15. Kapitel

»Zieh einen einz’gen Faden, und das Netz geht entzwei; zerbrich einen einz’gen aller Schlüssel, und ein schriller Schrei durchfährt die Welt.«

John Greenleaf Whittier


Nächtliche Besucher • Ein Feuer • Noch mehr Ähnlichkeiten mit der Titanic • Ein Geist • Schlafwandeln • Pearl Harbour • Fisch • Eine Unterhaltung mit einem Handwerker-Finch • Auf Nichts Gutes aus • Verity und ich fahren auf der Themse Boot • Anträge in Latein und ihre Vor- und Nachteile • Napoleons gesundheitliche Probleme • Schlaf • Ähnlichkeiten zwischen Literatur und dem wirklichen Leben • Eine Ankündigung


Meine zweite Nacht in Muchings End gestaltete sich genauso erholsam wie die erste. Zuerst erschien Terence bei mir und wollte wissen, was Tossie über ihn gesagt hatte, als wir bei den Chattisbournes waren, und ob ich nicht auch glaube, daß ihre Augen »funkelnden Sternen in der Dämmerung« glichen. Cyril mußte wieder die Treppe hinuntergetragen werden, und Baine brachte mir heiße Schokolade und fragte mich, ob es stimme, daß in Amerika jeder Mann eine Schußwaffe bei sich trage. Ich verneinte es.

»Ich habe auch gehört, daß die Amerikaner sich weniger um Klassenunterschiede kümmern und daß die sozialen Barrieren dort niedriger sind.«

Ich überlegte, was das mit Schußwaffen zu tun hatte und ob der Mann eine Laufbahn als Verbrecher anstrebte.

»Amerika ist gewiß ein Land, wo es jedermann freisteht, sein Glück zu suchen«, sagte ich. »Und es auch zu finden.«

»Stimmt es, daß der Industriemagnat Andrew Carnegie der Sohn eines Bergarbeiters war?« fragte Baine, und als ich das bestätigte, schenkte er die Schokolade ein und dankte mir noch einmal dafür, daß ich Prinzessin Arjumand gefunden hatte. »Es ist eine Freude, zu sehen, wie glücklich Miss Mering nun wieder ist.«

Eigentlich hatte ich gedacht, sie sei glücklich, weil sie beim Crocketspielen alle vom Platz gefegt hatte, schwieg aber.

»Wenn es jemals etwas geben sollte, womit ich Ihnen einen Gefallen tun kann, Sir…«

Vielleicht einen Jäger nach Berlin fliegen? überlegte ich. Das wohl kaum.

Am Ende des Crocketspiels, als Tossie Terences Ball zu einem Klumpen drosch, hatte Verity mir zugeflüstert, daß ich auf jeden Fall Mauds Brief vernichten müsse, damit wir nicht noch eine weitere Inkonsequenz verursachten. Nachdem Baine also gegangen war, verschloß ich die Tür, öffnete das Fenster und hielt den Brief über die Flamme der Kerosinlampe.

Das Papier flammte auf und bog sich an den Ecken. Ein brennendes Teilchen wirbelte hoch, genau zu dem Bukett aus getrockneten Blumen hin, das auf der Kommode stand. Ich hechtete hinterher, krachte dabei in den Stuhl, aber mein wildes Grapschen versetzte dem Papier nur noch einen kräftigeren Stoß auf das Bukett zu.

Prima, dachte ich. Beim Versuch, eine Inkonsequenz zu vermeiden, werde ich nun das ganze Haus in Brand stecken.

Wieder grapschte ich nach dem Papierfetzen, und er wirbelte aus meiner Reichweite und schwebte langsam zu Boden. Ich tauchte unter ihn, die Hände ausgebreitet, um ihn aufzufangen, aber noch bevor er sie erreichte, verbrannte er restlos und wurde zu Asche und unwichtig.

Ein Kratzen kam von der Tür her. Als ich sie öffnete, sah ich Prinzessin Arjumand und Verity. Die Katze sprang mit einem Satz auf die Kopfkissen und legte sich dekorativ darauf, und Verity setzte sich auf das hohe Bettende.

»Schauen Sie«, sagte ich, »meiner Meinung nach müssen Sie nicht noch mal zu Dunworthy. Sie haben in den letzten vierundzwanzig Stunden bereits zwei Sprünge gemacht und…«

»Ich war aber schon«, erwiderte sie mit freudigem Lächeln. »Und ich habe gute Neuigkeiten.«

»Stimmt das wirklich?« fragte ich. »Oder strahlen Sie nur so, weil Sie zeitkrank sind?«

»Es sind gute Neuigkeiten«, sagte sie, runzelte dann aber die Stirn. »Wenigstens haben die in Oxford das gesagt. Ich wollte nämlich wissen, ob sie etwas über den Enkel und den Bombenangriff herausgefunden haben. T. J. meint, der Angriff auf Berlin sei kein Krisenpunkt. Weder im Luftgebiet noch in Berlin selbst gibt es erhöhte Schlupfverluste. Er hat einige Simulationen des Angriffs laufen lassen, und die Abwesenheit von Terences Enkel zeigte bei keiner von ihnen Auswirkungen. Geben Sie mir Ihre Schokolade?«

»Natürlich«, sagte ich. »Warum gab es keine Auswirkungen?«

Sie sprang vom Bett herunter und ging zum Nachttisch. »Weil es insgesamt einundachtzig Flugzeuge waren, und neunundzwanzig von ihnen warfen Bomben ab«, entgegnete sie und schenkte sich die Tasse voll. »Ein einziger Pilot fällt da nicht ins Gewicht, vor allem, weil es nicht das Ausmaß der Zerstörung war, das Hitler zum Gegenschlag veranlaßte, sondern die Tatsache, daß überhaupt Bomben auf Deutschland gefallen waren. Außerdem hat es hinterher noch drei weitere Luftangriffe gegeben.« Sie trug Tasse und Unterteller zum Bett und setzte sich wieder.

Ich hatte vergessen, daß es insgesamt vier Angriffe gewesen waren, also eine Überzahl bedeutete.

»Und das ist noch nicht alles.« Verity nippte an der Schokolade. »Laut Dunworthy deutet alles darauf hin, daß Göring sowieso schon beschlossen hatte, London zu bombardieren, und der Luftangriff auf Berlin ihm nur einen wohlfeilen Grund dafür lieferte. Dunworthy meint, wir sollten uns nicht sorgen. Nach seiner Meinung kann sich der Verlauf des Krieges durch Terences fehlenden Enkelsohn nicht verändert haben, aber…«

Oh, ich hatte geahnt, daß es ein Aber gab.

»…es gibt einen Krisenpunkt, der mit der Bombardierung verknüpft ist, über den wir Bescheid wissen sollten. Es ist der vierundzwanzigste August, die Nacht, in der die beiden deutschen Flugzeuge versehentlich London bombardierten.«

Ich wußte, wovon sie sprach. Es handelte sich dabei um eine von Professor Peddicks individuellen Handlungen. Um Zufall und Schicksal. Die beiden Flugzeuge waren Teil eines größeren Geschwaders gewesen, das eine Flugzeugfabrik bei Rochester und die Öltanks im Themsehafen angegriffen hatte. Die Flugzeuge an der Spitze waren mit Suchscheinwerfern ausgerüstet gewesen, aber die übrigen nicht, und so kamen zwei von ihnen vom Geschwader ab, gerieten in Flakfeuer, entschieden sich, ihre Bombenlast abzuwerfen und schleunigst nach Hause zurückzukehren. Unglücklicherweise befanden sie sich in diesem Moment direkt über London, und ihre Bomben zerstörten die St. Giles Kirche sowie Cripplegate und töteten eine Anzahl Menschen.

Als Rache hatte Churchill den Luftangriff auf Berlin befohlen, und als Rache dafür Hitler die Bombardierung von London. Wie du mir, so ich dir.

