»… nichts bildet einen jungen Mann mehr fürs Leben als eine Zeitlang unter falschem Namen in einem Landhaus zu wohnen…«
Noch ein Besucher • Variationen über ein Thema • Die Vögel • Wie wichtig Butler sind • Ein traditionelles englisches Frühstück Wild • Des Bischofs Vogeltränke • Eine winzige Tatsache • Das Rätsel um des Mädchens Namen wird gelöst • Ich werde vorbereitet • Das Rätsel um den Ursprung der Wohltätigkeitsbasare wird gelöst • Meine Zeit in den Staaten • Victorianische Handwerker • Mein Strohhut • Mr. C. • Eine Überraschung
Verity war nicht mein letzter Besucher. Eine halbe Stunde, nachdem sie gegangen war, vernahm ich wieder ein leises Kratzen an der Tür, so schwach, daß ich es im Schlaf sicher überhört hätte.
Ich schlief aber nicht. Daran war zum größten Teil Verity mit ihren Neuigkeiten über erhöhte Schlupfverluste und Diskrepanzen schuld, gar nicht zu reden von Lady Schrapnell und des Bischofs Vogeltränke.
Cyril hatte es geschafft, sich trotz seiner kurzen Beine quer über das ganze Bett und sämtliche Kissen auszubreiten, so daß nur eine schmale Kante übrigblieb, von der ich ständig herunterzurollen drohte. Ich schlang meine Füße um den Bettpfosten und verankerte die Bettdecke mit meiner Hand. Dann dachte ich über Lord Lucan und Schrödigers Katze nach.
Diese war in Schrödigers Experiment zusammen mit einer Flasche Zyanidgas, einem Hammer, der mit einem Geigerzähler verbunden war, und einem Klumpen Uran in eine geschlossene Kiste gesperrt worden — eine richtige Himmelfahrtsvorrichtung. Falls das Uran ein Teilchen freisetzte, würde dieses vom Geigerzähler registriert, der den Hammer aktivierte, und dieser würde die Flasche zertrümmern. Das Gas würde ausströmen und die Katze töten, die in der Kiste saß, die Schrödiger gebaut hatte.
Und da es keine Möglichkeit gab, vorherzusagen, ob das Uran schon ein Teilchen freigesetzt hatte oder nicht, war die Katze weder tot noch lebendig, sondern beide Möglichkeiten existierten gleichberechtigt Seite an Seite, bis die Kiste geöffnet werden würde und die beiden Möglichkeiten zu einer einzigen Realität kollabierten. Oder die Inkonsequenz repariert sein würde.
Es bedeutete aber auch, daß es eine fünfzigprozentige Möglichkeit gab, daß die Inkonsequenz nicht beseitigt werden würde. Und mit jeder Sekunde, in der die Katze in der Kiste blieb, wurde die Möglichkeit größer, daß das Uran ein Teilchen freisetzte und damit auch die Möglichkeit, daß die Katze tot war, wenn die Kiste geöffnet wurde.
Die erste Verteidigungslinie hatte bereits versagt — die Zufälle, in denen Terence Tossie und ich Terence begegnete und mit ihm Professor Peddick retteten und dieser den Colonel traf, bewiesen das. Der nächste Schritt waren Diskrepanzen.
Aber Terence hatte doch überhaupt keinen geschichtlichen Einfluß gehabt, zumindest keinen direkten, sonst hätte Verity seinen Namen in den offiziellen Aufzeichnungen gefunden. Der Bahnhof von Oxford war dreißig Meilen und vier Tage von Muchings End entfernt. T. J. hatte nur von der unmittelbaren Umgebung gesprochen.
Was Verity in ihrem durch die Zeitkrankheit getrübten Zustand aber entgangen zu sein schien, war, daß selbst wenn Terences und Tossies Zusammentreffen nicht in der unmittelbaren Umgebung stattgefunden hatte, man doch Mrs. Merings Entscheidung, Tossie zu Madame Iritosky zu bringen, nicht unberücksichtigt lassen konnte, auf Grund derer nämlich Tossie Terence kennengelernt und die dazu geführt hatte, daß Terence mit Professor Peddick zusammenstieß, der ihn bat, seine Verwandtschaft vom Bahnhof abzuholen. Und dort mich zu treffen. Zudem — was bedeutete unmittelbare Umgebung? T. J. hatte es nicht näher beschrieben. Es mochte Jahre und Hunderte von Meilen bedeuten.
Ich lag im Dunkeln, und meine Gedanken drehten sich im Kreise, genau wie Harris im Labyrinth von Hampton Court. Baine hatte Prinzessin Arjumand nicht ertränken wollen, aber wenn sie nicht ertrinken und unwichtig werden sollte, warum hatte sich dann das Netz für Verity geöffnet? Und falls sie ertrunken war, warum dann für mich?
Und warum war ich in Oxford gelandet? Um Terence davon abzuhalten, Maud zu treffen? Mir leuchtete nicht ein, daß das eine Selbstkorrektur sein sollte. Sollte ich damit die Katze von Muchings End fernhalten? Ich erinnerte mich, daß ich ihren Korb auf der Follybrücke hatte fallen lassen, als Cyril auf mich zuraste, und daß er beinahe in den Fluß gerollt wäre, wenn Terence ihn nicht vorher zu fassen bekommen hätte. Und wie ich nach der Reisetasche griff, als sie das Übergewicht bekam und damit Cyril zu einem ungewollten Bad verhalf. Hatte die Geschichte sich korrigieren wollen, indem die Katze in diesem Momenten ertrinken sollte — und ich hatte es verhindert?
Doch das konnte nicht sein. Baine hatte Prinzessin Arjumand nicht ertränken wollen, als er sie in den Fluß warf. Wenn Verity sich nicht eingemischt hätte, wäre er der Katze nachgeschwommen, ungeachtet seiner Butlerlivree, und hätte sie gerettet. Vielleicht hatte er sie zu weit hinausgeschleudert, und sie war in die Strömung geraten, wo sie, trotz Baines Bemühungen, ertrunken wäre. Das erklärte aber noch nicht…
An der Tür kratzte es leise. Es ist Verity, dachte ich. Sie vergaß, Hercule Poirots Detektivmethode zu erläutern. Ich öffnete.
Der Gang war leer. Ich öffnete die Tür weiter und schaute rechts und links den Korridor hinunter, sah aber nichts als Finsternis. Es mußte einer von Mrs. Merings Geister gewesen sein.
»Meau«, machte ein kleines Stimmchen.
Ich schaute zu Boden. Prinzessin Arjumands graugrüne Augen leuchteten zu mir auf. »Mioh«, sagte sie, schlenderte an mir vorbei, den Schwanz in die Höhe gestreckt, und sprang aufs Bett, wo sie sich mitten auf meinem Kissen niederließ.
Jetzt hatte ich überhaupt keinen Platz mehr. Cyril schnarchte. Daran hätte man sich vielleicht noch gewöhnen können, aber je weiter die Nacht fortschritt, desto lauter wurde das Schnarchen, bis ich befürchtete, es könnte Tote erwecken. Oder Mrs. Mering. Oder beides.
