine grauhaarige Frau mit einer scharfen Nase und einer WAS-Armbinde stand vorm Portal, die Arme verschränkt.

»Haben Sie irgend jemanden in den letzten Minuten aus der Kirche kommen sehen?« fragte ich sie.

»In die Kirche darf niemand außer der Brandwache hinein«, erwiderte die Frau anschuldigend, und ihre Stimme erinnerte mich ebenfalls an jemanden, aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, an wen.

»Sie hat rote Haare«, sagte ich. »Sie trägt ein langes weißes… sie trägt ein Nachthemd.«

»Ein Nachthemd?« fragte die Frau mißfällig.

Ein untersetzter Luftschutzhelfer kam herbei. »Ich habe den Befehl, dieses Gebiet hier zu räumen«, sagte er. »Sämtliche Zufahrten zur Kathedrale müssen für die Feuerwehr frei sein. Beeilen Sie sich bitte.«

Die Frau mit den drei kleinen Mädchen hob das kleinste auf und verließ die Vorhalle. Der alte Mann schlurfte hinter ihr her.

»Kommen Sie«, sagte der Luftschutzhelfer zu dem Dienstmädchen, das vor Furcht paralysiert schien. »Sie auch, Miss Sharpe.« Er winkte der grauhaarigen Frau.

»Ich habe nicht vor, irgendwo anders hinzugehen«, sagte sie, ihre Arme noch energischer verschränkend. »Ich bin die Vizevorsitzende der Frauengemeinschaft der Kathedrale und Vorsitzende des Blumenausschusses.«

»Es ist mir egal, wer Sie sind«, sagte der Mann. »Ich habe den Befehl, diese Türen für die Feuerwehr freizumachen. Ich habe bereits das Südportal freibekommen, und nun sind Sie dran.«

»Haben Sie eine junge Frau mit rotem Haar gesehen?« unterbrach ich ihn.

»Mein Auftrag ist es, dieses Portal gegen Plünderer zu verteidigen«, sagte die Frau und richtete sich zu voller Lebensgröße auf. »Ich stehe hier, seitdem der Angriff begann, und ich beabsichtige, die ganze Nacht hier zu stehen, falls es nötig ist, um die Kathedrale zu schützen.«

»Und ich beabsichtige, die Türen freizumachen«, entgegnete der Luftschutzhelfer und richtete sich auf.

Ich hatte keine Zeit für so was, also trat ich zwischen die beiden. »Ich suche ein Mädchen«, sagte ich und richtete mich auf. »Rotes Haar. Weißes Nachthemd.«

»Fragen Sie auf der Polizeiwache«, sagte der Mann. Er deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war. »Unten auf der St. Mary’s Street.«

Ich machte mich im Laufschritt auf, überlegend, wer von den beiden wohl gewinnen würde. Ich persönlich setzte auf die Vorsitzende des Blumenausschusses. An wen erinnerte sie mich? Mary Botoner? Lady Schrapnell? Eine der pelztragenden Damen bei Blackwell’s?

Der Luftschutzhelfer hatte beim Räumen des Südportals keine gute Arbeit geleistet. Die selbe Gruppe Menschen wie vorhin stand davor, und die beiden Halbwüchsigen hielten immer noch den Laternenpfahl besetzt. Ich eilte weiter, die Südseite der Kathedrale entlang zu Bayley Lane und direkt in die Prozession hinein.

Ich hatte darüber gelesen, was der Polizeisergeant als »feierliche kleine Prozession« beschrieben hatte, als die Brandwache die Schätze, derer sie noch habhaft werden konnte, zusammengerafft und zur Polizeiwache hinübergeschafft hatte. Vor meinem inneren Auge hatte ich sie mir vorgestellt — eine ordentliche Parade mit Probst Howard an der Spitze, die Fahne des Warwickshire-Regiments schwenkend, dann die übrigen, die die Kerzenständer, den Abendmahlskelch und den Behälter mit den Hostien trugen, alle in gemessenem Schritt, das hölzerne Kruzifix am Ende — und deshalb erkannte ich zuerst gar nicht, was ich vor mir hatte.