»Dunworthy und T. J. konnten keine Verbindung zwischen Terences Enkel und den beiden deutschen Jägern finden«, fuhr Verity fort und trank einen weiteren Schluck Schokolade, »aber sie überprüfen es noch weiter. Außerdem besteht die Möglichkeit, wo er doch Pilot war, daß er eine andere geschichtliche Schlüsselfunktion hatte — vielleicht ein deutsches Flugzeug abschoß oder ähnliches. Sie gehen auch dieser Sache nach.«

»Und was sollen wir in der Zwischenzeit tun?«

»Schadensbegrenzung. Wenn möglich, sollen wir Terence nach Oxford zurückschaffen, damit er dort Maud treffen kann. Ich möchte also, daß Sie morgen früh mit Professor Peddick sprechen und ihn davon überzeugen, daß er unbedingt nach Oxford zurückkehren muß, um seine Schwester und seine Nichte zu treffen. Ich kümmere mich um Terence und versuche noch mal, das Tagebuch in die Hände zu bekommen.«

»Halten Sie das für eine gute Idee?« fragte ich. »Es ist schließlich ein chaotisches System. Das heißt, Ursache und Wirkung sind nicht linear verknüpft. Vielleicht verschlimmern wir alles nur, wenn wir versuchen, die Dinge auf die richtige Reihe zu bringen. Denken Sie an die Titanic.Hätten sie nicht versucht, dem Eisberg auszuweichen, wären sie…«

»… frontal mit ihm zusammengestoßen«, vollendete Verity.

»Ja. Und das Schiff wäre zwar beschädigt worden, aber nicht gesunken. Der Versuch, auszuweichen, führte dazu, daß der Eisberg seitlich die Unterwasserschotts aufschlitzte und die Titanic wie ein Stein unterging.«

»Meinen Sie also, wir sollten es zulassen, daß Tossie und Terence sich verloben?« fragte Verity.

»Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir aber aufhören, sie voneinander separieren zu wollen. Terence wird schließlich merken, welch Geistes Kind Tossie wirklich ist und wieder zu Verstand kommen.«

»Möglich«, sagte Verity, nachdenklich Gebäck kauend. »Andererseits — wären auf der Titanic von Anfang an genügend Rettungsboote gewesen, hätte niemand ertrinken müssen.«

Sie trank den letzten Rest Schokolade aus und brachte Tasse und Unterteller wieder zum Nachttisch.

»Und der Schlupfverlust von 2018? Hat man herausgefunden, woher der kam?« fragte ich.

Verity schüttelte den Kopf. »Mrs. Bittner konnte sich an nichts erinnern. 2018 begann Fujisaki mit seiner Forschung über Inkonsequenzen, und man veränderte das Netz dahingehend, daß es sich automatisch schloß, wenn der Verlust zu groß wurde, aber das war im September 2018. Der Schlupfverlust trat bereits im April auf.«

Sie öffnete die Tür und lugte auf den Korridor. »Vielleicht taucht morgen früh Mr. C auf, um bei den Vorbereitungen fürs Fest zu helfen, und wir brauchen uns über nichts mehr zu sorgen«, flüsterte sie.

»Oder wir rammen einen Eisberg«, flüsterte ich zurück.

Kaum hatte Verity die Tür hinter sich geschlossen, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, sie nach Finch zu fragen.

Ich wartete fünf Minuten, um sicherzugehen, daß Verity wohlbehalten in ihrem Zimmer angelangt war, zog dann meinen Morgenmantel an und schlich auf Zehenspitzen den Flur hinunter, wobei ich vorsichtig den in der Dunkelheit lauernden Hindernissen auswich; der Laokoon-Gruppe, deren Lage ich nachfühlen konnte, dem Farn, der Büste von Darwin und dem Schirmständer.

Leise klopfte ich an Veritys Tür.

Sie öffnete sofort. »Sie sollen doch nicht klopfen«, flüsterte sie aufgebracht und spähte ängstlich den Flur hinunter zu Mrs. Merings Zimmer.

»Entschuldigung«, sagte ich und schlüpfte ins Zimmer. Verity schloß die Tür, die ein leises Klick von sich gab. »Was wollen Sie?« flüsterte sie.

»Ich vergaß zu fragen, ob Sie herausgefunden haben, was Finch hier macht«, flüsterte ich zurück.

»Dunworthy weigerte sich, es mir zu sagen«, erwiderte Verity mit sorgenvoller Miene. »Er sagte mir das gleiche, was Finch auch Ihnen sagte: daß es sich um ein verwandtes Projekt handele. Ich glaube eher, er wurde geschickt, um Prinzessin Arjumand zu ersäufen.«

»Wie?« Ich vergaß, daß ich flüstern sollte. »Finch? Sie scherzen.«

Verity schüttelte den Kopf. »Die Gerichtsmedizinerin entzifferte inzwischen einen Hinweis auf die Katze. ›… die arme ertrunkene Prinzessin Arjumand‹, heißt es da.«

»Woher will man wissen, daß das nicht geschrieben wurde, während sie nach der Katze suchten? Und warum gerade Finch? Er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.«

»Keine Ahnung. Vielleicht befürchteten sie, wir würden diesen Auftrag nicht ausführen, und vielleicht war Finch der einzige, der im Moment verfügbar war.«

Das klang einleuchtend, wenn man Lady Schrapnells Hang berücksichtigte, jedermann zu rekrutieren, der gerade nicht beschäftigt war. »Aber Finch!« Ich war nicht ganz überzeugt. »Und selbst wenn das stimmen sollte, warum hat man ihn dann zu Mrs. Chattisbourne geschickt und nicht hierher?«

»Vielleicht hofft man, daß Mrs. Mering ihn den Chattisbournes wegstiehlt.«

»Sie haben zu viele Sprünge hinter sich. Wir reden morgen früh weiter«, sagte ich, schaute auf den stockfinsteren Korridor und schlüpfte aus dem Zimmer.

Verity schloß geräuschlos die Tür hinter mir, und ich machte mich auf den Rückweg. Erst der Schirmständer…

»Mesiel!« schrie Mrs. Mering. Das Licht im Korridor ging an. »Ich wußte es!« Eine Kerosinlampe in der Hand, kam sie auf mich zu.

Der Treppenabsatz war zu weit weg, um ins untere Stockwerk zu flüchten, außerdem kam Baine gerade mit einer Kerze die Treppe hoch. Mir blieb nicht einmal Zeit, mich von Veritys Tür zu entfernen. So hatte sich Dunworthy die Schadensbegrenzung wohl kaum vorgestellt.

Ich überlegte, ob ich mich mit der Behauptung, ich wollte unten ein Buch holen, aus der Affäre ziehen konnte. Aber ohne Kerze? Und wo hatte ich dieses Buch jetzt? Oder könnte ich mich für einen Schlafwandler ausgeben, wie der Held in Der Mondstein von Wilkie Collins?

»Ich war…« begann ich, aber Mrs. Mering schnitt mir das Wort ab.

»Ich wußte es!« rief sie. »Sie haben es auch gehört, Mr. Henry, nicht wahr?«

Tossies Tür öffnete sich, und Tossie streckte den mit Lockenwickler geschmückten Kopf heraus. »Mama, was ist?«

»Ein Geist!« sagte Mrs. Mering. »Mr. Henry hörte ihn auch, stimmt’s?«

»Ja«, erwiderte ich. »Ich wollte gerade nachsehen. Ich dachte, es wäre ein Einbrecher, fand aber niemanden.«

»Haben Sie es auch gehört, Baine?« wollte Mrs. Mering wissen. »Ein klopfendes Geräusch, ganz leise, und dann so ein komisches Flüstern?«

»Nein, Madam«, sagte Baine. »Ich war im Frühstückszimmer und kümmerte mich um das Besteck.«

»Aber Sie haben es gehört, Mr. Henry«, sagte Mrs. Mering. »Ich weiß, Sie hörten es. Sie waren weiß wie ein Bettlaken, als ich auf den Flur kam. Ein klopfendes Geräusch, dann Flüstern und dann ein…«

»… ein unkörperliches Stöhnen«, sagte ich.

»Genau! Wahrscheinlich gibt es hier mehr als einen Geist, und sie unterhalten sich miteinander. Haben Sie irgend etwas gesehen, Mr. Henry?«

»Ein weißes Schimmern«, sagte ich, für den Fall, daß sie Verity gesehen hatte, wie diese die Tür schloß. »Aber nur für einen Augenblick, dann war es verschwunden.«

»Oh!« Mrs. Mering war atemlos. »Mesiel! Komm schnell! Mr. Henry hat einen Geist gesehen!«

Colonel Mering antwortete nicht, und während des Moments Ruhe, der eintrat, bevor sie wieder nach ihm rief, hörte man ganz leise Cyril von meinem Zimmer her schnarchen. Ich war noch nicht ganz aus dem Schneider.

