»… und Regeln gibt es anscheinend überhaupt keine; oder falls es welche gibt, hält sich keiner daran — und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie durcheinander man wird, wenn das ganze Spielgerät lebendig ist.«
Angst vor Regen • Noch ein Schwan • Was Leute auf Wohltätigkeitsbasaren alles kaufen • Nummer drei, sieben, dreizehn, vierzehn und achtundzwanzig • Ich lasse mir die Zukunft vorhersagen • Die Dinge sind nicht, was sie scheinen • Ich reise zur Anderen Seite • Die Schlacht bei Waterloo • Wie wichtig eine gute Handschrift sein kann • Ein schicksalhafter Tag • Nummer Fünfzehn • Ein Plan • Eine unerwartete Ankunft
»Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Verity, als wir am nächsten Morgen am Stand, wo der Basar stattfand, Sachen zum Verkauf sortierten. Es war unsere erste Möglichkeit, die, wie Mrs. Mering es ausdrückte, »aufregenden Neuigkeiten« unter vier Augen zu besprechen.
»Es war meine Schuld.« Verity stellte einen Holzschuh aus Porzellan hin, den eine blauweiße Windmühle zierte. »Ich hätte nie zulassen dürfen, daß T. J. mich so viele Sprünge machen läßt.«
»Sie versuchten ja nur, etwas herauszufinden, was uns helfen könnte«, sagte ich und wickelte einen Eierkocher aus. »Ich war derjenige, der Tossie und Terence unbeobachtet ließ.« Ich stellte den Kocher auf den Verkaufstisch. »Und ihm diese Idee eingeimpft hat. Er hätte den Antrag nicht gemacht, wenn ich nicht diesen Blödsinn verzapft hätte, von ›vertanen Chancen‹ und der ›Zeit, die flieht‹.«
»Sie taten nur, um was ich Sie gebeten hatte«, entgegnete Verity und entfaltete einen japanischen Fächer. »›Wenden Sie die Titanic, Ned‹, sagte ich. ›Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden keinen Eisberg rammen.‹«
»Noch immer nicht fertig?« fragte Mrs. Mering, und wir fuhren beide hoch. »Das Fest wird gleich eröffnet.«
»Wir werden rechtzeitig fertig sein«, sagte Verity und packte eine Suppenterrine in Form eines Salatkopfes aus. Mrs. Mering schaute besorgt zum bewölkten Himmel hoch. »Oh, Mr. Henry, es wird doch nicht etwa regnen, oder was meinen Sie?«
Natürlich nicht, dachte ich. Das Schicksal ist gegen mich.
»Nein«, erwiderte ich. Ich wickelte eine Radierung von Paolo und Francesca aus, ein weiteres Pärchen, mit dem es ein übles Ende genommen hatte.[60]
»Gut«, sagte Mrs. Mering, eine Büste Prinz Alberts abstaubend. »Oh, da kommt Mr. St. Trewes! Ich muß mit ihm übers Ponyreiten sprechen.«
Ich beobachtete sie interessiert, als sie auf Terence zurauschte. Sie trug ein blaues Gartenpartykleid, in victorianischem Stil überall gerafft, gerüscht und gekraust, darüber aber noch ein fließendes Gewand mit roten, gelben und purpurnen Streifen sowie ein breites samtenes Stirnband, in dem eine mächtige Straußenfeder steckte.
»Sie spielt die Wahrsagerin«, erklärte Verity und placierte eine Nähschere in Form eines Reihers auf den Tisch. »Wenn sie mir die Zukunft weissagt, werde ich sie fragen, ob sie weiß, wo des Bischofs Vogeltränke ist.«
»Vielleicht hier dabei«, sagte ich und suchte nach einem Plätzchen, wo ich das Banjo der Witwe Wallace unterbringen konnte. »Sie würde gut dazu passen.«
Verity blickte auf die Sachen auf dem Verkaufstisch. »Das ist wirklich Krimskrams«, sagte sie und stellte noch ein Porzellantöpfchen für Bartpomade dazu.
»Etwas fehlt noch«, sagte ich mit kritischem Blick. Ich ging hinüber zu Tossies Bude und schnappte mir einen Federhalterwischer, den ich zwischen einen Brieföffner und eine Gruppe Zinnsoldaten legte. »So. Nun ist es perfekt.«
»Bis auf die Tatsache, daß Tossie und Terence verlobt sind«, entgegnete Verity. »Ich hätte nie annehmen dürfen, daß sie wirklich den ganzen Nachmittag bei den Chattisbournes zubringen würde.«
»Die Frage ist doch nicht«, sagte ich, »wessen Schuld diese Verlobung ist, sondern was wir jetzt unternehmen sollen.«
»Also — was machen wir jetzt?« Verity stellte einen Harlekin mit Kolumbine woanders hin.
»Vielleicht kommt Terence nach einem ausgiebigen Nachtschlaf wieder zur Besinnung und stellt fest, daß er einem schrecklichen Irrtum erlegen ist«, meinte ich.
Verity schüttelte den Kopf. »Das würde uns auch nicht helfen. In diesem Jahrhundert gelten Verlobungen beinahe soviel wie eine Heirat. Ein Gentleman kann nicht einfach eine Verlobung auflösen, ohne einen furchtbaren Skandal zu verursachen. Nein, bevor nicht Tossie ihrerseits die Verlobung löst, gibt es für Terence keine Möglichkeit, zu entkommen.«
»Das heißt, sie muß ihren Mr. C treffen«, sagte ich. »Und es heißt, daß wir herausfinden müssen, wer er ist, je eher, desto besser.«
»Das bedeutet, daß einer von uns beiden zu Dunworthy muß, um herauszufinden, ob unsere Expertin inzwischen seinen Namen entziffert hat«, antwortete Verity.
»Und das werde ich sein«, sagte ich bestimmt.
»Und wenn Lady Schrapnell Sie sieht?«
»Dieses Risiko muß ich eingehen«, sagte ich. »Sie jedenfalls springen nirgendwo mehr hin.«
»Keine schlechte Idee.« Verity legte die Hand auf die Stirn. »Mir ist nämlich inzwischen einiges eingefallen, was ich gestern im Boot gesagt habe.« Sie zog den Kopf ein. »Es ist Ihnen doch klar, daß nur die Zeitkrankheit und das hormonelle Ungleichgewicht mich dazu gebracht haben, all diese Dinge über Lord Peter Wimsey und Ihren Hut zu sagen, und nicht weil ich etwa…«
»Schon klar«, sagte ich. »Und ich halte Sie, wenn ich im Vollbesitz meiner Kräfte bin, auch nicht für eine wunderschöne Naiade, die mich tief, tief unter Wasser in ihre feuchte Umarmung ziehen will. Außerdem…« — ich grinste — »bin ich bereits Pansy Chattisbourne versprochen.«
»Vielleicht möchten Sie Ihr ein Verlobungsgeschenk kaufen«, sagte sie und hielt ein golden verziertes Tongefäß hoch, das eine Unzahl kleiner Löcher aufwies und in dem rosa Nelken aus Keramik steckten.
»Was ist das denn?« fragte ich.
»Keine Ahnung. Aber Sie werden etwas kaufen müssen, oder? Mrs. Mering würde es Ihnen sonst nie verzeihen.«
Sie hielt einen Weidenkorb hoch, der wie ein Schwan aussah. »Wie wäre es damit?«
»Nein, danke«, sagte ich. »Cyril und ich mögen keine Schwäne.«
Verity nahm eine kleine Blechschachtel in die Hand, in die man gezuckerte Veilchen füllte. »Das hier wird niemand kaufen.«
»Wenn Sie sich da bloß nicht täuschen.« Ich wickelte eine fleckige Ausgabe von Ein altmodisches Mädchen aus und legte sie zwischen zwei marmorne Buchstützen, die wie Dido und Aeneas geformt waren — noch ein Paar, dessen Glück sich in Rauch aufgelöst hatte. Gab es denn in der Weltgeschichte kein einziges berühmtes Paar, das einfach geheiratet, sich niedergelassen und für den Rest seiner Tage glücklich gelebt hatte?
»Die Leute kaufen auf diesen Basaren einfach alles«, sagte ich. »Bei dem Flohmarkt zugunsten der evakuierten Kinder kaufte eine Frau sogar einen Zweig, der zufällig vom Baum herab auf den Verkaufstisch gefallen war.«
»Schauen Sie nicht hin.« Verity senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ihre Braut kommt.«
Ich drehte mich um und sah Pansy Chattisbourne, die auf mich zusteuerte. »Oh, Mr. Henry«, kicherte sie. »Würden Sie mir helfen, den Stand mit den Galanteriewaren aufzubauen?« Sie zog mich fort, um gehäkelte Sesselschoner und mit Spitzen verzierte Schachteln für Taschentücher zu ordnen.
