»Es ist nicht das gleiche Spiel. Es ist ein vollkommen anderes Spiel, darin liegt die Schwierigkeit.«
Eine überraschende Erscheinung • Jeeves • In einem Blumengarten • Kichern • Beschreibung eines Kleides • Eine übergewichtige Katze • Sex und Gewalt • Finch muß etwas verschweigen • Märchen aus dem Wilden Westen • Erstaunliche Dinge, die auf Dachböden lagern • Wieder zu Hause • Ich werde vorbereitet • Ein zivilisiertes Spiel • Schlechte Nachrichten • Crocket im Wunderland • Noch mehr schlechte Nachrichten…
Ich weiß nicht mehr, was ich sagte oder wie wir ins Haus kamen. Wenigstens konnte ich verhindern, daß ich nicht herausplatzte: ›Finch! Was machen Sie denn hier?‹
Dabei war es offensichtlich, was er tat. Er butlerte. Es war ebenso offensichtlich, daß er sich dabei den größten aller Butler zum Vorbild gesetzt hatte, nämlich Jeeves, erschaffen von P. J. Wodehouse. Er hatte dieselbe hochmütige Aura, die gleiche korrekte Sprache, insbesondere aber das Pokergesicht übernommen. Man hätte meinen können, er hätte mich noch nie im Leben gesehen.
Mit einer perfekten Verbeugung bat er uns ins Haus, sagte: »Ich werde Sie den Herrschaften melden«, und wollte gerade zur Treppe gehen, aber es war zu spät. Mrs. Chattisbourne und ihre vier Töchter eilten bereits die Stufen hinab. »Tossie! Welch eine Überraschung!« schnatterte sie freudig.
Am Fuß der Treppe blieb sie stehen und ihre Töchter verteilt hinter ihr, als arrangierten sie sich zu einer Art Kaskade. Alle, Mrs. Chattisbourne eingeschlossen, hatten Stupsnasen und aschblondes Haar.
»Und wer ist dieser junge Gentleman?« fragte Mrs. Chattisbourne.
Die Mädchen kicherten.
»Mr. Henry, Madam«, erwiderte Finch.
»Also derjenige, der deine Katze gefunden hat«, sagte Mrs. Chattisbourne zu Tossie. »Reverend Arbitage hat uns alles darüber erzählt.«
»O nein!« sagte Tossie. »Mr. St. Trewes brachte mir meine arme verirrte Prinzessin Arjumand zurück. Mr. Henry ist nur ein Freund von ihm.«
»Aha«, sagte Mrs. Chattisbourne. »Ich bin so erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Henry. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen meinen Blumengarten vorstelle.«
Ich hatte mich in den letzten Tagen so daran gewöhnt, daß jemand Unverständliches zu mir sagte, daß ich nicht einmal mit der Wimper zuckte.
Sie führte mich zur Treppe. »Das sind meine Töchter, Mr. Henry«, sagte sie, der Reihe nach auf sie zeigend. »Rose, Iris, Pansy und Eglantine, meine Jüngste.[54] Mein holdes, eigenes Blumengebinde und Brautstrauß für…« — sie drückte meinen Arm — »für vier glückliche Gentlemen.«
Die Mädchen kicherten, als ihre Mutter ihre Namen sagte und noch einmal am Ende, als sie den Brautstrauß erwähnte.
»Soll ich im Salon Erfrischungen servieren?« fragte Finch. »Miss Mering und Mr. Henry sind von ihrem Spaziergang sicher erschöpft.«
»Wie wunderbar von Ihnen, daran zu denken, Finch«, sagte Mrs. Chattisbourne und lenkte mich zu der Tür rechts. »Finch ist der beste Butler, den man sich vorstellen kann«, fuhr sie fort. »Er denkt einfach an alles.«
Der Salon der Chattisbournes glich haargenau dem Wohnzimmer der Familie Mering, war aber floral ausgestattet, der Teppich mit einem Lilienmuster durchwirkt, die Lampen mit Vergißmeinnicht und Narzissen dekoriert. Auf einem Tisch mit Marmorplatte in der Mitte des Salons stand eine mit Mohnblumen bemalte Vase mit rosa Pfingstrosen.
Er war auch genauso mit Mobiliar vollgestopft wie das Zimmer der Merings, so daß die Bitte, mich zu setzen, den Auftakt zu einem Slalomlauf durch ein Labyrinth von Hyazinthen und Dotterblumen zu einem Stuhl hin bildete, dessen Bezug mit äußerst realistisch aussehenden dornigen Rosen bestickt war.
Ich setzte mich behutsam darauf, aus Angst, gestochen zu werden, und Mrs. Chattisbournes Töchter nahmen kichernd mir gegenüber auf einem Blumensofa Platz.
Im Laufe des Vormittags merkte ich, daß sie, abgesehen von Eglantine, der Jüngsten, die ungefähr zehn Jahre alt war, die ganze Zeit und buchstäblich über alles, was gesagt wurde, kicherten.
»Finch ist ein richtiges Juwel!« sagte Mrs. Chattisbourne beispielsweise, worauf sie kicherten. »So tüchtig! Er weiß alles bereits, bevor wir selbst wissen, daß wir es wünschen. Nicht wie unser früherer Butler, dieser — wie war noch sein Name, Tossie?«
»Baine«, sagte Tossie.