»Dort!« Ich zeigte auf die Wand mit Lady Schrapnells Porträt. »Haben Sie das gehört?«

»Ja!« Mrs. Mering krampfte die Hände vor ihrem Busen zusammen. »Wie klang es doch gleich?«

»Wie Glockengeläute«, improvisierte ich aus dem Stegreif. »Und dann eine Art Schluchzen…«

»Genau«, erwiderte Mrs. Mering. »Der Dachboden. Baine, öffnen Sie die Luke zum Dachboden. Wir müssen hinauf.«

An diesem Punkt erschien endlich Verity, den Morgenrock um sich geschlungen und verschlafen blinzelnd. »Was ist, Tante Malvinia?«

»Der Geist, den ich vor zwei Nächten am Gartenpavillon sah«, entgegnete Mrs. Mering. »Er ist auf dem Dachboden.«

Cyril stieß ein mächtiges schnüffelndes Schnauben aus, das eindeutig aus der Richtung meines Zimmers kam. Sofort schaute Verity zur Decke hoch.

»Ich höre sie!« sagte sie. »Geisterhafte Schritte über meinem Kopf!«

Die nächsten zwei Stunden verbrachten wir auf dem Dachboden, in Spinnweben verwickelt, auf der Suche nach entfliehenden weißen Schimmern. Mrs. Mering fand keine, aber sie entdeckte ein rubinrotes Kompottglas, eine Lithografie von Der König des Glen von Landseer und ein mottenzerfressenes Tigerfell für den Basar.

Sie bestand darauf, daß Baine die Sachen auf der Stelle ins Untergeschoß schaffte. »Erstaunlich«, sagte sie. »Einfach erstaunlich, welche Schätze man auf Dachböden findet«, sagte sie entzückt. »Nicht wahr, Mr. Henry?«

»Mmh«, erwiderte ich gähnend.

»Ich fürchte, der Geist hat sich zurückgezogen«, sagte Baine, der gerade die Dachbodentreppe hochkam. »Unsere Anwesenheit hier wird ihn nur noch weiter verstören.«

»Sie haben vollkommen recht, Baine«, stimmte Mrs. Mering zu, und so stand unserer Nachtruhe endlich nichts mehr Wege.

Als wir den Flur erreichten, fürchtete ich schon, Cyril wäre wieder lautstark am Schnarchen, aber aus meinem Zimmer hörte man keinen Laut. Cyril und Prinzessin Arjumand hockten sich stocksteif in der Mitte des Bettes gegenüber, Nase an Nase (wenn man bei Cyril überhaupt von so was reden konnte) und Auge in Auge.

»Hier wird sich nicht angestiert«, sagte ich, zog meinen Morgenmantel aus und kroch ins Bett. »Es wird auch weder geschnarcht noch sich ausgebreitet.«

Nichts davon wurde befolgt. Statt dessen stelzten beide, sich gegenseitig an den Schwänzen beschnüffelnd (wenn man bei Cyril überhaupt von so was reden konnte) mit mordlustigen Blicken ums Bett herum.

»Ins Bett mit euch«, zischte ich und lag dann da und grübelte über die versehentliche Bombardierung Londons und was wir weiter tun sollten, nach.

Logisch, daß es ein Krisenpunkt war. Nur zwei Flugzeuge waren daran beteiligt gewesen, und es hätte einer Kleinigkeit bedurft, um den Gang der Ereignisse zu ändern — die Piloten hätten Bodensicht bekommen und daran merken können, wo sie sich befanden, ihre Bomben hätten auf ein Gemüsekürbisfeld oder in den Ärmelkanal fallen können, englisches Flakfeuer hätte sie treffen können. Oder etwas noch Geringfügigeres, ein winziges Ereignis, das niemand bemerkte. So ist es eben in einem chaotischen System. Und deshalb konnten wir auch nicht wissen, was wir tun oder am besten lassen sollten, und wie unsere Handlungen Terences Heirat mit Maud beeinflussen würden.

Cyril und Prinzessin Arjumand umkreisten immer noch das Bett. »Legt euch hin«, sagte ich. Erstaunlicherweise folgte Cyril dem Befehl und sprang mit einem Satz aufs Fußende des Bettes. Prinzessin Arjumand stolzierte über ihn hinweg, hockte sich genau neben seinen Kopf und hieb ihm kräftig die Krallen auf die Nase.

Cyril erhob sich mit gekränkter Miene, worauf Prinzessin Arjumand sich auf dem frei gewordenen Platz ausstreckte.

Wenn bloß alles so einfach wäre! Aktion und Reaktion, Ursache und Wirkung. Aber in einem chaotischen System ist die Wirkung nicht immer die, die man sich wünscht.

Zum Beispiel wie bei dem Brief, den ich heute abend verbrannt hatte. Oder bei dem Kriegsschiff Nevada. Beim ersten Angriff auf Pearl Harbour war es beschädigt worden, sank aber nicht, sondern feuerte die Maschinen an, damit es aus dem Hafen herauskam und wieder manövrierfähig wurde. Das Resultat war, daß es beinahe im Ärmelkanal gesunken wäre, wo es monatelang den Zugang zum Londoner Hafen blockiert hätte.

Um fünf nach sieben morgens, fünfzig Minuten vor dem Angriff auf Pearl Harbour hatte andererseits ein Radartechniker seinem Vorgesetzten telefonisch von einer großen Anzahl unidentifizierter Flugzeuge berichtet, die sich von Norden näherten. Der Offizier hatte gesagt, das sei unwichtig, er solle es ignorieren, und sich wieder schlafen gelegt.

Und dann der Militärflugplatz Wheeler Field, wo man, um sie vor Sabotageakten zu schützen, die Flugzeuge in der Mitte des Feldes abgestellt hatte. Weshalb die Japaner genau zweieinhalb Minuten brauchten, um sie allesamt zu zerstören.

›Gott steckt im Detail‹ mochte Lady Schrapnells Motto sein. Meines lautete allmählich: ›Wie du’s machst, ist es falsch.‹

Ich dachte immer noch über Pearl Harbour nach, als ich zum Frühstück hinunterging. Tossie stand mit Prinzessin Arjumand im Arm an der Anrichte, hob Deckel um Deckel von den silbernen Servierplatten hoch und ließ sie mit unbefriedigter Miene wieder fallen.

Zum ersten Mal fühlte ich eine Art Mitgefühl mit ihr. Armes Ding, zu einem Leben voll unnützem Zeitvertreib und scheußlichem Frühstück verurteilt! Ein Leben, in dem sie nicht in die Schule gehen oder irgend etwas Sinnvolles tun durfte und außerdem noch Aalpastete essen mußte. Gerade dachte ich, daß ich bis jetzt zu voreilig über sie geurteilt hatte, als sie den Deckel mit dem knurrenden Wolf fallen ließ, die silberne Glocke packte, die daneben stand, und sie kräftig schüttelte.

In der nächsten Sekunde erschien Baine, beladen mit Kokosnüssen, ein buntes Flaggentuch um die Schultern gehängt. »Sie wünschen, Miss?« fragte er.

»Warum gibt es heute morgen keinen Fisch zum Frühstück?«

»Mrs. Posey hat alle Hände voll mit den Kuchen und den Erfrischungen fürs Kirchfest morgen zu tun, Miss«, erwiderte Baine. »Ich sagte ihr deshalb, vier warme Gerichte würden genügen.«

»Es genügt aber nicht«, schnappte Tossie.

Jane kam herein, die Arme voll Sesselschoner, knickste vor Tossie und sagte hastig: »’Tschuldigung, Miss. Mr. Baine, die Männer mit dem Teezelt sind da, und Miss Stiggins’ Lakai will wissen, wo er die Extrastühle hinstellen soll.«

»Danke, Jane«, sagte Baine. »Sagen Sie, ich käme sofort.«

»Ja, Sorrr.« Jane knickste und rannte hinaus.

»Ich jedenfalls erwarte gegrillte Forelle zum Frühstück. Da Mrs. Posey angeblich so beschäftigt ist, werden Sie sie halt zubereiten«, sagte Tossie, und wenn ich an Baines Stelle gewesen wäre, hätte ich ihr eins mit der Kokosnuß übergezogen.

Baine indes schaute kaum zu ihr hin, eindeutig bemüht, sein Pokergesicht nicht zu verlieren. »Wie Sie wünschen, Miss«, sagte er und setzte dann, mit einem Blick auf Prinzessin Arjumand, hinzu: »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben dürfte, Miss, es ist nicht gut, wenn Sie Ihre Katze dazu ermuntern, Fisch zu essen. Es ist…«

»Schweigen Sie!« sagte Tossie gebieterisch. »Sie sind ein Dienstbote. Bringen Sie sofort die gegrillte Forelle!«

»Sehr wohl, Miss«, sagte Baine und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, wobei er krampfhaft mit den Kokosnüssen jonglierte, um sie nicht fallen zu lassen.

