»… jener seltsame Zwischenfall mit dem Hund mitten in der Nacht.«
»Aber der Hund bellte doch nachts gar nicht.«
»Das war ja das Seltsame«, murmelte Sherlock Holmes.
Eine Rettung • Warum man englischen Landhäusern nachsagt, daß es in ihnen spuke • Elizabeth Barrett Brownings Flucht vor ihrem Gatten • Besucher • Ein Geständnis • Das Geheimnis um Prinzessin Arjumands Ertrinken wird gelüftet • Mehr Besucher • Der Angriff der leichten Brigade • Die Gesetze der Detektivromane • Der am wenigsten Verdächtige • Eine unerfreuliche Entdeckung
Das Problem war Cyril. »Im Stall! Er hat noch nie draußen geschlafen«, sagte Terence, der offenbar die vergangene Nacht vergessen hatte. »Armer Cyril!« Seine Miene war verzweifelt. »Ins Dunkle hinaus gejagt! Zu Pferden!« Er durchmaß das Zimmer mit langen Schritten. »Es ist barbarisch, von ihm zu verlangen, draußen zu schlafen, nachdem er in den Fluß gefallen ist. Bei seiner Konstitution!«
»Konstitution?« fragte ich.
»Cyril ist empfindlich auf der Brust«, erklärte Terence. »Ein Hang zu Katarrhen.« Er hielt inne, um durch die Vorhänge zu spähen. »Wahrscheinlich hat er sich bereits eine Erkältung geholt. Wir müssen ihn ins Haus bringen.« Er ließ die Vorhänge zufallen. »Ich hätte gern, daß du ihn unbemerkt in dein Zimmer schmuggelst.«
»Ich?« fragte ich. »Warum kannst du ihn nicht in dein Zimmer bringen?«
»Mrs. Mering wird wegen mir auf der Lauer liegen. Ich hörte, wie sie dem Butler sagte, er solle aufpassen, daß dieses Vieh draußen schläft. —Vieh!«
»Und wie soll ich das bewerkstelligen?«
»Der Butler wird mich beobachten, nicht dich. Du hättest Cyrils Gesicht sehen sollen, als ich ihm sagte, er müsse im Stall bleiben. Als sei der Himmel für ihn eingestürzt. ›Et tu, Brute!‹«
»Na schön«, sagte ich. »Trotzdem weiß ich immer noch nicht, wie ich ihn an Baine vorbeischmuggeln könnte.«
»Ich werde nach Baine klingeln und nach einer heißen Schokolade verlangen. Dadurch ist er dir aus dem Weg. Du wärest wirklich ein Prachtkerl, wenn du mir hülfest, o bester Freund, unverhoffter Quell, der zwischen ödem Stein entspringt!«
Er öffnete die Tür, um nach beiden Seiten den Korridor entlangzuspähen. »Die Luft ist rein. Ich warte fünf Minuten ab, damit du deine Stiefel anziehen kannst, dann klingle ich nach der Schokolade. Falls Baine dich erwischt, kannst du ja einfach sagen, du seiest nach draußen gegangen, um zu rauchen.«
»Und wenn er mich beim Reinkommen erwischt, mit Cyril im Schlepptau?«
»Wird er nicht. Ich werde ihn noch um ein Glas Bordeaux bitten. Chateau Margaux, Jahrgang 75. Häuser wie dieses haben nie einen anständigen Weinkeller.«
Wieder schaute er nach rechts und links und schob sich dann seitwärts zur Tür hinaus, die er leise hinter sich schloß. Ich ging zum Bett zurück und betrachtete meine Socken.
Es ist nicht einfach, einen feuchten Socken anzuziehen, noch weniger einen durchweichten Stiefel darüber, zumal man dabei unwillkürlich etwas zögert. Ich brauchte über fünf Minuten zu beidem. Als ich losmarschierte, hoffte ich nur, daß der Weinkeller der Merings am entfernten Ende des Hauses lag.
Ich öffnete die Tür, die leise quietschte und lugte den Korridor hinunter, wo ich niemanden oder vielmehr nichts sah. Ich wünschte, ich hätte mehr darauf geachtet, wo die Möbel und Statuen standen.
Es war so finster, daß ich erwog, die Lampe mit dem Kristallgehänge mitzunehmen. Was war wohl schlimmer: von Mrs. Mering ertappt zu werden, wenn sie Licht sah oder nachdem ich die Laokoongruppe zerschmettert hatte?
Ich entschied mich fürs letztere. Falls die Dienstboten noch wach waren, wozu ich allen Grund sah, bei der Menge Tischtücher, die zu waschen und zu stärken waren, würden sie das Licht sehen und herauseilen, um mich zu fragen, ob Sir noch etwas wünsche. Außerdem gewöhnten sich meine Augen allmählich an die Dunkelheit, genug jedenfalls, daß ich die Umrisse des Korridors erkennen konnte. Wenn ich mich genau in der Mitte hielt, würde ich es schaffen.
Ich tastete mich zum Treppenabsatz, wobei ich über den großen Farn stolperte, der heftig auf seinem Podest schaukelte, bis ich ihn endlich wieder gerade gerichtet hatte, und über etwas, das sich als Paar Schuhe erwies.
Den Rest des Weges zur Treppe grübelte ich über sie nach und wäre dabei beinahe über ein weiteres Paar gefallen, Tossies zierliche weiße Schnürstiefel. Da erinnerte ich mich daran, daß die Sublimationskassetten etwas von Menschen erzählt hatten, die ihre Schuhe nachts vor die Zimmertür stellten, damit die Bediensteten sie säubern konnten. Zweifellos nachdem diese das Tischtücherwaschen, Schokolade zubereiten und Tauchen in der Themse, um Strohhüte herauszufischen, hinter sich hatten.
Hier an der Treppe war es heller. Vorsichtig stieg ich die Stufen hinab. Die vierte Stufe knirschte laut, und als ich besorgt hinter mich schaute, sah ich Lady Schrapnell, die mich oben vom Treppenabsatz herab anstarrte.
Mein Herz setzte aus.
Als es wieder zu pochen begann, bemerkte ich ihre Halskrause und die lange betonte Taille, und mir fiel ein, daß Lady Schrapnell immer noch sicher auf der Anderen Seite war und dies hier eine der elisabethanischen Vorfahren der Merings sein mußte. Kein Wunder, daß man victorianischen Häuser nachsagte, daß es in ihnen spuke.
Der übrige Weg gestaltete sich einfach, bis auf den Moment an der Eingangstür, als ich befürchtete, sie sei verschlossen und ich müsse durch das Labyrinth im Wohnzimmer zu den Verandatüren schleichen. Die Tür war jedoch nur verriegelt und quietschte kaum, als ich den Riegel zurückschob. Draußen schien der Mond.
Ich hatte keine Ahnung, welches der Gebäude, die weiß im Mondlicht schimmerten, der Pferdestall war. Ich versuchte es in einem Geräteschuppen und bei etwas, das sich als Hühnerstall herausstellte, bis mir schließlich das Wiehern der Pferde, die ohne Zweifel vom Gegacker der Hühner geweckt worden waren, die Richtung wies.
