20. Kapitel

»Keiner entgeht seinem Waterloo.«

Wendell Phillips


Rückzug • Ich versuche, den Namen des Stationsvorstehers herauszufinden • Was Mrs. Merings Vorahnungen möglicherweise bedeuten • Schals • Die Decknamen von Geistlichen • Eglantine bekommt die Zukunft geweissagt… • John Paul Jones • Die unglücklicherweise aufmunternde Wirkung von Tee • Apportationen • Zeitungen • Fächer • Noch eine Ohnmacht • Baine eilt zur Hilfe • Eine schockierende Schlagzeile


Die Rückfahrt ähnelte stark Napoleons Rückzug von Waterloo: Panik, Hast und Durcheinander, gefolgt von Verzweiflung und Untätigkeit. Jane wäre im ganzen Trubel beinahe zurückgelassen worden, Mrs. Mering fast wieder in Ohnmacht gefallen und als wir am Bahnhof anlangten, gab es einen weiteren Wolkenbruch, und Terence stieß Tossie fast ein Auge aus, als er den Schirm aufspannte.

Baine versuchte, den Zug mit allen Kräften aufzuhalten. »Rasch«, sagte ich zu Mrs. Mering und half ihr aus der Droschke. »Der Zug fährt bereits ab.«

»Bloß nicht«, protestierte sie ernsthaft besorgt. »Meine Vorahnung…«

»Dann müssen wir uns beeilen.« Verity packte Mrs. Mering am anderen Arm, und wir zogen sie über den Bahnsteig zur ersten Klasse.

Als der Stationsvorsteher sah, wie Tossie mit ihren Röcken und ihrem gerüschten Schirm kämpfte, hörte er auf, mit Baine zu streiten und half ihr das Trittbrett hoch, wobei er sich galant an die Mütze tippte. »Ich weiß«, murmelte ich. »Finden Sie heraus, wie er heißt.«

Es war keine Zeit mehr, nach einem Gepäckträger zu suchen. Ungeachtet unseres Standes zerrten Terence und ich Körbe, Rucksäcke, Pakete, Decken und Jane aus der Droschke und beförderten alles ohne viel Federlesens in das Zweite-Klasse-Abteil. Dann rannte ich zurück, um den Kutscher zu bezahlen, der, kaum daß er das Geld in der Hand hatte, die Pferde antrieb, als seien Blüchers Preußen hinter ihm her, und rannte dann zurück auf den Bahnsteig. Der Zug fuhr bereits an, die schweren Räder drehten sich langsam, aber zusehends beschleunigend. Der Stationsvorsteher trat von der Bahnsteigkante zurück, die Hände hinterm Rücken gefaltet. »Wie heißen Sie?« keuchte ich im Näherkommen.

Was immer er auch antwortete, es ging im Pfeifton der Lokomotive unter. Der Zug kam in Fahrt.

»Wie?« schrie ich. Die Pfeife schrillte wieder.

»Wie?« schrie er zurück.

»Ihren Namen!«

»Ned!« schrie Terence vom Trittbrett der Ersten Klasse. »Auf jetzt!«

»Ich komm’ ja schon! Wie heißen Sie?« Ich versuchte aufzuspringen, verfehlte aber das Trittbrett. Meine rechte Hand erwischte das Messinggeländer, und ich hing einen Moment lang in der Luft. Dann packte Terence meinen linken Arm und zog mich die Stufen hoch. Ich packte das Geländer und drehte mich um. Der Stationsvorsteher trottete gerade ins Bahnhofsgebäude zurück, den Kopf in den hochgezogenen Mantelkragen geduckt.

»Ihren Namen!« brüllte ich in den Regen hinein, aber der Mann war bereits im Gebäude verschwunden.

»Was soll das?« fragte Terence. »Beinahe hättest du wie Anna Karenina geendet.«

»Ach, nichts«, sagte ich. »Wo ist unser Abteil?«

»Das dritte von hinten.« Er ging den Gang hinunter, wo Verity stand und auf den Bahnsteig zurückblickte, der menschenleer im strömenden Regen lag und nun rasch immer kleiner wurde.

»›Du hoffst auf ew’gen Sommer, doch vergebens‹«, zitierte Terence, »›denn im Wechselspiel des Lebens wird auch für dich an manchen Tagen Regen fallen.‹«[67] Er öffnete die Tür zum Abteil, wo Mrs. Mering halb ohnmächtig in die Polster gesunken war, ein Spitzentaschentuch an die Nase gepreßt.