»Auf einem silbernen Teller«, rief Tossie ihm nach. »Und binden Sie diesen gräßlichen Hund von Terence an. Er hatte heute morgen versucht, meine süße Miezmiez zu jagen.«

Damit war die Sache entschieden. Unter keinen Umständen durfte Tossie gestattet werden, Terence zu heiraten, egal, was aus dem Raumzeitkontinuum wurde. Ein Universum, in dem Cyril (und Baine) mit so etwas konfrontiert wurden, war es nicht wert, darin zu leben.

Ich rannte die Treppe hoch zu Professor Peddicks Zimmer, fand ihn aber nicht vor. Terence hingegen war in seinem Zimmer und rasierte sich gerade, als ich hereinkam.

»Ich hab’ nachgedacht«, sagte ich und beobachtete fasziniert, wie er sein Kinn mit Rasierseife einschäumte. »Heute ist der dritte Tag, an dem Professor Peddick aus Oxford abwesend ist, und wir waren noch immer nicht in Runnymede. Vielleicht sollten wir heute dorthin rudern und morgen nach Oxford zurückkehren. Hier stehen wir doch nur im Wege herum, bei dem Basar und dem ganzen Rummel.«

»Ich habe Miss Mering versprochen, daß ich bleibe und beim Fest helfe«, entgegnete Terence und schabte mit der tödlich aussehenden Klinge über seine Wange. »Sie möchte, daß ich das Ponyreiten beaufsichtige.«

»Wir könnten ihn heute nachmittag mit dem Zug nach Oxford zurückbringen«, schlug ich vor, »und rechtzeitig zum Fest wieder hier sein. Seine Schwester und seine Nichte werden Professor Peddick bestimmt vermissen.«

»Er hat ihnen doch ein Telegramm geschickt«, sagte Terence und rasierte sein Kinn.

»Aber vielleicht sind sie nur kurze Zeit zu Besuch«, wandte ich ein. »Es wäre eine Schande, wenn er sie nicht treffen könnte.«

Terence wirkte nicht sehr überzeugt.

»›Die Zeit flieht‹«, sagte ich in der Überzeugung, daß ein Zitat vielleicht richtig am Platz wäre, »›und niemals kehr’n vertane Chancen wieder.‹«

»Sehr richtig«, erwiderte Terence und zog die Klinge selbstzufrieden über seinen Adamsapfel. »Aber so etwas wie Professor Peddicks Verwandtschaft bleibt ewig.« Er wischte die Seifenreste mit dem Handtuch ab. »Dieser Blaustrumpf von Nichte ist wahrscheinlich nur nach Oxford gekommen, um eine Kampagne für die Einrichtung von Frauencolleges oder fürs Frauenstimmrecht oder was auch immer zu starten, und die beiden bleiben das ganze Semester über da. Moderne Mädchen! Gott sei Dank ist Miss Mering von der altmodischen Sorte, schüchtern und bescheiden, lieblich wie der tauige milchweiße Dorn, süß wie ein Schauer entzückter Freude.«

Es war hoffnungslos, aber ich probierte es noch ein paar weitere Minuten, bevor ich mich zu Professor Peddick aufmachte, um ihn zu bearbeiten.

Ich kam nicht weit. Mrs. Mering paßte mich auf meinem Weg zum Fischteich ab und schickte mich ins Dorf, um Plakatzettel zu besorgen, und als ich zurückkam, war es beinahe Mittag.

Verity stand auf dem Rasen auf einer Leiter und hängte Lampions zwischen die Holzbuden, welche die Arbeiter zusammennagelten. »Glück mit dem Tagebuch gehabt?«

»Nein«, antwortete sie mißgestimmt. »Ich suchte jede Rüsche und Ritze in ihrem Zimmer ab. Nichts.« Sie stieg von der Leiter herunter. »Glück mit Terence gehabt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wo steckt er?« fragte ich und schaute auf die Buden. »Er ist doch nicht mit Tossie zusammen, oder?«

»Nein«, sagte Verity. »Mrs. Mering hat Terence nach Goring geschickt, um Preise für das Angelspiel zu kaufen, und Tossie ist drüben bei den Chattisbournes, um sich ein Band für ihren Hut zu leihen. Sie wird den ganzen Nachmittag fort sein.«

»Wegen einem Band?«

Sie nickte. »Ich sagte ihr, sie brauche eine ganz bestimmte Schattierung Lila, so zwischen Mauve und Immergrün, mit einem leichten Stich Lavendel darin. Und die Chattisbournemädchen werden jede Einzelheit über Sie wissen wollen. Also sind Tossie und Terence bis zum Tee gut untergebracht.«

»Ausgezeichnet«, sagte ich. »Ich werde heute nachmittag Professor Peddick in die Mangel nehmen.«

»Das ist ganz ausgeschlossen!« sagte Mrs. Mering und verursachte mir beinahe eine Herzattacke, so sehr hörte sie sich wie Lady Schrapnell an. »Das Fest ist morgen! Dann muß die Kristallkugel hier sein!«

Ich schnappte einen Lampion, damit es aussah, als arbeitete ich und spähte um den Stand mit den Wollwaren herum zu dem halb aufgebauten Wahrsagerzelt.

Ein Handwerker mit Gehrock, Zylinderhut und einer Metzgerschürze stand mit dem Rücken gegen seine Kutsche gepreßt. »Die Firma Felpham und Muncaster’s bedauert außerordentlich, Ihnen solche Unannehmlichkeiten zu machen«, sagte er gerade unterwürfig, »und wird sich nach besten Kräften bemühen…«

»Unannehmlichkeiten!« schrie Mrs. Mering. »Wir versuchen, Geld für die Kirchenrestaurierung zusammenzubringen!«

Ich ging zu Verity zurück. »Die Kristallkugel ist nicht geliefert worden.«

»Was sie eigentlich selbst hätte vorhersehen können, oder?« sagte sie ironisch. »Wenn Sie Professor Peddick noch erwischen wollen, müssen Sie sich beeilen. Er will mit dem Colonel fischen gehen.«

»Sie muß morgen um fünf Uhr hier sein!« dröhnte Mrs. Mering.

»Aber, Mrs Mering…«

»Punkt fünf Uhr!«

»Wissen Sie, wo Professor Peddick gerade steckt?« fragte ich Verity.

»Ich glaube, in der Bücherei«, sagte sie, nahm einen weiteren Lampion und raffte ihren Rock zusammen, um wieder die Leiter zu erklimmen. »Er wollte etwas über die Schlacht von Bannockburn heraussuchen. Einen Moment noch!« Sie stieg wieder eine Stufe hinab. »Ich habe darüber nachgedacht, was Sie über Finch gesagt haben. Sie haben recht. Er ist nicht der Mensch, der Katzen ertränken kann.« Sie legte eine Hand auf ihre Stirn. »Ich kann nie klar genug denken, wenn mich die Zeitkrankheit erwischt hat.«

»Das Gefühl kenne ich«, sagte ich.

»Ich kann mir bloß partout nicht vorstellen, was Finch hier tut«, fuhr sie fort. »Sie etwa?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich werde noch einmal springen, um herauszufinden, ob die Gerichtsmedizinerin Glück hatte«, sagte Verity. »Mal sehen, ob ich etwas über Finch herausfinde. Dunworthy wollte mir nichts sagen, aber vielleicht kann ich Miss Warder ausquetschen.«

Ich nickte und ging los, um Professor Peddick zu finden, wobei ich einen Umweg in Kauf nahm, damit Mrs. Mering mich nicht sehen und erneut mit Beschlag belegen konnte.

Der Professor war weder in der Bibliothek noch im Salon. Ich ging zum Stall hinüber und dann zum Haus zurück, um Jane zu fragen, ob sie ihn gesehen hatte.

Ich war gerade auf halbem Weg, als Finch mit Jane zusammen aus dem Dienstboteneingang kam. Er sagte etwas zu ihr, und sie kicherte. Dann schaute sie ihm nach, als er fortging und schwenkte ihre Schürze hinterher.

»Jane«, sagte ich und ging zu ihr hinüber, »was wollte Finch hier?«

»Er brachte die Marmorkuchen für das Fest morgen«, sagte sie und blickte ihm sehnsüchtig hinterher. »Ich wollte, er wäre unser Butler statt Mr. Baine. Mr. Baine will mich immer dazu überreden, Bücher zu lesen. Er meint, ich solle mich bilden, und ob ich mein Leben lang ein Dienstmädchen bleiben wolle? Mr. Finch ist immer nett, er nörgelt nie an mir herum. Er unterhält sich einfach nur mit mir.«

»Worüber hat er mit Ihnen gesprochen?« Ich versuchte, die Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen.