Denn es war keine Prozession, es war ein Haufen, eine Rotte, Napoleons Alte Garde, die verzweifelt versuchte, was sie konnte, aus Waterloo zu retten. Sie stolperten die Straße im Laufschritt hinunter, der Kanoniker mit einem Kerzenleuchter unter jedem Arm, beladen mit Talaren, ein halbwüchsiger Junge, der einen Abendmahlskelch und eine Handpumpe umkrampfte, als ginge es ums liebe Leben, der Probst, der die Fahne wie eine Lanze vor sich her trug und beinahe über den wehenden Stoff stolperte.

Ich blieb stehen, schaute ihnen zu, als wären sie trotz allem eine Parade, und vergewisserte mich genau, ob eine von Veritys Möglichkeiten zutraf. Nein — keiner von ihnen trug des Bischofs Vogeltränke.

Sie stürmten in die Polizeiwache, wo sie ihre Schätze offenbar ohne jede Zeremonie hinschmissen, denn in Nullkommanichts waren sie wieder draußen und rannten zur Sakristeitür zurück.

Ein Mann mit beginnender Glatze, der einen blauen Overall trug, kam ihnen auf halbem Weg die Treppe hinunter entgegen. »Laßt es sein. Zuviel Rauch schon überall.«

»Ich muß die Evangelien und die Episteln holen!« Probst Howard schob ihn beiseite und verschwand im Innern der Kirche.

»Wo, zum Teufel, bleibt die Feuerwehr?« fragte der Junge.

»Die Feuerwehr?« Der Kanoniker blickte zum Himmel hoch. »Wo, zum Teufel, bleibt die Royal Air Force?«

Der Junge rannte die St. Mary’s Street hinunter zur Polizeiwache, um ihnen zu sagen, daß sie die Feuerwache benachrichtigen sollten, und ich folgte ihm.

Die geretteten Schätze waren rührend in einer Linie auf dem Schreibtisch des Sergeanten aufgebaut, die Regimentsfahnen dahinter an die Wand gestellt. Während der Junge dem Sergeant sagte, daß er die Feuerwehr noch mal anrufen solle, denn das ganze Dach des hohen Chores stehe in Flammen, schaute ich mir die Schätze an. Die Kerzenleuchter, das hölzerne Kruzifix. Ebenso ein kleiner Stapel abgeschabter Gebetsbücher, die nicht auf der Liste aufgetaucht waren, ein Bündel Umschläge für Opfergaben und das Gewand eines Chorknaben. Ich fragte mich, wie viele andere Dinge Probst Howard in seiner Liste noch vergessen hatte. Doch des Bischofs Vogeltränke befand sich nicht darunter.

Der Junge schoß hinaus, und der Sergeant nahm den Telefonhörer. »Haben Sie eine junge rothaarige Frau gesehen?« fragte ich, bevor er die Nummer der Feuerwehr wählen konnte.

Er schüttelte den Kopf, die Hand über die Sprechmuschel. »Wahrscheinlich ist sie in einem der Bunker.«

Natürlich, ein Bunker. Der logischste Ort, an dem man sich während eines Luftangriffs aufhielt. Sie würde soviel Verstand haben, nicht draußen herumzulaufen. »Wo ist der nächste Bunker?«

»Unten in der Little Park Street«, sagte er und drückte auf die Telefongabel. »Gehen Sie zur Bayley Street und dann links.«

Ich nickte dankend und machte mich auf den Weg. Die Brände kamen näher. Der ganze Himmel glühte rauchig orange, und gelbe Flammen schossen vor der Trinity-Kirche hoch. Suchscheinwerfer fuhren im Zickzack über den Himmel, der von Sekunde zu Sekunde heller wurde. Es wurde auch kälter, was irgendwie unmöglich erschien. Ich hauchte in meine eisigen Hände, während ich rannte.