Cyril schaute mich so überwältigt vor Glück an, daß mich die Flüche reuten, die ich bereits im Stillen für Terence geübt hatte. »Komm, alter Bursche«, sagte ich. »Du mußt aber mucksmäuschenstill sein. Wie Flush, als Elizabeth Browning mit ihm vor ihrem Ehemann türmte.«
Was sich ungefähr zu dieser Zeit abgespielt haben mußte. Ich fragte mich, wie sie es bewerkstelligt hatte, die Treppe hinunter aus einem stockfinsteren Haus zu schleichen, ohne sich dabei umzubringen. Und dabei noch einen Koffer und einen Cockerspaniel zu tragen. Langsam bekam ich einen Heidenrespekt vor den Victorianern.
Cyrils Version von Schweigen bestand in schwerem, von gelegentlichem Schnauben unterbrochenem Atmen. Auf halbem Weg die Stufen hoch blieb er wie angewurzelt stehen und starrte nach oben.
»Alles in Ordnung«, sagte ich und drängte ihn weiter. »Es ist nur ein Gemälde. Nichts, vor dem man sich fürchten müßte. Paß auf den Farn auf.«
Wir schafften es, ohne Zwischenfall den Korridor entlang und in mein Zimmer zu kommen. Ich schloß die Tür und lehnte mich dankbar dagegen. »Braver Junge. Flush wäre stolz auf dich«, sagte ich und sah, daß er einen schwarzen Stiefel im Maul trug, den er offenbar im Korridor aufgelesen hatte. »Nein!« riefich und wollte den Stiefel packen. »Gib her!«
Bulldoggen wurden eigentlich dazu gezüchtet, eine Stiernase zu packen und sich darin zu verbeißen, als ginge es ums liebe Leben. Dieser Instinkt hatte sich erhalten. Mein Ziehen und Zerren blieb ohne Erfolg. Ich ließ den Stiefel los. »Laß den Stiefel fallen«, befahl ich, »oder ich bringe dich schnurstracks in den Stall zurück.«
Er schaute mich bedächtig an, den Stiefel mitsamt baumelnden Schnürsenkeln im Maul hängend.
»Ich meine es ernst«, sagte ich. »Von mir aus kannst du dir einen Katarrh holen. Oder eine Lungenentzündung.«
Cyril überlegte noch einen Moment, dann ließ er den Stiefel fallen. Er legte sich so auf den Boden, daß seine platte Nase das Leder gerade noch berührte. Ich schnappte den Stiefel und hoffte, er gehörte Professor Peddick, der die Zahnabdrücke daran nie im Leben bemerken oder Terence, dem es recht geschehen würde. Es war ein Frauenschuh. Und er gehörte nicht Verity. Sie hatte weiße Stiefel getragen wie Tossie.
»Er gehört Mrs. Mering«, rief ich und hielt den Stiefel anklagend hoch.
Cyril beantwortete das, indem er sich aufmerksam und spielbereit auf die Hinterläufe setzte.
»Das ist kein Spaß!« sagte ich. »Guck dir den Stiefel an!«
Im Grunde jedoch hatte dieser, bis auf eine beträchtliche Ladung Speichel, die an ihm herabtroff, keinen größeren Schaden davongetragen. Ich wischte ihn an meinem Hosenbein ab, dann öffnete ich die Tür. »Platz!« befahl ich Cyril und machte mich auf, den Stiefel zurückzubringen.
Ich hatte keine Ahnung, welches Mrs. Merings Zimmertür war und keine Möglichkeit zu erkennen, wo ein Schuh fehlte, geblendet wie ich war, als ich aus meinem Zimmer trat. Und keine Zeit, meine Augen an die Finsternis zu gewöhnen. Und kein Verlangen, von Mrs. Mering erwischt zu werden, während ich auf allen vieren den Korridor entlangkroch.
Ich ging ins Zimmer zurück, holte die Lampe und leuchtete damit den Korridor aus, bis ich eine Zimmertür sah, vor der nur ein Stiefel stand. Die zweite ganz hinten. Und dazwischen stand die Laokoonstatue, Darwin und ein Pappmache-Tisch mit einem großen Farn darauf.
Ich duckte mich ins Zimmer zurück und stellte die Lampe wieder an ihren Platz. Dann nahm ich den Stiefel und öffnete wieder die Tür.
»… und ich sage dir, da war ein Licht«, sagte eine Stimme, die nur zu Mrs. Mering gehören konnte. »Ein gespenstisches, schwebendes, ätherisches Licht. Ein Geisterlicht, Mesiel! Steh auf!«
Ich schloß die Tür, blies die Lampe aus und kroch zum Bett. Cyril lag darin, bequem zwischen die Kissen gebettet. »Das ist alles deine Schuld«, flüsterte ich. Dann merkte ich, daß ich immer noch Mrs. Merings Schuh in der Hand hielt.
Ich stopfte ihn unter die Decke, entschied dann aber, daß das wirklich belastend wirken würde, wollte ihn gerade unters Bett schieben, aber dann fiel mir etwas Besseres ein, und ich steckte ihn zwischen die Sprungfedern und die Federmatratze. Im Dunkeln sitzend versuchte ich herauszufinden, was vor sich ging. Cyrils Schnarchen übertönte alle anderen Geräusche, und ich hörte keine Türen gehen und sah auch kein Licht unter meiner Türritze.
Ich wartete noch ein paar Minuten, zog dann meine Stiefel aus und schlich auf Zehenspitzen zur Tür, um sie einen Spalt zu öffnen. Dunkelheit und Stille. Ich tappte zum Bett zurück, wobei ich mir den großen Zeh am Spiegel anstieß und mein Schienbein am Nachttisch, zündete die Lampe wieder an und machte mich bereit, ins Bett zu gehen.
Die letzten Minuten schienen das letzte, was mir noch an Kraft verblieben war, aufgebraucht zu haben, aber trotzdem zog ich mich langsam und sorgfältig aus, prägte mir ein, wie Kragen und Hosenträger befestigt waren und betrachtete die Krawatte, während ich sie auszog, im Spiegel, so daß ich sie am nächsten Morgen mehr oder weniger genauso gut wieder binden konnte. Nicht, daß das noch nötig sein würde. Ich würde mir sowieso beim Rasieren die Kehle durchschneiden. Oder vorher als Dieb und Fußfetischist entlarvt werden.
Ich zog meine immer noch feuchten Socken aus, legte sie auf den Nachttisch und stieg ins Bett. Die Sprungfedern gaben nach, die mit Federn gefüllte Matratze sackte ein, die Laken waren kalt, und Cyril hatte sämtliche Decken. Es war ein herrliches Gefühl.
Schlaf, Mutter Naturs sanfte Heilerin, honigsüßer Tau heiliger Ruhe, Linderer alles Leidens, süßer, gesegneter entwirrender Schlaf.
Es klopfte an der Tür.
Mrs. Mering, dachte ich, die nach ihrem Stiefel sucht. Oder Geister. Oder der Colonel, den sie aus dem Bett hochgescheucht hat.
Aber unter der Türritze schimmerte kein Licht, und das Klopfen, das sich wiederholte, war zu leise. Terence, dachte ich, der Cyril holen will, jetzt, nachdem die ganze Arbeit getan ist.
Für den Fall, daß er es doch nicht war, entzündete ich die Lampe, zog den Morgenmantel an und warf die Überdecke über Cyril. Dann ging ich zur Tür und öffnete sie. Verity stand davor. Im Nachthemd.