»Ach, über alles mögliche. Über das Fest morgen und ob ich mir Lose für die Kuchen kaufe und darüber, daß Prinzessin Arjumand verschwunden war. Er interessierte sich besonders für Prinzessin Arjumand und wollte alles über sie wissen.«

»Prinzessin Arjumand?« fragte ich scharf. »Was sagte er?«

»Ach, bloß, wie froh er sei, daß sie nicht ertrunken ist, und ob sie schon mal Junge gehabt hätte, und daß Miss Stiggins sagte, es sei eine so hübsche Katze, und sie hätte gern eines von den Kleinen. Und ob sie immer bei Miss Mering sei oder manchmal streunen ginge. Na ja, undsoweiter.«

»Wollte er sie sehen?«

»Ja«, sagte Jane. »Aber ich konnte sie nicht finden. Ich sagte Mr. Finch, daß sie wahrscheinlich draußen am Fischteich wäre und versuchte, Colonel Merings Goldfisch zu fressen.« Plötzlich schien ihr einzufallen, mit wem sie eigentlich sprach. »Es war doch nicht ungehörig von mir, Sorr, mich mit ihm zu unterhalten, oder? Wir haben dabei die ganze Zeit über gearbeitet.«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte ich. »Ich fragte nur, weil ich dachte, er hätte das Raritätenkabinett für den Basar gebracht.«

»Nein, Sorr«, entgegnete sie. »Bloß die Marmorkuchen.«

»Aha.« Ich machte mich auf den Weg zum Fischteich, wartete, bis ich aus Janes Sichtweite war und verfiel dann in Galopp. Verity hatte recht gehabt. Finch war hinter Prinzessin Arjumand her.

Ich rannte quer über den Rasen, wo Mrs. Mering immer noch den Handwerker anschrie, und an der Stelle vorbei, wo Verity Lampions aufgehängt hatte. Die Leiter war noch da, sie selbst aber nicht, und ich fragte mich, ob sie bereits nach Oxford gesprungen war.

Ich sprintete an den Fliederbüschen vorbei zum Gartenpavillon und dann den Weg zum Flußufer hinunter. Prinzessin Arjumand war nirgends zu sehen, und es gab auch keine Anzeichen dafür, daß sie vor kurzem ins Wasser geworfen worden war, doch ich hielt mir immer wieder vor Augen, welch ungeheuren Unterschied ein paar Minuten machen konnten.

»Prinzessin Arjumand!« rief ich und rannte den Weg entlang durch den Blumengarten bis zum Steingarten.

Der Fischteich lag in der Mitte des Steingartens, umrahmt von einem gepflasterten Weg und bedeckt mit Wasserlilien. Cyril saß daneben und Prinzessin Arjumand direkt am Ufer. Ihre Pfote schwang spielerisch durchs Wasser.

»Aufhören«, rief ich, und Cyril sprang schuldbewußt auf alle viere.

Prinzessin Arjumand fuhr unbeeindruckt fort, ihre Pfote ins Wasser zu tauchen, als fische sie mit einer Schleppangel.

»Also gut, ihr beiden«, sagte ich. »Ihr steht unter Arrest. Kommt mit.« Ich schnappte Prinzessin Arjumand und begann, zum Haus zurückzugehen, Cyril im Schlepptau, der mit hängendem Kopf hinter uns hertrottete.

»Du solltest dich schämen«, sagte ich zu ihm, »dich von ihr zu so einem kriminellen Leben verleiten zu lassen. Weißt du nicht, was mit dir passiert wäre, wenn Baine dich entdeckt hätte?« Da sah ich den weißen Schimmer des Netzes neben dem Gartenpavillon.

Ich schaute besorgt um mich und hoffte, daß niemand nahe genug war, ihn zu sehen. Das Netz begann zu glühen, und Cyril hielt inne und wich grollend zurück.

Verity erschien neben dem Pavillon und schaute sich um. »Ned!« rief sie, als sie meiner ansichtig wurde. »Wie nett von Ihnen, mich hier abzuholen!«

»Was haben Sie herausgefunden?«

»Und Sie haben Cyril mitgebracht!« Sie tätschelte ihm den Kopf. »Und unsere süße Miezmiez«, fuhr sie gurrend fort, nahm mir Prinzessin Arjumand ab und wiegte sie im Arm. Sie bewegte die Finger vor Prinzessin Arjumands Pfoten hin und her, und die Katze schlug spielerisch nach ihr. »Hattu nicht langsam genug von Frauchens Blablaplap?« fragte Verity. »Solltest sie hauen, wenn sie damit anfängt. Hattu verstanden?«

»Verity«, fragte ich, »geht’s Ihnen gut?«

»Absolut«, entgegnete sie, immer noch mit den Katzenpfoten spielend. »Wo ist Terence?« Sie ging zum Rasen. »Ich muß unbedingt mit ihm reden. Er kann sich nicht in Tossie verlieben, weil das Schicksal der freien Welt auf dem Spiel steht. Außerdem«, sie senkte die Stimme zu einem Bühnenflüstern, »betrügt sie beim Crocket.«

»Wie oft sind Sie gesprungen?«

Sie zog die Stirn kraus. »Sechzehn Mal. Nein, acht. Zwölf?« Sie betrachtete mich genau. »Es ist einfach nicht fair.«

»Was?« Ich wurde wachsam.

»Das mit Ihrem Strohhut. Sie sehen damit aus wie Lord Peter Wimsey, besonders wenn Sie sich etwas nach vorn beugen, wie eben.« Sie betrat den Rasen. Ich nahm ihr Prinzessin Arjumand ab, setzte sie auf den Boden, und packte Veritys Arm.

»Ich muß Tossie finden«, sagte sie. »Es gibt ein paar Dinge, die ich ihr unbedingt sagen muß.«

»Das ist keine gute Idee. Setzen wir uns doch einen Moment, ja? Drüben im Pavillon.« Ich schob sie in die Richtung.

Sie folgte gefügig. »Das erste Mal, als ich Sie sah, dachte ich, mein Gott, er sieht aus wie Lord Peter Wimsey. Sie trugen diesen Strohhut und… nein, das war nicht das erste Mal.« Ihre Stimme klang anklagend. »Das erste Mal war in Dunworthys Büro, und Sie waren vollkommen rußverschmiert. Trotzdem sahen Sie bewunderungswürdig aus, auch wenn Ihr Mund offenstand.« Abwägend betrachtete sie mich. »Tragen Sie einen Schnurrbart?«

»Nein.« Ich führte sie zu den Stufen des Pavillons. »Ich möchte jetzt, daß Sie mir haarklein erzählen, was in Oxford geschah. Warum mußten Sie zwölfmal springen?«

»Siebenmal. T. J. wollte die Schlupfverluste im Mai und August 1888 messen. Er hält nach Gebieten Ausschau, in deren Umfeld sich die Verluste rapide erhöhen.« Inzwischen redete sie wieder mehr zusammenhängend, und ich überlegte, ob die Symptome nur vorübergehender Natur gewesen waren.

»T. J. meint, unsere Inkonsequenz passe nicht ins Muster«, sagte sie. »Eigentlich müßte um den Mittelpunkt ein Gebiet mit langsam steigendem Schlupfverlust entstehen. Wissen Sie, warum Napoleon die Schlacht bei Waterloo verlor? Weil es regnete. Eimer nämlich.«

Nein. Es waren keine vorübergehenden Symptome.

»Warum hat T. J. Sie geschickt?« wollte ich wissen. »Warum nicht Carruthers?«

»Weil sie ihn nicht mehr rausbekommen.«

»Falsch. Es ist der Rekrut, den sie nicht mehr rausbekommen.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Carruthers.«

Ich wußte nicht, ob ihre Worte stimmten, oder ob sie nur verwirrt war. Oder ob wir über dasselbe sprachen. In Anbetracht ihrer Probleme, Töne zu unterscheiden und deutlich zu sehen und dem Geräusch von Flakfeuer, das zweifellos in ihren Ohren wummerte, konnte es durchaus sein, daß sie eine völlig andere Konversation als ich führte.

»Verity, ich muß Sie…« Wegbringen, ja. Aber wohin? Sie brauchte dringend Schlaf, aber es gab keine Möglichkeit, sie unbeobachtet durch das Minenfeld zu bugsieren, das zwischen Pavillon und Haupthaus lag. Auf dem Rasen würde Reverend Arbitage die Dienstboten überwachen und Mrs. Mering den Reverend. Tossie war vielleicht schon von ihrem Besuch bei den Chattisbournes zurückgekehrt und hielt nach ein paar Einfaltspinseln Ausschau, die mit ihr Crocket spielen wollten.