»Sind Sie sicher, daß es nicht Tossies Mutter war, die das lebensentscheidende Erlebnis hatte?« flüsterte ich Verity zu.

»Mr. Henry, kommen Sie doch bitte herein und setzen Sie sich!« sagte Mrs. Mering, mit dem Taschentuch winkend. Ein Duftschwall Parmaveilchen erreichte mich. »Du auch, Verity. Und schließen Sie die Tür. Es zieht entsetzlich.«

Wir traten ein. Ich schloß die Tür. Wir setzten uns.

»Und glücklich ziehen wir der Heimat entgegen«, sagte Terence und lächelte uns alle an.

Keiner lächelte zurück. Mrs. Mering schniefte in ihr Taschentuch, Verity schaute sorgenvoll, und Tossie warf ihm sogar, in die Ecke gekauert, einen eindeutig finsteren Blick zu. Sie sah keinesfalls aus, als hätte sie eine lebensentscheidende Erfahrung gemacht, sondern nur müde, eingeschnappt und angefeuchtet. Nichts flatterte und bauschte sich mehr an ihr, die Organzarüschen hingen schlaff herab. Die goldblonden Löckchen verwandelten sich gerade in Krause.

»Wir hätten wenigstens zum Tee bleiben können, Mama«, nörgelte sie. »Der Kurator hätte uns gern eingeladen, da bin ich mir sicher. Das war ja schließlich nicht der letzte Zug heute. Wenn wir den um fünf Uhr sechsunddreißig genommen hätten, wäre uns noch genügend Zeit zum Teetrinken geblieben.«

»Wenn man eine furchtbare Vorahnung hat«, sagte Mrs. Mering, die sich offenbar wieder etwas erholt hatte, »hält man sich nicht mit Teetrinken auf.« Sie wedelte mit dem Taschentuch, und ein weiterer Schwall Veilchenduft warf mich fast um. »Ich versuchte Mesiel klarzumachen, daß er mit uns kommen solle.«

»Hat Ihre Vorahnung gesagt, daß Colonel Mering in Gefahr schwebt, Tante?« fragte Verity.

»Nein«, sagte Mrs. Mering und bekam wieder den abwesenden, am Zahn fühlenden Blick. »Es… es ging um… Wasser…« Sie stieß einen kleinen Schrei aus. »Ob er in den Fischteich gefallen und ertrunken ist? Heute ist sein neuer Goldfisch angekommen.« Schwer ins Taschentuch atmend sank sie wieder in die Polster zurück.

»Papa kann doch schwimmen«, meinte Tossie.

»Vielleicht hat er sich den Kopf an der Steineinfassung angeschlagen«, beharrte Mrs. Mering unbeeindruckt. »Etwas Schreckliches ist geschehen. Ich fühle es!«

Da war sie nicht die einzige. Ich warf Verity einen Seitenblick zu, die ganz verzweifelt aussah. Wir mußten uns dringend unter vier Augen unterhalten.

»Kann ich Ihnen etwas holen, Mrs. Mering?« fragte ich. Mir fiel nichts ein, womit ich Verity unauffällig aus dem Abteil locken konnte. Ob ich den Schaffner unauffällig bitten konnte, ihr eine Nachricht zu geben? Dann fiel mir etwas Besseres ein. »Es ist ziemlich kühl hier. Soll ich Ihnen eine Reisedecke holen?«

»Es ist kalt«, sagte Mrs. Mering. »Verity, geh und sag Jane, sie soll mir meinen Schottenschal bringen. Tossie, möchtest du deinen auch?«

»Was?« Tossie starrte desinteressiert aus dem Fenster.

»Deinen Schal«, wiederholte Mrs. Mering. »Möchtest du ihn?«

»Nein!« erwiderte Tossie aufgebracht.

»Unsinn«, sagte Mrs. Mering. »Hier drin ist es kalt. Verity, hol Tossies Schal.«

»Ja, Tante Malvinia«, sagte Verity und ging hinaus.

»Es ist wirklich kalt hier drinnen«, sagte ich. »Soll ich den Schaffner bitten, ein Öfchen zu bringen? Oder warme Ziegel für Ihre Füße?«

»Nein. Warum, um alles in der Welt, willst du deinen Schal nicht, Tossie?«

»Ich will meinen Tee«, sagte Tossie, das Gesicht zum Fenster gewandt. »Hältst du mich für ästhetisch ungebildet?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Mrs. Mering. »Schließlich sprichst du französisch. Wo wollen Sie hin, Mr. Henry?«

Ich zog die Hand von der Abteiltür zurück. »Ich dachte, ich geh’ mal für einen Augenblick auf die Aussichtsplattform«, sagte ich und zog zur Untermauerung meiner Worte die Pfeife aus meiner Jacke.