»Was machen Sie hier?« flüsterte ich. »Wir sind im victorianischen Zeitalter.«
»Weiß ich«, flüsterte sie zurück und drückte sich an mir vorbei ins Zimmer. »Aber ich muß unbedingt mit Ihnen sprechen, bevor ich Dunworthy morgen Bericht erstatte.«
»Und wenn jemand hereinkommt?« Ich schaute auf ihr weißes Nachthemd. Es war schicklich, mit langen Ärmeln und hochgeschlossenem Kragen, der hinten geknöpft war, aber ich nahm nicht an, daß Terence das überzeugen würde. Oder den Butler. Oder Mrs. Mering.
»Es kommt keiner herein«, erwiderte Verity und setzte sich aufs Bett. »Alle sind zu Bett gegangen. Und die Wände in diesen alten Häusern sind zu dick, als daß uns jemand hören könnte.«
»Terence war bereits da«, sagte ich. »Und Baine auch.«
»Was wollte der denn?«
»Mir sagen, daß er das Gepäck nicht hatte retten können. Und Terence wollte, daß ich Cyril aus dem Pferdestall herausschmuggle.«
Bei der Erwähnung seines Namens schob sich Cyril aus den Decken und blinzelte schläfrig.
»Hallo, Cyril«, sagte Verity und tätschelte ihn. Er legte den Kopf in ihren Schoß.
»Und wenn Terence kommt, um nach ihm zu sehen?« fragte ich.
»Dann verstecke ich mich«, sagte sie gelassen. »Sie ahnen ja nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen, Ned.« Sie lächelte zu mir hoch. »Als wir von Madame Iritosky zurückkamen, merkte ich, daß Prinzessin Arjumand immer noch nicht hier war, und als ich letzte Nacht versuchte, Dunworthy Bescheid zu sagen, erwischte mich Mrs. Mering auf meinem Weg zum Pavillon. Ich überzeugte sie davon, daß ich einen Geist gesehen hätte und ihm nachjagte, worauf sie das ganze Haus alarmierte und das Grundstück absuchen ließ. Also konnte ich nicht springen und habe keine Ahnung, was nun eigentlich passiert ist.«
Es war wirklich Pech. Die Naiade saß im Nachthemd auf meinem Bett, das prärafaelitische nußbraune Haar offen über ihren Rücken fallend. Sie war hier, lächelte zu mir auf, und mir blieb nichts anderes übrig, als alles zu ruinieren. Je eher ich es hinter mich brachte, um so besser.
»Und heute morgen«, sagte sie gerade, »mußte ich Tossie in die Kirche begleiten und dann…«
»Ich habe die Katze mitgebracht«, sagte ich. »Sie war in meinem Gepäck. Dunworthy hat mir sicher davon erzählt, aber ich war zu erschöpft, um es zu verstehen. Sie war die ganze Zeit über bei mir.«
»Ich weiß«, sagte Verity.
»Was?« Ich fragte mich, ob ich wieder Hörschwierigkeiten hatte.
»Ich weiß. Ich war heute nachmittag bei Dunworthy, und er sagte es mir.«
»Aber…« Ich versuchte, zwei und zwei zusammenzuzählen. Wenn sie heute nachmittag im Jahre 2057 gewesen war, dann war dieses strahlende Lächeln…
»Ich hätte es wissen müssen, als ich Sie in Iffley sah«, sagte sie. »Historiker in Urlaub zu schicken, ist nicht Dunworthys Stil, besonders nicht mit Lady Schrapnell im Nacken, zwei Wochen vor der Einweihung.«
»Ich wußte nicht, daß ich die Katze bei mir hatte«, antwortete ich. »Kurz nach Iffley suchte ich nach einem Büchsenöffner. Sie sagten zwar, ich sollte Terence von Muchings End fernhalten, aber es erschien mir wichtiger, die Katze zurückzubringen. Ich hatte vor, in Streatley in einem Gasthof Station zu machen und mich nachts mit der Katze heimlich wegzuschleichen, aber Terence bestand darauf, hierher zu rudern. Dann fing die Katze an zu miauen, und Cyril schnupperte an dem Korb, und dann fiel er ins Wasser und das Boot kenterte und… den Rest wissen Sie ja selbst«, schloß ich lahm. »Ich hoffe, ich tat das Richtige.«
Verity biß sich mit sorgenvollem Blick auf die Lippen.
»Wie? Denken Sie nicht, es war das Beste, die Katze zurückzubringen?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich dachte, ich solle sie zurückbringen, bevor irgendwelche Konsequenzen aus ihrem Verschwinden entstehen.«
»Ich weiß.« Sie schaute wirklich bedrückt. »Die Sache ist bloß, daß Sie sie überhaupt nicht hätten mitnehmen dürfen.«
»Was?«
»Als Dunworthy von den Schlupfverlusten in Coventry erfuhr, sagte er den Sprung ab.«
»Ich sollte Prinzessin Arjumand nicht durchbringen?« fragte ich. »Aber… aber Sie sagten doch, der Verlust in Coventry hätte keinen Zusammenhang mit uns. Er käme daher, daß Coventry ein Krisenpunkt sei.«
»Das stimmt auch. Während sie das überprüften, verglich T. J. die Muster der Schlupfverluste mit Fujisakis Forschungen, und man kam zu dem Schluß, daß das Fehlen jeglichen Verlustes um die Stelle des ursprünglichen Sprungs herum bedeutete, daß es sich um ein völlig unwichtiges Ereignis handele.«
»Aber das ist unmöglich. Lebendige Geschöpfe sind nie unwichtig.«
»Stimmt«, erwiderte sie grimmig. »Ihrer Meinung nach ist Prinzessin Arjumand kein lebendiges Geschöpf. Ihrer Meinung nach war sie dazu bestimmt, ertränkt zu werden.«
Das ergab keinen Sinn. »Aber selbst wenn sie ertränkt würde, wäre ihr Körper immer noch mit dem Kontinuum verbunden. Er würde nicht einfach verschwinden.«
»Fujisakis Forschungen drehen sich um diesen Punkt. Der Körper würde auf seine Grundkomponenten reduziert werden und die Komplexität seiner separaten Interaktionen entsprechend sinken.«
Was hieß, ihr armer Körper würde die Themse hinunterschwimmen, sich in Kohlenstoff und Kalzium auflösen und mit nichts anderem mehr interagieren als mit dem Flußwasser und hungrigen Fischen. Asche zu Asche. Staub zu Bedeutungslosigkeit.
»Das würde es für sie ermöglichen«, fuhr Verity fort, »von ihrem Platz im Raumzeitgefüge entfernt zu werden, ohne die Geschichte zu beeinflussen. Und es bedeutet, daß sie überhaupt nicht aus der Zukunft wieder zurückgeschickt werden muß.«
»Also haben Sie keine Inkonsequenz erzeugt, als Sie sie mit durchs Netz brachten«, sagte ich. »Aber ich, indem ich sie zurückbrachte.«
Verity nickte. »Als Sie nicht kamen, befürchtete ich, man hätte Ihnen Finch oder sonstwen nachgeschickt, um Ihnen aufzutragen, die Katze zu ertränken.«
»Nein!« sagte ich. »Keiner ertränkt hier irgendwen.«
Sie beschenkte mich mit einem ihrer umwerfenden Lächeln.