»Das hier habe ich gemacht«, sagte sie und zeigte mir ein Paar gehäkelte Pantoffeln mit Blumenmuster. »Stiefmütterchen. Wie mein Name. Es soll bedeuten ›Ich denk’ an dich‹.«
»Aha«, entgegnete ich und kaufte ein Lesezeichen, auf dem die Worte: »Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen. Matth. 6, Vers 19« eingestickt waren.
»Nein, nein, Mr. Henry!« Mrs. Mering schoß wie ein bunter Raubvogel auf mich und die im Kreuzstich gehäkelten Teedeckchen nieder. »Das ist nicht der richtige Platz für Sie. Ich brauche Sie dort drüben.«
Sie führte mich über den Rasen an den Ständen für die Strick- und Häkelwaren, der Angel- und der Wurfbude und dem Teezelt vorbei zu einer Stelle, wo Sand inmitten einer hölzernen Umrandung aufgehäuft war. Baine unterteilte ihn gerade mit einer kleinen Schaufel in Vierecke.
»Hier ist die Schatzsuche, Mr. Henry«, sagte Mrs. Mering und drückte mir eine Handvoll gefalteter Pappkarten in die Hand. »Damit werden die Felder numeriert. Haben Sie Schillinge dabei?«
Ich zog meinen Geldbeutel heraus und schüttete den Inhalt in meine Hand. »Drei Schilling für die kleinen Preise«, sagte Mrs. Mering, mit einem Griff alles Geld an sich reißend. Sie suchte drei Silbermünzen heraus und gab sie mir zurück. »Das übrige können wir als Wechselgeld für den Wollwarenstand verwenden.«
Unverkennbar, daß sie mit Lady Schrapnell verwandt war.
»Ich überlasse es Ihnen, in welchen Quadraten Sie die Schillinge und den Hauptpreis eingraben«, sagte sie. »Passen Sie auf, daß Sie niemand dabei beobachtet. Vermeiden Sie die Eckquadrate und die Glückszahlen — drei, sieben und dreizehn. Diese nehmen die Leute immer zuerst, und wenn der Hauptpreis zu früh gefunden wird, bekommen wir nicht genügend Geld für die Kirchenrestaurierung zusammen. Vermeiden Sie auch alle Zahlen unter zwölf. Die Kinder wählen immer eine Zahl, die ihrem Alter entspricht. Ebenso vierzehn. Heute ist der vierzehnte Juni, und die Leute wählen immer häufig das Datum. Und passen Sie auf, daß jeder immer nur in einem Quadrat gräbt. Baine, wo ist der Hauptpreis?«
»Hier, Madam«, sagte Baine und reichte ihr ein in braunes Papier eingewickeltes Päckchen.
»Einmal graben kostet zwei Penny, dreimal graben fünf.« Sie wickelte das Päckchen aus. »Hier ist unser Hauptgewinn.«
Sie reichte mir einen Teller, auf den die Mühle von Iffley gemalt war und auf dem stand: »Glückliche Zeiten auf der Themse«. Er sah haargenau so aus wie der, den mir die Morgenhaube in Abingdon hatte verkaufen wollen.
»Baine, wo ist die Schaufel?« fragte Mrs. Mering.
»Hier, Madam.« Er reichte sie mir mitsamt einem Rechen. »Damit können Sie den Sand nach dem Eingraben der Preise wieder glätten«, erklärte er.
»Wie spät ist es, Baine?« wollte Mrs. Mering wissen.
»Fünf vor zehn, Madam«, sagte er, und ich dachte, sie würde ohnmächtig.
»Und wir sind noch immer nicht fertig!« rief sie. »Baine, gehen Sie und erklären Sie Professor Peddick das Angelspiel und bringen Sie mir meine Kristallkugel! Mr. Henry, fangen Sie sofort an. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«
Ich hob die Schaufel.
»Und auch nicht achtundzwanzig. Dort lag letztes Jahr der Hauptgewinn. Oder sechzehn. Das ist der Geburtstag der Königin.«
Sie rauschte davon, und ich begann, die Schätze zu vergraben. Baine hatte dreißig Quadrate vorbereitet. Wenn man sechzehn, achtundzwanzig, drei, sieben, dreizehn, vierzehn und alle Zahlen unter zwölf ausschloß und ebenso die Eckquadrate, blieb nicht mehr viel Auswahl.
Ich schaute mich scharf um, für den Fall, daß irgendwelche Diebe, die es auf »Glückliche Zeiten auf der Themse« abgesehen hatten, in den Hecken lauerten, und steckte dann die drei Schillinge in neunundzwanzig, dreiundzwanzig und sechsundzwanzig. Nein, das war ja eine Ecke. Einundzwanzig also. Dann stand ich da und versuchte, mir darüber klarzuwerden, welches Quadrat wohl am wenigstens nach Hauptgewinn aussehen würde und ob mir noch genügend Zeit blieb, zu Dunworthy zu springen, um ihm Bericht zu erstatten, bevor das Fest begann.
Während ich noch mit mir selbst debattierte, begannen die Glocken der Kirche von Muchings End zu läuten, Mrs. Mering stieß ein Schreichen aus, und das Kirchfest war somit offiziell eröffnet. Schleunigst vergrub ich den Hauptgewinn in Nummer achtzehn und begann zu harken.
»Sieben«, sagte eine Kinderstimme hinter mir. Ich drehte mich um. Eglantine Chattisbourne stand in einem rosa Kleid, das eine Riesenschleife zierte, vor mir. In der Hand hielt sie die Suppenschüssel, die einem Salatkopf glich.
»Es ist noch nicht eröffnet«, sagte ich, harkte über mehrere andere Quadrate und beugte mich dann darüber, um die Nummernschilder darauf zu setzen.
»Ich will aber in Nummer sieben graben«, sagte Eglantine und streckte mir fünf Penny entgegen. »Drei Versuche. Mit sieben fange ich an. Das ist meine Glückszahl.«
Ich reichte ihr die Schaufel, und sie setzte den Salatkopf ab und grub einige Zeit.
»Willst du noch ein anderes Feld ausprobieren?« fragte ich sie.
»Ich bin noch nicht fertig.« Sie grub weiter, stand aber schließlich doch auf und warf einen Blick über die übrigen Felder. »In den Ecken stecken die Preise nie«, sagte sie überlegend. »Vierzehn kann es auch nicht sein, denn ist es ist nie das Datum. Ich nehm’ zwölf. So alt werde ich an meinem nächsten Geburtstag sein.«
Wieder fing sie zu graben an. »Sind Sie sicher, daß Sie die Preise überhaupt vergraben haben?« fragte sie mißtrauisch.
»Ja«, sagte ich. »Drei Schillinge und den Hauptgewinn.«
»Das könnte jeder behaupten und die Preise heimlich für sich behalten.«
»Sie sind im Sand vergraben«, sagte ich. »Auf welchem Feld willst du deinen dritten Versuch starten?«
»Im Moment auf keinem«, erwiderte sie und gab mir die Schaufel. »Ich muß erst überlegen.«
»Wie Sie wünschen, Miss«, erwiderte ich. Sie hielt mir die Hand hin. »Ich will meine zwei Penny zurück. Für den dritten Versuch.«
Ob sie irgendwie mit Lady Schrapnell verwandt war? Vielleicht war Ellis Chattisbourne, entgegen allem Augenschein, doch Mr. C.
»Ich habe kein Wechselgeld«, sagte ich.
Sie hopste fort, ich harkte den Sand glatt und lehnte mich dann in Erwartung weiterer Kundschaft an einen Baum.
Es kam keine. Offenbar hatten sich alle zuerst auf den Basar gestürzt. In der ersten Stunde ging das Geschäft so schleppend, daß ich mich leicht wegschleichen und nach Oxford hätte springen können, wäre da nicht Eglantine gewesen, die in der Nähe herumlungerte und überlegte, welches Quadrat sie als letztes ausprobieren sollte.
Und um, wie sich herausstellte, als sie schließlich zu einem Entschluß gekommen war und vergeblich in Feld siebzehn gegraben hatte, ein wachsames Auge auf mich zu haben. »Ich glaube, Sie verteilen die Preise immer wieder neu, wenn keiner guckt«, sagte sie und schwang die Kinderschaufel. »Deshalb beobachte ich Sie schon die ganze Zeit.«
»Aber wenn du mich beobachtet hast«, sagte ich vernünftig, »wie hätte ich dann die Preise woanders vergraben können?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie düster. »Aber Sie haben es getan. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Der Hauptgewinn ist immer in siebzehn.«
Ich dachte, sie verschwände, weil sie nun kein Geld mehr hatte, aber sie trieb sich weiter in meiner Nähe herum und beobachtete, wie ein kleiner Junge das Feld sechs wählte (sein Alter) und seine Mutter Feld vierzehn (das Datum).
»Vielleicht haben Sie die Preise überhaupt nicht vergraben«, meinte Eglantine, nachdem die beiden gegangen waren, der kleine Junge schluchzend, weil er keinen Preis gefunden hatte. »Vielleicht behaupten Sie das nur.«
»Wie wär’s mit einem kleinen Ponyritt?« schlug ich vor. »Drüben bei Mr. St. Trewes kann man auf Ponys reiten.«
»Das ist was für Kleinkinder«, sagte Eglantine abweisend.