»Unsinn. Draußen regnet es in Strömen.«

Geschlagen setzte ich mich wieder. Verity würde jeden Moment zurück sein, unsere Chance vertan. Ebenso vertan wie die in Coventry.

»Mr. St. Trewes«, sagte Mrs. Mering, »gehen Sie und sagen Sie Baine, er soll Tee servieren.«

»Ich mach’ das schon«, sagte ich, und flugs, noch ehe sie mich aufhalten konnte, war ich auf dem Gang. Möglicherweise war Verity mit dem Schal schon auf dem Rückweg. Wenn ich sie aufhalten konnte, bevor sie zum Ende des Zweite-Klasse-Wagens kam, dann…

Eine Hand streckte sich aus dem vorletzten Zweite-Klasse-Abteil, packte mich am Ärmel und zog mich hinein. »Wieso haben Sie so lange gebraucht?« fragte Verity.

»Es war nicht leicht, Mrs. Mering zu entkommen«, sagte ich und schaute den Gang hinunter, um sicherzugehen, daß niemand kam, bevor ich die Abteiltür hinter mir schloß.

Verity zog die Rollos herunter. »Was machen wir jetzt? Das ist die Frage.« Sie setzte sich. »Ich war mir sicher, daß Tossie nach Coventry zu bringen, unsere Probleme lösen würde. Sie würde des Bischofs Vogeltränke sehen, Mr. Wie-immer-er-auch-heißt begegnen, ihr Leben würde sich verändern und die Inkonsequenz beseitigt sein.«

»Wir wissen nicht, ob sie es nicht ist. Vielleicht hat sich ihr Leben verändert, und wir wissen es bloß noch nicht. Zum Beispiel durch diese Männer, die in Reading auf dem Bahnsteig standen, oder den Schaffner oder den Geistlichen. Oder den, der wie Crippen aussah. Oder Cyril. Wir dürfen nicht außer acht lassen, daß sein Name mit C beginnt.«

Verity brachte nicht einmal ein Lächeln zustande. »Haben Sie vergessen, daß Tossie ihn nicht nach Coventry mitkommen ließ?«

Ich setzte mich ihr gegenüber. »Ich persönlich setze auf den Geistlichen«, sagte ich. »Ein bißchen zu hochtrabend und glotzäugig für meinen Geschmack, aber Tossie hat ja bereits bewiesen, wie miserabel ihr Geschmack ist, und Sie haben gesehen, wie er sie angeglubscht hat. Ich wette, er steht morgen mit irgendeinem Vorwand in Muchings End vor der Haustür — daß er sich entschieden habe, Spiritist zu werden oder einen Ratschlag für die Wurfbude bräuchte oder so etwas. Sie verlieben sich, Tossie läßt Terence wie eine heiße Kartoffel fallen, und das nächste wird sein, daß sie das Aufgebot bestellen für Miss Tossie Mering und Reverend…«

»Doult«, sagte Verity.

»Meine Idee ist keineswegs aus der Luft gegriffen«, fuhr ich fort. »Sie hörten ja, wie die beiden über das Albert Mem…«

»Doult. D-O-U-L-T«, sagte Verity. »Reverend Doult.«

»Sind Sie sicher?«

Sie nickte grimmig. »Mrs. Mering sagte mir seinen Namen, als wir in die Kutsche stiegen. ›Ein junger Mann mit guten Absichten, dieser Reverend Doult‹, sagte sie, ›aber nicht sehr intelligent. Er weigert sich, die Logik des Spiritismus zu erkennen.‹«

»Sind Sie sicher, daß es Doult war und nicht…«

»Colt?« Verity schüttelte den Kopf. »Ich bin mir ganz sicher. Der Geistliche ist nicht Mr. C.«

»Nun, dann muß es einer der Männer auf dem Bahnsteig in Reading gewesen sein. Oder der Kurator in Muchings End.«

»Er heißt Arbitage.«

»Behauptet er. Und wenn das ein Deckname ist?«

»Ein Deckname? Er ist Geistlicher.«

»Ich weiß. Die Kirche würde aber vielleicht schlechtes Benehmen und Vergehen in der Jugendzeit nicht hingehen lassen, also mußte er einen anderen Namen annehmen. Und sein ständiges Auftauchen in Muchings End zeigt, daß er an Tossie Gefallen gefunden hat. Im übrigen — was bedeutet diese besondere Faszination, die sie auf Geistliche ausübt?«