Der Stall? Nein, dazu mußten wir auch ein Stück Rasen überqueren. Vielleicht war es das beste, einfach im Pavillon zu bleiben und Verity zu bewegen, sich auf eine der Bänke zu legen.

»Und was ist eigentlich so schlimm an einem Großen Plan, möchte ich mal wissen?« klang Professor Peddicks Stimme vom Fischteich her. »Natürlich ist Overforce außerstande, sich einen Großen Plan vorzustellen. Seine Vorstellung von Plan ist, seinen Hund abzurichten, von Bäumen herunter auf unschuldige Zeitgenossen zu springen.«

»Kommen Sie, Verity«, sagte ich und zog sie hoch. »Hier können wir nicht bleiben.«

»Wo gehen wir hin?« fragte sie. »Doch nicht etwa zum Basar? Ich hasse Basare. Ich hasse Muscheln und Stickereien, Spitzen und Verschnörkeltes und die Perlen, die sie auf alles draufnähen. Warum können sie die Dinge nicht so lassen, wie sie sind?«

»Wir sind nicht imstande, den Großen Plan zu sehen, weil wir ein Teil von ihm sind.« Professor Peddicks Stimme kam näher. »Kann der Faden im Webstuhl das Muster im Stoff erkennen? Der Soldat die Strategie der Schlacht, in der er kämpft?« Ich beeilte mich, Verity aus dem Pavillon und hinter die Fliederbüsche zu bringen.

»Kommen Sie«, sagte ich und nahm ihre Hand, als wäre sie ein Kind. »Wir gehen jetzt hier lang. Diese Richtung.«

Ich führte sie hinter dem Flieder vorbei den Weg entlang, der zum Fluß hinunterführte. Cyril und Prinzessin Arjumand folgten uns. Die Katze strich uns um die Beine, während wir gingen, und verlangsamte unser Fortkommen.

»Cyril«, flüsterte ich. »Geh und such Terence.«

»Gute Idee«, meinte Verity. »Es gibt da einiges, was ich Terence sagen muß. ›Terence‹, werde ich zu ihm sagen, ›wie können Sie eine Frau lieben, die Ihren Hund haßt?‹«

Wir erreichten den Treidelpfad. »Pscht«, machte ich und horchte auf Professor Peddick.

»Durch Kunst, durch Geschichte, erhaschen wir einen Schimmer des Großen Planes.« Seine Stimme klang entfernter. »Aber nur für einen winzigen Augenblick. ›Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege.‹«[59] Er wurde immer leiser. Offenbar gingen sie auf das Haupthaus zu.

»Ich wette, Maud Peddick liebt Hunde«, sagte Verity. »Sie ist ein reizendes Mädchen. Sie führt kein Tagebuch, sie ist Patriotin…«

An der Anlegestelle war kein Mensch. Ich schob Verity rasch zum Ufer hinunter.

»Ein Gedicht wurde nach ihr benannt«, fuhr Verity fort. »›Komm in den Garten, Maud, ich warte an der Pforte.‹ Stammt von Tennyson. Terence liebt es, Tennyson zu zitieren. Wenn Maud Peddick aufschreit, dann klingt es wie ein echter Schrei und nicht wie das Quieken eines Babys. Oh, fahren wir mit dem Boot?«

»Ja.« Ich half ihr hinein. »Setzen Sie sich.«

Leicht schwankend stellte sie sich in den Bug, den Blick gedankenverloren aufs Wasser gerichtet. »Lord Peter lud Harriet auch zu einer Bootsfahrt ein«, sagte sie. »Sie fütterten die Enten. Füttern wir auch Enten?«

»Aber sicher«, sagte ich und griff nach der Leine. »Setzen Sie sich.«

»Sehen Sie mal!« Sie zeigte aufs Ufer. »Die beiden wollen mitkommen. Ist das nicht süß?«

Ich schaute zum Ufer. Cyril und Prinzessin Arjumand standen Seite an Seite an der kleinen Anlegestelle.

»Kann Cyril nicht mit?« fragte sie.

Der Gedanke, seinen zentnerschweren Körper zu retten, wenn er über Bord ging, war nicht eben erfreulich. Andererseits, wenn wir die beiden mitnahmen, war der Schwarze Maure außer Gefahr. Und falls Finch vorhatte, Prinzessin Arjumand zu ersäufen, war sie bei mir sicher aufgehoben.

»Also gut«, sagte ich und wuchtete Cyril ins Boot, jeweils zwei Beine auf einmal.

Prinzessin Arjumand drehte sich prompt um, streckte ihren niedlichen Schwanz in die Höhe und wollte in Richtung Fischteich verschwinden.

»Hiergeblieben«, sagte ich, packte sie und reichte sie Verity, die noch aufrecht stand. Dann löste ich die Leine.

»Setzen Sie sich«, sagte ich und stieß das Boot ab. Verity plumpste auf die Bank, die Katze im Arm. Ich sprang ins Boot, nahm die Ruder und begann in Richtung Strömung zu rudern.

Wenn ich stromabwärts ruderte, konnte ich Verity rascher außer Sichtweite bringen, aber dann würden wir am Haus und einem Großteil des Rasens vorbeikommen, und ich wollte nicht, daß uns irgend jemand sah. Also wendete ich das Boot stromaufwärts und ruderte so rasch von Muchings End fort, wie ich nur konnte. Auf dem Fluß waren eine Menge anderer Boote. Aus einem von ihnen winkte uns jemand fröhlich zu, und Verity winkte zurück. Ich ruderte schneller und hoffte, daß es nicht eines der Chattisbournemädchen gewesen war.

Eigentlich hatte ich geglaubt, auf dem Fluß sicher zu sein, aber ich hatte vergessen, wie viele Menschen nachmittags Boot fuhren und fischen gingen. Es war offensichtlich, daß wir hier nicht sicher waren, und hielt nach einem ruhigen Seitenarm oder totem Gewässer Ausschau, in das wir abbiegen konnten.

»Ich dachte, wir würden Enten füttern«, sagte Verity anklagend. »Lord Peter und Harriet fütterten Enten.«

»Das werden wir auch. Versprochen ist versprochen«, sagte ich. Am anderen Ufer sah ich eine Gruppe Trauerweiden, deren Zweige tief über dem Wasser hingen. Ich ruderte hinüber.

»Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?« fragte Verity. »Ich bis jetzt nicht. Und dann sah ich Sie da stehen, völlig mit Ruß bedeckt — wann werden wir denn nun Enten füttern?«

Ich ruderte unter die Weiden, wobei ich mit dem Ruder gegen das Ufer stieß, um das Boot zu wenden und es nahe an die Böschung zu bringen. Von hier aus konnte uns vom Fluß aus keiner mehr sehen. Die Äste der Weiden verbargen uns wie eine blaßgrüne Laube. Durch die Blätter schimmerte die Sonne wie das Netz, wenn es sich gerade öffnete.

Ich legte die Ruder beiseite und warf die Leine über einen tiefhängenden Ast. Hier würden wir ungestört sein.

»Verity?« fragte ich, wußte aber, daß es hoffnungslos war. »Was haben Sie in Oxford herausgefunden?«

Sie spielte mit Prinzessin Arjumand, indem sie die Bänder ihres Hutes vor ihr baumeln ließ.

»Haben Sie mit der Gerichtsmedizinerin gesprochen?« bohrte ich. »Hat sie herausgefunden, wer Mr. C ist?«

»Ja«, sagte sie.

»Ja? Sie wissen, wer Mr. C ist?«

Sie runzelte die Stirn. »Nein. Ich meine, ja, ich sprach mit ihr.« Sie setzte ihren Hut ab und begann, eines der Bänder abzumachen. »Sie sagte, der Name hätte zwischen sieben und zehn Buchstaben und der letzte sei ein N oder M.«

Also war es nicht Mr. Chips. Und auch nicht Lewis Carroll.

»Ich sagte ihr, sie solle aufhören, nach Hinweisen auf Prinzessin Arjumand zu suchen«, fuhr Verity fort, »und sich auf Mr. C und das Datum konzentrieren, an dem der Ausflug nach Coventry stattfand.« Inzwischen war das Band ab, und sie schwenkte es vor Prinzessin Arjumand hin und her.