»Hast du dir schon wahrsagen lassen?« Ich gab nicht auf.
»Ja. Die Wahrsagerin meinte, sie sähe in der Kristallkugel, daß ich eine lange Reise machen würde.«
Je eher, um so besser, dachte ich.
»Bei den Galanteriewaren gibt es ein paar hübsche Federhalterwischer«, schlug ich schamlos vor.
»Ich will keine Federhalterwischer«, sagte Eglantine. »Ich will den Hauptgewinn.«
Sie beobachtete mich noch eine weitere halbe Stunde mit Argusaugen, bis Professor Peddick auftauchte.
»Wie das Feld bei Runnymede«, sagte er mit einer Geste, die den ganzen Rasen mitsamt Ständen und Teezelt umfaßte. »Die Barone mit ihren großen Zelten und Bannern, über das große Feld verstreut, während sie darauf warten, daß König Johann und seine Gefolgschaft eintrifft.«
»Da wir grad von Runnymede sprechen«, sagte ich, »sollten wir nicht besser nach Oxford zurückkehren, um Ihre Schwester und Ihre Nichte zu treffen? Sie werden Sie ohne Zweifel vermissen.«
»Pah!« meinte er. »Dazu ist noch genug Zeit. Sie bleiben den ganzen Sommer über. Der Colonel hat einen rotgepunkteten Silbertancho bestellt, der morgen hier eintreffen soll.«
»Terence und ich könnten Sie mit der Bahn nach Oxford bringen, damit Sie zu Hause mal nach dem Rechten schauen können. Und dann könnten Sie wieder hierherkommen, um den rotgepunkteten Silbertancho zu sehen.«
»Völlig unnötig«, entgegnete Professor Peddick. »Maudie ist sehr tüchtig. Ich bin sicher, daß die Dinge bei ihr in besten Händen sind. Außerdem bezweifle ich, daß Terence überhaupt von hier fort möchte, nun, wo er sich mit Miss Mering verlobt hat.« Er schüttelte den Kopf. »Ich für meinen Teil halte nicht viel von solchen überhasteten Verlobungen. Was meinen Sie dazu, Henry?«
»Daß kleine Lauscher große Ohren haben.« Ich blickte zu Eglantine, die in der Nähe der Schatzsuche stand und die Hände hinterm Rücken verschränkt, nachdenklich die Quadrate betrachtete.
»Hübsches kleines Ding, aber null Ahnung von Geschichte«, meinte Professor Peddick, der den Hinweis nicht begriff. »Denkt, Nelson verlor seinen Arm, als er gegen die Spanische Armada kämpfte.«
»Wollen Sie auch graben?« fragte Eglantine und kam zu uns.
»Graben?«
»Nach dem Schatz«, sagte sie.
»Wie einst Professor Schliemann im alten Troja.« Der Professor hob die kleine Schaufel auf. »›Fuimus Troes; fuit Ilium.‹«
»Zuerst müssen Sie zwei Penny bezahlen«, sagte Eglantine. »Und eine Zahl wählen.«
»Eine Zahl?« Professor Peddick wühlte in seiner Tasche, bis er zwei Penny fand. »Gut, gut. Fünfzehn für den Tag und das Jahr, an dem dieMagna Charta unterzeichnet wurde.« Er ließ das Geld fallen. »Der fünfzehnte Juni 1215.«
»Das ist morgen«, sagte ich. »Es gäbe doch kaum ein passenderes Datum für uns, um nach Runnymede zu gehen, als dieser Jahrestag der Unterzeichnung. Wir könnten Ihrer Schwester telegrafieren, daß sie uns dort treffen möchten, und morgen früh mit dem Boot losrudern.«
»Zu viele Ausflügler«, erwiderte Professor Peddick. »Vertreiben die Fische.«
»Fünfzehn ist keine gute Zahl«, sagte Eglantine. »Ich hätte neun gewählt.«
»Nimm.« Professor Peddick reichte ihr die Schaufel. »Grab du für mich.«
»Darf ich behalten, was ich finde?«
»Wir teilen uns die Beute«, sagte er. »›Fortuna belli semper anticipiti in loco est.‹«
»Was kriege ich, wenn nichts im Feld fünfzehn liegt?«
»Limonade und Kuchen im Teezelt«, sagte Professor Peddick.
»Es liegt nichts in fünfzehn.« Eglantine begann trotzdem zu graben.
»Ein schicksalhafter Tag, der fünfzehnte Juni«, meinte Professor Peddick und schaute ihr zu. »Am fünfzehnten Juni 1814 marschierte Napoleon mit seiner Armee in Belgien ein. Wäre er nach Ligny vorgedrungen, anstatt in Fleurus zu halten, hätte er eine Bresche zwischen die Armeen von Wellington und Blücher geschlagen und die Schlacht von Waterloo gewonnen. Ein Tag, der den Lauf der Weltgeschichte für immer veränderte, dieser fünfzehnte Juni.«
»Ich sagte Ihnen, es liegt nichts im Feld fünfzehn«, maulte Eglantine. »Ich glaube, in keinem Feld liegt irgendwas. Wann bekomme ich meine Limonade und den Kuchen?«
»Gleich, wenn du möchtest.« Professor Peddick nahm sie beim Arm und führte sie zum Teezelt. Endlich hatte ich Gelegenheit, nach Oxford zu springen.
Ich hatte aber noch keine drei Schritte in Richtung Gartenpavillon getan, als ich von Mrs. Chattisbourne aufgehalten wurde. »Mr. Henry«, sagte sie. »Haben Sie Eglantine gesehen?«
Ich sagte ihr, ihre Tochter sei im Teezelt.
»Ich nehme an, Sie haben bereits die erfreuliche Nachricht von Miss Merings und Mr. St. Trewes’ Verlobung gehört«, sagte sie.
Ich bejahte es.
»Juni ist der perfekte Monat, um sich zu verloben, meinen Sie nicht auch, Mr. Henry? Und so viele hübsche junge Mädchen hier in der Nähe. Es würde mich nicht wundern, wenn Sie sich ebenfalls bald verloben würden.«
Ich sagte ihr noch einmal, daß Eglantine im Teezelt sei.
»Vielen Dank«, erwiderte sie. »Oh, falls Sie Finch sehen, sagen Sie ihm doch bitte, daß wir am Kuchenstand fast keinen Pastinakenwein mehr haben.«
»Wird gemacht, Mrs. Chattisbourne.«
»Finch ist ein so wunderbarer Butler«, fuhr sie fort. »So umsichtig. Wissen Sie eigentlich, daß er bis nach Sowester fuhr, nur um Gewürzkuchen für den Kuchenstand zu besorgen? Er verbringt jede freie Minute damit, landauf und landab zu reisen, um nach Delikatessen Ausschau zu halten. Gestern holte er bei Farmer Bilton Erdbeeren. Er ist einfach phantastisch. Der beste Butler, den wir je hatten. Ich halte Tag und Nacht Ängste aus, daß er uns bald abgeworben werden könnte.«
Ängste, die unter den gegebenen Umständen berechtigt sind, dachte ich und fragte mich, was Finch wirklich in Sowester und bei Farmer Bilton gesucht hatte. Und ob Mrs. Chattisbourne mich jemals wieder in Ruhe lassen würde.
Schließlich ging sie, aber nicht, bevor nicht Pansy und Iris aufgetaucht waren, die kichernd zwei Penny auf drei und dreizehn setzten (ihre Glückszahlen). Es dauerte nahezu eine halbe Stunde, bis ich die drei wieder los war, und inzwischen mußte Eglantine jeden Moment zurückkommen.
Ich rannte zur Auffahrt, wo das Ponyreiten stattfand und fragte Terence, ob er mich einige Minuten bei der Schatzsuche ablösen könne.
»Was muß ich da tun?« wollte er mißtrauisch wissen.
»Den Leuten eine Schaufel aushändigen und ihnen zwei Penny abknöpfen«, sagte ich. Die Sache mit Eglantine ließ ich unter den Tisch fallen.
»Mach’ ich«, sagte Terence und band das Pony an einen Baumstamm. »Im Vergleich zu dem hier scheint es wirklich ein Leichtes zu sein. Seit heute morgen werde ich unaufhörlich getreten.«
»Von dem Pony?« fragte ich und beäugte es argwöhnisch.
»Von den Kindern.«
Ich zeigte ihm, wo die Schatzsuche aufgebaut war und gab ihm die Schaufel. »In einer Viertelstunde bin ich wieder zurück«, versprach ich.
»Laß dir ruhig Zeit«, erwiderte er.