»Ach ja, Baine.« Mrs. Chattisbourne rümpfte die Nase. »Zwar ein passender Name für einen Butler, wenn ich auch immer dachte, es ist nicht der Name, der einen Butler macht, sondern die Ausbildung. Baines Ausbildung war angemessen, aber schwerlich perfekt. Er las ständig Bücher, wie ich mich entsinne. Finch liest niemals«, sagte sie stolz.
»Wo haben Sie ihn entdeckt?« fragte Tossie.
»Das ist das Erstaunlichste an der ganzen Sache«, sagte Mrs. Chattisbourne (Kichern). »Ich brachte gerade dem Vikar unsere Frisierkommodendeckchen für das Kirchfest, als Finch dort im Salon saß. Wie es aussah, war er bei einer Familie beschäftigt gewesen, die nach Indien gegangen ist, und er konnte sie nicht begleiten, weil er allergisch auf Curry ist.«
Allergisch auf Curry? Soso.
»›Kennen Sie niemanden, der einen Butler braucht?‹ fragte mich der Vikar. Können Sie sich das vorstellen? Es war Schicksal.« (Kichern).
»Ist das nicht recht waghalsig gewesen?« fragte Tossie.
»Oh, Thomas beharrte natürlich darauf, Finch eingehend zu befragen, und er konnte die allerbesten Reverenzen vorweisen.«
Zweifellos alle von Familien, die nach Indien gegangen waren, dachte ich.
»Ich sollte deiner Mutter eigentlich böse sein, Tossie, weil sie mir…« — Mrs. Chattisbourne runzelte die Stirn — »… jetzt habe ich den Namen schon wieder vergessen…«
»Baine«, sagte Tossie.
»Weil sie mir Baine abspenstig gemacht hat, aber wie kann ich das, jetzt, wo ich den perfekten Ersatz für ihn gefunden habe?«
Der perfekte Ersatz trug gerade ein mit Blumen bemaltes Tablett ins Zimmer, auf dem ein Glassiphon und mehrere Gläser standen. »Johannisbeerlikör!« rief Mrs. Chattisbourne. »Genau das ist es! Wissen Sie jetzt, was ich meine?«
Finch goß den Likör ein und reichte das Tablett herum.
»Sind Sie mit Mr. St. Trewes zusammen auf der Schule, Mr. Henry?« fragte Mrs. Chattisbourne.
»Ja«, erwiderte ich. »In Oxford. Am Balliol.«
»Sind Sie verheiratet?« fragte Eglantine.
»Eglantine!« tadelte Iris. »Es schickt sich nicht, Leute zu fragen, ob sie verheiratet sind.«
»Du hast Tossie auch gefragt, ob er verheiratet ist«, sagte Eglantine. »Ich hab’ dich flüstern hören.«
»Husch«, sagte Iris und lief, der Situation angemessen genug, leicht rot an (Kichern).
»Aus welcher Gegend Englands kommen Sie, Mr. Henry?« fragte Mrs. Chattisbourne.
Es war Zeit, das Thema zu wechseln. »Ich wollte Ihnen noch danken, daß Sie mir die Sachen Ihres Sohnes ausgeliehen haben«, sagte ich, an dem Likör nippend. Er schmeckte besser als die Aalpastete. »Ist er hier?«
»Oh, nein«, entgegnete Mrs. Chattisbourne. »Haben die Merings Ihnen das nicht erzählt? Elliott ist in Südafrika.«
»Er ist Bergwerksingenieur«, warf Tossie ein.
»Gerade haben wir einen Brief von ihm bekommen«, sagte Mrs. Chattisbourne. »Wo ist er, Pansy?«
Mit viel Gekicher erhoben sich die Mädchen, um ihn zu suchen.
»Hier ist er, Madam«, sagte Finch und gab Mrs. Chattisbourne den Brief.
»Liebe Eltern, liebe Blumensträuße«, las sie. »Hier ist endlich der ausführliche Brief, den ich euch versprochen habe.« Es wurde klar, daß sie beabsichtigte, das gesamte Machwerk vorzulesen.
»Sie müssen Ihren Sohn sehr vermissen«, sagte ich in dem Versuch, sie davon abzuhalten. »Wird er bald nach Hause kommen?«
»Nicht bevor die zwei Jahre um sind, für die er sich verpflichtet hat, also erst in acht Monaten. Würde allerdings eine seiner Schwestern heiraten, käme er natürlich zur Hochzeit heim.« (Kichern)
Erneut stürzte sie sich auf den Brief. Zwei Absätze davon überzeugten mich, daß Elliot genauso kindisch war wie seine Schwestern und niemals irgend jemanden geliebt hatte außer sich selbst.
Drei Absätze überzeugten mich davon, daß Tossie sich nicht die Bohne für Elliot interessierte. Sie schaute definitiv gelangweilt drein.
Beim vierten Absatz begann ich mich zu fragen, wie Elliot dem Schicksal entgangen war, Rhododendron oder Beifuß getauft zu werden. Ich betrachtete die Katze der Chattisbournes.
Sie ruhte auf einem mit Veilchen bemalten Fußschemel und war so riesig, daß man nur noch ein paar Veilchen an den Kanten des Schemels sehen konnte. Sie war gelb, mit noch gelberen Streifen und noch gelberen als gelben Augen und erwiderte meinen Blick so schläfrig verhangen, wie ich mich langsam selbst zu fühlen begann, bei all dem Likör und Elliot Chattisbournes Prosa. Ich sehnte mich danach, wieder in Muchings End zu sein. Oder in einer Hängematte.