Ich fand den Bunker nicht. Ein Haus mitten in dem Wohnblock war direkt getroffen worden, ein Berg rauchender Trümmer und daneben brannte ein Gemüseladen. Der Rest der Straße lag finster und verlassen.

»Verity!« rief ich, voll Angst, aus den Trümmern eine Antwort zu hören, und lief wieder die Straße hoch, krampfhaft das Bunkerschild auf den Gebäuden suchend. Dann entdeckte ich es, mitten auf dem Straßenpflaster. Ich schaute mich hilfesuchend um, während ich versuchte, die Richtung zu bestimmen, aus der die Explosion es hierher geschleudert haben mochte. »Hallo!« rief ich Treppenhaus nach Treppenhaus hinunter. »Ist hier jemand?«

Schließlich fand ich den Bunker ganz am Ende der Straße, praktisch direkt neben der Kathedrale, in einem Untergeschoß, das keinen Schutz vor irgend etwas bot, nicht einmal vor der Kälte.

Es war ein kleiner, verwahrloster Raum ohne jedes Mobiliar. Ungefähr zwei Dutzend Menschen, einige von ihnen in Morgenmänteln, saßen auf dem schmutzigen Fußboden, gegen die Wand gelehnt, an der Sandsäcke aufgetürmt waren. Eine Sturmlampe hing an einem Deckenbalken, die jedesmal, wenn eine Bombe einschlug, wie wild hin und her schwang, und darunter hockte ein kleiner Junge im Schlafanzug und mit Ohrenschützern, der mit seiner Mutter Karten spielte.

Meine Augen suchten im Dämmerlicht nach Verity, aber sie war nicht hier. Wo konnte sie bloß sein?

»Hat irgend jemand ein Mädchen in einem weißen Nachthemd gesehen?« fragte ich. »Sie hat rotes Haar.«

Sie hockten da, als wären sie taub und schauten betäubt geradeaus.

»Hast du Sechsen?« fragte der kleine Junge.

»Ja.« Seine Mutter gab ihm eine Karte.

Die Glocken der Kathedrale schlugen, ihr Klang erhob sich über das stete Geräusch des Flakfeuers und das Krachen der Sprengbomben. Neun Uhr.

Alle schauten hoch. »Die Glocken der Kathedrale«, sagte der kleine Junge und verrenkte sich den Hals, um zur Decke zu sehen. »Hast du Königinnen?«

»Nein«, sagte seine Mutter, schaute auf ihr Blatt und dann wieder zur Decke hoch. »Los, mach voran. So weißt du jedenfalls, daß mit unserer Kathedrale alles in Ordnung ist, wenn du die Glocken hören kannst.«

Ich mußte raus hier, und so stürzte ich aus der Tür und die Stufen hoch auf die Straße. Die Glocken schlugen hell die Stunden. Das würden sie die ganze Nacht über tun, die Stunden angeben und den Menschen von Coventry Sicherheit geben, während über ihnen die Flugzeuge dröhnten und die Kathedrale selbst auf die Grundmauern niederbrannte.

Der Haufen Menschen vorm Südportal hatte sich über die Straße begeben, um von dort aus die Flammen besser sehen zu können, die aus dem Dach schlugen. Die beiden Halbwüchsigen hatten immer noch Posten an der Laterne bezogen. Ich rannte zu ihnen.

»Hat keinen Zweck«, sagte der eine gerade. »Das kriegen sie jetzt niemals mehr raus.«

»Ich suche eine junge Frau, ein Mädchen…« hub ich an.

»Tun wir das nicht alle?« sagte der kleinere, worauf beide lachten.

»Sie hat rotes Haar.« Ich gab nicht auf. »Sie trägt ein weißes Nachthemd.«

Was — natürlich — einen kolossalen Lacher erzeugte.

»Ich denke, daß sie in einem der Bunker hier irgendwo ist, aber ich weiß nicht, wo die sind.«

»Unten in der Little Park Street ist einer«, sagte der Große.