Ich dankte ihm und machte mich schleunigst zum Sommerhaus auf. Beinahe hätte ich es geschafft. Am Rand der Fliederbüsche jedoch fing mich der Kurator ab und sagte: »Gefällt Ihnen das Fest, Mr. Henry?«
»Überwältigend«, erwiderte ich. »Ich…«
»Haben Sie sich schon die Zukunft vorhersagen lassen?«
»Noch nicht. Aber ich…«
»Dann müssen Sie das sofort machen«, sagte er, packte meinen Arm und führte mich zurück zum Zelt der Wahrsagerin. »Das und der Basar sind die Glanzlichter unseres Festes.«
Er schob mich durch einen rotvioletten Eingang in ein winziges Zelt, in dem Mrs. Mering mit der Kristallkugel saß, die Felpham und Muncaster’s offenbar unter Androhung schlimmster Folgen doch noch rechtzeitig geliefert hatten.
»Setzen Sie sich«, sagte sie. »Sie müssen meine Hand zuerst mit Silber gnädig stimmen.«
Ich reichte ihr die einzige goldene Münze, die sie mir gelassen hatten, worauf sie mir einige Silbermünzen zurückgab und dann die Hände über die Kristallkugel breitete.
»Ich sehe…« sagte sie mit Grabesstimme, »… ein langes Leben.«
Das scheint nur so, dachte ich.
»Ich sehe… eine lange, eine sehr lange Reise… auf der Sie etwas suchen. Vielleicht einen sehr wertvollen Gegenstand?« Sie schloß die Augen und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Die Kugel ist trübe… ich kann nicht erkennen, ob Ihre Suche erfolgreich sein wird.«
»Können Sie nicht sehen, wo er sich befindet?« Ich beugte mich vor, um in die Kugel blicken zu können. »Der Gegenstand?«
»Nein.« Wieder legte sie die Hände über die Kugel. »… Die Dinge sind nicht, was sie scheinen. Ich sehe… Schwierigkeiten, das Glas wird noch trüber… im Zentrum sehe ich… Prinzessin Arjumand!«
Es riß mich fast vom Sitz.
»Prinzessin Arjumand! Du ungezogene Katze!« sagte Mrs. Mering und griff unter ihre Robe. »Hier hast du nichts zu suchen, du böses kleines Ding! Mr. Henry, bitte seien Sie so freundlich und bringen Sie die Katze zu meiner Tochter zurück. Sie verdirbt hier die ganze Atmosphäre.«
Sie gab mir Prinzessin Arjumand, die mühsam von ihrer Robe abgepflückt werden mußte. »Kein Tag ohne Probleme mit dir«, sagte sie.
Ich trug Prinzessin Arjumand hinüber zum Stand, wo das Gerümpel verkauft wurde und bat Verity, auf die Katze aufzupassen. Verity wollte wissen, was ich bei Dunworthy herausgefunden hatte.
»Noch gar nichts. Mrs. Mering hat mich aufgehalten«, sagte ich. »Allerdings weissagte sie mir eine lange Reise, was heißen könnte, daß ich jetzt endlich fort kann.«
»In meiner Zukunft sah sie eine Hochzeit«, meinte Verity. »Wollen wir hoffen, daß es sich dabei um Tossie und Mr. C handelt.«
Ich schob mich hinter den Stand, gab ihr Prinzessin Arjumand und schlich dann geduckt hinten hinaus, rannte zum Treidelpfad hinunter und hinüber zum Gartenpavillon, wo ich mich hinter den Fliederbüschen verbarg und wartete, bis sich das Netz öffnete.
Es dauerte eine Ewigkeit, während der ich Angst hatte, daß entweder Eglantine oder der Kurator mich entdecken könnten, und dann, als es endlich zu schimmern begann, wegen Lady Schrapnell.
Ich kam in der Hocke an, bereit loszusprinten, sollte Lady Schrapnell im Labor sein. Sie war aber nicht da, zumindest nicht in dem Bereich, den ich sehen konnte. Das Labor sah aus, als sei es in ein militärisches Hauptquartier verwandelt worden. Vor der Wand, an der ich vor — vor wie vielen Tagen eigentlich? — gesessen hatte, türmte sich eine Computeranlage, neben der die Netzkonsole fast verschwand. Der gesamte Platz, der nicht vom Netz eingenommen wurde, war mit einer langen Reihe aufeinandergestapelter Monitore und dreidimensionaler Bildschirme ausgefüllt.
An der Konsole saß Miss Warder und verhörte den neuen Rekruten.
»Ich weiß nur«, sagte er, »daß er sagte: ›Ich kann es nicht riskieren, Sie zurückzulassen. Auf, ins Netz‹, und das befolgte ich.«
»Und Carruthers sagte nicht, daß er noch etwas zu erledigen habe, bevor er nachkäme? Etwas zu überprüfen?«
Der Rekrut schüttelte den Kopf. »Er sagte, er käme direkt nach mir.«
»Befand sich irgend jemand in der Nähe?«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Die Sirenen heulten. Und in diesem Teil der Stadt ist keine Menschenseele. Er ist völlig niedergebrannt.«
»Die Sirenen heulten?« fragte Miss Warder. »Gab es einen Angriff? Könnte eine Bombe…« Plötzlich schaute sie hoch und entdeckte mich. »Was machen Sie denn hier? Was ist mit Kindle passiert?«
»Fortgeschrittene Zeitkrankheit, dank Ihnen allen hier«, sagte ich und suchte aus den Schleiern freizukommen. »Wo ist Dunworthy?«
»Drüben im Corpus Christi College, bei der Gerichtsmedizinerin«, erwiderte sie.
»Gehen Sie und sagen Sie ihm, daß ich hier bin und mit ihm sprechen möchte«, sagte ich zu dem neuen Rekruten.
»Ich bemühe mich gerade, herauszufinden, was mit Carruthers passiert ist«, sagte Miss Warder. »Sie können nicht einfach hier hereinschneien und…«
»Es ist wichtig.«
»Carruthers auch!« blaffte sie. Sie wandte sich an den Rekruten. »Waren irgendwelche Spätzünder in der Nähe?«
Der Rekrut blickte unsicher von ihr zu mir. »Ich weiß nicht.«
»Was heißt das, Sie wissen es nicht?« fragte Miss Warder zornig. »Was war mit den Gebäuden und den Ruinen ringsum? Waren sie stabil? Und sagen Sie mir nicht, daß Sie das auch nicht wissen.«
»Am besten, ich hole Mr. Dunworthy«, entgegnete der Rekrut.
»Meinetwegen«, schimpfte Miss Warder. »Kommen Sie sofort wieder zurück. Ich habe noch mehr Fragen.«
Der Rekrut suchte schleunigst das Weite, wobei er fast mit T. J. zusammenstieß, der mit einem Stapel Bücher, Videos und Disketten hereinkam. »Ah, gut«, sagte er, als er meiner ansichtig wurde. »Ich möchte Ihnen beiden…« Er schaute sich um. »Wo ist Verity?«
»In 1888. Zeitkrank dank der vielen Sprünge, die sie für Sie erledigt hat.«
»Sie brachten überhaupt nichts zutage«, meinte er und versuchte, den Stapel abzusetzen, ohne daß er ihm umkippte, »was irgendeinen Sinn ergab. Um das Gebiet herum muß es einfach erhöhten Schlupfverlust geben. Hier, schauen Sie mal!«
Er wollte mich gerade zu der Computeranlage führen, als ihm etwas einfiel. Er ging zur Konsole hinüber und fragte: »Gab es Verluste bei Neds Sprung?«
»Ich hatte noch keine Zeit, das auszurechnen«, erwiderte Miss Warder. »Die ganze Zeit über probierte ich, Carruthers herauszubekommen!«
»Schon gut!« T. J. hob entschuldigend die Hände. »Könnten Sie es jetzt ausrechnen?« Er wandte sich an mich.
»Ned, ich möchte Ihnen zeigen…«
»Was soll das Gerede über Schlupfverluste bei meinem Sprung?« fragte ich. »Es gibt nie Verluste bei der Rückkehr.«
»Bei Veritys letztem Sprung schon«, sagte T. J.
»Und die Ursache?«
»Wissen wir noch nicht. Wir arbeiten noch daran. Kommen Sie her. Ich will Ihnen zeigen, was wir gerade machen.« Er führte mich zur Computeranlage. »Hat Verity Ihnen von den Simulationen zu Waterloo erzählt?«
»Mehr oder weniger.«
»Also, es ist ausgesprochen schwierig, eine exakte Simulation von einem historischen Ereignis anzufertigen, weil es meist zu viele unbekannte Faktoren gibt, aber Waterloo bildet eine Ausnahme. Die Schlacht ist durch und durch analysiert, und jedes Ereignis mikroskopisch genau beschrieben worden. Demnach«, sagte er, während seine schwarzen Finger die Tastatur bearbeiteten, »kennen wir verschiedene Krisenpunkte und eine Anzahl Faktoren, an denen die Schlacht eine entscheidende Wende hätte nehmen können — die heftigen Regenfälle am sechzehnten und siebzehnten Juni oder daß General Grouchy nicht erschien…«
»Napoleons miserable Handschrift«, warf ich ein.
