»Hinein ins Tal des Todes…«
In der Halle • Eine Aufforderung • Baine packt aus und macht eine interessante Entdeckung • In der Küche • Erstaunliche Anekdoten über Jones zweites Gesicht • Vorbereitungen für die Seance • Mein Mitgefühl für Napoleon • Juwelen • Das Duell der Medien • Eine geisterhafte Erscheinung
Madame Iritosky wartete in der Halle und mit ihr neun Gepäckstücke, ein langes schwarz emailliertes Kabinett und Count de Vecchio.
»Madame Iritosky!« sprudelte Mrs. Mering. »Welch freudige Überraschung! Count de Vecchio! Baine, holen Sie sofort den Colonel und sagen Sie ihm, daß wir Gäste haben! Wie wird er sich freuen! Sie kennen ja Miss Brown.« Sie wies auf Verity. »Und dies ist Mr. Henry.«
Wir waren Mrs. Mering zum Haus gefolgt, wobei Verity murmelte: »Was will sie hier? Ich dachte, sie verließe niemals ihr Haus.«
»Ischt mirr ein Verrrgnügen«, sagte Count de Vecchio mit einer Verbeugung in meine Richtung.
»Warum haben Sie uns Ihr Kommen nicht angekündigt?« wollte Mrs. Mering wissen. »Baine hätte Sie doch am Bahnhof abgeholt.«
»Ich wußte es selbst nicht«, erwiderte Madame Iritosky, »bis ich vergangene Nacht eine Botschaft von der Anderen Seite erhielt. Eine solche Aufforderung der Geister darf man nicht ignorieren.«
Sie sah anders aus, als ich erwartet hatte, dicklich und untersetzt, mit einer Knopfnase, wirrem grauem Haar, in einem ziemlich fadenscheinigen braunen Kleid. Der Hut, den sie trug, war ebenfalls schäbig, und die Federn darauf sahen aus, als seien sie einem Hahn ausgerupft worden. Ich hätte angenommen, daß Mrs. Mering über eine solche Frau nur die Nase rümpfen würde, tatsächlich aber schmolz sie fast dahin.
»Eine Botschaft von den Geistern!« Sie klatschte in die Hände. »Wie aufregend! Was sagten sie?«
»›Geh!‹« Madame Iritoskys Stimme war dramatisch.
»Avanti!« fiel Count de Vecchio ein und nickte bekräftigend. »Sie klopften eeess auf den Tiiisch. ›Geh!‹«
»›Geh wohin?‹, fragte ich sie«, fuhr Madame Iritosky fort, »und wartete, daß es weiter klopfte. Aber es blieb alles still.«
»Silencio«, sagte de Vecchio unterstützend.
»›Geh wohin?‹, fragte ich noch einmal. Und plötzlich, dort auf dem Tisch vor mir, erschien ein weißes Licht, das heller und heller wurde, bis ich…« Sie machte eine dramatische Pause, »Ihren Brief erkannte.«
»Meinen Brief!« Mrs. Mering rang nach Atem, und ich eilte an ihre Seite, voller Angst, wir müßten uns gleich mit einem neuerlichen Ohnmachtsanfall befassen, aber sie fing sich nach ein paar Sekunden wieder. »Ich schrieb ihr, erzählte von den Geistern, die ich gesehen hatte«, erklärte sie mir. »Und nun haben diese Sie mir geschickt!«
»Sie wollen mir etwas sagen«, sagte Madame Iritosky und starrte zur Decke hoch. »Ich fühle ihre Anwesenheit. Sie sind hier mitten unter uns.«
Ebenso wie Tossie, Terence und Baine, die allesamt gerade erschienen waren. Und Colonel Mering, der außerordentlich verärgert dreinblickte. Er trug Anglerstiefel und in der Hand einen Käscher. »Was ist los?« polterte er ungehalten. »Hoffe, was Wichtiges. Diskutierte gerade mit Peddick die Schlacht von Monmouth.«
»Miss Mering, amor mia«, sagte Count de Vecchio und wandte sich sofort an Tossie. »Wie freue isch misch, Sie wiederrrzusehen.« Er beugte sich über Tossies Hand, als wollte er sie küssen.
»Guten Tag«, sagte Terence, schob sich vor Tossie und streckte steif die Hand aus. »Terence St. Trewes. Miss Merings Verlobter.«
Count de Vecchio und Madame Iritosky tauschten einen kurzen Blick.
»Mesiel, du wirst es nicht glauben, wer gekommen ist!« sagte Mrs. Mering. »Madame Iritosky, darf ich Ihnen meinen Gatten, Colonel Mering, vorstellen?«
»Colonel Mering, danke, daß Sie uns in Ihrem Haus willkommen heißen«, sagte Madame Iritosky und neigte ihm leicht ihren Kopf mit den Hahnenfedern zu.
»Harumph«, brummte der Colonel durch seinen Schnauzbart.
»Ich erzählte dir doch, daß ich einen Geist gesehen habe, Mesiel. Madame Iritosky ist gekommen, um für uns mit ihm Kontakt aufzunehmen. Sie sagt, die Geister seien sogar jetzt mitten unter uns.«
»Seh’ keine«, grummelte der Colonel. »Kein Platz für sie in dieser verdammten Halle. Besitzen doch ein Haus, oder? Versteh’ nicht, warum wir dann alle hier mit dem Gepäck rumstehen.«
»Oh, natürlich!« Mrs. Mering schien zum ersten Mal zu bemerken, wie eng es in der Halle geworden war. »Kommen Sie, Madame Iritosky, Count de Vecchio! Gehen wir in die Bibliothek. Baine, sagen Sie Jane, daß sie Tee servieren soll, und bringen Sie das Gepäck unserer Gäste auf ihre Zimmer.«
»Das Kabinett auch, Madame?« fragte Baine.
»Das…« Mrs. Mering stoppte und schaute überrascht auf den Berg Gepäckstücke. »Meine Güte, wieviel Gepäck! Wollen Sie verreisen, Madame Iritosky?«
Madame Iritosky und Count de Vecchio wechselten wieder einen raschen Blick. »Wer kann das wissen?« sagte sie dann. »Wenn die Geister befehlen, gehorche ich.«
»Oh, ja, natürlich«, sagte Mrs. Mering. »Nein, Baine, Madame Iritosky braucht das Kabinett für die Seance. Stellen Sie es ins Wohnzimmer.«
Ich fragte mich, wo, um alles in der Welt, es dort Platz finden sollte, bei all den Ottomanen, Kaminschirmen und Aspidistrapflanzen.