»Was wirst du beim Fest tragen, Rose?« fragte Tossie, als Mrs. Chattisbourne innehielt, um zur dritten Seite des Briefes umzublättern.
Rose kicherte und sagte: »Mein blaues Voilekleid mit dem Spitzeneinsatz.«
»Ich trage mein weißgetupftes Dirndl«, sagte Pansy, und die älteren Mädchen beugten sich vor und begannen miteinander zu schwatzen.
Eglantine ging zum Schemel hinüber, hob die Katze hoch und ließ sie auf meinen Schoß plumpsen. »Das ist unsere Katze, Miss Marmelade.«
»Mrs. Marmelade, Eglantine«, tadelte Mrs. Chattisbourne, und ich fragte mich, ob Katzen genau wie Köchinnen Ehrenwürden zugestanden wurden.
»Und wie geht’s Ihnen, Mrs. Marmelade?« fragte ich und kraulte die Katze unterm Kinn (Kichern).
»Was trägst du beim Fest, Tossie?« fragte Iris.
»Das neue Kleid, das Papa für mich in London hat anfertigen lassen.«
»Oh, wie sieht es aus?«
»Ich habe es in meinem Tagebuch beschrieben«, sagte Tossie.
Damit ein paar geplagte Schriftexperten wochenlang daran herumrätseln dürfen, dachte ich.
»Finch«, sagte Tossie, »geben Sie mir den Korb«, und langte, nachdem Finch dem Wunsch nachgekommen war, unter das bestickte Tuch, um ein in Korduanleder[55] gebundenes Buch herauszuholen, das ein goldenes Schloß hatte.
Soviel also zu Veritys Hoffnung, das Buch lesen zu können, während wir weg waren! Ich überlegte, ob ich es vielleicht auf dem Heimweg aus dem Korb entwenden konnte.
Tossie löste ein schmales Goldkettchen, an dem ein winziger Schlüssel baumelte, von ihrem Handgelenk und schloß das Tagebuch auf. Dann nestelte sie die Kette wieder sorgsam zu.
Vielleicht konnte ich Finch bitten, das Buch für mich zu stehlen. Vielleicht hatte er auch schon selbst daran gedacht, wo doch Mrs. Chattisbourne meinte, er könne Gedanken lesen.
»Weiße resedafarbene Organza«, las Tossie. »Mit einem Unterkleid aus lila Seide. Das Oberteil hat ein Spitzenlätzchen, besetzt mit gerüschter Stickereiborte aus eingefärbter Seide in zartesten Schattierungen von Heliotrop, Flieder und Immergrün, mit Einsätzen in Form von Veilchen und Vergißmeinnicht…«
Die Beschreibung des Kleides war noch länger als Elliot Chattisbournes Brief. Ich ging dazu über, Mrs. Marmelade ausgiebig streicheln.
Sie war nicht nur enorm groß, sondern auch extrem fett. Ihr Bauch war riesig und fühlte sich seltsam klumpig an. Ich hoffte, daß sie nicht krank war. Hatte es vielleicht im victorianischen Zeitalter bereits eine frühe Form der Staupe gegeben, die Anfang des 21. Jahrhunderts alle Katzen ausrottete?
»… und eine plissierte rosa Schärpe mit einer Rosette an der Seite«, las Tossie. »Der Rock ist seitwärts gerafft und mit einer Borte der gleichen Blumen bestickt. Die Ärmel sind angekraust und haben an Ellbogen und Schultern Rüschen. Veilchenblaue Bänder…«
Ich befühlte vorsichtig Mrs. Marmelades Unterseite, während ich sie kraulte. Mehrere Tumore. Falls es dieser Leptovirus war, mußte es jedoch ein frühes Stadium sein. Mrs. Marmelades Fell war weich und glänzend, und sie schien sich äußerst behaglich zu fühlen. Sie schnurrte unentwegt und grub ihre Krallen selig in mein Hosenbein.
Offenbar litt ich immer noch an dem Symptom Verzögertes Denken. Sie scheint überhaupt nicht krank zu sein, überlegte ich, obwohl sie aussieht, als würde sie umgehend explodieren…
»Großer Gott«, sagte ich. »Diese Katze ist ja schwan…« Ein scharfer Gegenstand traf mich im Genick. Ich verschluckte den Rest des Satzes.
Hinter mir sagte Finch: »Entschuldigen Sie, Madam, da ist ein Gentleman, der Mr. Henry sprechen möchte.«
»Mich? Aber wie…?« Wieder traf mich etwas im Genick.
»Entschuldigen Sie mich bitte, meine Damen.« Ich erhob mich mit einer Art Verbeugung und folgte Finch zur Tür.
»Mr. Henry hat zwei Jahre in Amerika gelebt«, sagte Tossie, gerade als ich das Zimmer verließ.
»Aha«, sagte Mrs. Chattisbourne.
Finch führte mich den Korridor hinunter zur Bibliothek. Dort zog er die Tür hinter uns zu.