»Wenn sie so unwichtig ist, werden wir sie wieder mit in die Zukunft nehmen«, sagte ich bestimmt. »Wir werden sie nicht ersäufen. Trotzdem ergibt das Ganze keinen Sinn«, sagte ich, weil mir etwas einfiel. »Prinzessin Arjumands Tod im Wasser, falls es das war, was ursprünglich passieren sollte, hätte eine Menge Konsequenzen nach sich gezogen und zwar dieselben wie ihr Verschwinden — alle hätten nach ihr gesucht, man wäre nach Oxford aufgebrochen, Tossie hätte Terence getroffen.«
»Das versuchte ich Dunworthy auch begreiflich zu machen«, erwiderte Verity. »Aber T. J. meinte, nach Fujisakis Ansicht wären das nur kurzfristige Konsequenzen gewesen, ohne geschichtliche Rückwirkung.«
»Mit anderen Worten, sie hätten die Katze bald vergessen, wenn ich nicht jetzt wieder mit ihr hereingekommen wäre.«
»Und Sie wären nicht mir ihr hereingekommen, wenn ich mich nicht eingemischt hätte«, sagte Verity reuevoll.
»Aber Sie konnten nicht einfach zusehen, wie sie ertrinkt«, sagte ich.
»Nein. Das konnte ich nicht. Und was geschehen ist, ist geschehen. Ich muß Dunworthy alles erzählen und herausfinden, was wir als nächstes tun sollen.«
»Was ist mit dem Tagebuch?« fragte ich. »Wenn es darin nach dem siebten Juni Hinweise auf die Katze gibt, hieße das, daß sie nicht ertrunken ist. Könnte Ihre Gerichtsmedizinerin nicht nach dem Namen suchen?«
Verity machte ein unglückliches Gesicht. »Das hat sie bereits. Die Anordnung der Buchstaben — zwei sehr lange Wörter, die mit Großbuchstaben beginnen — könnte stimmen, aber diese Hinweise stammen aus den Tagen, die dem Verschwinden unmittelbar folgten, und unsere Expertin war noch nicht imstande, die Wörter zu entziffern. Dunworthy meint, es könnten auch einfach Hinweise auf das Verschwinden der Katze oder die Tatsache sein, daß sie ertrunken ist.«
Verity erhob sich. »Ich begeb’ mich am besten zu Dunworthy. Was geschah, nachdem Sie bemerkten, daß Prinzessin Arjumand bei Ihnen ist? Wann entdeckten Terence und Professor Peddick, daß Sie die Katze hatten?«
»Gar nicht«, entgegnete ich. »Ich hielt sie, bis wir hierherkamen, in einer Reisetasche versteckt. Terence glaubt, sie wäre hier am Ufer gewesen, als wir…« — ich wollte sagen anlegten, aber das war nicht das richtige Wort — »wir ankamen.«
»Und sonst sah sie keiner?«
»Ich weiß es nicht genau«, gestand ich. »Sie lief zweimal weg. Einmal im Wald und einmal in Abingdon.«
»Sie entwischte aus der Reisetasche?«
»Nein. Ich ließ sie heraus.«
»Sie ließen sie heraus?«
»Ich dachte, sie sei zahm«, sagte ich.
»Zahm?« Veritys Stimme klang amüsiert. »Eine Katze?« Sie schaute auf Cyril. »Hast du’s ihm denn nicht gesagt?« Dann schaute sie zu mir. »Sie sahen aber nicht, daß die Katze mit irgend jemandem zusammentraf?«
»Nein.«
»Das ist gut. Seitdem wir nach Muchings End zurückgekehrt sind, hat Tossie keine weiteren fremden jungen Männer getroffen, deren Namen anders als mit C beginnt.«
»Und Mr. C selbst tauchte wohl auch nicht auf«, sagte ich.
»Nein.« Verity runzelte die Stirn. »Und ich konnte auch keinen Blick in Tossies Tagebuch werfen. Deshalb muß ich unbedingt zu Dunworthy. Vielleicht ist es der Gerichtsmedizinerin inzwischen gelungen, den Namen zu entziffern. Oder einen der Hinweise auf Prinzessin Arjumand. Und ich muß ihm sagen, daß sie wieder hier ist und…«
»Sie müssen ihm noch etwas sagen.«
»Professor Mering und sein zufälliges Zusammentreffen mit Colonel Mering? Ich habe bereits daran gedacht.«
»Nein«, sagte ich. »Etwas anderes. Durch meine Schuld versäumte es Terence, Professor Peddicks Nichte zu treffen.« Ich erzählte, was am Bahnhof geschehen war.
Verity nickte. »Ich werde es Dunworthy sagen. Begegnungen…«
Es klopfte an der Tür.
Verity und ich erstarrten. »Ja?« fragte ich.
»Hier ist Baine, Sir.«
»Kann ich ihm sagen, daß er weggehen soll?« fragte ich Verity fast lautlos.
»Nein«, flüsterte sie zurück, warf die Bettdecken über Cyril und schickte sich an, unters Bett zu kriechen.
Ich packte ihren Arm und flüsterte: »Der Kleiderschrank.«
»Sofort, Baine«, rief ich. »Eine Sekunde«, öffnete die Türen des Schrankes, und Verity schlüpfte hinein. Ich schloß die Tür, öffnete sie noch einmal, schob den Zipfel von Veritys Nachthemd hinterher und schloß die Tür wieder. Dann vergewisserte ich mich, daß kein Teil von Cyril unter den Bettdecken hervorschaute, postierte mich vor das Bett und rief: »Herein.«
Baine öffnete die Tür, einen Stoß Hemden im Arm. »Ihr Boot wurde gefunden, Sir«, sagte er und ging geradewegs auf den Schrank zu.
Ich vertrat ihm den Weg. »Sind das meine Hemden?«
»Nein, Sir«, erwiderte er. »Ich lieh sie von den Chattisbournes, deren Sohn in Südafrika ist, solange, bis Ihre eigenen Sachen geschickt worden sind.«
Meine eigenen Sachen. Und von wo aus bitte sollten meine eigenen Sachen geschickt werden? Doch ich hatte dringendere Probleme. »Legen Sie die Hemden in die Kommode«, sagte ich, immer noch zwischen ihm und dem Schrank stehend.
»Sehr wohl, Sir.« Baine sortierte die Hemden sorgfältig in die obere Schublade. »Ich habe auch eine Garnitur Abendkleidung und einen Tweedanzug besorgt, reinigen und für Ihre Größe ändern lassen. Sie werden morgen früh fertig sein, Sir.«
»Gut«, sagte ich. »Danke, Baine.«
»Ja, Sir.« Er verließ das Zimmer ohne weitere Aufforderung.
»Das war aber nahe…« begann ich, als er mit einem Tablett zurückkam, auf dem eine Porzellantasse, ein silbernes Kännchen und ein kleiner Teller mit Biskuits stand.
»Ich dachte, etwas Schokolade wäre angenehm, Sir.«
»Danke, Baine.«
»Im Schrank sind noch zusätzliche Decken, Sir. Soll ich eine aufs Bett legen?«
»Nein!« Wieder stellte ich mich zwischen den Schrank und ihn. »Danke. Das ist alles, Baine.«
»Ja, Sir«, sagte er, ging aber nicht. »Sir«, sagte er nervös, »wenn ich da noch etwas sagen dürfte…«
Entweder wußte er, daß Verity im Kleiderschrank steckte oder daß ich ein Betrüger bin, dachte ich. Oder beides.
»Ja, was ist?«
»Ich… ich wollte nur sagen…« — wieder zögerte er nervös, und ich merkte, wie bleich und hager er aussah —,»… wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie Prinzessin Arjumand zurückgebracht haben.«
Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. »Dankbar?« wiederholte ich verblüfft.