»Und tragen Sie das übrige Gepäck hoch«, fuhr Mrs. Mering fort, »und packen Sie es aus.«
»Nein«, sagte Madame Iritosky scharf. »Ich packe meine Sachen lieber selbst aus. Es ist besser für die seelischen Kraftströme.«
»Natürlich«, erwiderte Mrs. Mering, die wahrscheinlich genauso wenig wie wir anderen begriff, wovon Madame Iritosky eigentlich sprach. »Nach dem Tee würde ich Sie gern zu dem Platz führen, wo ich den Geist zum ersten Mal sah.«
»Nein«, protestierte Madame Iritosky. »Meine Kräfte sind durch die lange Reise ziemlich erschöpft. Eisenbahnen!« Sie schauderte. »Nach dem Tee muß ich mich ausruhen. Morgen dürfen Sie mir gern das ganze Haus und Grundstück zeigen.«
»Natürlich.« Mrs. Merings Stimme klang enttäuscht.
»Wir werden Muchings End genauestens inspizieren«, versicherte Madame Iritosky. »Man merkt hier ganz deutlich die Anwesenheit eines Geistes. Wir werden Verbindung mit ihm aufnehmen.«
»Was für ein Spaß!« sagte Tossie. »Wird er sich zeigen?«
»Möglicherweise.« Madame Iritosky legte erneut ihre Hand an die Stirn.
»Sie müssen sehr erschöpft sein, Madame Iritosky.« Mrs. Mering führte sie und Count de Vecchio in die Bibliothek. »Sie müssen sich unbedingt setzen. Der Tee kommt gleich.«
»Warum hast du mir nichts von diesem Count de Wanzo erzählt?« fragte Terence Tossie verstimmt, als wir folgten.
»De Vecchio«, verbesserte Tossie. »Er sieht umwerfend gut aus, nicht wahr? Iris Chattisbourne meint, alle Italiener sähen gut aus. Bist du auch dieser Meinung?«
»Geister!« Der Colonel schlug mit dem Käscher gegen seine Hüfte. »So ein Humbug! Ausgemachter Blödsinn!« Und damit stapfte er zu der Schlacht von Monmouth zurück.
Baine, der mißfällig das Gepäck betrachtet hatte, verbeugte sich und ging den Korridor hinunter zur Küche.
»Na?« fragte ich Verity, nachdem alle verschwunden waren. »Was machen wir jetzt?«
»Wir bereiten uns auf heute abend vor«, sagte Verity. »Hat dieser Weidenkorb, in dem Prinzessin Arjumand steckte, den Schiffbruch überlebt?«
»Ja. Er steht in meinem Schrank.«
»Gut«, sagte sie. »Holen Sie ihn und stellen Sie ihn ins Wohnzimmer. Ich muß die Veilchenschachtel an mein Strumpfband nähen.« Sie wollte die Treppe hochsteigen.
»Wollen Sie Ihren Plan trotz Madame Iritoskys Anwesenheit durchführen?«
»Morgen ist der fünfzehnte. Haben Sie eine bessere Idee?«
»Könnten wir Tossie nicht einfach einen Ausflug nach Coventry vorschlagen — so wie den zur Kirche von Iffley?«
»Sie wollte nicht die Kirche von Iffley besuchen, sondern Terence wiedersehen. Außerdem haben Sie doch gehört, was sie gesagt hat. Sie ist völlig wild darauf, das Grundstück abzusuchen und Geister zu sehen. Nie im Leben würde sie sich das entgehen lassen.«
»Was ist mit Count de Vecchio?« fragte ich. »Könnte er Mr. C sein? Er ist grade zur rechten Zeit erschienen, und wenn jemals jemand aussah, als benutze er einen Decknamen, dann er.«
»Unmöglich«, sagte Verity. »Tossie war mit Mr. C sechzig Jahre lang glücklich verheiratet, haben Sie das vergessen? Count de Vecchio würde ihr ganzes Geld verjubeln und sie nach drei Monaten in Mailand sitzenlassen.«
Ich mußte ihr zustimmen. »Was wollen die beiden Ihrer Meinung nach hier?«
Verity runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Ich nahm an, der Grund, daß Madame Iritosky niemals Seancen außerhalb ihres eigenen Heimes abhält, läge darin, daß sie ihr Haus mit allem möglichen Falltüren und Geheimgängen präpariert hat.« Sie öffnete die Tür des Kabinetts. »Aber einige dieser Vorrichtungen sind transportierbar.« Sie schloß die Tür. »Vielleicht will sie auch Nachforschungen anstellen. Sie wissen schon — in Schubladen schnüffeln, Briefe lesen, sich Familienbilder ansehen.«
Sie nahm ein Pärchen aus Zinn in die Hand, das auf einem Podest neben einem hölzernen Wegweiser mit der Aufschrift »Loch Lomond«stand. »›Ich sehe einen Mann mit einem Zylinder‹«, sagte sie und legte die Fingerspitzen an die Stirn. »›Er steht neben… einem Gewässer… einem See vermutlich. Ja, es ist eindeutig ein See.‹ Daraufhin schreit Mrs. Mering: ›Es ist Onkel George!‹ Ja, sie suchen Informationen, um die Leichtgläubigen zu überzeugen. Nicht, daß das bei Mrs. Mering nötig wäre. Sie benimmt sich noch schlimmer als Arthur Conan Doyle. Madame Iritoskys Ruhestündchen sieht wahrscheinlich so aus, daß sie sich in die Schlafzimmer schleicht und Munition für die Seance sammelt.«
»Vielleicht können wir sie dazu bringen, daß sie Tossies Tagebuch für uns stiehlt«, sagte ich.