»Ich weiß, ich soll nicht in der Gegenwart von Damen fluchen«, sagte ich und rieb mir das Genick. »Deshalb müssen Sie mich doch nicht schlagen.«
»Ich habe Sie nicht wegen des Fluchens geschlagen, Sir«, sagte Finch, »obwohl Sie damit recht haben. Sie hätten es in guter Gesellschaft nicht tun dürfen.«
»Was haben Sie dazu benutzt?« Ich befühlte vorsichtig meinen Nacken. »Einen Totschläger?«
»Einen Präsentierteller, Sir«, erwiderte Finch und zog ein mörderisch aussehendes Silbertablett aus seiner Tasche. »Ich hatte keine andere Wahl, Sir. Ich mußte Sie zurückhalten.«
»Wovor?« fragte ich. »Und was machen Sie hier überhaupt hier?«
»Dunworthy hat mich geschickt.«
»Weshalb? Um Verity und mir zu helfen?«
»Nein, Sir«, sagte Finch.
»Und warum sonst?«
Sein Blick wich mir aus. »Das ist mir nicht erlaubt zu sagen, Sir, außer daß ich hier mit einem…« — er suchte nach dem richtigen Wort, »hier mit einem verwandten Projekt zu tun habe. Ich bin auf einer anderen Zeitschiene als Sie und habe deshalb Zugang zu Informationen, die Sie bis jetzt noch nicht entdeckt haben. Wenn ich sie Ihnen sagen würde, könnte das mit Ihrem Auftrag kollidieren, Sir.«
»Und mich ins Genick zu schlagen nicht?« fragte ich. »Ich glaube, Sie haben mir einen Wirbel gebrochen.«
»Ich mußte Sie davon abhalten, Sir, weiter über den Zustand der Katze zu referieren«, sagte Finch. »Im victorianischen Zeitalter ist es absolut tabu, in einer gemischten Gesellschaft über Sex zu sprechen. Es ist nicht Ihre Schuld, daß Sie das nicht wissen. Sie wurden nicht richtig vorbereitet. Ich sagte Dunworthy, daß es keine gute Idee ist, Sie in Ihrem Zustand und ohne Training loszuschicken, aber er war geradezu darauf versessen, daß Sie derjenige sein sollten, der Prinzessin Arjumand zurückbringt.«
»Wirklich?« Ich war erstaunt. »Und weshalb?«
»Das darf ich nicht sagen, Sir.«
»Außerdem wollte ich überhaupt nichts über Sex sagen«, wandte ich ein. »Ich wollte bloß sagen, daß die Katze schwan…«
»Oder irgend etwas, das aus einer sexuellen Handlung resultiert oder damit in irgendeiner Form verknüpft ist.« Er senkte die Stimme und beugte sich zu mir vor. »Mädchen werden von diesen Tatsachen des Lebens vollständig ferngehalten, bis zu ihrer Hochzeitsnacht, wo einige von ihnen, wie ich befürchte, einen beträchtlichen Schock erleiden. Der Körper von Frauen oder ihre Figuren werden niemals erwähnt, und ihre Beine werden als ›Gliedmaßen‹ bezeichnet.«
»Also, was soll ich dann sagen? Die Katze ist in guter Hoffnung? In anderen Umständen?«
»Sie sollen das Thema überhaupt nicht anschneiden. Schwangerschaften werden geflissentlich übersehen, bei Menschen und bei Tieren. Sie hätten es überhaupt nicht erwähnen dürfen.«
»Und wenn sie geboren sind und ein halbes Dutzend Kätzchen überall im Haus herumwuselt? Soll ich das dann auch ignorieren? Oder so tun, als wären sie vom Himmel gefallen?«
Finch schaute unbehaglich. »Es gibt noch einen weiteren Grund, Sir«, sagte er geheimnisvoll. »Wir wollen nicht mehr Aufmerksamkeit auf uns lenken als unbedingt nötig. Wir wollen nicht noch eine Inkonsequenz verursachen.«
»Inkonsequenz? Wovon reden Sie?«
»Ich darf darüber nichts sagen. Wenn Sie in den Salon zurückkehren, würde ich mich an Ihrer Stelle jeglicher Äußerung über die Katze enthalten.«
Er hörte sich wirklich wie Jeeves an. »Sind Sie vielleicht gut vorbereitet«, sagte ich bewundernd. »Wann hatten Sie Zeit, so viel über das victorianische Zeitalter zu lernen?«
»Das darf ich nicht sagen«, entgegnete Finch mit erfreutem Gesichtsausdruck. »Aber ich darf wohl sagen, daß ich mich fühle, als wäre das hier genau der Job, zu dem ich geboren bin.«
»Nun, wenn Sie so gut darin sind, dann sagen Sie mir doch, was ich sagen soll, wenn ich wieder ins Zimmer komme. Mit wem soll ich gesprochen haben? Ich kenne hier niemanden weit und breit.«
»Das ist kein Problem, Sir«, sagte er und öffnete mit der behandschuhten Rechten die Bibliothekstür.
»Kein Problem? Was meinen Sie damit? Ich muß doch irgendwas sagen.«
»Nein, Sir. Es wird sie nicht kümmern, warum Sie weggerufen werden, solange Ihre Abwesenheit den Damen die Zeit gibt, Sie durchzuhecheln.«
»Durchzuhecheln?« fragte ich alarmiert. »Sie meinen, ob ich der bin, für den ich mich ausgebe?«
»Nein, Sir«, erwiderte Finch, von Kopf bis Fuß der perfekte Butler. »Über Ihre Eignung als Ehemann.« Er führte mich über den Gang, verbeugte sich leicht und öffnete die Salontür mit der behandschuhten Linken.
Er hatte recht. Als ich ins Zimmer kam, trat eine plötzliche Stille ein, gefolgt von einem Ausbruch von Gekicher.