»Ja, Sir. Mr. St. Trewes sagte mir, daß Sie derjenige waren, der sie gefunden hat, nachdem Ihr Boot kenterte und Sie ans Ufer geschwommen waren. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für unverschämt Sir, aber Miss Mering hängt außerordentlich an ihrer Katze, und ich hätte mir niemals vergeben, wenn Prinzessin Arjumand etwas geschehen wäre.« Wieder zögerte er mit unruhigem Blick. »Es war nämlich meine Schuld.«
»Ihre Schuld?« fragte ich verständnislos.
»Ja, Sir. Wissen Sie, Colonel Mering sammelt Fische. Aus dem Orient. Er hält sie in einem Teich im Steingarten.«
»Ah, ja«, sagte ich und hoffte, daß die Symptome der Zeitkrankheit nicht gerade wieder erneut bei mir ausbrachen. Ich konnte keinen Zusammenhang entdecken.
»Ja, Sir. Prinzessin Arjumand hat die unglückselige Angewohnheit, Colonel Merings Fische zu fangen und zu fressen, gleichgültig, wie sehr ich sie auch davon abzuhalten versuche. Katzen sind, wie Sie wissen, unbeeindruckt von Drohungen.«
»O ja«, sagte ich. »Und von Bitten und Betteln und…«
»Die einzige disziplinarische Maßnahme, die bei Prinzessin Arjumand Wirkung zeigt, ist…«
Plötzlich dämmerte es mir. »Sie in den Fluß zu werfen«, sagte ich.
Aus dem Kleiderschrank kam ein Ton wie ein Aufstöhnen, aber Baine schien es nicht zu hören. »Ja, Sir«, sagte er. »Das heilt sie natürlich nicht von ihrer Vorliebe. Man muß die Maßnahme ungefähr einmal pro Monat wiederholen. Ich werfe sie nur ein kurzes Stück hinaus. Katzen können recht gut schwimmen, wenn sie dazu gezwungen sind. Besser als Hunde. Dieses Mal aber gelangte sie offenbar in die Strömung und…« Er verbarg das Gesicht in den Händen. »Ich fürchtete, sie sei ertrunken«, sagte er verzweifelt.
»Na, na.« Ich nahm ihn am Arm und half ihm zu dem mit Chintz bespannten Stuhl. »Setzen Sie sich. Sie ist nicht ertrunken. Es geht ihr ausgezeichnet.«
»Sie fraß die silberne Kaiserpfauentaube des Colonel. Ein extrem seltener Fisch. Der Colonel hatte ihn sich mit dem Schiff aus Honshu kommen lassen, unter großen Kosten«, sagte er gequält. »Er war erst am Vortag eingetroffen. Und da hockte Prinzessin Arjumand neben der Rückenflosse und leckte sich genüßlich ihre Pfote, und als ich rief: ›Oh, Prinzessin Arjumand! Was hast du getan?‹ schaute sie mich mit einem Blick reinster Unschuld an. Ich fürchte, ich verlor die Beherrschung.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich.
»Nein.« Baine schüttelte den Kopf. »Ich trug sie zum Fluß hinunter und schleuderte sie, so fest ich konnte, aufs Wasser hinaus und ging fort. Als ich zurückkam…« — wieder verbarg er das Gesicht in den Händen —, »war nichts mehr von ihr zu sehen. Ich suchte überall. In diesen vergangenen vier Tagen fühlte ich mich wie Dostojewskis Raskalnikov, unfähig, mein Verbrechen zu gestehen, zermartert von Schuld über meinen Mord an einer unschuldigen Kreatur…«
»Na ja, nicht ganz unschuldig«, warf ich ein. »Sie fraß die silberne Kaiserpfauentaube.«
Baine hörte mich nicht einmal. »Die Strömung muß sie weggetrieben haben, und sie kam weiter unten, stromabwärts, erst ans Ufer, naß, verirrt…«
»Und den Bauch voll Pfauentaube«, sagte ich, um ihn davon abzuhalten, das Gesicht erneut in den Händen zu verbergen. Und doppelkiemigem Döbel, dachte ich.
»Ich tat kein Auge zu. Ich merkte, daß ich… ich wußte, daß Miss Mering es mir nie vergeben würde, wenn ihrer geliebten Katze etwas passiert wäre, aber ich fürchtete, gutherzig wie sie ist, würde sie es vielleicht doch tun, und ich wäre im Leben nicht imstande gewesen, ihre Vergebung zu ertragen oder mir selbst zu verzeihen. Doch ich wußte, daß ich es ihr würde sagen müssen und hatte es mir für heute abend vorgenommen, nach der Seance. Und dann öffneten sich die Verandatüren, und ein Wunder geschah. Prinzessin Arjumand war da, sicher zurückgekehrt, dank Ihnen!« Er ergriff meine Hände. »Ich bin Ihnen so dankbar, Sir! Tausend Dank!«
»Schon gut«, sagte ich und entzog ihm meine Hände, bevor er auf die Idee kommen konnte, sie vielleicht mit Küssen zu bedecken. »Es war mir eine Freude.«
»Prinzessin Arjumand hätte verhungern können oder erfrieren oder von wilden Hunden zerrissen werden oder…«
»Grämen Sie sich nicht über Dinge, die nicht passiert sind«, sagte ich. »Sie ist sicher nach Hause zurückgekehrt.«
»Ja, Sir«, sagte er mit einem Blick, als wolle er meine Hände erneut ergreifen.
Ich versteckte sie hinter meinem Rücken.
»Wenn es etwas gibt, irgend etwas, womit ich Ihnen einen Gefallen tun kann und meine Dankbarkeit zeigen, würde ich es auf der Stelle tun.«
»Ja, gut«, sagte ich. »Vielen Dank, Baine.«
»Nein, ich habe Ihnen zu danken, Sir«, erwiderte er, zog meine Hände hinter meinem Rücken hervor und schüttelte sie kräftig. »Und vielen Dank, daß Sie mich angehört haben. Ich hoffe, ich habe nicht ungebührlich gesprochen, Sir.«
»Keineswegs«, sagte ich. »Ich bin froh, daß Sie mir das erzählt haben.«
Baine erhob sich und zog seine Rockschöße gerade. »Soll ich Ihre Jacke und Ihre Hosen für Sie aufbügeln, Sir?« fragte er, langsam Haltung zurückgewinnend.
»Nein, ist schon gut«, entgegnete ich mit dem Gedanken, daß ich diese Dinge, so wie es ausschaute, vielleicht bald wieder brauchen würde. »Sie können sie später bügeln.«
»Sehr wohl, Sir. Kann ich sonst noch etwas für. Sie tun?«
»Nein«, sagte ich. »Danke, Baine. Und gute Nacht. Ruhen Sie sich etwas aus. Und machen Sie sich keine Sorgen mehr. Prinzessin Arjumand ist wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt. Es ist kein Schaden aus der Angelegenheit entstanden.« Hoffte ich zumindest.
»Ja, Sir«, sagte er. »Gute Nacht, Sir.«
Ich öffnete die Tür, um ihn hinauszulassen und hielt sie einen Spalt geöffnet, um ihn zu beobachten, bis er die Tür zu den Dienstbotengemächern erreicht hatte und dahinter verschwunden war. Dann ging ich zum Kleiderschrank und klopfte leise.
Niemand antwortete.