Und er dachte sich offenbar Variationen über ein Thema aus — ein tiefes Grollen wie ferner Donner, ein Schnauben, ein eigenartiges Wuff, das seine Lefzen erzittern ließ, ein Niesen, ein Schnüffeln, ein Winseln.
Nichts davon erschütterte die Katze, die sich wieder auf meinem Adamsapfel niedergelassen und mir — ohne Variationen — ins Ohr schnurrte. Ich döste aus purem Sauerstoffmangel ein und wachte wieder auf, zündete Streichhölzer an und versuchte mühsam, in ihrem Licht die Taschenuhr zu entziffern, und zwar um II, um III und wieder um viertel nach IV.
Kurz nach halb V weckten mich die Vögel, die lauthals und rücksichtslos den Sonnenaufgang bejubelten. Mir war immer beschrieben worden, das wäre ein idyllisches, wohlklingendes Konzert, aber es hörte sich mehr nach einem Luftangriff der Nazis an. Ich überlegte, ob die Merings einen Luftschutzkeller besaßen.
Als ich nach einem weiteren Streichholz suchte, fiel mir ein, daß ich ja nun die Uhrzeit auch so lesen konnte, und ich stand auf. Ich zog meine Kleider und die Schuhe an und versuchte, Cyril zu wecken.
»Komm, alter Junge, Zeit, in den Stall zurückzugehen«, sagte ich und unterbrach ihn mitten in einem herzhaften Wuff, indem ich ihn schüttelte. »Du willst doch nicht, daß Mrs. Mering dich hier erwischt. Komm schon. Aufwachen!«
Cyril öffnete ein schlaftrunkenes Auge, schloß es wieder und schnarchte doppelt so laut weiter.
»Vergiß es!« sagte ich. »Es klappt nicht. Ich weiß, daß du wach bist.« Ich boxte ihn in die Leibesmitte. »Auf! Sonst werden wir beide aus dem Haus geworfen.« Ich zog an seinem Halsband. Er öffnete das Auge wieder und taumelte auf die Füße. Er sah so aus, wie ich mich fühlte. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er schwankte leicht, wie ein Betrunkener nach einer durchzechten Nacht.
»Guter Junge«, sagte ich aufmunternd. »So ist’s brav. Runter vom Bett. Ab mit uns!«
Prinzessin Arjumand wählte just diesen Augenblick, um zu gähnen, sich ausgiebig zu strecken und gemütlich tief in die Federn zu kuscheln. Ihre Botschaft hätte nicht eindeutiger ausfallen können.
»Du bist keine große Hilfe«, sagte ich zu ihr. »Ich weiß, es ist ungerecht, Cyril, aber das Leben ist nun mal nicht fair. Ich zum Beispiel sollte eigentlich auf einer Urlaubsreise sein. Mich erholen. Schlafen.«
Cyril nahm das Wort Schlafen als Aufforderung, sich wieder in die Kissen sinken zu lassen.
»Nein«, sagte ich. »Hoch! Sofort! Ich meine es ernst, Cyril. Bei Fuß. Wach auf!«
Keiner sollte behaupten, richtig gelebt zu haben, der nicht um halb sechs Uhr morgens einen sechzig Pfund schweren Hund eine steile victorianische Treppe hinabgetragen hat. Draußen hatte die Morgendämmerung die Wiesen rosig überhaucht, im Gras schimmerte diamantener Tau. Die Rosen öffneten gerade ihre liebreizenden Gesichter, alles Anzeichen dafür, daß ich immer noch an der Zeitkrankheit litt, was bedeutete, daß ich bei Veritys Anblick am Frühstückstisch vollkommen in ihren Bann geraten würde, obwohl sie Lady Schrapnell gesagt hatte, ich wüßte, wo des Bischofs Vogeltränke sei.
In der Zwischenzeit hatte sich die Vogelluftwaffe offenbar zum Auftanken zurückgezogen, und die Welt lag still im frühen Morgenlicht, einer Stille, die so sehr ein Teil der Vergangenheit war wie die victorianischen Landhäuser und das Bootsfahren auf der Themse, die Stille einer Welt, in die noch keine Flugzeuge und Verkehrsstaus eingebrochen waren, keine Brandbomben und ferngesteuerten Geschosse, der stille, weihevolle Atem einer Welt, die längst vergangen ist.
Es war zu schade, daß ich nicht in der Lage war, dies zu schätzen. Cyril wog eine Tonne, und als ich ihn absetzte, ließ er ein jammervolles, durchdringendes Winseln hören. Ich stolperte beim Hinausgehen fast über den schlafenden Stallburschen, und kaum war ich wieder im Haus, stieß ich im oberen Stockwerk beinahe mit Baine zusammen.
Er stellte gerade frisch polierte Schuhe vor die Schlafzimmertüren. Noch bevor er mich sehen konnte, fragte ich mich, wann er eigentlich schlief.
»Konnte nicht schlafen«, sagte ich und verschluckte in meiner Nervosität die Subjekte meiner Sätze wie Colonel Mering. »Ging nach unten, um etwas zu lesen zu holen.«
»Ja, Sir«, sagte Baine. Er hielt Tossies weiße Stiefeletten in der Hand. Sie hatten kleine Rüschen an den Spitzen. »Ich finde die Industrielle Revolution von Toynbee recht entspannend. Soll ich Sie Ihnen holen?«
»Nein, ist schon gut«, sagte ich. »Glaube, ich kann jetzt ganz gut einschlafen.«
Was jedoch eine infame Lüge war. Ich machte mir um viel zu viele Dinge Gedanken, als daß ich geruhsam hätte in den Schlaf sinken können — zum Beispiel, wie ich meinen Kragen anziehen und meinen Schlips richtig binden sollte. Oder was Zeitreise an Konsequenzen entdecken würde, die daraus resultierten, daß ich Prinzessin Arjumand vier Tage zu spät nach Muchings End zurückgebracht hatte. Und was ich Lady Schrapnell erzählen sollte.
Und selbst wenn ich aufhörte, mir Sorgen zu machen — es hatte überhaupt keinen Sinn mehr, es mit Schlafen zu versuchen. Es wurde bereits Tag. In ein paar Minuten würde die Sonne hell zum Fenster hereinscheinen, und die Vogelluftwaffe befand sich bereits im Anflug zu einer zweiten Angriffswelle. Außerdem fürchtete ich mich vorm Schlafen, weil ich Angst hatte, dank Prinzessin Arjumand dabei an Sauerstoffmangel zugrunde zu gehen.
Sie hatte während meiner Abwesenheit beide Kissen in Beschlag genommen. Ich versuchte sie sanft, ohne sie aufzuwecken, zur Seite zu schieben, aber sie dehnte sich nur geschmeidig und begann, mir ihren Schwanz ins Gesicht zu schlagen.
Ich blieb unter dem Gepeitsche liegen und dachte über des Bischofs Vogeltränke nach.