Verity lächelte. »Was genau sagte Finch über das Tagebuch? Sagte er, es sei mit Sicherheit der fünfzehnte?«
»Er sagte, Dunworthy hätte ihn beauftragt, uns mitzuteilen, daß die Gerichtsmedizinerin das Datum entziffert hätte, und es sei der fünfzehnte.«
»Sagte Finch, wie sie es herausfand? Eine Fünf kann einer Sechs oder Acht ziemlich ähnlich sehen. Und wenn es der sechzehnte oder achtzehnte wäre, hätten wir genug Zeit, um… Ich muß mit ihm reden. Falls Mrs. Mering nach mir fragt, sagen Sie Ihr, daß ich zu Reverend Arbitage gegangen sei, um ihn zu der Seance zu bitten. Und falls möglich, besorgen Sie zwei Drähte, ungefähr fünfzig Zentimeter lang.«
»Weshalb?«
»Für die Seance. Finch hat Ihnen nicht zufällig ein Tamburin ins Gepäck gesteckt, oder?«
»Nein«, sagte ich. »Halten Sie es für gut zu springen? Denken Sie an gestern.«
»Ich muß mit Finch reden, nicht mit der Gerichtsmedizinerin.« Sie zog die Handschuhe an. »Außerdem geht es mir wieder ausgezeichnet. Ich finde Sie übrigens überhaupt nicht mehr anziehend.« Damit fegte sie aus der Vordertür.
Ich ging in mein Zimmer, holte den Weidenkorb und stellte ihn in den Salon. Verity hatte nicht genauer gesagt, was mit ihm geschehen sollte, also stellte ich ihn auf den Rost hinter den Kaminschirm, damit Baine ihn nicht sehen und tüchtigerweise entfernen konnte, wenn er das Kabinett brachte.
Als ich wieder auf den Korridor trat, wartete Baine auf mich in der nun mit weniger Gepäck vollgestopften Halle.
»Dürfte ich Sie um eine kurze Unterredung bitten, Sir?« fragte er mit einem wachsamen Blick in Richtung Bibliothek. »Unter vier Augen?«
»Natürlich«, sagte ich, führte ihn in mein Zimmer und hoffte, er hatte keine weiteren Fragen über die Lebensbedingungen in den Vereinigten Staaten im Sinn.
Ich schloß die Tür hinter uns. »Haben Sie etwa Prinzessin Arjumand wieder in den Fluß geworfen?«
»Nein, Sir«, sagte er. »Es handelt sich um Madame Iritosky. Als ich ihre Koffer auspackte, fand, ich darin einige außerordentlich befremdliche Gegenstände.«
»Ich dachte, Madame Iritosky wollte ihre Koffer selbst auspacken?«
»Eine Dame packt niemals selbst aus«, sagte er. »Als ich die Koffer öffnete, fand ich eine Reihe unerfreulicher Dinge: Trompeten, Glocken, Zeigestöcke, ein Akkordeon mit Selbstspielmechanismus, Drähte, ein paar Meter schwarzes Tuch und Schleier und ein Buch mit Zaubertricks. Unddas hier!« Er reichte mir eine kleine Flasche.
Ich las das Etikett vor. »Balmain’s Leuchtfarbe.«
»Ich befürchte, Madame Iritosky ist kein echtes Medium, Sir, sondern eine Betrügerin.«
»Scheint so«, sagte ich und öffnete die Flasche. Sie enthielt eine grünlichweiße Flüssigkeit.
»Ich fürchte, ihre und des Counts Absichten in bezug auf die Merings sind unehrenhaft«, fuhr Baine fort. »Ich habe mir die Freiheit genommen, vorsorglich Mrs. Merings Juwelen in Sicherheit zu bringen.«
»Ausgezeichnete Idee«, sagte ich.
»Doch die größten Sorgen macht mir Madame Iritoskys Einfluß auf Miss Mering. Ich fürchte, sie wird einem schändlichen Komplott der beiden zum Opfer fallen.« In seiner Stimme lag Anteilnahme und echte Sorge. »Als sie Tee tranken, las Madame Iritosky Miss Mering aus der Hand. Sie sagte ihr, sie sähe eine Hochzeit in naher Zukunft. Eine Hochzeit mit einem Ausländer. Miss Mering ist sehr leicht zu beeindrucken«, sagte er ernst. »Sie hat noch nicht gelernt, wissenschaftlich zu denken oder ihre Gefühle logisch zu analysieren. Ich mache mir größte Sorgen, daß sie eine Dummheit begehen könnte.«
»Sie machen sich wirklich Sorgen um sie, was?« fragte ich überrascht.
Die Röte stieg ihm in den Nacken. »Sie hat viele Fehler. Sie ist eitel, kindisch und ungezogen, aber das kommt durch ihre schlechte Erziehung. Sie ist verwöhnt und in Watte gepackt worden, aber im Grunde ihres Herzens ist sie vernünftig.« Er schaute verlegen. »Sie weiß so wenig von der Welt. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.«
»Miss Brown und ich haben uns auch schon unsere Gedanken gemacht«, sagte ich. »Wir wollen Miss Mering dazu bringen, uns morgen auf einen Ausflug nach Coventry zu begleiten, damit sie aus der Nähe Count de Vecchios und Madame Iritoskys wegkommt. Wir haben bereits einen Plan geschmiedet.«
»Oh«, sagte er mit erleichterter Miene. »Eine gute Idee. Falls ich irgendwie helfen kann…«
»Am besten, Sie packen das wieder ein, bevor Madame Iritosky es vermißt«, sagte ich und reichte ihm mit Bedauern die Flasche Balmain’s Leuchtfarbe. Es hätte sich so gut gemacht, damit »Coventry« auf den Seance-Tisch zu schreiben.
»Ja, Sir.« Er nahm die Flasche.
»Und vielleicht sollten Sie auch das Silber wegschließen.«
»Das habe ich bereits getan, Sir. Danke, Sir.« Er wollte zur Tür gehen.
»Baine«, sagte ich. »Sie können noch etwas tun. Ich bin überzeugt, daß de Vecchio gar kein echter Count ist. Wahrscheinlich reist er unter falschem Namen. Wenn Sie seine Sachen auspacken und da vielleicht irgendwelche Papiere oder Briefe finden…«
»Ich verstehe, Sir«, erwiderte er. »Und falls ich noch etwas tun kann, Sir, lassen Sie es mich wissen.« Er hielt inne. »Ich habe nur Miss Merings Wohlergehen im Sinn.«
»Das weiß ich, Baine«, sagte ich. Dann ging ich in die Küche und hielt nach einem dünnen starken Draht Ausschau.