»Verity?« fragte ich und zog die Doppeltüren auf. Sie saß zusammengekauert hinten im Schrank, die Knie ans Kinn gezogen. »Verity?«
»Er wollte sie gar nicht ersäufen«, sagte sie und schaute zu mir hoch. »Dunworthy sagte, ich hätte nachdenken sollen, bevor ich handelte. Baine wäre zurückgekommen und hätte die Katze gerettet, wenn ich mich nicht eingemischt hätte.«
»Aber das sind doch gute Neuigkeiten. Es bedeutet, daß sie kein unwichtiger Zwischenfall war und daß die Tatsache, daß ich sie zurückgebracht habe, keine Inkonsequenz erzeugt hat.«
Verity nickte, aber ohne Überzeugung. »Schon möglich. Aber wenn Baine sie gerettet hätte, wäre sie nicht vier Tage verschwunden gewesen. Sie wären nicht zu Madame Iritosky gefahren, und Tossie hätte Terence nie kennengelernt.« Sie kroch aus dem Schrank und ging zur Tür. »Ich muß es Dunworthy sofort sagen. Ich komme so schnell ich kann, wieder zurück und gebe Ihnen Bescheid.«
Sie legte die Hand auf den Türknauf. »Ich klopfe nicht an«, flüsterte sie. »Wenn Mrs. Mering es klopfen hört, meint sie vielleicht, es seien Geister. Ich kratze an der Tür.« Sie machte es vor. »Ich werde bald wieder da sein.« Damit öffnete sie die Tür.
»Einen Moment noch«, sagte ich, holte Mrs. Merings Stiefel unter der Matratze hervor und warf ihn Verity zu. »Bitte, stellen Sie ihn vor Mrs. Merings Tür.«
Sie fing den Stiefel auf. »Ich erspare Ihnen nähere Fragen«, sagte sie süffisant lächelnd und schlüpfte aus der Tür.
Ich hörte weder umstürzende Statuen noch den Schrei: »Geister!« aus Mrs. Merings Zimmer. Nach einer Minute setzte mich in den Sessel und wartete. Und machte mir Gedanken.
Also, ich sollte die Katze eigentlich nicht zurückbringen. Jetzt erinnerte ich mich, daß Dunworthy gesagt hatte: »Warten Sie hier!«, aber ich hatte gedacht, er wolle mich davon abhalten, das Labor zu verlassen.
Und damit hätte nicht zum ersten Mal ein Fehler in der Kommunikation den Lauf der Geschichte beeinflußt. Wenn man auf die unzähligen Male schaute, wo eine Nachricht falsch verstanden wurde oder nicht durchgegeben werden konnte oder in die falschen Hände geriet und dadurch der Ausgang einer Schlacht entschieden wurde! General Lees Pläne für Antietam, die er zufällig fallenließ, oder das Telegramm von Zimmerman oder Napoleons unverständliche Befehle an General Ney bei Waterloo. Oder Hitlers Migräne am Tag, als die Alliierten in der Normandie landeten.
Ich wünschte, mir würde eine Begebenheit einfallen, wo ein Kommunikationsbruch etwas anderes als katastrophale Folgen gehabt hatte, war mir aber nicht sicher, ob es überhaupt eine solche gab. Nehme man bloß den Angriff der leichten Brigade!
Lord Raglan hatte von einem Hügel aus gesehen, wie sich die Russen mit erbeuteter türkischer Artillerie zurückziehen wollten und Lord Lucan befohlen, sie zu stoppen. Lord Lucan, der nicht auf einem Hügel stand und vielleicht unter Schwierigkeiten, Laute zu unterscheiden, litt, konnte keine andere Artillerie sehen als die russische, deren Kanonen geradewegs auf ihn gerichtet waren und befahl Lord Cardigan und seinen Männern, diese geradewegs anzugreifen. Mit voraussehbarem Resultat.
»›Hinein ins Tal des Todes ritten die sechshundert‹«,[52] murmelte ich und hörte ein leises Kratzen an der Tür.
Konnte es Verity sein? Ich bezweifelte es. Sie war doch kaum lange genug fort, um zum Gartenpavillon hin und zurückzulaufen, geschweige denn in die Zukunft zu springen.
»Wer ist da?« flüsterte ich.
»Verity«, flüsterte es zurück.
»Ich sagte doch, ich würde an der Tür kratzen«, sagte sie, als ich sie hereinließ. Sie trug ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen in der Hand.
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber Sie waren erst fünf Minuten fort.«
»Ausgezeichnet. Das heißt, es gab überhaupt keinen Schlupfverlust. Ein gutes Zeichen.« Sie setzte sich mit zufriedener Miene aufs Bett. Offenbar hatte sie gute Neuigkeiten.
»Was sagte Dunworthy?« fragte ich.
»Er war nicht da«, erwiderte sie fröhlich. »Er ist nach Coventry gefahren, um Elizabeth Bittner zu treffen.«
»Mrs. Bittner? Die Frau des letzten Bischofs von Coventry?«
Verity nickte. »Er wollte sie aber nicht deswegen aufsuchen. Sie hat offenbar in der Anfangszeit des Netzes darin mitgearbeitet. Kennen Sie sie?« fragte sie neugierig.
»Lady Schrapnell schickte mich zu ihr. Ich sollte sie wegen des Bischofs Vogeltränke befragen.«
»Wußte sie etwas darüber?«
»Nein.«
»Aha. Kann ich Ihre Biskuits haben?« Sie schaute hungrig zum Nachttisch, wo das Tablett stand. »Ich sterbe vor Hunger.« Sie nahm eins und biß hinein.
»Wie lange waren Sie fort?« fragte ich.
»Stunden. Miss Warder wollte mir nicht sagen, wo T. J. ist. Er versteckte sich gerade vor Lady Schrapnell und hatte Miss Warder gebeten, niemandem zu sagen, wo er sich aufhält. Ich brauchte Stunden, um ihn ausfindig zu machen.«
»Fragten Sie wegen Terence und daß ich es verhindert habe, daß Terence Maud trifft?«
»Ja«, sagte sie. »Kann ich Ihre Schokolade haben?«
»Ja. Was sagte er dazu?«
»Er sagte, seiner Meinung nach sei es unwichtig, daß Terence eigentlich Maud treffen sollte oder falls er es getan hätte, wäre die Begegnung unbedeutend gewesen, denn wäre es anders, hätte sich das Netz nicht geöffnet.«
»Und wenn ich mit dem Zurückbringen der Katze eine Inkonsequenz erzeugt habe?«
Verity schüttelte den Kopf. »T. J. glaubt nicht daran. Er denkt, ich habe sie verursacht.«
»Wegen dem, was Baine uns erzählt hat.«
Sie nickte. »Und wegen des exzessiven Schlupfverlustes.«
»Aber ich dachte, die hingen damit zusammen, daß Coventry ein Krisenpunkt ist.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nicht das Gebiet um Coventry. Das Gebiet um Oxford im April 2018.«
»2018? Welcher Krisenpunkt ist das?«
»Das weiß keiner«, sagte Verity. »Deshalb wollte Dunworthy ja mit Mrs. Bittner sprechen, um zu erfahren, ob sie sich an etwas Ungewöhnliches in jenem Jahr oder aus der damaligen Zeitreiseforschung erinnert, das Licht in die Sache bringen könnte, aber es war ergebnislos. Wenn ich also die Inkonsequenz erzeugt habe, dann können Sie mit dem Zurückbringen der Katze keine erzeugt haben. Ihre Handlung würde meine korrigiert und damit die Dinge zum Positiven statt zum Negativen gewendet haben. Und Terence davon abgehalten zu haben, jemanden zu begegnen, würde die Dinge schwerlich verbessern, besonders wenn diese Begegnung bedeutet hätte, daß er nicht rechtzeitig in Iffley gewesen wäre, um Tossie zu treffen. Was heißt, daß Terence Maud gar nicht treffen sollte und daß wir uns keine Sorgen zu machen bräuchten, daß es hier um ein Symptom weiter um sich greifender Inkonsequenz handele.«
»Ein Symptom? Was meinen Sie damit?«
»Laut Fujisaki besteht die erste Verteidigung des Kontinuums gegen Inkonsequenzen in exzessivem Schlupfverlust. Wenn das nicht hilft, treten vermehrt Zufälligkeiten auf, und wenn das auch nicht hilft, kommt es zu Diskrepanzen.«
»Diskrepanzen? Sie meinen, der Lauf der Geschichte verändert sich?«
»Nicht gleich. Aber das System wird instabil. So wie es T. J. erklärte, wird aus einer festgelegten einzigen Linie von Ereignissen ein Nebeneinander von Wahrscheinlichkeiten.«
»Wie in Schrödingers Kiste«, sagte ich und dachte an das berühmte Experiment mit dem Geigerzähler und der Flasche Zyanidgas. Und der Katze.