Nicht nur, daß ich nicht wußte, wo sie war, ich hatte auch nicht die leiseste Ahnung, was mit ihr passiert sein konnte. Sie hatte achtzig Jahre in der Kirche gestanden, und nichts wies darauf hin, daß sie während des Angriffs nicht auch dort gewesen war. Im Gegenteil — es gab einige Menge Hinweise dafür. Die Gottesdienstordnung, die ich in den Trümmern gefunden hatte, bewies, daß sie vier Tage vor dem Angriff noch da gewesen war, und ich hatte sie am Vortag, dem neunten, nach der Andacht für die Royal Airforce und dem Kuchenverkauf mit eigenen Augen gesehen.
Vielleicht war sie in letzter Sekunde entfernt worden, damit sie nicht zu Schaden kam, aber das war eher unwahrscheinlich, waren doch weder das marmorne Purbecksche Taufbecken noch die Orgel, auf der schon Händel gespielt hatte, aufs Land oder in die Krypta gebracht worden, obwohl man das, im nachhinein betrachtet, hätte tun sollen. Und des Bischofs Vogeltränke sah weitaus unzerstörbarer aus als das marmorne Taufbecken.
Sie war unzerstörbar. Das herunterbrechende Kirchendach würde nicht einmal die pausbäckigen Engel an ihr geritzt haben. Inmitten der Asche hätte sie stehen sollen, sich über den Trümmern erheben, unberührt, unbeschadet, unbe…
Als ich erwachte, war es heller Tag, und Baine stand mit einer Tasse Tee vor meinem Bett.
»Guten Morgen, Sir«, sagte er. »Ich habe mir erlaubt, Prinzessin Arjumand ins Zimmer ihrer Besitzerin zu bringen.«
»Gute Idee.« Ich bemerkte erst jetzt, daß ich ein Kopfkissen und Luft zum Atmen hatte.
»Ja, Sir. Miß Mering wäre sehr entsetzt gewesen, wenn sie beim Aufwachen Prinzessin Arjumand nicht vorgefunden hätte, obwohl ich die Anhänglichkeit der Katze an Sie ziemlich gut verstehen kann.«
Ich setzte mich. »Wie spät ist es?«
»Acht Uhr, Sir.« Er reichte mir die Tasse. »Leider ist es mir nicht gelungen, den Hauptteil des Gepäcks von Mr. St. Trewes, Professor Peddick und Ihnen zu bergen. Ich habe nur das hier gefunden.«
Er hielt die zu kleine Abendgarderobe hoch, die Finch mir eingepackt hatte. »Was, wie ich befürchte, durch den Aufenthalt im Wasser beträchtlich geschrumpft ist. Ich habe bereits nach Ersatz geschickt und…«
»Ersatz?« Ich verschüttete beinahe den Tee. »Von woher?«
»Swan #amp# Edgar’s natürlich«, sagte Baine. »Hier haben wir jedenfalls schon einmal Ihre Bootskleidung.«
Er hatte mehr getan als sie nur zu bügeln. Das Hemd war gebleicht und durch und durch gestärkt, der Anzug sah aus wie neu. Ich hoffte, ich begriff, wie man ihn anzog. Nachdenklich nippte ich an meinem Tee und versuchte mich daran zu erinnern, wie man den Schlips band.
»Um neun Uhr ist Frühstück, Sir«, sagte Baine. Er goß aus dem Spender heißes Wasser in die Schüssel und öffnete das Kästchen mit den Rasiermessern.
Der Schlips war wahrscheinlich unwichtig. Ich würde mir die Kehle beim Rasieren durchschneiden, bevor ich zum Umbinden kam.
»Mrs. Mering wünscht, daß jedermann pünktlich um neun zum Frühstück erscheint. Es sind noch eine Menge Vorbereitungen für das Kirchfest zu treffen«, sagte Baine und holte die Messer heraus. »Besonders für den Wohltätigkeitsbasar.«
Der Wohltätigkeitsbasar. Den hatte ich beinahe vergessen oder besser gesagt: erfolgreich verdrängt. Ich schien dazu verdammt zu sein, an Kirchfesten und Wohltätigkeitsbasaren teilzunehmen, ganz gleich, in welchem Jahrhundert ich mich befand.
»Wann findet es statt?« fragte ich in der Hoffnung, er sage nächsten Monat.
»Übermorgen.« Baine legte sich ein Handtuch über den Arm.
Vielleicht waren wir dann schon fort. Professor Peddick würde bestimmt begierig sein, zu der Wiese zu kommen, auf der die Magna Chartaunterzeichnet worden war, ganz abgesehen von den exzellenten Barschgründen.
Terence würde natürlich nicht wegwollen, aber seine Meinung war wahrscheinlich unwichtig. Mrs. Mering hatte beschlossen, ihn nicht zu mögen, und mein Gefühl sagte mir, daß sie ihn würde noch weniger mögen, wenn sie merkte, daß er Absichten hinsichtlich ihrer Tochter hatte. Und keinen Pfennig Geld.
Möglicherweise jagte sie uns schon gleich nach dem Frühstück aus dem Haus, indem sie die Vorbereitungen für das Fest als Vorwand nahm. Die Inkonsequenz würde beginnen, sich selbst zu korrigieren, und ich konnte auf dem Fluß ein ausgiebiges Schläfchen halten, während Terence ruderte. Wenn ich mich nicht zuvor mit den Rasiermessern umgebracht hatte.
»Soll ich Sie jetzt rasieren, Sir?« fragte Baine.
»Ja«, sagte ich und schnellte aus dem Bett.
Um die Kleidung hätte ich mir ebensowenig Sorgen machen müssen. Baine hatte die Hosenträger sowie den Kragen befestigt, den Schlips vorgeknotet und würde mir auch die Schuhe zugebunden haben, wenn ich ihn gelassen hätte, ob aus Dankbarkeit mir gegenüber oder weil es so üblich war, wußte ich nicht. Ich nahm mir vor, Verity zu fragen.
»In welchem Raum ist das Frühstück?« fragte ich Baine.
»Im Frühstückszimmer, Sir«, sagte er. »Die erste Tür links.«
Beschwingt eilte ich die Treppe hinunter. Ein gutes traditionelles englisches Frühstück, mit Eiern und Speck, Orangenmarmelade, das Ganze von einem Butler serviert, war eine erfreuliche Aussicht, und es war ein wunderbarer Tag. Die Sonnenstrahlen tanzten auf dem polierten Geländer und auf den Porträts. Selbst Lady Schrapnells Urahnin blickte freundlich aus ihrem Rahmen.
Ich öffnete die erste Tür links. Baine mußte mir etwas Falsches gesagt haben. Es war das Eßzimmer, nahezu ausgefüllt von einem massiven Mahagonitisch und einer noch massiveren Anrichte, auf der eine Anzahl zugedeckter silberner Platten stand.
Auf dem Tisch sah ich Tassen, Schalen und Besteck, aber keine Teller, und es war niemand im Raum. Gerade wollte ich hinausgehen, um nach dem Frühstückszimmer zu suchen, als ich mit Verity zusammenstieß.