»Draht?« Jane wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Wofür, Sorrr?«
»Um mein Portmanteau zu verschnüren«, sagte ich. »Die Schnalle ist entzwei.«
»Baine kann das für Sie reparieren«, erwiderte sie. »Wird’s heute abend eine Seance geben, jetzt, wo diese Madame hier angekommen ist?«
»Ja.«
»Auch mit Trompeten? Was meinen Sie? Meine Schwester Sharon, die Dienstmädchen in London ist, also die Herrin von ihr machte eine Seance, und da schwebte eine Trompete direkt über dem Tisch und spielte: ›Wie senken sich die Schatten der Nacht‹.«
»Ich weiß nicht, ob Trompeten dabei sein werden«, sagte ich. »Baine hat soviel mit Count de Vecchios Gepäck zu tun, deshalb will ich ihn nicht stören. Ich brauche zwei Drähte, ungefähr… so lang.«
»Sie können ein Stück Zwirn kriegen«, sagte sie. »Reicht das?«
»Nein«, entgegnete ich. Warum hatte ich nicht Baine gebeten, einfach etwas Draht aus Madame Iritoskys Koffer zu entwenden? »Es muß Draht sein.«
Jane öffnete eine Schublade und wühlte darin. »Ich hab’ nämlich das zweite Gesicht, Sorrr. Wie meine Mutter auch.«
»Mmh«, sagte ich. In der Schublade sah ich eine Unmenge unbekannter Gegenstände, aber keinen Draht.
»Als Sean sich damals das Schlüsselbein brach, sah ich das alles in einem Traum vorher, Sorrr. Wenn etwas Schlimmes bevorsteht, krieg’ ich immer so ein komisches Gefühl im Magen.«
Etwas Schlimmes wie diese Seance? dachte ich.
»Vergangene Nacht, Sorrr, träumte ich von einem großen Schiff. Passen Sie auf, hab ich zur Köchin gesagt, jemand im Haus macht demnächst eine Reise. Und heut’ mittag kommt diese Madame hier an und auch noch mit dem Zug! Meinen Sie, es gibt eine Erscheinung heut’ abend?«
Hoffentlich nicht, dachte ich, obwohl man sich bei Verity nicht sicher sein konnte. »Was haben Sie denn jetzt genau vor?« fragte ich sie, als sie kurz vor dem Abendessen zurückkam. »Sie werden sich doch nicht etwa in Schleier hüllen oder irgendsowas?«
»Nein«, flüsterte sie mit Bedauern in der Stimme. Wir standen vor den Verandatüren, die zum Salon führten, und warteten darauf, daß zum Abendessen gerufen wurde. Drinnen saß Mrs. Mering auf dem Sofa und wärmte mit Tossie zusammen noch einmal den akustischen Eindruck von Cyrils nächtlicher Schnarchorgie auf — »Der Schrei einer aufs Blut gequälten Kreatur!« —, während sich Professor Peddick und der Colonel Mering am Kamin mit Angelgeschichten beschäftigten. Wir mußten uns also leise unterhalten. Von Madame Iritosky und Count de Vecchio war noch nichts zu sehen. Wahrscheinlich »ruhten« sie noch. Ich hoffte, sie hatten Baine nicht beim Aus- und Einpacken erwischt.
»Ich denke, wir sollten so simpel wie möglich vorgehen«, sagte Verity. »Haben Sie die Drähte?«
»Ja.« Ich zog sie aus der Jackentasche. »Nachdem ich mir anderthalb Stunden Janes Erfahrungen mit dem zweiten Gesicht angehört habe. Wozu sollen die gut sein?«
»Zum Tischerücken natürlich«, sagte Verity und stellte sich so, daß wir von drinnen nicht gesehen werden konnten. »Machen Sie in jeden Draht eine Schlinge und stecken Sie sich, bevor die Seance beginnt, einen Draht in jeden Ärmel. Wenn die Lichter aus sind, ziehen Sie die Drähte bis über das Handgelenk heraus und verhaken sie unter der Tischkante. Auf diese Weise können Sie den Tisch anheben und gleichzeitig die Hände Ihrer Nachbarn halten.«
»Den Tisch anheben?« Ich steckte die Drähte wieder in meine Jacke. »Welchen Tisch? Diesen massiven Rosenholztisch im Wohnzimmer? Kein Draht der Welt kann dieses Ding hochheben.«
»Doch«, sagte Verity. »Es beruht auf dem Prinzip der Hebelwirkung.«
»Woher wissen Sie das?«
»Aus einem Detektivroman.«
Das hätte ich mir denken können. »Und wenn mich jemand dabei ertappt?«
»Es wird Sie keiner ertappen. Es ist dunkel.«
»Und wenn jemand verlangt, man solle das Licht anmachen?«
»Licht hält die Geister davon ab, sich zu materialisieren.«
»Wie passend«, sagte ich.