»Sie sind alle auf der Suche nach Ehefrauen, die bei der Sonntagsschule und bei den Kirchfesten helfen.«

»Basare«, murmelte ich. »Ich wußte es. Reverend Arbitage interessiert sich für Spiritismus. Er ist dafür, alte Kirchen zu plündern. Er ist…«

»…nicht Mr. C«, sagte Verity. »Ich habe nachgeforscht. Er hat Eglantine Chattisbourne geheiratet.«

»Eglantine Chattisbourne?«

Sie nickte. »Im Jahre 1897. Er wurde Vikar in St. Alban’s in Norwich.«

»Und der Stationsvorsteher?« fragte ich. »Ich konnte seinen Namen nicht verstehen. Er…«

»Tossie hat ihm nicht einmal einen Blick zugeworfen. Sie hat sich den ganzen Tag über für niemanden interessiert.« Verity lehnte sich müde in den Sitz zurück. »Wir müssen der Sache ins Auge sehen, Ned. Es gab für sie keine lebensentscheidende Erfahrung.«

Sie sah so mutlos aus, daß ich das Gefühl hatte, sie einfach aufmuntern zu müssen. »Das Tagebuch sagte nicht, daß sie die Erfahrung in Coventry selbst gemacht hat«, sagte ich. »Es stand nur darin: ›Ich werde niemals den Tag vergessen, an dem wir nach Coventry fuhren.‹ Vielleicht ist es auf dem Heimweg passiert. Mrs. Mering hatte eine Vorahnung, daß etwas Schreckliches passieren wird. Vielleicht verunglückt der Zug, und Mr. C befreit Tossie aus den Trümmern.«

»Ein Zugunglück.« Ihre Stimme klang sehnsüchtig. Sie stand auf und nahm den Schal. »Wir gehen besser zurück, ehe Mrs. Mering jemanden nach uns ausschickt«, sagte sie resigniert.

Ich öffnete die Tür. »Warten Sie nur ab, etwas wird geschehen. Außerdem bleibt immer noch das Tagebuch. Und Finchs verwandtes Projekt, was immer das auch ist. Und wir haben noch ein halbes Dutzend Bahnhöfe vor uns und müssen einmal den Zug wechseln. Vielleicht wird Tossie mit Mr. C auf dem Bahnsteig in Reading zusammenprallen. Vielleicht ist sie es schon. Weil Sie nicht rechtzeitig zurückkommen sind, hat Mrs. Mering Tossie ausgeschickt, nach Ihnen zu suchen, und als der Zug um eine Kurve fuhr, fiel Tossie direkt in Mr. C’s Arme, fesch und unausstehlich wie sie ist, und er ist ganz zufällig derjenige, der des Bischofs Vogeltränke geschaffen hat, und jetzt sitzt sie in seinem Abteil und diskutiert mit ihm über victorianische Kunst.«

Ja, von wegen! Als wir unser Abteil betraten, saß sie immer noch in ihrer Ecke und schaute mißmutig ins Regenwetter hinaus.

»Da bist du ja!« sagte Mrs. Mering. »Wo hast du so lange gesteckt? Ich bin fast erfroren.«

Verity beeilte sich, den Schal um Mrs. Merings Schultern zu legen.

»Haben Sie Baine gesagt, daß wir Tee wünschen?« fragte Mrs. Mering.

»Ich bin gerade auf dem Weg«, sagte ich, die Hand auf dem Türknauf. »Ich traf Miss Brown unterwegs und begleitete sie zurück.« Schnell schlüpfte ich hinaus.

Ich erwartete, Baine tief in die Lektüre von Toynbees Die Industrielle Revoulution oder Die Abstammung des Menschen von Darwin versenkt zu finden, aber sein Buch lag offen auf dem Sitz neben ihm, und er starrte aus dem Fenster in den Regen hinaus. Und dachte offenbar über seinen ästhetischen Ausbruch und die Konsequenzen, die dieser haben könnte, nach, denn er fragte beklommen: »Darf ich Ihnen eine Frage über die Vereinigten Staaten stellen, Mr. Henry? Sie waren doch dort. Stimmt es, daß Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist?«

Hätte ich doch bloß neunzehntes Jahrhundert studiert! Das einzige, was mir einfiel, war ein Bürgerkrieg und verschiedene Goldfieberperioden. »Es ist auf jeden Fall ein Land, wo es jedem freisteht, seine Meinung zu äußern«, sagte ich. »Und wo jeder es auch tut. Vor allem im westlichen Teil. Mrs. Mering wünscht Tee«, setzte ich hinzu und ging dann hinaus auf die hintere Plattform, wo ich mit meiner Pfeife stand, so tat, als rauchte ich und nun auch in den Regen starrte, der inzwischen zu nebligem Nieseln geworden war. Schwere Wolken hingen grau über den morastigen Straßen, an denen wir entlangratterten. Rückzug nach Paris.