»Dort war ich schon«, sagte ich. »Dort ist sie nicht.«

Die beiden überlegten. »Oben in der Gosford Street ist noch einer«, sagte der Kleine. »Aber dorthin schaffen Sie’s nicht mehr. Eine Luftmine. Sie blockiert die ganze Straße.«

»Vielleicht ist sie in der Krypta«, meinte der Größere und setzte, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, hinzu: »Die Krypta der Kathedrale. Dort unten ist auch ein Schutzraum.«

Die Krypta — natürlich! Dutzende von Menschen hatten in der Bombennacht dort Schutz gesucht. Sie waren bis elf Uhr dort geblieben, bis die Kathedrale über ihren Köpfen lichterloh brannte, und waren dann über die Außentreppe hinausgebracht worden.

Ich raste an den Gaffern vorbei zum Südportal und die Stufen hoch. »Sie können dort nicht rein!« rief die Frau mit dem Taschentuch.

»Rettungstrupp!« rief ich und rannte hinein.

Der westliche Teil der Kirche war immer noch dunkel, dafür war es im hohen Chor und dem Allerheiligsten mehr als hell. Die Sakristeien standen in Flammen, ebenso die Girdlersche Kapelle, und darüber quoll bronzefarbener Rauch aus den Bögen der Lichtgaden. In der Capperschen Kapelle leckten Flammen an dem Ölgemälde von Christus mit dem verlorenen Lamm auf dem Arm. Brennende Blätter aus der Gottesdienstordnung trieben durch das Kirchenschiff, wehten ascherieselnd herum.

Ich versuchte, mich an das Layout von Lady Schrapnells Entwürfen zu erinnern. Die Krypta lag unter der St. Lawrence-Kapelle im Nordgang, genau westlich der Draperschen Kapelle.

Ich lief den Hauptgang hoch, der feurigen Gottesdienstordnung ausweichend, und versuchte mich zu entsinnen, wo die Stufen waren. Links neben dem Lesepult.

Weit vorn im Chor fing mein Blick etwas Weißes ein.

»Verity!« schrie ich und rannte den Gang hoch.

Die Gestalt flitzte durch den Chor in Richtung Allerheiligstes. Zwischen den Chorbänken blitzte es weiß auf.

Brandbomben prasselten auf das Dach, und ich schaute hoch, dann wieder zum Chor zurück. Die Gestalt, falls es eine gewesen war, war verschwunden. Über dem Eingang zur Draperschen Kapelle wurde ein Blatt der Gottesdienstordnung vom Aufwind gepackt, tanzte auf und nieder.

»Ned!«

Ich wirbelte herum. Veritys schwaches Rufen schien von weit hinter mir zu kommen, oder trog mich das Geräusch der überhitzten Luft in der Kathedrale? Ich rannte weiter zum Chor, der aber, genau wie das Allerheiligste, verlassen war. Die Gottesdienstordnung trudelte im Aufwind von der Draperschen Kapelle herüber, loderte auf und sank brennend auf den Altar.

»Ned!« schrie Verity und dieses Mal konnte ich sie nicht verfehlen. Sie war draußen, vor der Kirche. Vor dem Südportal.

Ich rannte hinaus, die Stufen hinunter, ihren Namen schreiend, an den Dachbeobachtern und den Laternenstehern vorbei. »Verity!«

Fast gleichzeitig sah ich sie. Sie war halbwegs unten auf der Little Park Street, in einem erregten Gespräch mit dem untersetzten Luftschutzhelfer. Der hintere Teil ihres zerrissenen langen weißen Kleides schleifte auf dem Pflaster.

»Verity«, brüllte ich, aber das Getöse war zu laut.

»Nein, Sie haben mich falsch verstanden«, schrie sie dem Helfer zu. »Ich suche keinen öffentlichen Schutzraum. Ich suche einen jungen Mann mit Schnurrbart…«

»Miss, mein Befehl lautet, dieses Areal von Zivilisten zu räumen«, sagte der Mann.