»Genau«, erwiderte Verity strahlend. »Einmal den Lauf der Dinge, wie sie geschehen würden, wenn keine Inkonsequenz aufgetreten wäre, und daneben ein anderer Strang, die beide gleichzeitig existieren. Wenn das Kontinuum seine Selbstkorrektur beendet hätte, würde es in einen der beiden Stränge kollabieren. Aber bis dahin würden Diskrepanzen zwischen den beobachteten und den aufgezeichneten Ereignissen auftreten. Die einzige Aufzeichnung, die wir hier aber haben, ist Tossies Tagebuch, und das können wir nicht entziffern, und so können wir auch nicht feststellen, ob Terences Nichtbegegnung mit Maud eine Diskrepanz ist oder nicht.«
Sie biß in ein weiteres Biskuit. »Darum war ich auch so lange fort. Nachdem ich mit T. J. gesprochen hatte, ging ich zur Bodleiana-Bibliothek hinüber und startete eine Suche nach Terence, dann zum Oriel-College, um die Gerichtsmedizinerin zu fragen, ob sie etwas über ihn in dem Tagebuch entdeckt oder Mr. C’s Name herausgefunden habe.«
»Und?« fragte ich. Vielleicht hatte sie, und Verity war deshalb so glücklich.
»Nein. Sie hat zwar eine ganze Passage rekonstruieren können, die aber unglücklicherweise nur die Beschreibung eines Kleides war, das Tossie sich hat machen lassen. Vier Absätze über Abnäher, Brüsseler Spitze, französischer Stickerei, Einsätzen mit Durchbruchstickerei und…«
»Rüschen«, sagte ich.
»Rüschen, Rüschen, Rüschen«, sagte Verity voller Abscheu. »Und nicht ein Wort von der Katze oder einem Ausflug nach Coventry oder des Bischofs Vogeltränke. Sie haben nicht irgendwo Schokolade versteckt? Oder Käse? Ich bin so hungrig. Ich wollte zum Balliol rübergehen, um zu Abend zu essen, nachdem ich mit der Gerichtsmedizinerin gesprochen hatte, aber auf dem Weg dorthin lief ich Lady Schrapnell in die Hände.«
»Lady Schrapnell?« Ich hatte sie über all die anderen Krisen fast vergessen. »Sie weiß doch nicht etwa, wo ich bin? Sie haben es ihr nicht gesagt, oder?«
»Natürlich nicht«, sagte Verity und trank einen ausgiebigen Schluck Schokolade. »Ich habe ihr auch von der Katze nichts erzählt. Sie wollte wissen, was ich dort täte, und ich sagte, ich bräuchte ein neues Kostüm für übermorgen. Miss Warder war fuchsteufelwild.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Und dann blieb Lady Schrapnell dabei, während mir das Kleid angepaßt wurde, und erzählte mir, daß Sie einfach verschwunden seien und Dunworthy ihr partout nicht sagen wollte, wo Sie steckten, und wie T. J. sich geweigert hätte, ins Jahr 1940 zu springen, um dort des Bischofs Vogeltränke zu suchen, weil das zwanzigste Jahrhundert Tabuzone für Farbige sei, was sie ziemlich lächerlich fände, denn worin bestünde denn schon die Gefahr bei so einem Luftangriff?« Sie trank den letzten Rest Schokolade aus und schaute in die Kanne. »Und wie die Arbeiter sich mit dem Chor anstellten und daß sie behaupteten, das Chorgestühl fertigzustellen, dauere mindestens noch einen weiteren Monat, und daß das völlig ausgeschlossen sei, weil doch die Einweihung bereits in dreizehn Tagen stattfinden solle.«
Sie goß die letzten Tropfen Schokolade aus der Kanne in ihre Tasse. »Sie wollte einfach nicht verschwinden, sogar als ich mit Miss Warder in den Vorbereitungsraum ging, um das Kleid anzuprobieren. Ich mußte Miss Warder bitten, Lady Schrapnell hinauszuschicken und abzulenken, während ich mit der Bodleiana telefonierte, um die Ergebnisse von der Suche nach Terence zu erfahren.«
»Und? Sollte er Maud treffen oder nicht?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Verity überglücklich. »Die Suche förderte nichts zutage. Keine Medaillen, keinen Ritterschlag, keine Wahlen ins Parlament. Kein Arrest, keine Verurteilungen, keine Schlagzeilen. Keine einzige Erwähnung in den offiziellen Aufzeichnungen.«
»Keine Heiratsurkunde?«
Verity schüttelte den Kopf und griff nach dem letzten Biskuit. »Die Pfarrei, in der er wohnte, wurde während des Blitzkrieges zerstört, und ich hatte keine Zeit für eine globale Suche, aber ich hinterließ Dunworthy eine Nachricht bei Miss Warder und bat ihn, eine solche Suche anzuleiern, sobald er von Coventry zurückkäme. Wenn Terence jedoch in den offiziellen Unterlagen nicht erwähnt ist, heißt das, daß er keinen geschichtlichen Einfluß besaß, und das bedeutet, daß die Begegnung nicht zählt. Was zu T. J.’s Aussagen über Diskrepanzen paßt, nach denen sich nur die unmittelbare Umgebung der Inkonsequenz destabilisiert. Und die Begegnung war vier Tage, nachdem ich die Katze gerettet hatte und die Bahnstation von Oxford liege über vierzig Meilen von Muchings End entfernt, was man kaum als ummittelbare Nähe bezeichnen kann. Also ist es keine Diskrepanz, und die Inkonsequenz hat sich nicht vergrößert.«
»Hmh«, machte ich und wünschte, davon genauso überzeugt zu sein wie sie.
»Wenn Tossie aber Terence statt Mr. C heiratet, dann ist eindeutig eine Diskrepanz entstanden. Also müssen wir das Tagebuch stehlen und herausfinden, wer er ist und die beiden so schnell wie möglich zusammenbringen. In der Zwischenzeit müssen wir Terence von Tossie fernhalten. Und des Bischofs Vogeltränke finden«, setzte sie hinzu und leckte sich die Biskuitkrümel von den Fingern.