»Sogar sehr passend. Sie erscheinen auch nicht, wenn ein Zweifler anwesend ist. Oder wenn irgend jemand das Medium oder eine andere Person im Kreis stört. Also wird Sie niemand ertappen, wenn Sie den Tisch anheben.«
»Falls ich ihn anheben kann. Dieser Tisch wiegt eine Tonne.«
»Miss Climpson schaffte es. In Tödliches Gift. Sie mußte es. Lord Peter wurde die Zeit knapp. Uns geht’s genauso.«
»Haben Sie mit Finch gesprochen?«
»Ja. Ich habe ihn schließlich doch noch erwischt. Ich mußte den ganzen Weg zur Bakerfarm laufen, wo er gerade Spargel einkaufte. Was hat er bloß vor?«
»Und die Zahl ist eindeutig eine Fünf?«
»Es war keine Zahl. Es war ausgeschrieben. Und es gibt keine andere Zahl mit zwei F’s und einem Ü. Es war eindeutig der fünfzehnte Juni.«
»Der fünfzehnte Juni«, sagte Professor Peddick vom Herd her. »Der Abend der Schlacht von Quatre Bas und der verhängnisvollen Fehler, die zum Desaster von Waterloo führten. Es war der Tag, an dem Napoleon den Fehler beging, General Ney die Einnahme von Quatre Bas zu übertragen. Ein schicksalhafter Tag.«
»Für uns auch, wenn es uns nicht gelingt, Tossie nach Coventry zu bringen«, murmelte Verity. »Also, wir gehen so vor: Sie bewegen den Tisch ein- oder zweimal, worauf Madame Iritosky fragen wird, ob ein Geist anwesend ist, und ich klopfe einmal für Ja. Dann wird sie mich fragen, ob ich für jemanden eine Nachricht habe, und ich werde sie buchstabieren.«
»Buchstabieren?«
»Durch Klopfen. Das Medium sagt das Alphabet, und der Geist klopft bei dem entsprechenden Buchstaben.«
»Hört sich ziemlich zeitaufwendig an«, sagte ich. »Ich dachte, auf der Anderen Seite seien sie allwissend. Da könnte man doch annehmen, sie besäßen ein effizienteres System, Botschaften zu übermitteln.«
»Haben sie auch, nämlich das Ouijabrett. Das wurde aber erst 1891 eingeführt. Wir müssen uns eben so behelfen.«
»Wie bringen Sie es fertig, zu klopfen?«
»Ich habe die Hälften der Veilchenschachtel an je ein Strumpfband von mir genäht. Wenn ich die Knie zusammenschlage, ergibt es ein hübsches hohles Klopfen. Ich habe es in meinem Zimmer ausprobiert.«
»Wie verhindern Sie, daß Sie unwillkürlich klopfen?« fragte ich und schaute auf ihren Rock. »Zum Beispiel während des Abendessens?«
»Ganz einfach. Das eine Strumpfband sitzt höher als das andere. Ich ziehe beide auf gleiche Höhe, wenn wir uns an den Seance-Tisch setzen. Sie müssen dafür sorgen, daß Madame Iritosky nicht klopfen kann.«
»Hat sie auch eine Veilchenschachtel?«
»Nein. Sie macht es mit den Füßen. Sie knackt mit den Zehen wie die Schwestern Fox. Wenn Sie Ihr Bein gegen das ihre pressen, spüren Sie jede Bewegung. Ich glaube, sie wird es gar nicht versuchen, zumindest nicht, bis ich nicht ›GEHT NACH COVENTRY‹ geklopft habe.«
»Sind Sie sicher, daß das klappt?«
»Bei Miss Climpson hat es geklappt«, sagte sie. »Außerdem muß es klappen. Sie haben gehört, was Finch gesagt hat. In Tossies Tagebuch steht, sie ging am fünfzehnten nach Coventry, also muß sie gehen. Und wir müssen sie dazu bringen. Also muß die Seance erfolgreich sein.«
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte ich.
»Wir sind hier im victorianischen Zeitalter«, sagte Verity. »Hier wird von Frauen nicht erwartet, Sinnvolles zu sagen.« Sie hakte ihren Arm unter meinen. »Da kommen Madame Iritosky und Count de Vecchio. Wollen wir hineingehen?«
Wir gingen zum Abendessen, das aus gegrillter Seezunge, Lammbraten und Meinungen, wie Napoleon es hätte besser machen können, bestand.
»Hätte niemals die Nacht in Fleurus verbringen dürfen«, sagte Colonel Mering. »Wäre er nach Quatre Bas gezogen, hätte die Schlacht vierundzwanzig Stunden früher begonnen und Wellington und Blüchers Armeen hätten sich nicht vereinen können.«
»Papperlapapp!« entgegnete Professor Peddick. »Er hätte warten sollen, bis der Boden nach dem Regen wieder getrocknet war. Er hätte seine Armee niemals durch den Schlamm jagen sollen.«
Es war grob unfair. Schließlich hatten die beiden ja den Vorteil, zu wissen, wie die Sache ausging, während Napoleon, Verity und ich uns auf eine Handvoll Kommuniques vom Schlachtfeld und ein wasserdurchtränktes Tagebuch beschränken mußten.
»Humbug!« sagte Colonel Mering. »Sollten früher an diesem Tag angegriffen und Ligny genommen haben. Hätte dann niemals ein Waterloo gegeben.«
»Sie müssen ziemlich viele Kämpfe gesehen haben, Colonel, als Sie in Indien waren«, mischte sich Madame Iritosky ein. »Und auch viele legendäre Schätze. Haben Sie einen davon nach Hause mitgebracht? Den Smaragd eines Radschahs zum Beispiel? Oder einen verbotenen Mondstein aus dem Auge eines Götzenbildes?«
»Was?« blubberte Colonel Mering durch seinen Schnauzbart. »Mondstein? Götzenbild?«
»Du weißt doch, Papa«, sagte Tossie. »Der Mondstein. Das ist ein Roman.«
»Pah! Nie davon gehört.«
»Von Wilkie Collins«, beharrte Tossie. »Der Mondstein wurde gestohlen, und es gab einen Detektiv und Treibsand, und der Held selbst war es, obwohl er ihn stahl, ohne es zu wissen. Du mußt es einfach lesen.«
»Sinnlos, wo du mir gerade das Ende erzählt hast«, meinte der Colonel. »Gibt auch kein Götzenbild mit Juwelen.«
»Mesiel hat mir aber eine wunderschöne Halskette aus Rubinen mitgebracht«, sagte Mrs. Mering. »Aus Benares.«
»Rubinen!« Madame Iritosky warf Count de Vecchio blitzschnell einen Blick zu. »So etwas!«
»Was kann die Signora schon anfangen mit Rubinen«, sagte Count de Vecchio, »wenn sie besiiitzt solsch Edelstein wie ihrre Tochter? Ischt wie ein Diamant. Nein, wie ein zaffiro perfetto, wie Sie sagen gleisch — wie eine makellose Saphir.«
Ich blickte zu Baine, der mit grimmigem Gesicht Suppe servierte.
»Madame Iritosky hat einmal mit dem Geist eines Radschahs Kontakt aufgenommen«, erklärte Mrs. Mering. »Meinen Sie, daß es heute abend Manifestationen geben wird, Madame Iritosky?«
»Heute abend?« fragte Madame Iritosky aufgeschreckt. »Nein, nein, heute abend findet keine Seance statt. Und morgen auch nicht. Solche Dinge darf man nicht übereilen. Ich brauche Zeit, um mich geistig darauf vorzubereiten.«
Und deine Trompeten auszupacken, dachte ich. Ich schaute zu Verity hinüber und erwartete ein so grimmiges Gesicht wie das Baines, aber sie löffelte seelenruhig ihre Suppe.