»Verity!« rief ich ihr praktisch ins Ohr und packte sie am Arm.

Sie wandte sich um. »Ned!« sagte sie und warf sich in meine Arme. »Ich habe dich überall gesucht.«

»Gleichfalls«, sagte ich.

»Sie haben hier draußen nichts verloren«, meinte der Luftschutzwart grimmig. Eine Pfeife schrillte, gefolgt von einem langgezogenen Kreischen, während dem ich nicht hören konnte, was er sagte. »Dieses Gebiet ist nur für Einsatzfahrzeuge und Rettungsdienste. Zivilisten haben…« Ein ohrenbetäubender Schlag erfolgte, und der Mann verschwand in einem herabstürzenden Schauer aus Staub und Mauersteinen.

»He!« rief ich. »Luftschutzwart! Wo sind Sie?«

»Oh, nein!« Verity wedelte mit den Händen, wie um den aufwirbelnden Staub zu beseitigen. »Wo ist er?«

»Hier drunter.« Ich wühlte fieberhaft zwischen den Steinen.

»Ich find’ ihn nicht!« Verity schleuderte Steine beiseite. »Nein, warte, hier ist seine Hand! Und sein Arm!«

Der Luftschutzwart schüttelte wütend ihren Arm ab und erhob sich.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?« fragten wir beide wie aus einem Mund.

»Natürlich ist mit mir alles in Ordnung«, sagte er hustend und klopfte den Staub von der Brust seines Overalls. »Aber nicht dank Ihnen! Zivilisten! Habt wohl keine Ahnung, was ihr tut! Das ist lebensgefährlich. Angehörige des Luftschutzes bei der Arbeit zu behindern ist eine unter Strafe stehende…«

Über uns dröhnte erneut Flugzeuglärm. Ich schaute hoch. Der Himmel wurde durch scharfe Blitze erleuchtet, und wieder hörte man das schrille Gekreisch einer Pfeife, diesmal näher.

»Wir machen besser, daß wir hier wegkommen«, sagte ich. »Hier runter!« Ich stieß Verity vor mir her eine Kellertreppe hinab, in den schmalen Schutz einer Türöffnung hinein.

»Geht’s dir gut?« rief ich und schaute sie an. Auf der einen Seite hatten sich ihre Haare gelöst, und ihr zerrissenes Kleid zeigte rußige Streifen. Ebenso ihr Gesicht. Auf ihrer linken Hand sah ich Blut. »Bist du verletzt?« fragte ich und hob ihre Hand hoch.

»Nein«, sagte sie. »Ich habe mir nur die Hand an einem Pfeiler in der Kirche angeschlagen. Es war so finster, und ich k-k-konnte nicht s-s-sehen, wo ich hinlief.« Sie klapperte mit den Zähnen. »Wie kann es so k-k-kalt sein, wenn die ganze Stadt b-b-brennt?«

»Hier«, sagte ich. »Zieh das an.« Ich zog den Regenmantel aus und legte ihn um ihre Schultern. »Gefälligkeit von T. J.«

»Danke«, sagte sie zitternd.

Wieder tat es einen Schlag, Staub und Mörtel rieselte auf uns herab. Ich zog sie tiefer in die Türöffnung und legte die Arme um sie. »Wir warten hier, bis sich alles etwas beruhigt hat und gehen dann zur Kathedrale zurück, und dann fort von hier, dorthin, wo’s etwas wärmer ist«, sagte ich obenhin, um sie zum Lächeln zu bringen. »Wir haben noch ein Tagebuch zu stehlen und einen Ehemann für Tossie zu finden. Oder glaubst du, es gibt hier jemanden, der bereit ist, all das…« — ich schwenkte den Arm zu dem vom Feuer erhellten Himmel — »für Babysprache und Prinzessin Arjumand aufzugeben? Also, ich glaube nicht.«

Der Effekt war nicht so, wie ich ihn mir gewünscht hätte. »Oh, Ned!« sagte Verity und brach in Tränen aus.