»Genau. Napoleons Nachricht an d’Erlon und daß er Hougoumont nicht einnehmen konnte. Und noch anderes mehr.«
Er tippte weiter, dann drehte er sich um und betrachtete die Monitore, die sich hinter ihm befanden.
»Ah, da ist es ja.« Er nahm einen Laserpointer und ging hinüber zum Hauptschirm. »Dies hier ist eine Simulation der Ereignisse bei Waterloo, wie sie wirklich passiert sind.«
Der Schirm zeigte ein dreidimensionales graues Flimmern mit helleren und dunkleren Gebieten. »Hier ist die Schlacht«, sagte T. J., knipste den Stift an und wies damit ins Zentrum des dreidimensionalen Flimmerns. »Und hier«, er zeigte auf die Ränder, »ist das umliegende zeitliche und räumliche Gebiet, das von der Schlacht berührt wurde.«
Das Licht wich vom Zentrum zurück und huschte rasch über verschiedene Teile des Schirms. »Hier sehen Sie die Schlacht bei Quatre Bas, den Kampf um Wavre, den Angriff der Alten Garde, den Rückzug.«
Ich sah nichts außer einer Anzahl unterschiedlich grauer Flächen. Es war wie beim Arzt, wenn er mir ein Scanbild zeigte. »Hier sehen Sie die Lungen, das Herz…« Ja, er vielleicht. Ich sah nie etwas.
»Jetzt habe ich simulierte Inkonsequenzen in das Modell eingebaut und sehen Sie einmal, wie es sich verändert!«
Er ging zu dem rechten Schirm. Soweit ich beurteilen konnte, zeigte er das gleiche Bild wie der in der Mitte. »Hier zum Beispiel befahl Napoleon d’Erlon in einer unverständlichen Botschaft, sich nach Ligny zu wenden, mit dem Ergebnis, daß dieser seine Truppen hinter Napoleons linke Flanke brachte anstatt vor sie, und somit für einen Feind gehalten wurde. Hier habe ich einen simulierten Historiker eingefügt«, er wies ins Graue, »der Napoleons Botschaft durch eine leserliche ersetzt hat, und wie Sie sehen, verändert sich das Bild schlagartig.«
Ich mußte ihm einfach glauben.
»Bei dieser Inkonsequenz bekommen wir um dieses Gebiet herum«, er wies mit dem Pointer darauf, »einen sich rapide erhöhenden Schlupfverlust, geringfügig in diesem Umkreis und dann immer kleiner werdend in den peripheren Gebieten, wenn das System sich selbst korrigiert.«
Ich blinzelte auf den Schirm und versuchte, verstehend dreinzublicken.
»In diesem Fall hier war das System imstande, sich beinahe sofort zu korrigieren. d’Erlon gab die Befehle an seinen Stellvertreter, dieser an einen Leutnant, der ihn aber wegen des Artilleriefeuers nicht verstand und deshalb die Truppen hinter die linke Flanke Napoleons brachte, wodurch die Situation in ihren Originalzustand zurückgebracht wurde.«
Er wies mit dem Pointer auf die obere Bildschirmreihe. »Ich versuchte eine ganze Reihe Simulationen mit Inkonsequenzen verschiedener Gewichtigkeit. Hier zum Beispiel zerstört ein Historiker das Schloß am Tor von Hougoumont. Hier verhindert er den tödlichen Schuß eines Infanteristen auf Letort. In diesem hier fängt er eine Nachricht zwischen Wellington und Blücher ab.« Der Pointer zeigte auf einen Schirm nach dem anderen. »Die Simulationen variieren stark in ihren Auswirkungen auf die Situation und in der Zeitspanne, bis sich das Kontinuum selbst korrigiert hat.«
Er wies auf weitere Bildschirme. »Hier brauchte es nur ein paar Minuten, hier schon zwei Tage, und bei dem hier erkennt man keine direkte Verbindung zwischen der Gewichtigkeit der Inkonsequenz und den Auswirkungen. Hier indessen«, der Lichtpunkt wanderte zu dem Schirm ganz links, »erschossen wir Uxbridge, um seinen selbstmörderischen Angriff zu verhindern, und sein Stellvertreter befahl sofort den gleichen Angriff mit dem gleichen Ergebnis.« Er zeigte auf einen Schirm in der zweiten Reihe. »Bei dieser Simulation ließen wir einen Historiker, der als preußischer Soldat verkleidet war, stolpern und während der Schlacht um Ligny hinfallen, und die benötigte Selbstkorrektur war riesigen Ausmaßes und bezog vier Regimenter und Blücher selbst mit ein.«
Der Pointer wies auf einen Schirm in der Mitte. »In diesem hier veränderten wir die Situation bei La Sainte Haye, wo die Holzdächer durch die Artilleriegeschosse Feuer fingen und eine Kette Männer mit Suppenkesseln voll Wasser es fertigbrachten, das Feuer zu löschen.« Das Licht beleuchtete einen Punkt im Zentrum des grauen Flimmers. »Ich placierte hier einen Historiker hin, der einen der Suppenkessel stahl. Der Diebstahl verursachte eine schwere Inkonsequenz, und das Interessante daran ist, daß die Selbstkorrektur nicht nur hier und hier«, der Lichtpunkt ging zum oberen Bildschirmrand, »erhöhte Schlupfverluste verursachte, sondern auch hier, im Jahre 1814.«
»Das System ging in die Vergangenheit zurück und korrigierte sich selbst?«
»Ja«, sagte T. J. »Im Winter 1812 gab es einen heftigen Schneesturm, der eine tiefe Mulde in der Straße vor La Sainte Haye verursachte, wegen der ein Ochsenkarren ein Teil seiner Ladung verlor, unter anderem ein kleines Fäßchen Bier. Ein Dienstbote fand es und nahm es nach La Sainte Haye mit. Das Fäßchen wurde, mit abgehacktem Oberteil, zum Ersatz für den fehlenden Suppenkessel in der Menschenkette, die Feuer konnten gelöscht werden, und die Inkonsequenz war beseitigt.«
Er ging wieder zur Tastatur und tippte, was noch mehr Bildschirme zum Flimmern brachte. »Bei dieser Simulation hier, in der sich Gneisenau nach Liege zurückzieht und bei der hier, in der ein Historiker hilft, eine Kanone aus dem Schlamm zu ziehen, gibt es ebenfalls Selbstkorrekturen in der Vergangenheit.«
»Deshalb also haben Sie Verity zum Mai springen lassen?« fragte ich. »Sie glauben, die Inkonsequenz sei schon beseitigt worden, noch ehe sie geschehen ist.«
»Wir haben aber nirgendwo einen Schlupfverlust entdeckt, außer bei Ihrem Sprung«, erklärte er. Seine Stimme klang frustriert. »Bei all diesen Simulationen…« — eine Geste zu den Bildschirmen — »gleich, wie groß oder wie gering die Selbstkorrektur war, ergibt sich dasselbe Grundmuster: Ein sich rapide erhöhender Schlupfverlust direkt im Zentrum des Vorfalls, mäßig ansteigende im umliegenden Gebiet und nur noch vereinzelte, je weiter man sich vom Zentrum entfernt.«
»Nichts davon trifft auf unsere Inkonsequenz zu.« Ich starrte auf die Bildschirme.
»Nein, nichts. Bei Veritys Sprung betrug der Schlupfverlust neun Minuten, und nirgendwo im Umkreis habe ich eine rapide Erhöhung feststellen können. Der einzige weitere Schlupfverlust ergab sich im Jahre 2018, und dieser ist viel zu groß, wenn man bedenkt, wie weit dieser Punkt entfernt liegt.«
Wieder ging er zum Computer und gab ein paar Zahlen ein. Dann kehrte er zum Bildschirm links zurück, dessen Flimmern sich leicht verändert hatte. »Die einzige Simulation, die unserer Situation ähnelt, ist diese hier. Wir ließen den Historiker ein Artilleriegeschoß abfeuern, das Wellington tötete.«
Er suchte in seinen Taschen nach dem Pointer, fand ihn aber nicht und nahm statt dessen seinen Finger. »Sehen Sie das? Hier und hier erkennt man rapide ansteigende Verluste, aber sie umfassen sich verändernde Ereignisse und Diskrepanzen und zwar an diesen Punkten hier.« Er zeigte auf drei Stellen nahe dem Zentrum. »Hier hört der Schlupfverlust abrupt auf und hier…« — er deutete auf eine Stelle näher am Rand — »versagt das Backup, und das Netz hört auf zu arbeiten, während der Lauf der Geschichte sich verändert.«
»Und Napoleon die Schlacht von Waterloo gewinnt.«
»Genau«, sagte T. J. »Sie erkennen hier die Parallelen zu Ihrer Inkonsequenz.« Der Finger wies auf ein Gebiet dunkleren Graus. »Ein kleines Gebiet sich erhöhender Schlupfverluste, aber beinahe siebzig Jahre vom Originalschauplatz entfernt, und hier…« — der Finger zeigte auf eine Stelle helleren Graus — »das Fehlen jeglichen Verlustes in unmittelbarer Nähe.«
»Aber direkt im Zentrum gibt es stets rapide ansteigende Verluste«, sagte ich.