»Und Manifestationen sind hier vielleicht gar nicht möglich«, fuhr Madame Iritosky fort. »Sichtbare Phänomene zeigen sich nur dort, wo es, wie wir es nennen, Portale gibt, Verbindungen zwischen unserer Welt und der Welt jenseits…«
»Aber hier gibt es ein Portal«, unterbrach sie Mrs. Mering. »Ich bin mir ganz sicher. Ich habe Geister im Haus und auf dem Grundstück gesehen. Ich bin sicher, wenn Sie uns heute abend eine Seance gewähren, daß wir eine Erscheinung sehen werden.«
»Wir dürfen Madame Iritosky nicht überanstrengen«, mischte sich Verity ein. »Sie hat völlig recht. Reisen mit der Bahn sind ermüdend, und wir dürfen nicht verlangen, daß sie ihre wunderbaren geistigen Fähigkeiten über Gebühr beansprucht. Wir werden die Seance heute abend ohne sie abhalten.«
»Ohne mich?« Madame Iritoskys Stimme klang eisig.
»Wir können nicht im Traum erwarten, daß Sie Ihre spirituellen Kräfte für eine so armselige laienhafte Veranstaltung einsetzen. Wenn Sie wiederhergestellt sind, halten wir eine eine echte Seance ab.«
Madame Iritosky öffnete den Mund, schloß ihn wieder und öffnete ihn erneut. Sie sah haargenau aus wie Colonel Merings kugeläugiger Ryunkin.
»Fisch?« fragte Baine und hielt ihr die Platte mit der Seezunge vor.
Runde Eins ging an uns. Wenn es bloß mit der Seance genauso gut ging.
Um neun Uhr traf Reverend Arbitage ein. Ich nutzte die Gelegenheit, als sich alle miteinander bekanntmachten, dazu, die Drähte in meine Ärmel zu schieben, und dann gingen wir alle ins Wohnzimmer — abgesehen von Madame Iritosky, die sich ziemlich eingeschnappt entschuldigte und auf ihr Zimmer ging, und dem Colonel, der »Dummes Geschwätz!« murmelte und in die Bibliothek stapfte, um seine Zeitung zu lesen —, um uns um den Rosenholztisch zu setzen, den ich um nichts in der Welt würde anheben können, Hebelwirkung oder nicht.
Verity bedeutete mir, mich neben sie zu setzen. Ich folgte und fühlte sofort ein Gewicht auf meinem Schoß.
»Was ist das?« flüsterte ich im Schutz des Durcheinanders, in dem Terence, Count de Vecchio und Reverend Arbitage versuchten, einen Platz neben Tossie zu ergattern.
»Prinzessin Arjumands Korb«, flüsterte Verity zurück. »Öffnen Sie ihn, wenn ich Ihnen das Zeichen gebe.«
»Welches Zeichen?« fragte ich und fühlte einen harten Tritt gegen mein Schienbein.
Count de Vecchio und Reverend Arbitage gewannen den Kampf, und Terence mußte mit dem Platz zwischen Mrs. Mering und dem Reverend vorliebnehmen. Professor Peddick setzte sich neben mich. »Napoleon interessierte sich auch für Spiritismus«, sagte er. »Er hielt in der Großen Pyramide von Gizeh eine Seance ab.«
»Wirr müssen uns geben die Hand«, sagte Count de Vecchio zu Tossie und nahm ihre Hand in seine. »So…«
»Ja, ja, wir müssen uns alle die Hand geben«, sagte Mrs. Mering. »Oh, Madame Iritosky!«
Madame Iritosky stand im Türrahmen, in eine fließende purpurfarbene Robe mit weiten Ärmel gekleidet. »Die Geister haben mich aufgefordert, diesen Abend als Ihre Führerin zu dienen und den Vorhang zur Anderen Seite zu öffnen.« Sie legte den Handrücken an die Stirn. »Es ist meine Pflicht, egal, was es mich kostet.«
»Wie wunderbar!« sagte Mrs. Mering. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Baine, holen Sie einen Stuhl für Madame Iritosky.«
»Nein, nein.« Madame Iritosky wies auf Professor Peddicks Stuhl. »Hier laufen die teleplasmischen Vibrationen zusammen.« Gehorsam räumte Professor Peddick seinen Platz.
Zumindest saß sie nicht neben Verity, aber neben Count de Vecchio und das hieß, sie hatte eine Hand frei. Und neben mir, was hieß, den Tisch anzuheben würde noch schwieriger werden.
»Es ist viel zu hell«, sagte sie. »Es muß ganz dunkel…« Sie schaute sich im Salon um. »Wo ist mein Kabinett?«
»Ja, Baine«, sagte Mrs. Mering. »Ich sagte Ihnen doch, Sie sollten es ins Wohnzimmer bringen.«
»Gewiß, Madam.« Baine verbeugte sich. »Eine der Türen schloß nicht mehr richtig, deshalb habe ich es in die Küche gebracht, um es zu reparieren. Es ist wieder in Ordnung. Soll ich es holen?«
»Nein!« sagte Madame Iritosky. »Das ist nicht nötig.«
»Wie Sie wünschen.«
»Ich spüre, daß es heute abend keine Manifestationen geben wird«, sagte sie. »Die Geister wollen lediglich zu uns sprechen. Reichen Sie sich die Hände«, befahl sie und drapierte ihre ausladenden Ärmel auf dem Tisch.
Ich griff nach ihrer rechten Hand und packte sie fest.
»Nein!« Sie entwand sich. »Ganz leicht.«
»Oh, Entschuldigung«, sagte ich. »Ich kenne mich nicht so gut aus.«
Sie legte ihre Hand in meine zurück. »Baine, löschen Sie das Licht«, sagte sie. »Die Geister können nur bei Kerzenschein zu uns kommen. Bringen Sie eine Kerze und stellen Sie sie hierhin.« Sie wies auf einen Blumenständer nahe ihrem Ellbogen.