Verity hatte recht. Wir mußten der Sache ins Auge sehen. Mr. C würde sich weder in Reading noch sonstwo blicken lassen. Wir hatten probiert, den Riß im Kontinuum zu flicken, indem wir die zerrissenen Fäden wieder zusammenzuknüpfen versuchten und Tossie am richtigen Tag zum richtigen Ort brachten.

Aber in einem chaotischen System gab es so etwas wie einen einfachen Riß nicht. Jedes Ereignis war mit jedem anderen verknüpft. Als Verity in die Themse watete, als ich die Gleise zum Bahnhof entlangging, waren Tausende und Abertausende anderer Ereignisse davon betroffen. Eingeschlossen auch der Aufenthaltsort von Mr. C am 15. Juni 1888. Wir hatten auf einen Schlag alle Fäden zerrissen, und das Material, aus dem das Raumzeitgefüge gewoben ist, hatte sich aufgelöst.

»›Fort flog das Netz, trieb weit umher‹«, sagte ich laut. »›Der Fluch hat mich ereilt, sprach das Fräulein von Shalott.‹«

»Häh?« Ein Mann öffnete die Tür und trat auf die Plattform. Er war untersetzt, mit einem ungeheuer großen Kaiserbart, und hielt eine Meerschaumpfeife in der Hand, die er energischst stopfte. »Was für’n Fluch?«

»Tennyson«, sagte ich.

»Lyrik«, brummte er. »Alles Mist, wenn Sie mich fragen. Kunst, Bildhauerei, Musik — zu was soll das auf der Welt nutze sein?«

»Ganz meine Meinung.« Ich streckte die Hand aus. »Guten Tag. Ich heiße Ned Henry.«

»Arthur T. Mitford«, erwiderte er und zerquetschte mir fast die Finger.

Nun, einen Versuch war es wert gewesen.

»Glaube auch nicht an Flüche«, fuhr er fort, grimmig an seiner Pfeife saugend. »Oder ans Schicksal oder die Vorsehung. Alles Mist. Ein Mann bestimmt seinen Weg selbst.«

»Hoffentlich haben Sie da recht«, sagte ich.

»Natürlich hab ich recht. Denken Sie an Wellington.«

Ich klopfte den Tabak aus meiner Pfeife auf die Bahngleise und machte mich auf den Weg zurück zum Abteil. Denken Sie an Wellington! Und an die Jungfrau von Orleans. Und an John Paul Jones.[68] Sie haben gewonnen, als alles bereits verloren schien.

Und das Kontinuum war zäher als es aussah. Es gab Schlupfverluste und Backups und Überzähligkeiten. »Treffen wir uns nicht an diesem Ort, werden wir uns an jenem treffen.« Und falls dem so war, stimmte es, was ich Verity gesagt hatte, und Mr. C könnte auf dem Bahnsteig in Reading sein. Oder just in diesem Moment in unserem Abteil, unsere Fahrkarten lochend oder mit einem Bauchladen Süßigkeiten verkaufend.

War er aber nicht. Baine war da, reichte Porzellantassen herum und goß Tee ein, der unglücklicherweise auf Mrs. Mering einen aufmunternden Effekt hatte. Sie setzte sich aufrecht hin, arrangierte ihren Schal und begann, uns alle der Reihe nach herunterzuputzen.

»Tossie«, sagte sie. »Sitz gerade und trink deinen Tee. Du warst diejenige, die Tee wollte. Baine, warum haben Sie keine Zitrone mitgebracht?«

»Ich werde schauen, ob es im Bahnhof welche zu kaufen gibt, Madam«, sagte er und verschwand.