»Was ist denn?« fragte ich. »Ich weiß ja, ich sollte keine Witze mitten in einem Luftangriff machen. Ich…«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Oh, Ned, wir können nicht nach Muchings End zurück. Wir stecken hier fest.« Sie verbarg ihr Gesicht an meiner Brust.

»Meinst du, wie Carruthers? Sie haben ihn rausbekommen. Sie werden uns auch rauskriegen.«

»Nein, du verstehst mich nicht.« Sie schaute mit tränenverschleiertem Blick zu mir auf. »Wir können nicht zum Netz zurück. Das Feuer…«

»Was meinst du damit?« wollte ich wissen. »Der Turm brannte nicht. Er und der Spitzturm ist das einzige, was stehenblieb. Und ich weiß, daß dieser Drache vom Blumenausschuß das Westportal bewacht, aber wir können durch das Südportal…«

»Der Turm?« fragte sie verständnislos. »Was meinst du damit?«

»Bist du nicht im Turm angekommen?«

»Nein. Im Allerheiligsten. Ich blieb dort beinahe eine Stunde lang und hoffte, das Netz würde sich wieder öffnen, doch dann begann es ringsum zu brennen, und ich hatte Angst, daß die Brandwache mich erwischen würde, also ging ich ins Freie und suchte nach dir.«

»Woher wußtest du, daß ich hier bin?«

»Ich wußte, daß du kommen würdest, sobald du herausgefunden hast, wo ich stecke«, sagte sie ganz sachlich.

»Aber…« Ich entschied, ihr nicht zu sagen, daß wir vorher zwei Wochen lang versucht hatten, hierher zu gelangen und nicht einmal annähernd unser Ziel erreicht hatten.

»… und als ich in die Kirche zurückkam, stand das Allerheiligste in Flammen. Und das Netz öffnet sich nicht auf einem Feuer.«

»Stimmt«, sagte ich. »Aber das braucht es auch nicht. Ich landete im Turm, der nur ein bißchen angesengt ist. Wir müssen aber durch das Kirchenschiff, wenn wir zum Turm wollen, also beeilen wir uns besser.«

»Eine Sekunde noch«, sagte sie. Sie zog den Regenmantel an, nahm den Gürtel ab und verwendete ihn dazu, ihren zerrissenen schleifenden Rock in Kniehöhe zu raffen. »Geh ich so für 1940 durch?« fragte sie und knöpfte den Mantel zu.

»Du siehst wunderbar aus.«

Wir gingen die Stufen hoch, zurück zur Kathedrale. Der Ostteil des Daches brannte. Und die Feuerwehr war endlich eingetroffen. Einer ihrer Löschwagen parkte an der Ecke, und wir mußten über ein Gewirr von Schläuchen und orangefarbenen Pfützen steigen, um zum Südportal zu gelangen.

»Wo sind die Feuerwehrleute?« fragte Verity, als wir das Menschenknäuel am Südportal erreichten.

»Es gibt kein Wasser«, erklärte ein etwa zehnjähriger Junge, der einen dünnen Pullover trug. »Die Jerries haben die Hauptwasserleitung getroffen.«

»Sie sind rüber zur Priory Row, um einen anderen Hydranten zu finden.«

»Kein Wasser«, murmelte Verity.

Wir schauten die Kathedrale hoch. Ein großer Teil des Daches brannte jetzt lichterloh. Das Feuer schoß funkensprühend am Dachende und nahe der Apsis hoch, und aus den durch den Luftdruck zerstörten Fenstern schlugen ebenfalls Flammen.

»Unsere schöne, schöne Kathedrale«, sagte ein Mann hinter uns.