»Tocelyn hat uns gerade von Ihrem Zusammenstoß mit dem Tod erzählt, Mr. Henry«, sagte Mrs. Chattisbourne dann.
Als ich beinahe ›schwanger‹ gesagt hatte? Ich überlegte.
»Als Ihr Boot kenterte«, sagte Pansy eifrig. »Aber ich nehme an, das ist noch gar nichts im Vergleich zu Ihren Abenteuern in Amerika.«
»Hat man Sie skalpiert?« fragte Eglantine.
»Eglantine!« Mrs. Chattisbournes Stimme klang tadelnd.
Finch erschien an der Tür. »Entschuldigen Sie, Madam«, sagte er. »Werden Miss Mering und Mr. Henry zum Lunch bleiben?«
»O ja, Mr. Henry«, zirpten die Mädchen. »Sie müssen uns alles über Amerika erzählen.«
Ich verbrachte das Mittagessen damit, ihnen eine Geschichte mit Postkutschen und Tomahawks aufzutischen, die ich mir aus Vorträgen über das neunzehnte Jahrhundert zusammenschusterte, und ich hätte mir gewünscht, ihnen intensiver gelauscht zu haben. Dabei beobachtete ich Finch. Er zeigte mir das richtige Eßbesteck an, indem er mir beim Servieren zuflüsterte: »Die Gabel mit den drei Zinken«, oder diskret von der Anrichte her winkte, während ich die Aufmerksamkeit der Chattisbournes mit Sätzen wie: »In dieser Nacht, als wir ums Lagerfeuer saßen, hörten wir die Kriegstrommeln der Indianer in der Dunkelheit über die Prärie hallen — bomm, bomm, bomm.« (Kichern).
Nach dem Lunch baten Iris, Rose und Pansy uns, mit ihnen noch eine Partie Charade zu spielen, aber Tossie meinte, wir müßten aufbrechen, verschloß sorgfältig ihr Tagebuch und steckte es diesmal nicht in den Korb, sondern in ihr Handtäschchen. »Oh, bleib doch noch ein kleines Weilchen«, bettelte Pansy, aber Tossie sagte, wir hätten noch den Vikar zu besuchen, um die Spenden einzusammeln. Ich war ihr dankbar. Zum Essen hatte es Rheinwein und Bordeaux gegeben, was, kombiniert mit dem Johannisbeerlikör und den Folgen der Zeitkrankheit, in mir den Wunsch nach einem ausgiebigen Mittagsschläfchen geweckt hatte.
»Werden wir Sie beim Kirchfest sehen?« fragte Iris kichernd.
Leider ja, dachte ich und hoffte, daß der Vikar nicht weit entfernt wohnte.
Tat er auch nicht. Zunächst aber führte uns unser Weg zu der Witwe Wallace, um eine Sauciere und ein Banjo, dem zwei Saiten fehlten, abzuholen, zu der Familie Middlemarch, die eine Teekanne mit abgebrochener Tülle, ein Essigfläschchen und ein Kartenspiel, bei dem eine Reihe Karten fehlten, ausgegraben hatte und zu Miss Stiggins, die uns mit einem Vogelkäfig, vier Statuetten, welche die Schicksalsgöttinnen darstellen sollten, einer Ausgabe von Alice hinter den Spiegeln, einem Fischmesser und einem Fingerhut, auf dem »Souvenir aus Margate« eingraviert war, beglückte.
Da die Chattisbournes uns bereits ein Hutnadelkissen, ein Stickwollkissen, gemustert mit Veilchen und Gartenwicken, einen Eierkocher und einen Gehstock, dessen Knauf in Form eines Hundekopfes geschnitzt war, mitgegeben hatten, war der Korb beinahe voll, und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn heimtragen sollte. Glücklicherweise beschränkte sich der Vikar auf einen großen, halb zerborstenen vergoldeten Bilderrahmen.
»Ich werde Baine schicken, daß er ihn abholt«, sagte Tossie, und wir machten uns auf den Heimweg.
Dieser war eine Wiederholung des Hinwegs, abgesehen davon, daß ich ein gutes Stück beladener und müder war. Tossie plapperte über Juju und »Te’ence, den tapfersten Ritter von Welt« und ich dachte, wie glücklich ich mich schätzen konnte, daß mein Name nicht mit C begann und daß ich die Augen nach einer Hängematte aufhalten sollte.
Baine kam uns auf der Auffahrt entgegen und befreite mich von dem Korb, und Cyril kam herausgerannt, um mich zu begrüßen. Wegen seiner unglückseligen Tendenz zum Seemannsgang landete er jedoch vor Tossies Füßen, die sofort aufschrie: »Du gräßliches, böses Geschöpf, du!«, gefolgt von einer Serie Schreichen.
»Komm, Cyril, alter Junge!« rief ich und klatschte in die Hände, worauf er glückselig in meine Richtung torkelte, mit dem ganzen Körper wackelnd. »Hast du mich vermißt, Bursche?«
»›Und seht, die Reisenden kehren heim‹«, rief Terence und winkte vom Rasen herüber. »›Zurück zu den weißen Mauern ihrer Häuser, die sie vor langer Zeit verlassen haben‹.[56] Ihr kommt genau richtig. Baine stellt gerade die Crockettore auf.«
»Crocket!« juchzte Tossie erfreut. »Was für ein Spaß!« und rannte ins Haus, um sich umzuziehen.