»Ja«, erwiderte T. J. grimmig. »Bei jeder Simulation, die wir probierten. Außer bei Ihrer.«
»Zumindest haben Sie bewiesen, daß Inkonsequenzen möglich sind«, sagte ich. »Immerhin etwas, oder?«
»Wieso?« fragte er verständnislos. »Das sind doch nur mathematische Simulationen.«
»Ich weiß, aber Sie haben doch damit gezeigt, was passieren würde, wenn…«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Was passieren würde, wenn wir tatsächlich einen Historiker nach Waterloo schickten, der eine Nachricht abfangen oder ein Pferd erschießen oder Befehle erteilen würde, ist, daß sich das Netz nicht mehr öffnen würde. Historiker probieren solche Sachen seit mehr als vierzig Jahren. Keinem gelang es jemals, näher als zwei Jahre und ein paar hundert Kilometer entfernt an Waterloo herankommen.« Ärgerlich schwenkte er seine Hand in Richtung Bildschirme. »Diese Simulationen beruhen alle auf einem Netz ohne Schutzvorrichtung.«
Somit waren wir wieder da, wo wir begonnen hatten.
»Könnte dieser Schutz durch irgend etwas bei Veritys Sprung außer Kraft gesetzt worden sein? Oder zum Versagen gebracht?«
»Das war das erste, was wir nachprüften. Es gab keinerlei Hinweise darauf, daß es etwas anderes als ein ganz normaler Sprung gewesen ist.«
Dunworthy kam mit besorgter Miene herein. »Tut mir leid, daß es so lang dauerte«, sagte er. »Ich war bei der Gerichtsmedizinerin, um zu sehen, ob sie mit dem Namen oder dem Datum weitergekommen ist.«
»Und?« fragte ich.
»Wo ist der Rekrut?« mischte sich Miss Warder erbost ein, noch ehe Dunworthy antworten konnte. »Er sollte doch wieder zu mir zurückkommen.«
»Ich schickte ihn zur Kathedrale hinüber, um Lady Schrapnell so lange aufzuhalten, bis Ned wieder fort ist«, erklärte Dunworthy.
Wenn er diese Aufgabe ebenso gut erledigte wie seinen Heimweg zum Netz zu finden, faßten wir uns besser kurz.
»Hat sie Mr. C’s Name entziffert?«
»Nein. Sie grenzte die Zahl der Buchstaben auf acht ein und entdeckte den Eintrag über Coventry. Nun beschäftigt sie sich mit dem Datum.«
Na, das war doch immerhin etwas. »Wir brauchen es so bald wie möglich«, sagte ich. »Tossie und Terence haben sich gestern verlobt.«
»Oh, Gott.« Er blickte sich um, als bräuchte er dringendst eine Sitzgelegenheit. »Verlobungen wurden im victorianischen Zeitalter sehr ernst genommen«, erklärte er T. J. Dann wandte er sich wieder an mich. »Sie haben also beide keine Ahnung, wer Mr. C sein könnte, stimmt’s?«
»Nein, und das Tagebuch konnten wir auch noch nicht lesen«, erwiderte ich. »Verity hofft, daß Mr. C vielleicht heute beim Kirchfest auftaucht.«
Ich überlegte, ob es noch irgend etwas gab, was ich erzählen oder die beiden fragen müßte. »Haben Sie nicht etwas von Schlupfverlusten bei Sprüngen nach Hause erzählt, T. J.?«
»Oh, ja! Miss Warder!« rief er zur Konsole hinüber, wo Miss Warder wie verrückt auf die Tasten hieb. »Haben Sie die Höhe des Verlustes inzwischen herausgefunden?«
»Ich will gerade…«
»Ich weiß, ich weiß. Sie wollen gerade Carruthers rausholen«, sagte T. J.
»Nein!« sagte sie. »Ich hole gerade Finch zurück.«
»Das hat Zeit«, meinte T. J. »Ich brauche zuerst den Schlupfverlust.«
»Wie Sie meinen!« Ihre Seraphimaugen sprühten Feuer. Sie hieb eine weitere halbe Minute auf die Tastatur ein. »Drei Stunden, acht Minuten.«
»Drei Stunden!« Ich war fassungslos.
»Immer noch besser als bei Veritys letztem Sprung«, sagte Dunworthy. »Da waren es zwei Tage.«
T. J. streckte mit geöffneten Handflächen die Hände hoch und zuckte die Achseln. »In den Simulationen gab es das nicht.«
Mir fiel etwas ein. »Welchen Tag haben wir heute?«
»Freitag«, sagte T. J.
»Noch neun Tage bis zur Einweihung.« Dunworthy überlegte. »Sie ist am fünften November.«
»Neun Tage!« sagte ich. »Großer Gott! Des Bischofs Vogeltränke ist wahrscheinlich nicht inzwischen irgendwo aufgetaucht, oder?«
Dunworthy schüttelte den Kopf. »Es sieht nicht gut aus für uns, was, Marineleutnant Kiepermann?«
»Bis auf ein Detail, Sir.« T. J. sprang zum Computer zurück und begann, zu tippen. »Ich habe eine Reihe Szenarios von der Bombardierung Berlins laufen lassen.« Die Bildschirme veränderten sich zu einem leicht veränderten Muster grauer Schatten. »Ziel verfehlt, Flugzeug getroffen, Pilot abgeschossen, oder beides zusammen, doch nichts von alledem änderte etwas an dem Resultat. London wurde in jedem Fall bombardiert.«
»Na, das ist eine wirklich gute Nachricht«, meinte Dunworthy trocken.
»Nun ja, immerhin besser als nichts«, sagte ich und wünschte nur, ich könnte meine Worte auch glauben.
Das Netz schimmerte, und Finch erschien. Er wartete, bis Miss Warder die Schleier angehoben hatte, ging dann sofort zu Dunworthy und sagte: »Ich habe ausgezeichnete Neuigkeiten, was die…« Da sah er mich. »Ich warte in Ihrem Büro, Sir«, setzte er hinzu und eilte aus dem Labor.
»Ich möchte wissen, auf was Finch aus ist«, sagte ich. »Haben Sie ihn zurückgeschickt, damit er Prinzessin Arjumand ertränkt?«
»Ertränkt?« T. J. stieß ein Lachen aus.
»Was hat er vor? Und sagen Sie mir jetzt bloß nicht, es stünde Ihnen nicht frei, es mir zu erzählen.«
»Es steht mir tatsächlich nicht frei«, entgegnete Dunworthy. »Auf jeden Fall aber kann ich Ihnen versichern, daß Prinzessin Arjumand kein Leid geschieht und daß Sie mit dem Ergebnis von Finchs Auftrag vollauf zufrieden sein werden.«
»Wenn Henry zurück soll«, rief Miss Warder gereizt von der Konsole her, »muß ich das sofort tun, damit ich dann das halbstündige Intermittent bei Carruthers einstellen kann.«
»Wir brauchen das Ergebnis der Gerichtsmedizinerin, sobald Sie es haben«, sagte ich zu Dunworthy. »Ich versuche, heute abend oder morgen noch mal durchzukommen.«
Dunworthy nickte.
»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, sagte Miss Warder. »Ich will nämlich…«
»Schon gut.« Ich ging zum Netz hinüber.
»Zu welcher Zeit wollen Sie ankommen?« fragte Miss Warder. »Fünf Minuten, nachdem Sie gesprungen sind?«
Hoffnung flammte plötzlich in mir auf wie ein Wordsworthscher Regenbogen. »Kann ich mir das aussuchen?«
»Wir haben’s hier mit Zeitreisen zu tun«, sagte Miss Warder. »Ich habe nicht den ganzen Tag…«
»Halb fünf«, erwiderte ich. Mit etwas Glück gab es einen Schlupfverlust von zwanzig Minuten, und das Fest war vorbei, wenn ich ankam.
»Halb fünf?« Miss Warder schaute alarmiert. »Wird Sie denn dann keiner vermißt haben?«
»Nein«, sagte ich. »Terence wird sich gefreut haben, daß er nicht wieder zum Ponyreiten zurück mußte.«
Miss Warder zuckte die Achseln und begann, die Koordinaten einzugeben. »Stellen Sie sich ins Netz«, befahl sie und drückte »SENDEN«.
Das Netz schimmerte, ich rückte meinen Strohhut und meine Krawatte zurecht und begab mich freudig zum Fest zurück. Der Himmel war immer noch bedeckt, deshalb konnte ich an der Sonne nicht sehen, wie spät es war, und meine Uhr ging falsch, aber es kam mir vor, als tummelten sich weniger Menschen auf dem Rasen als vorher. Es mußte mindestens halb vier sein. Ich ging zu dem Stand, wo der Basar stattfand, um Verity zu erzählen, daß ich nichts Neues erfahren hatte.