»Wieso hält der Zug so lange?« fragte sie. »Wir hätten einen Eilzug nehmen sollen. Verity, dieser Schal wärmt überhaupt nicht. Du hättest Jane bitten sollen, den Kaschmirschal zu bringen.«

Der Zug fuhr wieder an, und nach ein paar Minuten erschien Baine, der aussah, als sei er ihm nachgerannt. »Leider hatten sie keine Zitrone, Madam«, sagte er und zog eine Milchflasche aus der Tasche. »Möchten Sie statt dessen Milch?«

»Von Gott-weiß-was für einer Kuh? Ich kann mich beherrschen. Dieser Tee ist lauwarm.«

Baine zauberte einen Spirituskocher hervor und begann, Wasser zu erhitzen, während Mrs. Mering in der Runde nach weiteren Opfern Ausschau hielt. »Mr. St. Trewes«, sagte sie zu Terence, der sich hinter seinem Gedichtband verschanzt hatte, »es ist viel zu dunkel im Abteil, um zu lesen. Sie werden sich die Augen verderben.«

Terence klappte das Buch zu und steckte es in die Tasche, mit dem Gesicht eines Mannes, dem langsam dämmerte, worauf er sich eingelassen hatte. Baine zündete die Lampen an und goß Tee nach.

»Ich bin von Langweilern umgeben«, stellte Mrs. Mering fest. »Mr. Henry, erzählen Sie uns doch von den Vereinigten Staaten. Mrs. Chattisbourne sagte, Sie hätten drüben im Westen gegen Rothäute gekämpft.«

»Nur kurz«, sagte ich und überlegte, ob sie als nächstes nach dem Skalpieren fragen würde, aber sie wollte auf etwas anderes hinaus.

»Hatten Sie Gelegenheit, in San Francisco eine der Seancen von Baroness Eusapia mitzuerleben?« fragte sie.

»Leider nein.«

»Schade«, sagte sie, und ihre Stimme machte deutlich, daß ich die beste aller Touristenattraktionen verpaßt hatte. »Eusapia ist berühmt für ihre Apportationen.«

»Apportationen?« fragte Terence.

»Gegenstände, die von fernen Orten durch die Luft apportiert werden«, sagte Mrs. Mering.

Aha, dachte ich. Jetzt wissen wir, was mit des Bischofs Vogeltränke passiert ist. Man hat sie zu einer Seance nach San Francisco apportiert.

»… Blumen und Fotografien«, erklärte Mrs. Mering gerade. »Und einmal apportierte sie ein Spatzennest von China herüber. Mit einem Spatzen darin!«

»Woher wußte man, daß es ein chinesischer Spatz war?« fragte Terence zweifelnd. »Hat er etwa in chinesisch getschilpt? Woher wollen Sie wissen, daß es kein kalifornischer Spatz war?«

»Stimmt es, daß die Dienstboten in Amerika nicht wissen, was sich ziemt?« fragte Tossie und schaute zu Baine. »Und daß ihre Damen ihnen gestatten, Meinungen über Erziehung und Kunst zu äußern, als seien sie ihresgleichen?«

Es sah danach aus, als bräche das Universum genau jetzt in diesem Abteil zusammen. »Ich… äh…« sagte ich.

»Haben Sie einen Geist gesehen, Tante Malvinia, während Sie Ihre Vorsehung hatten?« versuchte Verity das Thema zu wechseln.

»Nein, es…« erwiderte Mrs. Mering und bekam wieder diesen seltsamen nach innen gerichteten Blick. »Baine, wie oft hält dieser fürchterliche Zug noch?«

»Achtmal, Madam«, sagte er.

»Bis wir zu Hause sind, werden wir stocksteif gefroren sein. Gehen Sie und sagen Sie dem Schaffner, er soll uns einen Ofen bringen. Und holen Sie eine Decke für meine Knie.«

Und so weiter und so fort. Baine holte die Decke und warme Ziegel für Mrs. Merings Füße sowie ein Pulver für die Kopfschmerzen, die Mrs. Mering uns allen verursacht hatte, das sie aber selbst einnahm.

»Ich hoffe doch sehr, Sie beabsichtigen nicht, nach Ihrer Heirat weiter Hunde zu halten«, sagte sie zu Terence und wies ihn an, die Lampen herunterzudrehen, weil ihr das Licht in den Augen schmerzte. Am nächsten Bahnhof schickte sie Baine eine Zeitung kaufen. »Meine Vorahnung sagt mir, daß etwas Schreckliches passiert ist. Vielleicht ein Raub. Oder ein Feuer.«

»Ich dachte, deine Vorahnung hätte etwas mit Wasser zu tun gehabt«, sagte Tossie.

»Feuer werden mit Wasser gelöscht«, entgegnete Mrs. Mering würdevoll.