»Guten Morgen, Mr. Henry«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«
Sie trug ein hellgrünes Kleid, in dessen Oberteil winzige Paletten eingestickt waren, und hatte ihr braunes Haar mit einem grünen Band hochgebunden. Ich brauchte ganz offensichtlich noch eine Menge mehr Schlaf, um mich von der Zeitkrankheit zu erholen. Ich bemerkte Schatten unter ihren grünbraunen Augen, aber ansonsten war sie immer noch das schönste Geschöpf, das ich je gesehen hatte.
Verity ging zur Anrichte hinüber. »Das Frühstück steht hier angerichtet«, sagte sie und nahm einen Teller mit Blumenrand von einem großen Stapel. »Die anderen werden auch gleich herunterkommen.«
Sie lehnte sich vor, um mir den Teller zu geben. »Es tut mir so leid, daß ich Lady Schrapnell gesagt habe, Sie wüßten, wo des Bischofs Vogeltränke ist«, sagte sie. »Die Zeitkrankheit muß mich mehr erwischt haben, als ich ahnte, aber das ist keine Entschuldigung, und ich wollte Ihnen sagen, daß ich alles tun werde, um Ihnen zu helfen. Wann wurde sie zum letzten Mal gesehen?«
»Ich sah sie am neunten November 1940 nach der Andacht für die Royal Air Force und dem Kuchenverkauf.«
»Und danach sah sie keiner mehr?«
»Danach kam keiner mehr durch, bis der Angriff vorbei war. Erhöhter Schlupfverlust, Krisenpunkt — Sie erinnern sich?«
Jane kam mit einem Topf Marmelade herein, stellte ihn auf den Tisch, knickste und eilte wieder hinaus. Verity ging zu einer der zugedeckten Platten, deren Haube die Darstellung eines springenden Fisches als Griff hatte.
»Und nach dem Angriff war sie nicht in den Trümmern?« fragte sie und hob die Haube am Fisch hoch.
»Nein«, sagte ich. »Großer Gott, was ist das?« Ich starrte auf ein Bett grellgelben Reises, in dem vereinzelte weiße Streifen zu sehen waren.
»Kedgeree«, sagte Verity und nahm sich einen kleinen Löffel davon. »Curryreis mit geräuchertem Fisch.«
»Zum Frühstück?«
»Das Gericht stammt aus Indien. Der Colonel liebt es.« Sie deckte die Platte wieder zu. »Und keiner der Zeitgenossen erwähnte, sie zwischen dem neunten und der Nacht, als der Angriff stattfand, noch einmal gesehen zu haben?«
»Sie wurde in der Gottesdienstordnung vom zehnten erwähnt, unter Blumenarrangements, also müßte sie während dieses Gottesdienstes noch da gewesen sein.«
Sie ging zu der nächsten Platte, deren Haube ein großer Hirsch mit Geweih zierte. Ich überlegte kurz, ob es sich dabei um eine Art Geheimcode handelte, aber auf der nächsten Haube grinste gefräßig ein Wolf, und so verwarf ich den Gedanken wieder.
»Als Sie sie am neunten sahen«, sagte Verity, »fiel Ihnen da irgend etwas Ungewöhnliches daran auf?«
»Sie haben des Bischofs Vogeltränke noch nie gesehen, nicht wahr?«
»Ich meine, ob sie vielleicht umgestellt wurde oder beschädigt war. Haben Sie irgend etwas Verdächtiges bemerkt, zum Beispiel, daß sich jemand in der Nähe herumtrieb?«
»Sie leiden immer noch an der Zeitkrankheit«, sagte ich.
»Nein.« Ihre Stimme klang indigniert. »Des Bischofs Vogeltränke ist verschwunden, aber sie kann sich nicht in Luft aufgelöst haben. Also muß jemand sie an sich genommen haben, und falls dem so ist, muß es einen Hinweis auf diesen Jemand geben. Haben Sie irgend jemanden in der Nähe stehen sehen?«
»Nein«, entgegnete ich.
»Hercule Poirot sagt, daß es stets etwas gibt, das keinem aufgefallen ist oder von allen für unwichtig gehalten wurde«, sagte Verity und hob den Hirsch am Geweih hoch. Darunter befand sich eine Masse streng riechender brauner Objekte.
»Was ist das?«
»Scharfe Nierchen«, sagte sie. »Geschmort in Chutney und Senf. Bei Hercule Poirot gibt es immer eine winzige Sache, die nicht hineinpaßt, und das ist dann des Rätsels Lösung.« Sie packte einen grimmig aussehenden Bullen bei den Hörnern. »Das ist Moorhuhn.«
»Gibt es keine Eier mit Speck?«
Verity schüttelte den Kopf. »Nur für die unteren Schichten.« Sie spießte einen gelackt aussehenden Fisch auf die Gabel und hielt ihn mir hin. »Bückling?«
Ich entschied mich für Porridge.
Verity nahm ihren Teller und setzte sich damit ans untere Ende des riesigen Tisches. »Was geschah nach dem Angriff?« fragte sie und bedeutete mir, mich neben sie zu setzen. »Fanden Sie einen Hinweis, daß sich des Bischofs Vogeltränke während des Angriffs in der Kirche befand?«
Ich wollte gerade sagen: »Die Kirche wurde völlig zerstört«, als mir etwas einfiel. »Ja«, sagte ich stirnrunzelnd. »Einen versengten Blumenstengel. Außerdem fanden wir den gußeisernen Ständer, auf dem des Bischofs Vogeltränke stand.«
»Handelte es dabei um eine Blume, wie sie in der Gottesdienstordnung aufgeführt war?«
Ich öffnete schon den Mund, um zu sagen: »Das konnte man beim besten Willen nicht mehr feststellen«, als die Tür aufging und Jane wieder hereinkam. Sie knickste. »Tee, Ma’am?«
»Ja, danke, Colleen«, sagte Verity.
»Warum nannten Sie sie Colleen?« fragte ich, sobald das Mädchen verschwunden war.
»Sie heißt so«, erwiderte Verity. »Doch Mrs. Mering meint, der Name schicke sich nicht für ein Dienstmädchen. Klingt zu irisch. Im Moment sind englische Bedienstete in Mode.«
»Und so hat sie einfach den Namen des Mädchens geändert?«
»Das ist ganz üblich. Mrs. Chattisbourne nennt alle ihre Mädchen Gladys, und so braucht sie sich nicht zu merken, um welche es sich handelt. Hat man Sie nicht entsprechend vorbereitet?«
»Ich wurde überhaupt nicht vorbereitet«, sagte ich. »Zwei Stunden Sublimationskassetten, Realzeit, denen ich nicht in der Lage war, richtig zu folgen. Handelten überwiegend von der dienenden Rolle der Frau. Und von Fischgabeln.«
Verity schaute mich erschrocken an. »Man hat Sie nicht vorbereitet? Die victorianische Gesellschaft legt größten Wert auf das richtige Benehmen. Verstöße dagegen werden sehr ernst genommen.« Sie sah mich neugierig an. »Wie haben Sie es überhaupt bis jetzt schaffen können?«
»Die letzten beiden Tage war ich auf dem Fluß, zusammen mit einem Professor aus Oxford, der Herodot, und einem liebeskranken jungen Mann, der Tennyson zitiert, einer Bulldogge und einer Katze«, sagte ich. »Ich hab’ mich so durchgemauschelt.«
»Das wird hier nicht mehr klappen. Sie müssen irgendwie eingewiesen werden. Also gut, hören Sie zu.« Sie lehnte sich über den Tisch. »Ein kurzer Überblick. Förmlichkeit ist ein und alles. Man sagt nicht, was man denkt. Euphemismen und Höflichkeit sind an der Tagesordnung. Kein körperlicher Kontakt zwischen den Geschlechtern. Ein Mann darf den Arm einer Dame nehmen, ihr in die Bahn oder über eine Schwelle zu helfen. Unverheiratete Männer und Frauen dürfen sich niemals allein zusammen aufhalten«, sagte sie, ungeachtet der Tatsache, daß wir es waren. »Es muß stets eine Anstandsdame anwesend sein.«
Wie auf Kommando tauchte Jane mit zwei Tassen Tee auf und stellte sie vor uns.