»Crocket?« sagte ich zu Verity, die zusah, wie Baine Pflöcke in den Rasen hämmerte.
»Das oder Rasentennis«, sagte Verity. »Was Sie aber, da Sie nicht vorbereitet wurden, wohl nicht spielen können.«
»Für Crocket bin ich ebensowenig vorbereitet«, erwiderte ich und betrachtete die gestreiften Schlaghölzer.
»Es ist ganz einfach«, sagte Verity und reichte mir einen gelben Ball. »Sie schlagen den Ball mit dem Stock durch die Tore. Wie verlief der Morgen?«
»Einst war ich Scout bei Buffalo Bill. Außerdem bin ich mit Pansy Chattisbourne verlobt.«
Verity lächelte nicht einmal. »Haben Sie etwas über Mr. C herausgefunden?«
»Elliot Chattisbourne kommt erst in acht Monaten nach Hause«, sagte ich und erklärte ihr, wie ich Tossie nach dem Burschen, den ich angeblich aus der Gegend hier kannte, ausgefragt hatte. »Sie hatte keine Ahnung, wen ich meinen könnte. Aber das ist nicht das Wichtigste, sondern…«
Tossie kam in einem rosa und weiß gestreiften pfefferminzfarbenen Matrosenkleid mit großer rosa Schleife über den Rasen gerannt, Prinzessin Arjumand im Arm. »Juju sieht so gern den Bällen zu«, erklärte sie und setzte die Katze auf den Boden.
»Und schlägt sie weg«, sagte Verity. »Mr. Henry und ich spielen zusammen. Und du und Mr. St. Trewes.«
»Mr. St. Trewes, wir spielen zusammen!« rief Tossie und eilte zu Terence, der Baine beriet.
»Ich dachte, wir sollten Terence und Tossie voneinander fernhalten.«
»Sollen wir auch«, sagte Verity. »Aber ich muß mit Ihnen reden.«
»Und ich mit Ihnen«, erwiderte ich. »Raten Sie mal, wenn ich bei den Chattisbournes getroffen habe? Finch.«
»Finch?« Sie schaute mich entgeistert an. »Dunworthys Sekretär?«
Ich nickte. »Er ist dort Butler.«
»Weshalb?«
»Das wollte er mir nicht sagen. Er erklärte, es handle sich um ein verwandtes Projekt und er dürfe mir nichts darüber sagen, um unser Projekt nicht zu gefährden.«
»Seid ihr soweit?« rief Tossie von den Pfosten herüber.
»Gleich«, rief Verity zurück. »Also gut. Das Spiel ist kinderleicht. Sie machen Punkte, indem Sie den Ball zweimal durch alle sechs Tore, die vier äußeren und die inneren schlagen, dann das Gleiche in umgekehrter Reihenfolge. Jede Ballberührung ist ein Schlag. Wenn Ihr Ball durchs Tor geht, dürfen Sie weiterschlagen. Wenn Sie einen anderen Ball treffen, bekommen Sie einen vollen Punkt und dürfen weiterspielen, aber wenn Ihr Ball mit einem Schlag durch zwei Tore geht, bekommen Sie nur einen weiteren zusätzlichen Versuch. Haben Sie einmal einen anderen Ball getroffen, dürfen Sie ihn erst wieder berühren, wenn Sie selbst durchs nächste Tor gekommen sind, ausgenommen davon ist das erste Tor. Wenn Sie den fremden Ball trotzdem treffen, müssen Sie aussetzen.«
»Fertig?« rief Tossie.
»Gleich! Hier ist die Spielfeldbegrenzung.« Sie zeigte mit ihrem Schläger darauf. »Norden, Süden, Osten und Westen. Hier ist die Mittellinie und dort die Außenlinie. Verstanden?«
»Absolut«, sagte ich. »Welche Farbe habe ich?«
»Rot. Sie beginnen an der Außenlinie.«
»Fertig?« rief Tossie. Verity nickte.
»Ich fange an.« Tossie beugte sich graziös nieder und legte ihren Ball ins Gras.
Konnte so etwas wirklich schwierig sein? Ich überlegte und beobachtete, wie Tossie ihren Schlag abmaß. Ein ehrenhaftes victorianisches Spiel, gespielt von Kindern und jungen Frauen in langen, schleppenden Kleidern auf saftig grünem Rasen. Ein zivilisiertes Spiel.
Tossie drehte sich um, lächelte Terence geziert an und schüttelte ihren Lockenkopf. »Ich hoffe, mir gelingt ein guter Schlag«, sagte sie und drosch den Ball mit solcher Wucht fort, daß er durch die ersten zwei Tore und über die Hälfte des Rasens schoß.
Sie lächelte, als sei sie selbst überrascht und fragte: »Habe ich noch einen Versuch?« Wieder drosch sie auf den Ball ein. Diesmal traf er beinahe Cyril, der sich im Schatten zu einem Schläfchen niedergelassen hatte.
»Bande«, sagte Tossie. »Der Ball hat seine Nase berührt.«
»Cyril besitzt keine Nase«, erwiderte Verity und legte ihren Ball eine Schlägerbreite hinter das erste Tor. »Ich komme dran.«
Sie drosch den Ball nicht so fest wie Tossie, aber ein Streicheln war es auch ebensowenig. Er schoß durch das erste Tor, und der nächste Versuch brachte ihn in nächste Nähe zu Tossies Ball.