Sie war nicht da. Der Stand wurde von Rose und Iris Chattisbourne bewacht, die versuchten, mir ein silbernes Zuckerhämmerchen zu verkaufen.
»Sie ist im Teezelt«, sagten sie. Dort war sie aber nicht, bloß Cyril, der, entgegen jeglicher Vernunft, hoffte, daß jemandem ein Sandwich zu Boden fiel, und der aussah, als wartete er dort schon den ganzen Tag. Ich kaufte ihm ein Rosinenbrötchen, mir selbst ein Stück Marmorkuchen sowie eine Tasse Tee und trug dann beides zur Schatzsuche hinüber.
»Du warst aber nicht lange weg«, sagte Terence. »Ich sagte dir doch, du kannst dir Zeit lassen.«
»Wie spät ist es?« fragte ich mit einem flauen Gefühl im Magen. »Meine Uhr ist — stehengeblieben.«
»Fünf nach zwölf«, erwiderte Terence. »Du willst wohl nicht mal kurz das Ponyreiten übernehmen, oder?« setzte er hoffnungsvoll hinzu.
»Nein«, sagte ich.
Mit verdrießlichem Gesicht schlenderte er die Auffahrt hinunter. Ich trank meinen Tee, aß den Kuchen und dachte darüber nach, wie ungerecht das Schicksal war.
Es wurde ein sehr langer Nachmittag. Eglantine, die sich weitere fünf Penny von ihren Schwestern erbettelt hatte, verbrachte ihn damit, beharrlich neben den Sandfeldern zu kauern und sich eine Strategie auszudenken.
»Ich glaube nicht, daß überhaupt in irgendeinem der Felder der Hauptgewinn ist«, sagte sie, nachdem sie zwei Penny auf Feld zwei gesetzt hatte.
»Natürlich ist er das«, sagte ich. »Ich habe ihn selbst eingegraben, ob du’s glaubst oder nicht.«
»Ich glaube Ihnen«, erwiderte sie. »Reverend Arbitage hat Sie dabei beobachtet. Aber als niemand hier war, hat sich jemand herbeigeschlichen und den Preis gestohlen.«
»Es war die ganze Zeit über jemand hier.«
»Vielleicht als wir nicht hinsahen«, meinte sie. »Während wir uns unterhielten.«
Sie widmete sich wieder ihrer Strategie und ich mich meinem Marmorkuchen, der noch härter war wie der Marmorkuchen, den ich beim Kuchenverkauf nach der Andacht für die Royal Air Force gegessen hatte. Ich dachte über des Bischofs Vogeltränke nach.
Hatte sie jemand entwendet, als gerade keiner hinsah? Zwar hatte ich gesagt, daß niemand sie würde haben wollen, aber in Anbetracht dessen, was die Leute alles bei Wohltätigkeitsbasaren erstanden? Vielleicht hatte sie doch ein Plünderer aus den qualmenden Trümmern entwendet. Oder Verity hatte recht, und sie war vor dem Angriff aus der Kathedrale fortgebracht worden. Entweder war sie während des Angriffs in der Kathedrale gewesen oder nicht, dachte ich und betrachtete die Sandquadrate. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten. Und deshalb mußte sie irgendwo sein. Aber wo? In Feld achtzehn? Oder fünfundzwanzig?
Um halb zwei erschien der Kurator und löste mich ab, damit ich »ordentlich zu Mittag« essen und mir das Fest anschauen könne. Das ordentliche Mittagessen bestand aus einem Sandwich mit Fischpastete, von dem ich Cyril die Hälfte abgab und einer weiteren Tasse Tee, nach der ich die Stände entlangschlenderte. Ich gewann beim Angelspiel einen roten Glasring, kaufte einen gesteppten Teewärmer, einen Duftball, der aus einer mit Gewürznelken gespickten Orange bestand, ein Porzellankrokodil und ein Glas Kalbsfußsülze. Ich erzählte Verity, daß ich weder das Datum noch Mr. C’s Identität herausgefunden hatte, und ging dann zur Schatzsuche zurück. Als Eglantine einmal nicht hinsah, vergrub ich das Porzellankrokodil in Feld neun.
Der Nachmittag zog sich in die Länge. Ein paar Besucher wählten Feld vier, einundzwanzig und neunundzwanzig und fanden schließlich zwei der Schillinge. Eglantine gab den Rest ihres Geldes umsonst aus und stapfte schmollend davon. Irgendwann kam Baine und ließ Prinzessin Arjumand in meine Arme plumpsen.
»Könnten Sie ein bißchen auf sie aufpassen, Mr. Henry?« fragte er. »Mrs. Mering wünscht, daß ich die Wurfbude leite, und ich befürchte, man kann Prinzessin Arjumand nicht für eine Sekunde aus den Augen lassen!«
»Der kugeläugige perlmuttfarbene Ryunkin?« fragte ich.
»Ja, Sir.«
Eine Riesenschachtel Sand schien aber auch kein besonders guter Platz für eine Katze zu sein. »Warum kannst du nicht wie diese Madraskatze friedlich den ganzen Tag am Galanteriewarenstand auf einer Häkeldecke schlafen?« fragte ich.
»Miau«, machte sie und rieb ihr Näschen an meinem Handrücken.
Ich streichelte sie und dachte, wie schade, daß sie nicht ertrunken und zur Unwichtigkeit geworden war, damit das Netz sich wumms!geschlossen hätte, als ich sie zurückzubringen versuchte. Dann hätte ich sie behalten können.
Doch das wäre mir gar nicht geglückt. Irgendein Millionär hätte sie mir weggeschnappt. Außerdem konnte eine einzige Katze keine Spezies ersetzen, egal wie oft man sie klonte. Auf jeden Fall aber, dachte ich und kraulte sie hinter den Ohren, ist sie eine wirklich niedliche Katze. Wenn man einmal von dem perlmuttfarbenen Ryunkin absah. Und von Professor Peddicks doppelkiemigem blauem Döbel.
Dann kam Finch. Er schaute sich verstohlen um, beugte sich dann zu mir und sagte: »Ich habe Neuigkeiten von Mr. Dunworthy. Ich soll Ihnen sagen, er habe mit der Gerichtsmedizinerin gesprochen. Sie hat das Datum entziffern können. Es ist der…«
»Mama sagt, Sie sollen mich noch dreimal graben lassen«, krähte Eglantine, die wie aus dem Nichts auftauchte. »Sie wird Ihnen die fünf Penny nach dem Fest geben.«
Finch schaute nervös auf das Mädchen. »Können wir uns irgendwo unter vier Augen unterhalten, Sir?«
»Eglantine«, sagte ich. »Was hältst du davon, die Schatzsuche für ein paar Minuten zu beaufsichtigen?«
Sie schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich möchte graben. Wer die Aufsicht hat, darf nicht graben. Ich setze auf Feld zwei.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Dieser Herr hier war vor dir da. Finch, welches Feld möchten Sie?«
»Feld?« fragte Finch.
»Zum Graben.« Ich wies auf die Sandschachtel. »Da es dreißig Felder sind, wählen die meisten Leute ein Datum. Falls es hier dabei ist.« Mir war eingefallen, daß das Datum ja auch der einunddreißigste sein konnte. »Haben Sie auch ein besonderes Datum im Sinn, Finch?«
»Ah«, sagte Finch, dem es langsam dämmerte. »Ein Datum. Ich möchte Feld…«
»Er hat nicht bezahlt«, mischte sich Eglantine ein. »Sie müssen erst zwei Penny bezahlen.«
Finch suchte in seinen Taschen nach Geld. »Ich fürchte, ich habe kein…«
»Butler brauchen nicht zu bezahlen«, sagte ich. »Welches Feld?«
»Das ist ungerecht«, jammerte Eglantine. »Warum brauchen Butler nicht zu bezahlen?«
»Das ist bei Kirchfesten immer so«, erklärte ich.
»Mrs. Merings Butler haben Sie nicht umsonst graben lassen.«
»Der hatte seinen Freiversuch an der Wurfbude«, sagte ich und gab Finch die Schaufel. »Welches Datum, Finch?«
»Fünfzehn, Mr. Henry«, sagte er rasch.
»Fünfzehn? Sind Sie sicher?«
»Sie können Feld fünfzehn nicht nehmen«, sagte Eglantine. »Das war schon dran. Ebenso sechzehn und siebzehn. Sie können keine Felder wählen, in denen bereits gegraben wurde. Das ist gegen die Regeln.«
»Fünfzehn«, sagte Finch entschlossen.
»Aber das ist unmöglich«, entgegnete ich. »Der fünfzehnte ist morgen.«
»Und auf Feld sechs oder einundzwanzig dürfen Sie auch nicht graben«, sagte Eglantine, »weil ich da graben will.«
»Ist sie ganz sicher?« fragte ich.