»Bedienstete werden beim Vornamen gerufen«, fuhr Verity fort, sobald Jane verschwunden war, »abgesehen vom Butler. Ihn ruft man Baine oder Mr. Baine. Und alle Köchinnen sind Mrs., egal, ob sie verheiratet sind oder nicht, also fragen Sie Mrs. Posey nicht nach ihrem Ehemann. Dieser Haushalt hat ein Stubenmädchen, das ist Colleen — ich meine Jane —, ein Küchenmädchen, einen Koch, einen Lakaien, einen Stallburschen, einen Butler und einen Gärtner. Sie hatten ein Zimmermädchen, eine Zofe und einen Laufburschen, aber die Herzogin von Landry stahl sie ihnen.«
»Stahl?« Ich langte nach dem Zucker.
»Man ißt keinen Zucker auf dem Porridge«, sagte Verity. »Außerdem hätten Sie läuten müssen, damit er Ihnen gereicht wird. Anderen Haushalten die Dienstboten wegzustehlen, ist hier eine Lieblingsbeschäftigung. Mrs. Mering stahl Baine von Mrs. Chattisbourne und ist gerade dabei, ihr auch ihren Laufburschen abspenstig zu machen. Man gibt auch keine Milch darauf. Und man flucht nicht in Gegenwart von Damen.«
»Und was ist mit Mumpitz?« fragte ich. »Oder Pah?«
»Pah, Mr. Henry?« fragte Mrs. Mering und rauschte ins Zimmer. »Worüber reden Sie so geringschätzig? Ich hoffe doch nicht über unser Kirchfest? Es kommt dem Restaurierungsfonds zugute, ein sehr wichtiges Projekt, Mr. Henry. Unsere arme Kirche muß dringendst restauriert werden. Meine Güte, das Taufbecken ist aus dem Jahr 1262! Und die Fenster! Hoffnungslos mittelalterlich! Wenn unser Fest erfolgreich wird, hoffen wir uns neue kaufen zu können!«
Sie häufte ihren Teller mit Bückling, Wild und Wolf voll, setzte sich und riß mit Schwung ihre Serviette vom Tisch auf ihren Schoß. »Mr. Arbitage hat das Restaurierungsprojekt ins Leben gerufen, wissen Sie. Bis er kam, war unser alter Vikar nicht einmal bereit, sich etwas über Restaurierung anzuhören. Ich fürchte, er ist ein bißchen hinter der Zeit zurück. Er weigert sich sogar, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß man mit den Geistern in Verbindung treten könne.«
Kluger Mann, dachte ich.
»Mr. Arbitage ist dem Gedanken des Spiritismus sehr zugetan. Er liebt es geradezu, mit unseren lieben Verstorbenen von der Anderen Seite zu sprechen. Glauben Sie, daß ein solcher Kontakt möglich ist, Mr. Henry?«
»Mr. Henry hat mich nach dem Kirchfest gefragt, Tante«, sagte Verity. »Ich wollte ihm gerade von Ihrer klugen Idee mit dem Gerümpel erzählen.«
»Oh!« Mrs. Mering schaute geschmeichelt. »Waren Sie schon einmal auf einem Kirchfest, Mr. Henry?«
»Ein paarmal«, sagte ich.
»Nun, dann wissen Sie ja, daß es dort jede Menge gestifteter Galanteriewaren gibt, Eingemachtes, Handarbeiten, alles mögliche. Ich dachte nun, wir könnten doch auch Sachen stiften, die wir nicht länger brauchen, alles mögliche, Teller und Bücher, Nippsachen, alles mögliche eben — ein richtiges Sammelsurium von Dingen!«
Ich starrte sie entsetzt an. Sie war die Person, mit der alles angefangen hatte, die Person, die für all die endlosen Basare mit dem unsäglichen Krimskrams verantwortlich zeichnete, in denen ich gesteckt hatte!
»Sie wären überrascht, Mr. Henry, wenn Sie wüßten, welche Schätze die Leute auf ihren Dachböden und in ihren Schuppen lagern, wo sie doch nur einstauben. Meine Güte, auf meinem eigenen Dachboden fand ich eine Teeurne und einen reizenden Sellerieteller. Baine, ist es Ihnen gelungen, die Dellen aus der Urne zu entfernen?«
»Ja, Madam«, sagte Baine und goß ihr Kaffee ein.
»Möchten Sie auch Kaffee, Mr. Henry?« fragte Mrs. Mering.
Ich war überrascht, wie freundlich sie zu mir war. Es mußte die Höflichkeit sein, von der Verity gesprochen hatte.
Tossie kam herein, Prinzessin Arjumand im Arm, um deren Hals eine große rosa Schleife gebunden war.
»Guten Morgen, Mama«, sagte sie, während ihre Augen die Runde nach Terence absuchten.
»Guten Morgen, Tocelyn«, sagte Mrs. Mering. »Hast du gut geschlafen?«
»O ja, Mama. Jetzt, wo meine süße Miezmiez wieder da ist.« Sie schnuckelte die Katze. »Hattu dich die ganze Nacht dicht an mich gekuschelt, Juju? Hattu das?«
»Tossie!« sagte Mrs. Mering scharf. Tossie zog eine Schnute.
Wahrscheinlich hat sie die Etikette übertreten, dachte ich, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, womit. Ich würde Verity nachher fragen müssen.
Colonel Mering und Professor Peddick kamen herein, angeregt in ein Gespräch über die Schlacht von Trafalgar vertieft. »Mit siebenundzwanzig zu dreiunddreißig im Nachteil«, sagte der Colonel gerade.
»Ganz meine Rede«, sagte Professor Peddick. »Wäre Nelson nicht gewesen, hätten sie die Schlacht verloren. Charakter bestimmt die Geschichte, nicht blinder Zufall! Individuelle Initiative!«
»Guten Morgen, Papa«, sagte Tossie und stand auf, um ihren Vater auf die Wange zu küssen.