»Sie sind dran, Mr. St. Trewes«, sagte Tossie und stellte sich so, daß ihr langer Rock ihren Ball bedeckte. Nachdem Terence geschlagen hatte, ging sie zu ihm hinüber, und ihr Ball lag nun ein ganzes Stück von Verity entfernt.
Ich ging zu Verity. »Sie schummelt«, sagte ich.
Verity nickte. »Ich konnte Tossies Tagebuch nicht finden.«
»Ich weiß. Sie hatte es dabei. Sie las den Chattisbournes die Beschreibung des Kleides vor.«
»Sie sind dran, Mr. Henry«, rief Tossie und lehnte sich auf ihren Schläger.
Verity hatte nichts über den richtigen Griff gesagt, und ich hatte den anderen nicht genau zugesehen. Ich legte meinen Ball neben das Tor und packte den Schläger wie ein Cricketholz.
»Fehler!« rief Tossie. »Mr. Henrys Ball liegt zu nahe am Tor. Sie haben einen Versuch verloren, Mr. Henry.«
»Nein«, sagte Verity. »Legen Sie Ihren Ball eine Schlägerweite entfernt vom Tor hin.«
Ich tat, wie geheißen und schlug dann den Ball mehr oder weniger in die gewünschte Richtung, wenn auch nicht durchs Tor.
»Jetzt komme ich«, sagte Tossie. Diesmal fegte sie Veritys Ball vom Spielfeld in die Hecke. »Entschuldigung«, zirpte sie betreten und tat das gleiche mit Terences Ball.
»Sagten Sie nicht, das wäre ein zivilisiertes Spiel?« Ich kroch unter die Hecke, um Veritys Ball hervorzuholen.
»Ich sagte, ›einfach‹.«
Ich hob den Ball auf.
»Tun Sie so, als suchten Sie noch«, flüsterte Verity. »Nachdem ich Tossies Zimmer durchsucht hatte, sprang ich nach Oxford.«
»Haben Sie etwas über Ihren Schlupfverlust herausgefunden?« Ich bog die Zweige auseinander.
»Nein«, sagte sie ernst. »Miss Warder war zu beschäftigt.«
Ich wolle gerade sagen, daß Miss Warder immer das Gefühl hatte, zu beschäftigt zu sein, als Verity hinzufügte: »Dieser neue Rekrut — ich weiß nicht, wie er heißt — der mit Ihnen und Carruthers zusammengearbeitet hat, steckt in der Vergangenheit fest.«
»Im Gemüsekürbisfeld?« Ich dachte an die Hunde.
»Nein, in Coventry. Er sollte zurückkommen, nachdem er den Schutt durchsucht hatte, aber er kam nicht.«
»Vielleicht konnte er das Netz nicht finden«, erwiderte ich und dachte daran, wie er mit der Taschenlampe herumgefummelt hatte.
»Das meint Carruthers auch, aber Dunworthy und T. J. befürchten, daß es mit der Inkonsequenz zu tun hat. Sie haben Carruthers auf die Suche nach ihm geschickt.«
»Du bist dran, Verity«, sagte Tossie ungeduldig. Sie kam zu uns herüber. »Haben Sie den Ball noch nicht gefunden?«
»Hier ist er«, rief ich und tauchte aus der Hecke auf, den Ball hochhaltend.
»Er traf dort auf«, sagte Tossie und zeigte mit ihrem Fuß auf eine Stelle, die ein gutes Stück weiter von der entfernt war, wohin sie ihn tatsächlich geschlagen hatte.
»Man meint, man spiele mit der Herzkönigin«, sagte ich und gab Verity den Ball.
Mein Bemühen während der nächsten drei Versuche bestand darin, meinen Ball auf Veritys Spielhälfte zu bekommen, ein Bemühen, das von »Ab-mit-dem-Kopf«-Tossie[57] mehrmals vereitelt wurde.
»Ich hab’s«, sagte ich und humpelte nach einem von Tossies Schlägen, mit dem sie Terences Ball direkt gegen mein Schienbein gedonnert hatte, zu Verity hinüber. Zu dieser Zeit hatte sich Cyril bereits erhoben und war zum entferntesten Ende des Rasens gewandert. »Mr. C ist der Doktor, der gerufen wird, um Tossies Crocketopfer zu verarzten. Was haben Sie sonst noch herausgefunden?«
Verity maß ihren nächsten Schlag sorgfältig ab. »Ich fand heraus, wen Terence heiratete.«
»Bitte, sagen Sie nicht Tossie«, flehte ich und rieb mir, auf dem gesunden Bein balancierend, mein Schienbein.
»Nein«, entgegnete sie und schoß den Ball millimetergenau durchs nächste Tor. »Nicht Tossie. Maud Peddick.«
»Das ist doch prima, oder?« sagte ich. »Das heißt, ich habe es doch nicht ganz vermasselt.«
Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus ihrer Schärpe und reichte es mir heimlich.
»Was ist das?« Ich steckte das Papier in meine Brusttasche. »Ein Auszug aus Mauds Tagebuch?«
»Nein. Wahrscheinlich ist Maud die einzige Frau des victorianischen Zeitalters, die kein Tagebuch führte. Es ist ein Brief, den Maud St. Trewes an ihre jüngere Schwester schrieb.«
»Ihr Ball, Mr. Henry«, rief Tossie.
»Der zweite Absatz«, sagte Verity.