Der Junge zupfte mich am Arm. »Sie schafft’s nicht, stimmt’s?«

Nein, sie schaffte es nicht. Um halb elf, wenn sie endlich einen funktionierenden Hydranten finden würden, würde das ganze Dach lichterloh brennen. Die Feuerwehrleute würden versuchen, einen Wasserstrahl auf das Allerheiligste und die Marienkapelle zu richten, aber das Wasser würde kurz darauf versiegen, und danach würde es, während das Dach brannte, nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Stahlträger, die J. O. Scott hatte einbauen lassen, um den Druck auf die Bögen zu vermindern, sich zu biegen und in der Hitze zu schmelzen anfingen, wodurch die Bögen aus dem fünfzehnten Jahrhundert und das Dach herabstürzen und den Altar, die geschnitzten Misererien, Händels Orgel und das Holzkreuz mit dem knienden Kind am Fuß unter sich begraben würden.

Unsere schöne, schöne Kathedrale. Ich hatte sie immer mit des Bischofs Vogeltränke auf eine Stufe gestellt — eine ärgerliche Antiquität —, und sicher gab es prächtigere Kathedralen. Aber als ich jetzt hier stand und zuschauen mußte, wie sie brannte, da verstand ich, was es Probst Howard bedeutet hatte, sie neu zu bauen, egal, wie modernistisch häßlich. Was es Lizzie Bittner bedeutet hatte, sie nicht einfach für ein Butterbrot verscherbeln zu lassen. Und ich begriff, warum Lady Schrapnell bereit war, sich mit der Kirche von England, der Historischen Fakultät von Oxford, dem Magistrat von Coventry und dem Rest der Welt anzulegen, nur um sie wiederaufzubauen.

Ich schaute auf Verity hinab. Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie weinte lautlos. Ich legte den Arm um sie. »Können wir denn gar nichts tun?« fragte sie verzweifelt.

»Wir werden sie wiederaufbauen. Sie wird wie neu sein.«

Aber bis dahin mußten wir in die Kirche und in den Turm zurück. Doch wie? Die Menge würde uns nie und nimmer in die brennende Kirche laufen lassen, egal, was ich als Grund angeben mochte, und das Westportal wurde von einem Drachen bewacht. Und je länger wir warteten, desto gefährlicher würde es werden, durchs Kirchenschiff zur Turmtür zu gelangen.

Durch das Flakfeuer war ein neues Geräusch zu hören. »Noch ein Feuerwehrwagen!« rief jemand, und ungeachtet der Tatsache, daß es kein Wasser gab, rannte jeder, sogar die Laternensteher, zum Westende der Kirche.

»Das ist unsere Chance«, sagte ich. »Wir können nicht länger warten. Bereit?«

Sie nickte.

»Moment noch«, sagte ich, bückte mich und riß zwei lange Streifen aus ihrem sowieso schon zerrissenen Rocksaum. Ich kniete mich hin und tauchte sie in die Wasserpfützen bei einem der Schläuche. Das Wasser war eisig kalt. Ich wrang den Stoff aus. »Binde das über Mund und Nase«, sagte ich und gab ihr einen. »Wenn wir hineingehen, möchte ich, daß du schnurstracks in den hinteren Teil des Kirchenschiffs läufst und dann die Wand entlang. Und falls wir uns verlieren — die Turmtür ist innerhalb des Westportals, zu deiner Linken.«

»Verlieren?« Sie band sich den Stoff um.

»Bind dieses Stück um die rechte Hand«, riet ich ihr. »Die Türknaufe sind möglicherweise heiß. Der Absetzort liegt achtundfünfzig Stufen aufwärts, den Boden des Turms nicht mitgezählt.«

Ich wickelte die letzte Binde um meine Hand. »Was immer auch passiert, lauf weiter. Bereit?«

Sie nickte, die grünbraunen Augen über der Maske geweitet.

»Komm hinter mich«, sagte ich und öffnete vorsichtig den rechten Portalflügel einen Spalt breit. Keine Flammen röhrten heraus, nur ein Schwall bronzefarbenen Qualms drang nach außen. Ich wich davor zurück und schaute dann ins Innere der Kirche.