»Guten Morgen, Tochter.« Er warf einen scharfen Blick auf Prinzessin Arjumand. »Gehört nicht hierher.«
»Aber sie hat Furchtbares mitgemacht«, sagte Tossie und trug die Katze zur Anrichte. »Schau mal, Prinzessin Arjumand, Bücklinge«, sagte sie, legte einen Hering auf den Teller, setzte ihn und Prinzessin Arjumand auf den Boden und lächelte Baine herausfordernd an.
»Guten Morgen, Mesiel«, sagte Mrs. Mering zu ihrem Ehemann. »Hast du gut geschlafen?«
»Ging so«, sagte er und lugte unter den Wolf. »Und du, Malvinia? Gut geschlafen, meine Liebe?«
Das war offenbar das Stichwort, auf welches Mrs. Mering gewartet hatte. »Im Gegenteil«, sagte sie und hielt dramatisch inne. »Es waren Geister in diesem Hause. Ich hörte sie.«
Ich wußte, daß ich Verity nicht hätte trauen sollen. »Diese Häuser haben dicke Wände. Man hört nichts.« Von wegen!
»Oh, Mama!« sagte Tossie aufgeregt. »Wie hörten sich die Geister an?«
Mrs. Merings Blick wurde abwesend. »Es war ein seltsames, unwirkliches Geräusch, das unmöglich von einem irdischen Wesen stammen kann. Eine Art schluchzendes Stöhnen wie Ausatmen, obwohl natürlich die Geister nicht atmen und dann…« Sie überlegte einen Moment und suchte nach Worten. »Und dann ein Schrieken, gefolgt von einem langgezogenen, schmerzerfüllten Japsen, wie von einer Seele im Fegefeuer. Es war ein schrecklicher, schrecklicher Ton.«
Dem konnte ich nur zustimmen.
»Ich spürte, daß dieses Wesen mit mir in Verbindung treten wollte, aber nicht konnte«, sagte sie. »Oh, wenn Madame Iritosky bloß hier wäre! Sie würde die Geister zum Sprechen bringen, da bin ich sicher. Ich werde ihr noch heute morgen schreiben und sie bitten, zu kommen, obwohl ich befürchte, daß es sinnlos ist. Sie sagt, sie kann nur in ihren eigenen vier Wänden arbeiten.«
Mit ihren Falltüren und verborgenen Drähten und geheimen Verbindungsgängen, dachte ich. Wahrscheinlich mußte ich dankbar dafür sein. Wenigstens konnte sie so nicht kommen und verraten, daß ich Cyril Unterschlupf gewährte.
»Wenn sie hätte hören könnte, wie angstvoll der Geist rief, würde sie sicher kommen«, sagte Mrs. Mering. »Baine, ist Mr. St. Trewes schon heruntergekommen?«
»Ich glaube, er kommt gerade«, sagte Baine. »Er hat den Hund ausgeführt.«
Zu spät zum Frühstück und dann den Hund ausgeführt! Zwei Minuspunkte, obwohl Mrs. Mering, als Terence ohne Cyril eintrat, nicht so abweisend schaute, wie ich angenommen hatte.
»Hallo«, sagte Terence. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe.«
»Das ist nicht weiter schlimm«, sagte Mrs. Mering und strahlte ihn an. »Setzen Sie sich doch, Mr. St. Trewes. Möchten Sie Tee oder Kaffee?«
»Kaffee«, erwiderte Terence und lächelte Tossie an.
»Baine, bringen Sie Kaffee für Mr. St. Trewes.«
»Wir freuen uns alle so, daß Sie gekommen sind. Ich hoffe, Sie und Ihre Freunde können so lange bleiben, daß Sie unser Kirchfest miterleben. Es wird ein Riesenspaß werden mit Büchsenwerfen und einer Wahrsagerin, und Tocelyn wird einen Kuchen für die Tombola backen. Sie ist eine ausgezeichnete Köchin, unsere Tocelyn, und so gebildet. Sie spielt Klavier, müssen Sie wissen, und spricht Deutsch und Französisch. Nicht wahr, Tocelyn?«
»Oui, Mama«, sagte Tossie und lächelte Terence an.
Ich schaute fragend zu Verity. Sie zuckte die Achseln, als wollte sie sagen »Keine Ahnung«.
»Professor Peddick, ich hoffe, Sie können Ihre Schüler für ein paar Tage entbehren«, fuhr Mrs. Mering fort. »Und Mr. Henry — bitte, sagen Sie, daß Sie uns bei der Schatzsuche helfen werden.«
»Mr. Henry hat mir erzählt, daß er eine Zeitlang in den Staaten war«, sagte Verity, und ich wandte mich erstaunt zu ihr um.
»Wirklich?« sagte Terence. »Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Es… es war während meiner Krankheit«, sagte ich. »Ich… Man schickte mich in die Staaten… zur Behandlung.«
»Haben Sie Rothäute gesehen?« fragte Tossie.
»Ich war in Boston«, stammelte ich, Verity insgeheim verfluchend.
»Boston!« rief Mrs. Mering. »Kennen Sie die Schwestern Fox?«
»Die Schwestern Fox?«
»Margaret und Kate Fox. Die Begründerinnen unserer spiritistischen Bewegung. Sie waren die ersten, bei denen sich die Geister durch Klopfzeichen meldeten.«
»Leider hatte ich nicht das Vergnügen«, erwiderte ich, aber Mrs. Mering hatte ihre Aufmerksamkeit bereits wieder Terence zugewandt.
»Tocelyn kann wunderbar sticken, Mr. St. Trewes«, sagte sie. »Sie müssen sich unbedingt die hübschen Kissenbezüge anschauen, die sie für unseren Galanteriewarentisch genäht hat.«
»Ich bin sicher, daß die Person, die sie ersteht, die lieblichsten Träume haben wird«, sagte Terence und lächelte Tossie schwachsinnig an. »›Ein Traum unendlich wonnevoll, zu schön, um lange zu besteh’n‹…«[53]
Der Colonel und der Professor, immer noch mit Nelson bei Trafalgar beschäftigt, schoben ihre Stühle zurück, erhoben sich und murmelten nacheinander: »Wenn Sie gestatten…«
»Mesiel, wo willst du hin?« fragte Mrs. Mering.
»Hinaus zum Fischteich«, erwiderte der Colonel. »Professor Peddick meinen perlmuttfarbenen Ryunkin zeigen.«
»Dann zieh die Wetterjacke an«, sagte Mrs. Mering. »Und deinen Wollschal.« Sie wandte sich mir zu. »Mein Mann ist empfindlich auf der Brust und bekommt leicht Katarrh.«
Wie Cyril, dachte ich.
»Baine, holen Sie Colonel Merings Wetterjacke«, sagte Mrs. Mering, aber die beiden waren schon verschwunden. Sofort richtete Mrs. Mering ihr Augenmerk wieder auf Terence. »Wo lebt denn Ihre Familie, Mr. St. Trewes?«
»In Kent«, sagte er. »Ein Fleckchen Erde, das ich bis jetzt für das schönste der Welt gehalten habe.«
»Sie gestatten doch, Tante Malvinia?« Verity faltete ihre Serviette zusammen. »Ich muß weiter an meinen Handschuhschachteln arbeiten.«
»Natürlich«, sagte Mrs. Mering abwesend. »Wie lange lebt Ihre Familie schon in Kent, Mr. St. Trewes?«
Als Verity an mir vorbeiging, ließ sie einen kleinen Zettel auf meinen Schoß fallen.