Als Baine hereinkam, sah er wieder aus, als hätte er ums Haar den Zug verpaßt. »Ihre Zeitung, Madam.«

»Nicht die Oxford Chronicle«, sagte Mrs. Mering und fegte sie beiseite. »Die Times.«

»Der Zeitungsjunge hatte die Times nicht«, erwiderte Baine. »Ich werde schauen, ob im Raucherwagen eine Ausgabe liegt.«

Mrs. Mering sank ins Polster zurück. Terence nahm die verschmähte Oxford Chronicle und fing an, darin zu lesen. Tossie fuhr fort, weiter gelangweilt aus dem Fenster zu schauen.

»Es ist stickig hier drin«, sagte Mrs. Mering. »Verity, hol mir meinen Fächer.«

»Ja, Tante Malvinia«, sagte Verity dankbar und trat die Flucht an.

»Ich würde zu gern wissen, warum sie diese Eisenbahnwagen immer überheizen müssen«, sagte Mrs. Mering und fächelte sich mit ihrem Taschentuch Luft zu. »Es ist wirklich eine Schande, daß wir gezwungen sind, unter solch unzivilisierten Bedingungen zu reisen.« Sie warf einen Blick zu Terences Zeitung hinüber. »Ich verstehe einfach nicht…«

Sie hielt inne, den Blick starr auf Terence gerichtet.

Tossie schaute hoch. »Was ist, Mama?«

Mrs. Mering stand auf und machte einen taumelnden Schritt rückwärts zur Tür. »Diese Nacht bei der Seance«, sagte sie und sank ohnmächtig nieder.

»Mama!« Tossie sprang auf. Terence lugte um seine Zeitung herum und ließ sie dann raschelnd sinken.

Mrs. Mering war schräg vor die Tür gefallen, mit dem Kopf glücklicherweise auf dem Plüschsitz und die Arme seitwärts ausgebreitet.

Terence und ich hoben sie hoch und placierten sie, so gut es ging, auf dem Sitz, während Tossie um uns herumflatterte.

»Oh, Mama!« sagte sie und beugte sich über Mrs. Merings schlaffe Gestalt. »Wach auf!« Sie nahm ihrer Mutter den Hut ab, der ziemlich verrutscht war, und tätschelte ihr die Wange. »Wach auf, Mama!«

Keine Reaktion.

»Sag doch was, Mama!« sagte Tossie und fuhr fort, die Wange zu tätscheln. Terence hob die heruntergefallene Zeitung auf und begann Mrs. Mering seinerseits Luft zuzufächeln.

Immer noch keine Reaktion.

»Hol lieber Baine«, sagte ich zu Terence.

»Ja, Baine«, sagte Tossie. »Er wird wissen, was zu tun ist.«

»Stimmt.« Terence gab Tossie die Zeitung und rannte den Gang hinunter.

»Mama!« Tossie fächelte weiter, wo Terence aufgehört hatte. »Sag doch was!«

Mrs. Mering öffnete mühsam die Augen. »Wo bin ich?« fragte sie schwach.

»Zwischen Upper Elmscott und Oldham Junction«, sagte Tossie.

»Im Zug aus Coventry«, übersetzte ich. »Wie geht es Ihnen?«

»Oh, Mama! Du hast uns solch einen Schrecken eingejagt«, sagte Tossie. »Was ist passiert?«

»Passiert?« wiederholte Mrs. Mering, kämpfte sich hoch und befühlte ihre Haare. »Wo ist mein Hut?«

»Hier, Mama.« Tossie gab mir die Zeitung und hob den Hut auf. »Du bist ohnmächtig geworden. Hattest du eine weitere Vorahnung?«

»Vorahnung?« fragte Mrs. Mering zögernd und versuchte, ihren Hut festzustecken. »Ich weiß nicht…«

»Du hast Terence angeschaut und dann zu sprechen aufgehört, als ob du einen Geist gesehen hättest. Dann bist du zu Boden gesunken. War es Lady Godiva?«

»Lady Godiva?« Mrs. Merings Stimme klang, als käme sie allmählich zu sich. »Warum, um alles in der Welt, sollte Lady…?« Sie hielt inne.

»Mama?« fragte Tossie besorgt.

»Ich erinnere mich…« sagte Mrs. Mering. »Wir fragten die Geister nach Neuigkeiten über Prinzessin Arjumand und die Türen öffneten sich…« Sie erhob ihre Stimme. »Da ist es passiert… ich fragte, ob sie ertrunken sei…«

Und sank wieder um, als sei ihr das Lebenslicht ausgeblasen. Ihr Kopf fiel seitwärts auf die plüschene Armstütze, der Hut rutschte ihr auf die Nase.