»Ja, Sir.«
»Und der Monat? Könnte es Juli gewesen sein? Oder August?« Aber ich wußte, daß das nicht stimmen konnte. Verity hatte mir an jenem Tag in Iffley gesagt, daß der Ausflug nach Coventry im Juni stattgefunden hatte.
»Ich würde an Ihrer Stelle die Ecken nehmen«, sagte Eglantine. »Dreißig oder eins.«
»Sind Sie sicher, daß es der fünfzehnte ist? Morgen?«
»Ja, Sir«, sagte Finch. »Dunworthy schickte mich deshalb sofort zu Ihnen.«
»Das muß ich Verity sagen. Finch, machen Sie den Laden hier dicht.«
»Das können Sie nicht machen«, heulte Eglantine. »Ich habe noch drei Versuche.«
»Lassen Sie sie noch dreimal graben und schließen Sie dann die Schatzsuche«, entschied ich, und bevor noch einer der beiden Protest einlegen konnte, war ich schon in Richtung Basar unterwegs, wobei ich hinten herum schlich, damit Mrs. Mering oder die Chattisbournemädchen mich nicht abfangen konnten.
Verity verkaufte einem jungen Mann mit Melone und einem Schnurrbart in Form eines Fahrradlenkers gerade das saitenlose Banjo. Ich nahm ein unidentifizierbares Objekt mit einem großen gezackten Rad und zwei gekrümmten Klingen in die Hand und tat so, als würde ich mich dafür interessieren, bis der junge Mann verschwunden war.
»Ein Mr. Kilbreth«, sagte Verity. »Schreibt sich mit K.«
»Die Gerichtsmedizinerin hat das Datum entziffert«, sagte ich rasch, bevor jemand kommen und uns unterbrechen konnte. »Es ist der fünfzehnte Juni.«
Sie schaute mich entsetzt an. »Aber das ist unmöglich. Das wäre morgen.«
»Sie sprechen mir aus dem Herzen.«
»Woher wissen Sie das? Sind Sie noch mal gesprungen?«
»Nein. Finch kam und erzählte es mir.«
»Und er ist ganz sicher?«
»Ja. Was machen wir jetzt? Wahrscheinlich kann ich nicht einfach so aus dem Stegreif für morgen eine Besichtigungstour in Coventry vorschlagen, oder?«
Verity schüttelte den Kopf. »Der Tag nach einer solchen Aktivität wie dieser hier wird damit verbracht, alles noch einmal mit den Chattisbournes und der Witwe Wallace durchzuhecheln. Das werden sie auf keinen Fall vermissen wollen. Es ist das Beste an dem Fest.«
»Was ist mit Fischen?«
»Fischen?«
»Wir könnten dem Colonel und Professor Peddick sagen, es gäbe dort wunderbare Tiefen oder Untiefen oder Kiesgründe für Brassen oder was auch immer. Liegt Coventry nicht an einem Fluß? Der Colonel und Professor Peddick können nichts widerstehen, was mit Fischen zu tun hat.«
»Ich weiß nicht so recht.« Verity überlegte. »Aber Sie haben mich auf eine Idee gebracht. Sind Sie zufällig imstande, mit den Zehen zu knacken?«
»Wie bitte?«
»So haben es die Schwestern Fox gemacht. Egal, wir können es auch mit…« — sie wühlte in dem Krimskrams auf dem Tisch. »Ah, sie ist noch da«, sagte sie und hielt die Blechschachtel für die gezuckerten Veilchen hoch.
»Hier, kaufen Sie das!« Sie warf sie mir zu. »Ich habe kein Geld dabei.«
»Weshalb?«
»Mir ist ein Gedanke gekommen«, sagte sie. »Kaufen Sie sie. Kostet fünf Penny.«
Gehorsam reichte ich ihr einen Schilling.
»Das wollte ich gerade kaufen«, maulte Eglantine, die wieder aus dem Nichts auftauchte.
»Ich dachte, du bist bei der Schatzsuche und gräbst«, sagte ich.
»War ich auch«, erwiderte sie. »Feld zehn, elf und siebenundzwanzig. Der Hauptgewinn war nicht dabei. Ich glaube, er ist in keinem der Felder. Ich glaube, Sie haben den Schatz überhaupt nicht vergraben.« Sie wandte sich an Verity. »Ich habe Ihnen doch heute morgen gesagt, daß ich diese Schachtel kaufen möchte.«
»Zu spät«, sagte Verity. »Mr. Henry hat sie bereits gekauft. Sei ein braves Mädchen und geh Mrs. Mering für mich suchen. Ich muß mit ihr sprechen.«
»Sie hat genau die richtige Größe für Knöpfe«, beharrte Eglantine. »Und ich sagte Ihnen heute morgen, daß ich sie kaufen möchte.«
»Möchtest du nicht lieber ein Buch?« Verity hielt ihr die Ausgabe von Ein altmodisches Mädchen hin.
»Hier sind zwei Penny«, sagte ich. »Wenn du Mrs. Mering holst, verrate ich dir, wo der Schatz vergraben ist.«
»Das ist gegen die Regeln.«
»Hinweise geben ist nicht gegen die Regeln.« Ich beugte mich und flüsterte in ihr Ohr: »Die Schlacht bei Waterloo.«
»Tag oder Jahr?«
»Das mußt du selbst herausfinden.«
»Werden Sie mir auch einen Hinweis geben, wo der Schilling ist?«
»Nein«, sagte ich. »Geh und hol Mrs. Mering, bevor du mit dem Graben anfängst.«
Sie rannte fort.
»Rasch, bevor sie wiederkommt!« sagte ich. »Was haben Sie sich ausgedacht?«
Verity nahm mir das Blechkästchen ab, entfernte den Deckel und hielt Deckel und Kästchen gespreizt wie ein Paar Kastagnetten. Dann ließ sie beides mit einem kleinen Klack zusammenstoßen.
»Eine Seance«, sagte sie.
»Eine Seance? So sieht Ihre Idee also aus? Dann tut’s mir leid, daß ich Eglantine nicht das Kästchen kaufen ließ.«
»Sie sagten, der Colonel und Professor Peddick könnten nichts widerstehen, was mit Fischen zu tun hat«, erklärte Verity. »Nun, Mrs. Mering geht es ebenso mit allem, was mit Geistern und Seancen zu tun…«
»Seance?« Wie ein buntschillernder Pfau tauchte Mrs. Mering neben uns auf. »Schlägst du eine Seance vor, Verity?«
»Ja, Tante Malvinia.« Verity wickelte Kästchen und Deckel rasch ein, legte beides in den Weidenkorb, der wie ein Schwan aussah und reichte ihn mir.
»Ich bin sicher, Ihre Einkäufe gefallen Ihnen, Mr. Henry«, sagte sie. Und dann zu Mrs. Mering gewandt: »Mr. Henry hat mir gerade erzählt, daß er noch nie einer Seance beigewohnt hat.«
»Ist das wahr, Mr. Henry?« fragte Mrs. Mering. »Oh, dann müssen wir heute abend eine für Sie abhalten. Ich muß Reverend Arbitage fragen, ob er auch kommt. Mr. Arbitage!« rief sie und eilte davon.
»Geben Sie mir das Kästchen«, flüsterte Verity.
Ich drehte mich so, daß niemand unsere Hände sehen konnte und gab ihr das eingepackte Kästchen. »Wofür brauchen Sie das?«
»Tischeklopfen«, flüsterte sie und steckte das Päckchen in ihre Tasche. »Heute nacht werden wir eine Nachricht von der Anderen Seite erhalten, daß wir nach Coventry gehen sollen.«
»Sind Sie sicher, daß das klappt?«
»Bei Madame Iritosky hat es auch geklappt«, sagte Verity. »Ebenso bei D. D. Home, den Schwestern Fox und Florence Cook. William Crookes und Arthur Conan Doyle haben sich davon täuschen lassen. Mrs. Mering hielt sogar Sie für einen Geist. Also wird es bei uns auch klappen. Was soll schiefgehen?«
Mrs. Mering flatterte mit wehender Robe herbei. »Reverend Arbitage leitet gerade die Kuchentombola. Ich darf nicht vergessen, ihn nachher zu fragen. Oh, Mr. Henry!« Sie nahm meinen Arm. »Ich bin sicher, daß die Seance ein Erfolg werden wird. Ich fühle bereits die Anwesenheit der Geister, die in der Nähe warten.«
In Wahrheit handelte es sich dabei aber um Baine, der gerade hinter ihr aufgetaucht war und auf eine Gelegenheit zum Sprechen wartete.
»Vielleicht ist es der gleiche Geist, den Sie letzte Nacht hörten, Mr. Hen… was ist los, Baine?« fragte Mrs. Mering ungeduldig.
»Madame Iritosky, Madam«, sagte Baine.
»Ja und? Was ist mit ihr?«
»Sie ist hier.«