»Seit 1066«, erwiderte Terence. »Natürlich haben wir das Haus seitdem restauriert. Der größte Teil ist georgianisch. Roter Sandstein. Sie müssen uns unbedingt einmal besuchen.«
Ich faltete den Zettel unterm Tisch auseinander und las ihn unauffällig. »Kommen Sie in die Bibliothek.«
»Liebend gern«, sagte Mrs. Mering. »Nicht wahr, Tocelyn?«
»Oui, Mama.«
Ich nutzte die Gesprächspause. »Sie erlauben, Mrs. Mering?« Gerade wollte ich mich erheben.
»Keinesfalls, Mr. Henry«, sagte sie. »Sie haben ja überhaupt noch nichts gegessen! Sie müssen unbedingt etwas von Mrs. Poseys Aalpastete probieren. Sie ist unübertroffen.«
Wie wahr! Ebenso wie das Kedgeree, das sie von Baine mit einem großen schaufelartigen Gerät auf meinen Teller schippen ließ. Zweifelsohne ein Kedgereelöffel.
Nach etwas Aal und so wenig Kedgeree wie möglich gelang es mir, zu entkommen und nach Verity zu suchen, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo sich die Bibliothek befand. Ich brauchte dringend einen Plan des Hauses, wie die Detektive in Veritys Kriminalromanen.
Nachdem ich mehrere Türen probiert hatte, fand ich sie schließlich in einem Raum mit Bücherregalen vom Fußboden bis zur Decke.
»Was taten Sie so lange?« fragte Verity. Sie saß an einem Tisch, vor sich einen Haufen Muscheln und ein paar Leimtöpfe.
»Unaussprechliche, widerliche Dinge essen«, sagte ich. »Und Fragen über Amerika beantworten. Warum, um alles in der Welt, erzählten Sie, ich sei in Amerika gewesen? Ich weiß überhaupt nichts über die Staaten.«
»Die Merings auch nicht«, erwiderte Verity ungerührt. »Ich mußte eingreifen. Sie waren nicht genügend vorbereitet, und wahrscheinlich wären Sie in jeden möglichen Fettnapf getreten. Hier halten sie alle Amerikaner für Barbaren. Wenn Sie also die falsche Gabel benutzen, werden sie es Ihrem Aufenthalt in den Staaten zugute halten.«
»Da muß ich Ihnen wohl noch dankbar sein«, sagte ich.
»Setzen Sie sich. Wir müssen jetzt über unser weiteres Vorgehen sprechen.«
Ich schaute zur Tür, in deren Schloß ein altertümlicher Schlüssel steckte. »Soll ich abschließen?«
»Das ist nicht nötig«, sagte Verity und wählte eine flache rosafarbene Muschel aus. »Der einzige, der jemals hier hereinkommt, ist Baine. Mrs. Mering hat etwas gegen Bücher.«
»Und wo kommt das alles her?« Ich zeigte auf die beeindruckenden Reihen braun und scharlachrot eingebundener Bücher.
»Gekauft.« Verity strich Leim auf die Muschel.
»Gekauft?«
»Die ganze Bibliothek. Von Lord Dunsany. Für ihn arbeitete Baine, bevor er zu den Chattisbournes kam. Die Chattisbournes sind diejenigen, denen Mrs. Mering Baine abluchste, obwohl ich eigentlich glaube, daß Baine sich selbst entschied, hierherzukommen. Wegen der Bücher.« Sie klebte die Muschel auf die Schachtel. »Setzen Sie sich. Falls jemand hereinkommt, denkt er, Sie helfen mir hierbei.« Sie hielt eine fertige Schachtel hoch, auf die Muscheln verschiedenster Größe geleimt waren, die ein herzförmiges Muster ergaben.
»Absolut scheußlich«, sagte ich.
»Das ganze victorianische Zeitalter zeichnet sich durch immensen Mangel an gutem Geschmack aus. Seien Sie froh, daß es keine Haarkränze sind.«
»Haarkränze?«
»Blumen, die aus dem Haar von Verstorbenen gemacht sind. Die Perlmuttern an die Kanten«, sagte sie und zeigte es mir. »Dann eine Reihe Kaurimuscheln.« Sie schob mir einen Leimtopf hin. »Baine hat mir gesagt, warum Mrs. Mering plötzlich so liebenswürdig zu Terence ist. Sie hat im DeBrett seinen Namen nachgeschlagen. Er ist reich und Neffe eines Peers.«
»Reich?« fragte ich. »Er konnte doch nicht einmal das Boot bezahlen.«
»Die Adligen sind immer verschuldet«, sagte Verity und suchte eine Venusmuschel. »Er hat fünftausend im Jahr, ein Anwesen in Kent und ist von der Erbfolge her der zweite Anwärter auf die Peerswürde. Also ist es…« — sie legte die Venusmuschel wieder beiseite — »unsere Hauptaufgabe, Terence und Tossie voneinander fernzuhalten. Tossie sammelt heute morgen Sachen für den Basar ein, und Sie werden mit ihr gehen. Dann sind beide für mindestens einen halben Tag getrennt.«
»Und Terence?«
»Den schicke ich nach Streatley, um Lampions für das Fest zu besorgen. Ich möchte, daß Sie Tossie aushorchen, ob sie einen jungen Mann kennt, dessen Name mit C beginnt.«
»Ich nehme an, Sie haben die Nachbarschaft schon danach durchforscht«, sagte ich.
Verity nickte. »Ich fand nur einen Mr. Cudden und Mr. Cawp, den Bauern, der immer die Kätzchen ertränkt.«
»Hört sich an wie der Traumprinz. Und Mr. Cudden?«
»Ist verheiratet«, sagte Verity düster. »Man sollte eigentlich meinen, es gäbe mehr Mr. C’s — denken Sie bloß an Dickens. David Copperfield, Martin Chuzzlewit, Bob Cratchet.«
»Ganz zu schweigen von dem Vortrefflichen Crichton«, sagte ich, »und Lewis Carroll. Nein, der fällt raus. Der hieß ja eigentlich anders. Aber Thomas Carlyle. Und G. K. Chesterton. Alles geeignete Bewerber. Was werden Sie tun, während ich mit Tossie unterwegs bin?«
»Ihr Zimmer nach dem Tagebuch durchsuchen. Sie hat es versteckt, und ich mußte meine Suche abbrechen, denn Jane kam herein. Aber heute morgen, wenn sie alle bei den Vorbereitungen für das Kirchfest sind, wird mich keiner stören. Falls ich nichts entdecke, springe ich nach Oxford und schaue, ob unsere Schriftexpertin inzwischen etwas herausgefunden hat.«
»Fragen Sie Miß Warder, wie groß der Schlupfverlust bei dem Sprung war, bei dem Sie Prinzessin Arjumand retteten«, sagte ich.