»Gut«, sagte ich. »Sie erzählten, daß Carruthers in Coventry feststecke. Haben Sie das nicht mit dem neuen Rekruten verwechselt?«

»Nein.« Sie spielte weiter mit dem Band. Die Katze erhob sich auf ihre Hinterbeine und schlug mit den weißen Pfötchen danach. »Den haben sie herausbekommen. Außerdem war das eine andere Sache.« Das Band tanzte auf und nieder. Cyril kam prüfenden Blickes herbei.

»Wieso eine andere Sache?« fragte ich geduldig.

Cyril roch an dem tanzenden Band. Die Katze versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf die Nase und wandte sich wieder dem Spiel zu. »Der neue Rekrut konnte das Netz nicht finden«, sagte Verity. »Obwohl es offen war. Das ist es jetzt nicht mehr.«

»Das Netz öffnete sich nicht, als sie versuchten, Carruthers zu holen?« Ich versuchte, Klarheit zu gewinnen. Verity nickte.

T. J. hatte gesagt, wenn sich das Netz nicht öffnete, sei das ein ernstes Anzeichen für eine Inkonsequenz.

»Hat man es mehr als einmal probiert?«

»Man hat alles versucht«, sagte Verity und zog das Band ruckartig hoch. Die Katze sprang hinterher, und das Boot ruckte heftig. »T. J. hat sogar die Schlacht bei Waterloo getestet.«

Sie hatte etwas von Waterloo erzählt, aber ich hatte es für Geplapper gehalten. »Was genau tat er?« wollte ich wissen.

»Dinge verändern.« Sie hielt das Band ganz still. Prinzessin Arjumand beobachtete sie, bereit zum Absprung. »Er öffnete das Tor bei Hougoumont und brachte die Truppen von d’Erlon herbei. Wissen Sie, daß Napoleon eine saumäßige Handschrift hatte? Schlimmer als Tossies Tagebuch. Keiner kann sie entziffern.«

Plötzlich riß sie das Band weg, und Prinzessin Arjumand sprang hoch. Das Boot schaukelte. »Ich glaube, er verlor die Schlacht wegen seiner Hämorrhoiden.«

Was immer T. J. mit Waterloo tat, es mußte warten. Langsam wurde es spät, und Veritys Zustand schien sich nicht wesentlich zu bessern. So konnte ich sie nicht zurückbringen, und alles, was mir einfiel, das ihr helfen könnte, war Schlaf.

»Er konnte wegen seiner analen Komplikation nicht reiten«, sagte sie. »Und deshalb blieben sie über Nacht in Fleurus. Und darum verlor er die Schlacht.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich glaube, Sie sollten sich hinlegen und ausruhen.«

Sie fuhr fort, das Band zu schwenken. »Es ist schrecklich, wie wichtig eine solche Kleinigkeit sein kann. Wie meine Rettung Prinzessin Arjumands. Wer hätte gedacht, daß deshalb ein Krieg verlorengehen würde?«

»Verity«, sagte ich bestimmt und nahm ihr das Band ab. »Ich möchte, daß Sie sich hinlegen und ausruhen.«

»Ich kann nicht«, entgegnete sie. »Ich muß Tossies Tagebuch stehlen und herausfinden, wer Mr. C ist, und dann muß ich wieder zu Dunworthy zurück. Ich muß die Inkonsequenz beseitigen.«

»Dazu ist noch jede Menge Zeit«, sagte ich. »Zuerst müssen Sie schlafen.« Ich zog ein ziemlich klammes Kissen unter der Bank hervor und legte es auf den Sitz. »Hier können Sie sich drauflegen.«

Sie legte sich gehorsam hin, den Kopf auf dem Kissen. »Lord Peter machte ein Nickerchen«, sagte sie, »und Harriet beobachtete ihn dabei, und dabei merkte sie, daß sie sich in ihn verliebt hatte.« Sie setzte sich wieder auf.

»Natürlich wußte ich das schon auf Seite zwei von Tödliches Gift, aber Harriet brauchte zwei Bücher mehr, um es festzustellen. Sie redete sich ein, es ginge nur um Herumschnüffeln und Codes entschlüsseln und zusammen Kriminalfälle lösen, aber ich wußte, daß sie ihn liebte. Er machte seinen Heiratsantrag auf lateinisch. Unter einer Brücke. Nachdem sie den Fall gelöst hatten. Man kann keinen Heiratsantrag machen, bevor man nicht den Fall gelöst hat. Das ist ein ehernes Gesetz in Detektivromanen.« Sie seufzte. »Zu schade. ›Placetne, magistra?‹ fragte er danach, und sie erwiderte, Placet. Das ist Oxforder Art, ja zu sagen. Ich mußte es nachschlagen. Ich hasse es, wenn Leute Latein sprechen und nicht erklären, was sie meinen. Wissen Sie, was Professor Peddick gestern zu mir sagte? ›Raram facit misturam cum sapienta forma.‹ Keine Ahnung, was er damit meinte. Irgend etwas über den Großen Plan, nehme ich an. Glauben Sie an einen Großen Plan, Ned?«

»Darüber können wir später sprechen«, sagte ich und klopfte auf das Kissen. »Nun legen Sie sich mal schön hin.«

Sie legte sich wieder hin. »Er war so romantisch, dieser Heiratsantrag auf lateinisch. Ich glaube, der Strohhut war daran schuld. Sie saß da und beobachtete Lord Peter beim Schlafen, und er sah so gut aus mit seinem Strohhut. Und seinem Schnurrbart. Ihrer ist ein bißchen schief, wissen Sie das?«

»Ja.« Ich zog mein Jackett aus und legte es ihr über die Schultern. »Schließen Sie die Augen und schlafen Sie.«

»Werden Sie mich dabei beobachten?«

»Ja.«

»Gut«, sagte sie und schloß die Augen.

Ein paar Minuten verstrichen.

»Könnten Sie ihren Hut abnehmen?« fragte sie schläfrig.

Ich grinste. »Selbstverständlich.«

Ich legte meinen Hut neben mich auf die Bank. Verity rollte sich auf der Seite zusammen, die Hände unter der Wange gefaltet, und schloß wieder die Augen. »Es hilft nicht«, murmelte sie.

Cyril suchte sich einen Platz in der Mitte des Bootes. Prinzessin Arjumand machte es sich wie ein Papagei auf meiner Schulter bequem und begann zu schnurren.

Ich schaute Verity an. Unter ihren Augen lagen Schatten, und mir fiel ein, daß sie in den letzten zwei Tagen ebensowenig Schlaf gehabt hatte wie ich, bei all den stündlichen Sprüngen, den Strategieplanungen, der ganzen Zeit, die sie in Oxford verbracht hatte, um Terences Nachkommen ausfindig zu machen und mit der Gerichtsmedizinerin zu reden. Armes Ding.

Cyril und Prinzessin Arjumand schliefen beide. Ich beugte mich vor, den Ellbogen auf dem Knie, stützte mein Kinn in die Hand, und beobachtete, wie Verity schlief.

Es war beinahe so erholsam, wie selbst zu schlafen. Das Boot schaukelte leicht, und die Sonnenstrahlen, die durch die Blätter fielen, webten ein wechselndes Gespinst aus Licht und Schatten. Verity schlief friedlich, ruhig, das Gesicht entspannt und sorglos.

Ich mußte der Sache einfach ins Gesicht sehen. Egal, wie viel oder wie wenig Schlaf ich oder sie gehabt hatten, für mich sah sie immer noch wie eine Naiade aus. Sogar wenn sie ihre grünbraunen Augen geschlossen und den Mund halb offen hatte und ein bißchen das taufeuchte Kissen vollsabberte, war sie das schönste Geschöpf, das mir je vor Augen gekommen war.

»›Sie hat ein gar lieblich’ Gesicht‹«, murmelte ich und dachte im Gegensatz zu Terence, daß es das bestens ausdrückte.

Irgendwann döste ich selbst ein, und schließlich mußte mein Kopf zur Seite gefallen sein. Mein Ellbogen glitt vom Knie, und ich schreckte hoch.

Prinzessin Arjumand miaute auf meiner Schulter, durch den Ruck verstört, und sprang neben mich auf die Bank.

Verity und Cyril schliefen weiter. Prinzessin Arjumand streckte sich, ging dann zum Bootsrand und schaute darüber, die Hinterpfoten auf dem Schandeckel. Vorsichtig tauchte sie eines ihrer weißen Pfötchen ins Wasser.

Das gebrochene Licht der Sonnenstrahlen fiel inzwischen in einem anderen Winkel durch die Weidenblätter, und es glänzte goldener. Ich zog meine Taschenuhr heraus und schnippte sie auf. Halb nach III. Wir mußten zurück, bevor uns irgend jemand vermißte. Wenn wir nicht bereits vermißt wurden.