Es war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Das östliche Ende der Kirche war voll Rauch und Flammen, aber wo wir standen, konnte man noch etwas durch den Rauch erkennen, und es sah aus, als wäre dieser Teil des Daches noch intakt. Die Fenster waren, außer einem in der Smithschen Kapelle, herausgedrückt worden, und der Boden war mit roten und blauen Scherben übersät.

»Gibt acht, da liegt Glas.« Ich schob Verity vor mir her. »Tief Luft holen und dann los! Ich bin direkt hinter dir.« Ich öffnete die Tür ganz.

Sie rannte los, mit mir im Nacken, vor der Hitze zurückschreckend. Als sie die Tür erreicht hatte, riß sie sie auf.

»Die Tür zum Turm ist links von dir!« rief ich, obwohl sie mich durch das wütende Röhren der Flammen unmöglich hören konnte.

Sie hielt inne, die Tür geöffnet.

»Geh hinauf!« schrie ich. »Warte nicht auf mich!« und schickte mich an, die letzten Meter zu rennen. »Hinauf mit dir!«

Es rumpelte. Ich drehte mich um und schaute zum Allerheiligsten, in der Erwartung, daß eine der Lichtgaden zusammengebrochen sei. Ein ohrenbetäubendes Krachen erfolgte, und das Fenster in der Smithschen Kapelle zersprang in einem Schauer funkelnder Fragmente.

Ich duckte mich, schützte mein Gesicht mit dem Arm und dachte, bevor mich der Druck in die Knie zwang: »Eine Sprengbombe. Aber das ist unmöglich! Die Kathedrale ist nicht direkt getroffen worden.«

Es fühlte sich aber so an. Der Treffer erschütterte die Kathedrale in ihren Grundfesten und erhellte sie einen Moment lang mit blendendweißem Licht.

Ich taumelte von den Knien hoch und hielt dann inne, den Blick quer übers Kirchenschiff gerichtet. Die Druckwelle des Einschlags hatte die Kathedrale für einen Moment vom Rauch befreit, und im grellweißen Nachglühen konnte ich alles erkennen: die Statue über der Kanzel, die brannte, ihre Hände erhoben wie die eines Ertrinkenden, die Bänke in der Kinderkapelle, ihre unersetzbaren Misererien von einem Feuer von seltsam gelbem Licht verzehrt; den Altar in der Capperschen Kapelle. Und die Chorschranke vor der Smithschen Kapelle.

»Ned!«

Ich wollte hinlaufen, schaffte aber nur ein paar Schritte. Die Kathedrale bebte, und ein brennender Balken krachte vor der Smithschen Kapelle herunter, quer über die Bänke.

»Ned!« schrie Verity verzweifelt. »Ned!«

Noch ein Balken, ohne Zweifel auch verstärkt von J. O. Scott, krachte quer über den ersten, mit schwärzlichen Rauchschwaden, die den gesamten Nordteil der Kirche meinem Blick entzogen.

Aber das machte nichts. Ich hatte bereits genug gesehen.

Ich warf mich durch die Tür, dann durch die Turmtür und die vom Feuer erhellten Stufen hoch, wobei ich überlegte, was, um alles in der Welt, ich bloß Lady Schrapnell sagen sollte. Alles hatte ich gesehen, in jenem winzigen von der Bombenexplosion erleuchteten Moment: die Messingtafeln an den Wänden, den polierte Adler am Lesepult, die geschwärzten Pfeiler. Und im Nordgang, vor der Chorschranke, den leeren schmiedeeisernen Pfosten.

Vielleicht hatte man sie doch vorher in Sicherheit gebracht. Oder als Spende zum Alteisen. Oder bei einem Basar verkauft.

»Ned!« rief Verity. »Beeil dich! Das Netz öffnet sich!«

Lady Schrapnell hatte sich geirrt. Des Bischofs Vogeltränke befand sich nicht in der Kathedrale.

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