Ich versetzte dem Ball einen heftigen Schlag, der ihn hinter Terences Ball und in den Flieder hineinbeförderte.
»So ein Pech«, sagte Terence.
»Ja.« Ich nickte und kroch zwischen die Fliedersträucher.
»Leb wohl, lieber Freund«, rief Terence fröhlich und schwenkte den Schläger. »›Leb wohl! Was wir auch hoffen, glauben, versprechen — Verzweiflung atmet jenes schicksalhafte Wort‹.«[58]
Ich fand den Ball, hob und ihn auf, kroch tiefer in den Flieder, wo er am dichtesten war, und faltete den Brief auseinander. Er war in einer zierlichen, filigranen Handschrift verfaßt. »Liebste Isabel«, las ich. »Ich freue mich so über Deine Verlobung. Robert ist ein so netter junger Mann, und ich hoffe sehr, daß Ihr beide genauso glücklich werdet wie Terence und ich es sind. Mach Dir keine Sorgen darüber, daß Du ihn vor der Tür zum Eisenwarenhändler kennengelernt hast — ein wahrhaft unromantischer Ort. Gräm Dich deshalb nicht. Mein lieber Terence und ich haben uns zum ersten Mal auf einem Bahnsteig gesehen, am Bahnhof von Oxford, wo ich mit Tante Amelia stand…«
Ich starrte auf den Brief. Der Bahnsteig in Oxford.
»… auch kein sehr romantischer Ort, aber ich wußte sofort, inmitten des ganzen Gepäcks und Lokomotivendampfs, daß Terence der richtige Mann für mich ist.«
Aber sie hatte ihn nicht getroffen. Ich war dort gewesen, und sie und Tante Amelia hatten eine Droschke bestellt und waren weggefahren.
»Kannst du ihn nicht finden?« rief Terence.
Ich faltete rasch den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche. »Hier ist er«, sagte ich und tauchte unter den Büschen hervor.
»Er lag dort«, sagte Tossie und zeigte mit ihrem Fuß auf einen völlig willkürlichen Fleck.
»Danke, Miss Mering.« Ich maß eine Schlägerbreite ab, legte den Ball ins Gras, und wollte ihn wegschlagen.
»Sie sind bereits fertig«, sagte Tossie und ging zu ihrem Ball. »Ich bin jetzt dran.« Sie versetzte ihrem Ball einen so kräftigen Schlag, daß er meinen direkt wieder zurück in den Flieder beförderte.
»Crocket«, sagte Tossie. »Zwei Schläge.«
»Ist sie nicht umwerfend?« fragte Terence und half mir, meinen Ball zu suchen.
Nein, dachte ich und selbst wenn sie es wäre, solltest du nicht in sie verliebt sein. In Maud solltest du verliebt sein. Am Bahnhof hättest du sie treffen sollen, und all das ist meine Schuld. Meine Schuld, meine Schuld.
»Mr. Henry, Sie sind dran«, drängte Tossie.
»Oh, ja.« Ich schlug blindlings nach dem nächstbesten Ball.
»Fehler, Mr. Henry«, sagte Tossie ungeduldig. »Sie sind raus.«
»Wie?«
»Sie sind raus, Mr. Henry. Sie haben diesen Ball schon einmal berührt. Sie dürfen ihn nicht noch mal berühren, bevor Sie nicht durch das Tor sind.«
»Aha.« Ich zielte nach dem Tor.
»Nicht das Tor!« Tossie schüttelte die blonden Locken. »Aus, weil Sie versucht haben, ein Tor umzustoßen.«
»Entschuldigung.« Ich versuchte, meine Augen zu fokussieren.
»Mr. Henry ist die amerikanische Spielweise gewöhnt«, sagte Verity.
Ich stellte mich neben sie und sah zu, wie Tossie erst Maß nahm und den Ball dann wie eine Billardkugel auf den Weg schickte, im Kopf kalkulierend, wie die Bälle gegeneinanderprallen und auseinanderstieben würden.
»Das ist sehr übel«, sagte Verity. »Einer ihrer Enkel war Pilot bei der Royal Air Force während der Schlacht um Großbritannien. Er flog den ersten Luftangriff auf Berlin.«
»Terence!« rief Tossie. »Diese Kreatur von Hund ist im Wege! Ich habe einen Doppelcrocket!«
Terence eilte gehorsam zu Cyril, um ihn aus der Bahn zu schieben. Tossie schaute die Schlägerlänge entlang, maß die Winkel, wo die Bälle kollidieren würden und überlegte die Möglichkeiten.
Ich stand da und schaute ihr zu. Verity brauchte nichts zu erklären. Ich wußte alles über diesen ersten Luftangriff. Er war im September 1940, mitten im Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien. Hitler hatte geschworen, daß keine britischen Bomben auf Deutschland fallen sollten und als sie es doch taten, hatte er die Bombardierung von London angeordnet. Und dann, im November, die von Coventry.
Tossie hob den Schläger. Ihr Ball traf meinen, schoß ihn fort, traf Veritys und sauste direkt durchs Tor.
Dieser Luftangriff hatte die Royal Air Force gerettet, die der deutschen Luftwaffe zahlenmäßig völlig unterlegen war. Wenn die Luftwaffe sich nicht auf die Bombardierung der Zivilbevölkerung geworfen hätte, wie sie es daraufhin tat, hätte sie die Luftschlacht um Großbritannien gewonnen. Und Hitler wäre einmarschiert.