»Nach Oxford?« Sie schüttelte den Kopf. »Bei der Rückkehr gibt es niemals Schlupfverluste.«
»Nein«, sagte ich. »Der Sprung, als Sie durchkamen und die Katze sahen.«
»Gut. Wir gehen besser wieder zu den anderen.« Sie verkorkte den Leimtopf, stand auf und läutete nach Baine.
»Baine«, sagte sie, als er erschien, »lassen Sie sofort die Kutsche vorfahren, und kommen Sie dann in den Frühstücksraum.«
»Wie Sie wünschen, Miss«, sagte er.
»Danke, Baine.« Verity nahm die mit Muscheln bestückte Schachtel und führte mich zum Frühstücksraum zurück, wo Mrs. Mering immer noch Terence ausfragte. »Nein, wie exquisit!« sagte sie, als Verity ihr die Schachtel zeigte.
»Wir haben noch eine Menge fürs Fest zu tun, Tante Malvinia«, sagte Verity. »Ich wünsch’ mir so sehr, daß der Basar ein Erfolg wird. Haben Sie Ihre Liste?«
»Läute nach Jane, daß sie sie bringt.«
»Sie ist zum Pfarrhaus gegangen, um die Fähnchen zu holen«, sagte Verity, und sobald Mrs. Mering das Zimmer verlassen hatte, »Mr. St. Trewes, dürfte ich Sie um einen großen Gefallen bitten? Die Lampions, die wir zwischen den Ständen aufhängen wollten, sind noch nicht geliefert. Würden Sie nach Streatley fahren, um sie zu holen?«
»Das kann Baine erledigen«, sagte Tossie. »Terence und ich wollen heute morgen die Chattisbournes besuchen.«
»Deine Mutter kann Baine nicht entbehren, denn er soll beim Aufbau des Teezeltes helfen«, entgegnete Verity. »Mr. Henry wird dich begleiten. Baine«, sagte sie zu dem Butler, der gerade hereinkam. »Bringen Sie Mr. Henry einen Korb für die Spenden. Ist die Kutsche bereit?«
»Jawohl, Miss«, sagte Baine und verließ das Zimmer.
»Aber…« Tossie zog eine Schnute.
»Hier ist die Adresse.« Verity gab Terence ein Blatt Papier. »Und die Bestellung für die Lampions. Es ist ganz reizend von Ihnen.« Damit scheuchte sie ihn aus der Eingangstür, bevor Tossie überhaupt etwas einwenden konnte.
Baine brachte den Korb, und Tossie ging ihren Hut und ihre Handschuhe holen. »Ich frage mich, warum nicht Mr. Henry die Lampions holen konnte«, hörte ich sie sagen, als sie mit Verity die Treppe hinaufging.
»Trennung verstärkt die Zuneigung«, sagte Verity. »Trag deinen Hut mit dem getupften Schleier, damit Rose Chattisbourne ihn sieht.«
Verity kam wieder die Treppe herunter. »Ich bin beeindruckt«, sagte ich.
»Ich habe bei Lady Schrapnell Unterricht genommen«, erwiderte Verity. »Wenn Sie bei den Chattisbournes sind, versuchen Sie herauszufinden, wann Elliot Chattisbourne — das ist derjenige, dessen Kleidung Sie tragen — nach Hause zurückkehrt. Vielleicht korrespondiert Tossie heimlich mit ihm, seit er in Südafrika ist. Ah, da kommt sie.«
Tossie flatterte mit dem getupften Schleier die Treppe herunter, in der Hand einen Sonnenschirm und ein kleines Handtäschchen. Wir machten uns auf den Weg.
Baine rannte hinter uns her. »Ihr Hut, Sir«, sagte er atemlos und hielt mir meinen Strohhut hin.
Als ich den Strohhut den Fluß hatte hinuntertreiben sehen, war das Band bereits zu fahlem Blau auf dem vollgesogenen Stroh verblaßt. Baine hatte es geschafft, den Hut in seinen Originalzustand zurückzuversetzen, das Band kräftig blau, das Stroh geschrubbt und frisch.
»Danke, Baine«, sagte ich. »Ich dachte, er wäre für immer verloren.«
Ich setzte den Hut auf und fühlte mich sofort spritziger, nicht nur imstande, Tossie von Terence fernzuhalten, sondern sie ihn völlig mit meinem Charme vergessen zu lassen.
»Gehen wir?« Ich bot Tossie meinen Arm.
Sie schaute durch die Schleiertupfen zu mir hoch. »Meine Cousine Verity sagt, daß Sie mit dem Hut etwas beschränkt aussehen«, sagte sie sinnend. »Aber ich glaube, sie übertreibt etwas. Manche Männer können einfach keine Hüte tragen. ›Hattu gesehen, wie umwerfend Mr. St. Trewes mit seinem Hut aussieht?‹, fragte mich meine süße Miezmiez heut morgen. ›Schöner Mann, niss wahr? Sooo gutaussehend…‹«
Ich hatte geglaubt, Babysprache an sich sei schlimm, aber Babysprache von einer Katze…
»Ein Bursche aus der Gegend hier war mit mir auf der Schule«, sagte ich, das Gespräch auf etwas Produktiveres lenkend. »Mir ist der Name entfallen. Begann mit C, soweit ich mich entsinne.«
»Elliot Chattisbourne?«
»Nein, das war es nicht«, sagte ich. »Obwohl das auch mit C anfängt.«
»Sie kennen Ihnen aus der Schule?« Tossie schürzte die Lippen. »Waren Sie in Eton?«
»Ja«, erwiderte ich. Warum auch nicht? »Eton.«
»Es könnte Freddie Lawrence sein. Aber der war in Harris. Waren Sie mit Terence zusammen auf der Schule?«
»Es war so ein mittelgroßer Bursche. Spielte gut Crocket.«
»Und sein Name begann mit C?« Sie schüttelte die Locken. »Da fällt mir niemand ein. Spielt Terence Crocket?«
»Er rudert«, sagte ich. »Und schwimmt. Er ist ein sehr guter Schwimmer.«
»Es war schrecklich tapfer von ihm, Prinzessin Arjumand zu retten«, sagte Tossie. »›Is er nicht tapferster Ritter von der ganzen Welt?‹ fragte mich Juju. ›Is glaub son.‹«
Und so ging es den ganzen Weg weiter, was insofern ganz gut war, als ich sowieso keine weiteren Tatsachen über Terence wußte.
»Hier sind wir«, sagte Tossie und schritt die Auffahrt zu einem großen neugotischen Gebäude hoch.
Nun, das hast du überlebt, sagte ich zu mir selbst. Jetzt kann es nur noch einfacher werden.
Tossie ging die Eingangsstufen hoch. Ich wartete, ob sie läuten würde, entsann mich dann aber, daß wir uns im victorianischen Zeitalter befanden, und klingelte für sie. Als der Butler öffnete, trat ich einen Schritt zurück.
Es war Finch. »Guten Morgen, Miss, Sir«, sagte er. »Wen darf ich melden?«