Es brach mir fast das Herz, Verity wecken zu müssen. Sie sah so friedlich aus, wie sie hier lag und schlief, mit einem Anflug von Lächeln auf den Lippen, als träumte sie etwas Angenehmes. »Verity«, sagte ich sanft und beugte mich vor, um ihre Schulter zu berühren.

Hinter mir platschte es laut, und ich warf mich herum zum Bootsrand. »Prinzessin Arjumand!« rief ich, und Cyril setzte sich mit überraschter Miene auf.

Von der Katze war nichts zu sehen. Ich lehnte mich über den Schandeckel und krempelte den Ärmel hoch. »Prinzessin Arjumand!« Ich streckte den Arm tief ins Wasser und ließ ihn kreisen. Wo war sie? »Du wirst jetzt nicht ertrinken! Hörst du? Nicht, nachdem wir das ganze Universum aufs Spiel gesetzt haben, um dich zu retten!« rief ich. Die Katze tauchte auf und begann, auf das Boot zuzuschwimmen. Das nasse Fell klebte ihr am Kopf.

Ich packte sie im Genick und zog sie ins Boot. Sie sah aus wie eine ertrunkene Ratte. Cyril gesellte sich zu uns, und sein Gesichtsausdruck war interessiert und, wie ich festzustellen glaubte, erfreut.

Ich zog mein Taschentuch hervor und wollte Prinzessin Arjumand damit abtrocknen, aber es war zu klein. Also hielt ich unter der Sitzbank nach einer Decke oder einem Handtuch Ausschau, fand aber nichts. Alles lief darauf hinaus, daß ich mein Jackett benutzen mußte.

Ich zog es vorsichtig von Veritys Schultern, schlang es um Prinzessin Arjumand und machte mich daran, sie trockenzureiben. »Deine Vorliebe für Fisch wird dich noch umbringen, das ist dir doch klar, oder?« sagte ich und trocknete ihr den Rücken und Schwanz ab. »Katzen haben nämlich nur neun Leben, und du hast bereits sieben davon verbraucht, soweit ich weiß. Du solltest dir ein gefahrloseres Laster zulegen. Rauchen zum Beispiel.«

Prinzessin Arjumand wand sich in meinem Griff. »Du bist noch nicht trocken.« Ich fuhr fort, sie abzureiben. Sie kämpfte weiter dagegen an, und nach einer Minute gab ich sie frei. Würdevoll, wenn auch reichlich mitgenommen, stolzierte sie an Cyril vorbei, setzte sich mitten auf die Bank und begann, sich zu säubern.

Ich legte meine Jacke zum Trocknen über den Bug und sah erneut auf die Taschenuhr. Viertel nach IV. Jetzt mußte ich Verity wecken, obwohl sie anscheinend wie eine Tote schlief, so wenig, wie sie eben von dem Geschehen mitbekommen hatte. Ich ließ die Taschenuhr zuschnappen. Verity öffnete die Augen. »Ned«, sagte sie schläfrig. »Bin ich eingeschlafen?«

»Ja. Fühlen Sie sich jetzt besser?«

»Besser?« fragte sie überlegend. »Was war los?« Sie setzte sich auf. »Ich erinnere mich, daß ich gesprungen bin und…« Ihre Augen weiteten sich. »Zeitkrankheit, stimmt’s? Wegen dieser vielen Sprünge zum Mai und August.« Sie legte die Hand auf die Stirn. »War es schlimm?«

Ich grinste. »Schlimmster Fall, den ich je gesehen habe. Erinnern Sie sich nicht?«

»Nur verschwommen. Der Schleier vor meinen Augen und im Hintergrund so eine Art Sirene…«

»Die Entwarnung«, sagte ich.

»Ja. Und dann so ein pfeifendes Schnauben…«

»Cyril.«

Verity nickte. »Wo sind wir hier?« Sie schaute in die Weiden hoch und dann aufs Wasser.

»Ungefähr eine halbe Meile von Muchings End entfernt«, erklärte ich. »In Ihrer Verfassung war es besser, daß niemand Sie zu Gesicht bekam, bevor Sie nicht etwas Schlaf bekommen hatten. Fühlen Sie sich jetzt besser?«

»Mmmh.« Sie streckte sich. »Warum ist Prinzessin Arjumand so naß?«

»Sie wollte fischen und fiel dabei ins Wasser«, sagte ich.

»Oh.« Verity gähnte.

»Sind Sie sicher, daß es Ihnen besser geht?«

»Ja. Viel besser.«

»Gut.« Ich löste die Leine. »Dann rudern wir besser zurück. Es ist beinahe Teezeit.« Ich nahm die Ruder und manövrierte uns unter den Weiden hervor in die Mitte des Flusses.

»Danke«, sagte Verity. »Ich muß ein übles Bild abgegeben haben. Ich habe doch nicht etwa etwas Peinliches gesagt, oder?«

»Nur, daß Napoleon die Schlacht bei Waterloo wegen seiner Hämorrhoiden verloren hat«, sagte ich und ruderte flußabwärts. »Eine Theorie, die ich an Ihrer Stelle weder Professor Overforce noch Professor Peddick erzählen würde.«

Verity lachte. »Kein Wunder, daß Sie mich entführen mußten. Habe ich Ihnen auch erzählt, was T. J. mit der Schlacht bei Waterloo tut?«

»Nicht genau.«

»Er läßt Simulationen mit Inkonsequenzen laufen«, sagte sie. »Die Schlacht bei Waterloo gehört zu den Schlachten, die bis ins kleinste analysiert worden sind. In den zwanziger Jahren entstand eine ausgefeilte Computersimulation davon.« Sie beugte sich vor. »T. J. benutzt sie und baut Inkonsequenzen ein, die den Lauf der Dinge verändern könnten. Sie wissen schon — was wäre, wenn Napoleon Ney eine leserliche Nachricht geschickt hatte? Was, wenn d’Erlon verwundet worden wäre?«

»Was, wenn Napoleon keine Hämorrhoiden gehabt hätte?«

Verity schüttelte den Kopf. »Nur Dinge, die ein Historiker bewirken kann«, sagte sie. »Nachrichten verändern oder Musketen abfeuern. Außerdem vergleicht T. J. die auftretenden Schlupfverluste mit unserer Inkonsequenz.«

»Und?«

»Er ist erst am Anfang«, sagte sie abwehrend. »Außerdem sind es reine Theorien.« Was hieß, sie wollte es mir nicht sagen.

»Hat Miss Warder Ihnen gesagt, wie hoch der Verlust bei unserem Sprung war?«

»Ja. Neun Minuten.«

Neun Minuten.

»Und was ist mit Ihren Sprüngen zum Mai und August?«

»Unterschiedlich. Im Durchschnitt sechzehn Minuten. Das deckt sich mit früheren Sprüngen in diese Zeit.«

Inzwischen hatten wir Muchings End fast erreicht. Ich zog die Taschenuhr heraus und schaute darauf. »Wir sind rechtzeitig zum Tee zurück«, sagte ich. »Also wird man uns keine Fragen stellen. Falls doch, behaupten wir, wir seien nach Streatley gerudert, um Ankündigungen für den Basar aufzuhängen.« Ich zog mein feuchtes Jackett an, und Verity ordnete ihr Haar und setzte den Hut auf.

Sechzehn Minuten, und neun bei Veritys Sprung. Selbst wenn ihr Sprung einen durchschnittlichen Schlupfverlust aufgewiesen hätte, wäre sie zu spät oder zu früh dran gewesen, um die Katze zu retten und die Inkonsequenz zu verursachen. Und bei neun Minuten hatte der Verlust nicht einmal das Limit erreicht. Warum hatte das Netz den Schlupfverlust nicht bis zum Durchschnitt erhöht? Oder sich geschlossen, bevor die Inkonsequenz eingetreten war? Und warum öffnete es sich jetzt bei Carruthers nicht mehr?

Die Anlegestelle war nur noch ein paar hundert Meter entfernt. »Wenn wir Glück haben, hat nicht einmal jemand gemerkt, daß wir auf dem Fluß unterwegs waren«, sagte ich und ruderte auf die Anlegestelle zu.

»Unser Glück hat Ausgang«, sagte Verity. Ich drehte mich auf der Bank um und sah Tossie und Terence zum Ufer hinunterlaufen. Sie winkten uns.

»Oh, Cousine!« rief Tossie. »Du wirst es nicht glauben, was passiert ist! Mr. St. Trewes und ich haben uns verlobt!«

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