»Was?« fragte ich. »Ich dachte, Sie hätten Lady Schrapnell verschwiegen, daß ich hier bin.«
»Habe ich auch«, sagte sie. »Ich sagte ihr, Sie hätten herausgefunden, wo sich des Bischofs Vogeltränke befindet und wollten sie gerade herbeischaffen!«
»Sie haben was?« Ich setzte mich auf Cyril.
»Sie war fest entschlossen, Sie ausfindig zu machen«, sagte Verity. »Die Handwerker weigern sich, eine Reproduktion von dem Ding zu machen, und Lady Schrapnell ist außer sich vor Zorn. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie Miss Warders Aufzeichnungen überprüft und Ihnen nachgekommen wäre«, sagte sie, und es klang logisch. »Das wäre genau das, was wir hier noch bräuchten.«
Ich mußte ihr den Punkt zugestehen. »Was passiert aber, wenn sie herausfindet, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, wo sich des Bischofs Vogeltränke befindet, und es auch nie gewußt habe? Die Einweihung ist in zwei Wochen, und ich bin für keine weiteren Sprünge mehr vorgesehen.«
»Ich werde Ihnen helfen«, sagte Verity. »Und wir müssen dazu nirgends hingehen. Poirot sagt, alles was man zum Lösen eines Rätsels bräuchte, läge in den kleinen grauen Zellen.«
»Poirot?« fragte ich. »Wer ist Poirot? Der Küster?«
»Nein. Hercule Poirot. Agatha Christie. Er sagt…«
»Agatha Christie?« Ich hatte keinen Schimmer, von wem sie sprach.
»Die Krimiautorin. Zwanzigstes Jahrhundert. Bevor Lady Schrapnell Oxford und damit mein Leben übernahm, war ich in den 1930ern eingeteilt, und das ist eine absolut gräßliche Zeit — Hitlers Aufstieg, die weltweite Depression, keine Videos, keine virtuellen Welten, kein Geld, um ins Kino zu gehen. Das einzige, was einem bleibt, ist Detektivromane zu lesen. Dorothy Sayers, E. C. Benson, Agatha Christie. Und Kreuzworträtsel zu lösen«, setzte sie hinzu, als erkläre das alles.
»Kreuzworträtsel?«
»Für unsere momentane Situation nicht besonders hilfreich. Im Gegensatz zu Detektivromanen. Natürlich handeln sie eigentlich von Mord und nicht von Diebstahl, aber sie spielen immer in solchen Landhäusern wie diesem hier, und immer ist der Butler der Täter, wenigstens in den ersten hundert Romanen, die ich gelesen habe. Jedermann ist verdächtig, und immer ist es die am wenigstens verdächtige Person, nach den ersten hundert Romanen war der Butler das aber nicht mehr, und sie mußten auf fernliegendere Täter ausweichen. Sie wissen schon, die harmlose alte Dame oder die ergebene Ehefrau des Vikars, so in der Art. Doch die Leser brauchten nicht allzu lang, um auch dem auf die Schliche zu kommen, und man ging dazu über, den Detektiv selbst zum Mörder zu machen und den Erzähler, obwohl das bereits in Der Mondstein geschehen war. Da war es der Held, er wußte bloß nichts davon. Er schlafwandelte in seinem Nachthemd, was für die victorianische Zeit ziemlich verrucht war, und das Verbrechen war unglaublich kompliziert. In Detektivromanen schnappt sich ja keiner einfach nur die Vase und haut ab oder erschießt einen anderen aus Jähzorn. Am Ende, wenn der Leser denkt, er hätte alles gelöst, gibt es noch einen letzten dramaturgischen Schlenker, und das Verbrechen ist plötzlich äußerst durchdacht und sorgfältig geplant durchgeführt worden, mit Verkleidungen, Alibis und Fahrplänen, und ein Plan des Hauses, in dem es geschah, wird ins Buch vorn eingebunden, mit sämtlichen Schlafzimmern und der Bibliothek, wo sich in der Regel die Leiche findet, und allen Verbindungstüren, und trotzdem würde es dem Leser auf ewig verschlossen bleiben, wie das Verbrechen geschah, wenn nicht plötzlich der weltberühmte Detektiv aufträte…«
»… der das Rätsel mit Hilfe der kleinen grauen Zellen löst?«
»Ja. Hercule Poirot, Agatha Christies Detektiv. Er sagt, es sei nicht nötig, Fußspuren zu messen und Zigarettenstummel aufzusammeln wie Sherlock Holmes, um Verbrechen aufzuklären. Das ist nämlich Arthur Conan Doyles Detektiv.«
»Ich weiß, wer Sherlock Holmes ist.«
»Ach ja? Nun gut — Poirot sagt, alles was man braucht, sind die kleinen grauen Zellen, um das Problem zu durchdenken.«
»Und des Bischofs Vogeltränke zu finden. Hier im Jahre 1888«, sagte ich ohne Überzeugung.
»Na ja, es muß ja nicht hier sein, aber wir werden herausfinden, wohin sie von hier aus verschwunden ist«, sagte Verity strahlend. Sie machte es sich auf dem Bett bequem. »Nun — wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
Ich würde nie mehr im Leben Schlaf bekommen. Ich würde wie Alice im Wunderland eine unsinnige Konversation nach der anderen führen, bis ich vor Erschöpfung tot umfiel. Hier, in der erholsamen, friedlichen, gemütlichen victorianischen Zeit.
»Können wir das nicht morgen früh besprechen?« fragte ich.
»Dann sind wir nicht mehr allein«, entgegnete Verity. »Je eher wir des Bischofs Vogeltränke finden, desto schneller können wir aufhören, uns um Lady Schrapnell zu sorgen, daß sie hier aufkreuzt und wissen will, wo sie ist. Ich habe des Bischofs Vogeltränke nämlich noch nie gesehen. Ich habe nur alles Mögliche darüber gehört. Ist sie wirklich so scheußlich, wie man sagt? Zeigt sie etwa auch Moses im Schilf mit des Pharaos Töchtern wie dieses gräßliche Ding, das wir in Iffley sahen?«
Sie hielt inne. »Ich bin eine Quasselstrippe, stimmt’s? Wie Lord Peter. Das ist Dorothy Sayers Detektiv. Lord Peter Wimsey. Er und Harriet Vane lösen die Fälle gemeinsam. Es ist furchtbar romantisch, und ich fange ja schon wieder an, nicht wahr? Mit Quasseln, meine ich. Zeitsprünge wirken sich auf mich immer so aus.«
Sie schaute mich reuig an. »Und Sie leiden an der Zeitkrankheit und sollten eigentlich schlafen. Es tut mir so leid.«
Sie kroch vom Bett herunter und schnappte ihr braunes Päckchen. »Es ist wie Alkohol und Kaffee gleichzeitig. Die Wirkung der Zeitsprünge auf mich. Haben die Sprünge bei Ihnen auch diesen Effekt? Albern und geschwätzig zu werden?« Sie sammelte ihre Schuhe und Strümpfe ein. »Wir werden uns beide morgen früh besser fühlen.«
Sie öffnete die Tür und spähte in die Finsternis hinaus. »Schlafen Sie etwas«, flüsterte sie. »Sie sehen entsetzlich aus. Sie brauchen die Erholung, damit Sie mir helfen können, Terence und Tossie morgen früh voneinander fernzuhalten. Ich habe bereits einen Plan. Ich werde Terence dazu bringen, das Zelt der Wahrsagerin aufzustellen.«
»Der Wahrsagerin?« fragte ich. »Ja. Und Sie können Tossie beim Basar helfen.«