Baine zündete die Kerze an und löschte die Lampen.
»Drehen Sie die Lichter nicht eher wieder hoch, bis ich es sage«, befahl sie. »Versuchen Sie nicht, die Geister oder das Medium zu berühren. Es könnte schlimm ausgehen.«
Tossie kicherte und Madame Iritosky begann zu husten. Sie ließ meine Hand los. Ich nutzte die Gelegenheit, um die Drähte aus dem Ärmel zu ziehen und unter der Tischplatte zu verhaken.
»Entschuldigen Sie bitte. Mein Hals…« sagte Madame Iritosky und schob ihre Hand wieder in meine. Und wenn Baine die Lampen wieder hochgedreht hätte, wäre es in der Tat schlimm ausgegangen. Ich hätte meinen Kopf verwetten können, daß man dann plötzlich Count de Vecchios Hand in meiner entdeckt hätte. Ganz zu schweigen von meiner Gaunerei.
Rechts von mir raschelte es leise. Es war Verity, die ihr Strumpfband in Position brachte.
»Ich war noch nie bei einer Seance«, sagte ich laut, um es zu übertönen. »Wir werden doch keine schlechten Nachrichten erhalten, oder?«
»Die Geister sprechen, wie sie wollen«, erwiderte Madame Iritosky.
»Ist das nicht aufregend?« Das war Mrs. Merings Stimme.
»Ruhe«, befahl Madame Iritosky im Grabeston. »Geister auf der Anderen Seite, wir rufen euch. Kommt zu uns und erzählt uns unser Schicksal.«
Die Kerze ging aus.
Mrs. Mering stieß einen Schrei aus.
»Ruhe«, befahl Madame Iritosky. »Sie kommen.«
Eine lange Pause entstand, während der einige der Anwesenden husteten, und dann trat mir Verity gegen das Schienbein. Ich ließ ihre Hand los, griff nach unten und nahm den Deckel vom Korb.
»Ich spüre etwas«, sagte Verity, was nicht stimmte, denn Prinzessin Arjumand strich um meine Beine herum.
»Ich auch«, sagte Reverend Arbitage nach einem Moment. »Es ist wie ein kalter Wind.«
»Oh!« rief Tossie. »Ich habe es auch gespürt.«
»Ist ein Geist anwesend?« fragte Madame Iritosky, und ich beugte mich vor und hob meine Handgelenke.
Erstaunlicherweise bewegte sich der Tisch. Nur ein bißchen zwar, aber genug, um Tossie und Mrs. Mering zu einem ihrer kleinen Schreichen zu veranlassen und Terence zu einem: »Na, aber…!«
»Geist, wenn du da bist«, sagte Madame Iritosky mit irritierter Stimme, »sprich zu uns. Klopfe einmal für Ja, zweimal für Nein. Bist du uns freundlich gesonnen?«
Ich hielt den Atem an.
Klick, machte die Veilchenschachtel und gab mir den Glauben an Detektivromane zurück.
»Bist du Gitcheewatha?« fragte Madame Iritosky.
»Das ist ihr Führer«, erklärte Mrs. Mering. »Es ist ein Indianerhäuptling.«
Klick, klick.
»Bist du der Geist, den ich letzte Nacht sah?« fragte Mrs. Mering.
Klick.
»Wer bist du?« Madame Iritoskys Stimme war eisig.
Schweigen. »Sie möchte, daß wir das Alphabet aufsagen«, sagte Verity, und sogar im Dunkeln konnte ich den mörderischen Blick spüren, den Madame Iritosky ihr zuwarf.
»Geist, willst du, daß wir durch das Alphabet mit dir in Verbindung treten?« fragte Mrs. Mering aufgeregt.
Klick. Und dann ein anderes Geräusch, das klang, als ließe jemand die Finger knacken.
»Du willst nicht durch das Alphabet mit uns kommunizieren?« fragte Mrs. Mering verwirrt.
Klick. Dann ein harter Tritt gegen das Schienbein.
»Sie will«, sagte ich rasch. »A, B, C…«
Klick.
»C«, sagte Tossie.
»Und?« fragte Mrs. Mering. »Buchstabieren Sie weiter, Mr. Henry.«
Nicht, solange im Zimmer ein bestimmter Fuß tun und lassen konnte, was er wollte. Ich rutschte etwas im Stuhl vor, streckte mein linkes Bein aus, bis ich damit Madame Iritoskys Rock berührte und preßte meinen Fuß eng an ihren. »ABCDEFGHIJK«, ratterte ich, den Fuß an ihrem. »LMNO…«
Klick.
Sie zog ihr Bein zurück, und ich überlegte, was passieren würde, wenn ich mit der Hand ihr Knie umklammerte.
Es war zu spät. »ABCD…« sagte Mrs. Mering, und das knackende Geräusch ertönte wieder.
»C-O-D?« fragte Mrs. Mering.
»Cod«, sagte Professor Peddick. »Gadus callirias. Die interessanteste Abart davon ist der Waliser Weißfisch.«
»›Beeil dich doch, mach schnelle‹«, zitierte Terence, »›sagt der Weißfisch zur…‹«[61]
»Cod? Code? Cody?« fragte Reverend Arbitage. »Bist du der Geist von Buffalo Bill Cody?«
»Nein«, rief ich, noch ehe irgend jemand eine Antwort klicken oder knacken konnte. »Ich hab’s! Es ist kein C, sondern ein G. G und C sehen fast gleich aus.« Ich hoffte, niemand fiel auf, daß die Buchstaben ja gesprochen und nicht geschrieben worden waren und daß sie im Alphabet gar nicht nebeneinander lagen. »G-O-D. Sie will GODIVA buchstabieren. Bist du der Geist von Lady Godiva?«
Ein ganz entschiedenes Klick, und Verity und ich hatten die Dinge gottseidank wieder im Griff.
»Lady Godiva?« Mrs. Mering klang unsicher.
»Ritt sie nicht auf einem Pferd, ganz ohne…?« fragte Tossie.
»Tocelyn!« unterbrach sie ihre Mutter tadelnd.