»Mama!« schriekte Tossie.

»Haben Sie irgendwo Riechsalz?« Ich richtete Mrs. Mering auf.

»Jane hat welches«, sagte Tossie. »Ich hol’ es.« Sie hetzte den Gang hinunter.

»Mrs. Mering«, sagte ich, fächelte ihr mit einer Hand Luft zu und stützte sie mit der anderen, denn sie hatte die Tendenz, zur Seite zu kippen. »Mrs. Mering!« Ich überlegte, ob ich ihr Korsett öffnen oder wenigstens ihren Kragen lockern sollte, entschied aber, besser auf Tossie zu warten. Oder Verity. Wo steckten die beiden?

Die Tür sprang auf, und Terence stürzte keuchend ins Abteil. »Ich konnte Baine nirgends finden. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht wurde er apportiert.« Sein Blick richtete sich interessiert auf Mrs. Mering. »Ist sie immer noch weggetreten?«

»Nein. Schon wieder«, sagte ich fächelnd. »Hast du ’ne Ahnung, was das verursacht haben könnte?«

»Nicht die geringste.« Er setzte sich auf den Platz gegenüber. »Ich las gerade die Zeitung, und sie schaute mich plötzlich an, als wäre ich Banquos Geist. ›Ist das ein Dolch, was ich vor mir erblicke, den Griff mir zugekehrt?‹[69] — bloß, daß es in diesem Fall die Oxford Chroniclewar. Und, schwupps, schon lag sie. Ob das was mit meinem Lesegeschmack zu tun hat?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie sagte etwas über Prinzessin Arjumand und die Geister.«

Verity kam mit dem Fächer herein. »Was…?«

»Sie ist wieder ohnmächtig geworden«, erklärte ich. »Tossie holt gerade das Riechsalz.«

Tossie eilte ins Abteil, gefolgt von Baine.

»Wo ist Jane?« Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. »Haben Sie das Riechsalz mitgebracht?«

»Ich habe Baine mitgebracht«, erwiderte sie, die Wangen von der Hetzerei puterrot.

Baine nahm die Sache sofort in die Hand, kniete sich vor Mrs. Mering und nahm ihr den Hut vom Kopf. Dann öffnete er ihren Kragen. »Mr. St. Trewes, machen Sie bitte das Fenster auf. Mr. Henry, wenn Sie mir etwas Platz machen würden…«

»Vorsichtig«, sagte ich und ließ Mrs. Merings Arm los. »Sie hat die Tendenz nach Steuerbord zu kippen«, aber er hielt sie bereits bei den Schultern. Ich trat zurück, an Veritys Seite, immer noch die gefaltete Zeitung in der Hand.

»Und jetzt«, sagte Baine und drückte Mrs. Merings Kopf zwischen ihre Knie.

»Baine!« sagte Tossie.

»Oh!« Mrs. Mering versuchte sich aufzurichten.

»Atmen Sie tief durch«, sagte Baine, die Hand fest auf Mrs. Merings Nacken. »So ist’s gut. Tief durchatmen.« Dann ließ er sie sich aufsetzen.

»Was…?« fragte sie verstört.

Baine zauberte ein Brandyfläschchen aus seiner Jackentasche sowie eine kleine Porzellantasse. »Trinken Sie das«, befahl er und legte Mrs. Merings behandschuhte Hand darum. »Ja, so. Gut.«

»Geht’s dir besser, Mama?« fragte Tossie. »Weshalb bist du ohnmächtig geworden?«

Mrs. Mering nahm einen zweiten Schluck Brandy. »Ich weiß nicht…« sagte sie. »Was immer es auch war, jetzt geht es mir besser.« Sie reichte Baine die Teetasse. »Wie lange dauert es noch bis Muchings End?«

»Was ist passiert?« fragte Verity, die dicht neben mir stand.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Terence las gerade die Zeitung«, sagte ich und hielt sie zur Illustration hoch, »und Mrs. Mering…« Ich hielt inne, starrte, genau wie Macbeth.

Es stand unten auf der Seite, genau unter einem Artikel über den Bootsstau auf der Themse.

»BALLIOL-PROFESSOR ERTRUNKEN« stand da und darunter, in kleinerer Schrift, aber immer lesbar, denn es war die Oxford Chronicleund nicht die Times:

»GESCHICHTSPROFESSOR MATTHEW PEDDICK TÖDLICH IM FLUSS VERUNGLÜCKT!«

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