»Lady Godiva war eine Heilige«, sagte Verity. »Sie hatte nur das Beste für ihr Volk im Sinn. Ihre Nachricht muß sehr wichtig sein.«
»Ja.« Ich preßte mein Bein fest gegen Madame Iritoskys. »Lady Godiva, was willst du uns sagen?« Ich buchstabierte schnell, fest entschlossen, dieses Mal Madame Iritosky keine Zeit zum Einmischen zu lassen. »ABDCEFGHIJK…«
Ich kam nicht weiter als K. Ein scharfes Geräusch erklang, als knacke ein sehr ärgerlicher Zeh. Auch beim nächsten Durchgang hatte Verity keinen Erfolg. Madame Iritosky stoppte uns bei M.
»M«, sagte Mrs. Mering. »KM.«
»Welches Wort beginnt denn mit KM?« fragte Terence.
»Meint sie vielleicht, KOMM?« überlegte Tossie.
»Ja, natürlich«, stimmte Mrs. Mering zu. »Aber wohin sollen wir kommen? ABC…« Und diesmal schaffte es Verity auf den Punkt genau, aber ich konnte nicht erkennen, wozu das gut sein sollte. Wir würden es nie bis zum O schaffen, geschweige denn zum V.
»A…« fing Mrs. Mering an.
Ich trat heftig auf Madame Iritoskys Fuß, aber es war zu spät. Knack. Diesmal war die Wut hinter dem Geräusch unverkennbar. Es klang, als hätte sie sich einen Zeh gebrochen.
»C-A…« überlegte Mrs. Mering.
Ich wartete nicht, bis jemand darauf antwortete, sondern begann zu buchstabieren, so rasch ich konnte. »ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUV…«
Verity klickte, und Tossie sagte: »C-A-V? Was soll das heißen? Cavalier? Cavallierie? Wir sollen zur Cavallerie gehen?«
»C-U-V?« half ich nach. »C-O-V?«
»Coventry«, sagte Mrs. Mering, und ich hätte sie küssen können. »Geist, willst du, daß wir nach Coventry gehen?«
Ein inbrünstiges Klick.
»Wohin in Coventry?« fragte ich, den Fuß mit meinem ganzen Gewicht auf Madame Iritoskys Schuh gepreßt, während ich durch das Alphabet ratterte.
Verity entschied sich glücklicherweise nicht dafür, »St« buchstabieren zu lassen. Sie klickte bei M, I und C, und ich, unsicher, wie lange ich noch Madame Iritoskys Fuß niederpressen konnte, entschied mich: »Michael? St. Michael? Willst du, daß wir die St. Michaelskirche besuchen?« Als ich Veritys Klicken hörte, zog ich meinen Fuß weg.
»St. Michaelskirche«, sagte Mrs. Mering. »Oh, Madame Iritosky, wir müssen morgen früh sofort aufbrechen…«
»Ruhe«, sagte Madame Iritosky. »Ich spüre die Anwesenheit eines bösen Geistes.« Verzweifelt angelte ich mit meinem Fuß nach ihrem.
»Bist du ein böser Geist?« fragte sie.
Knack.
Ich wartete, daß Verity klickte, damit es zusammen Nein ergäbe, hörte aber nur heftiges Rascheln. Offenbar hatte sie das eine Strumpfband bereits wieder übers Knie hochgezogen.
»Wirst du von einem Ungläubigen kontrolliert?« fragte Madame Iritosky.
Knack.
»Baine, machen Sie das Licht an«, kommandierte sie. »Hier klopft jemand, der kein Geist ist.«
Und ich würde gleich mit Drähten, die aus meinem Ärmel reichten, ertappt werden. Ich versuchte, meine Hand aus Madame Iritoskys (oder der von Count de Vecchio) zu ziehen, aber es war ein eiserner Griff.
»Baine! Die Lampen!« befahl Madame Iritosky. Sie entfachte ein Streichholz und zündete die Kerze an.
Ein kalter Windstoß kam von den Verandatüren her, und die Flamme ging aus.
Tossie schrie laut, und sogar Terence stöhnte auf. Wir schauten alle auf die sich bauschenden Vorhänge. Ein Geräusch wie tiefes Stöhnen erklang, und etwas Leuchtendes bewegte sich hinter ihnen.
»Großer Gott!« sagte Reverend Arbitage.
»Eine Erscheinung!« rief Mrs. Mering.
Der Schatten schwebte langsam auf die offenen Verandatüren zu, wobei er leichte Schlagseite bekam, und glühte in einem schrecklichen grünen Licht.
Die Hand, die meine hielt, wurde schlaff, und ich schob die Drähte in meine Ärmel zurück bis zu den Ellbogen hoch. Neben mir spürte ich, daß Verity ihre Röcke hochhob und dann die Veilchenschachtel in meinen rechten Stiefel schob.
»Count de Vecchio, machen Sie Licht!« sagte Madame Iritosky.
»Una fantasma!« rief er und bekreuzigte sich.
Verity richtete sich wieder auf und nahm meine Hand. »Oh, Erscheinung! Bist du der Geist von Lady Godiva?«
»Count de Vecchio!« sagte Madame Iritosky abermals. »Ich habe Ihnen befohlen, Licht zu machen!«
Der Schatten erreichte die Verandatüren, schien sich dann aufzurichten und ein Gesicht zu bekommen. Ein verschleiertes Gesicht mit großen dunklen Augen. Und einer eingedrückten Nase. Und Lefzen.
Verity, die meine Hand hielt, stöhnte leicht auf. »Oh, Geist«, sagte sie mit beherrschter Stimme, »willst du, daß wir nach Coventry kommen?«
Der Schatten zog sich langsam von der Tür zurück, wandte sich um und verschwand, als ob ein schwarzes Tuch über ihn geworfen worden wäre. Die Verandatüren schlugen zu.
»Er will, daß wir nach Coventry gehen«, sagte ich. »Diesem Befehl müssen wir gehorchen.«
»Haben Sie das gesehen?« flüsterte Count de Vecchio. »Wie furchtbar! Wie entsetzlich!«
Die Lichter gingen an und zeigten Baine, der gelassen neben der Lampe am Marmortischchen stand und den Docht richtete.
»Oh, Madame Iritosky!« rief Mrs. Mering und glitt zu Boden. »Ich habe das Gesicht meiner lieben verstorbenen Mutter gesehen!«