»Schöner wäre es gewesen, ganz neu zu beginnen, ohne jene häßlichen alten Ruinen«, sagte sie. »Sie sind ein Symbol, meine Liebe«, erwiderte ihre Freundin.
Ein Suchtrupp • Kopfbedeckungen in Kriegszeiten • Das Problem der Vetternwirtschaft • Königliche Kopfbedeckungen • Des Bischofs Vogeltränke wird vermißt • Wohltätigkeitsbasare • Ein Hinweis, wo sie stecken könnte • Astronomische Beobachtungen • Hunde • Katzen • Des Menschen bester Freund • Eine plötzliche Abreise
Wir waren zu fünft — Carruthers, der neue Rekrut und ich, dazu Mr. Spivens und der Kirchendiener. Es war am späten Nachmittag des fünfzehnten November, und wir standen inmitten dessen, was von der Kathedrale in Coventry übriggeblieben war und hielten Ausschau nach des Bischofs Vogeltränke. Jedenfalls tat ich das. Der neue Rekrut starrte mit offenem Mund auf die zersplitterten Buntglasfenster, Mr. Spivens war drüben bei den Stufen der Sakristei damit beschäftigt, etwas auszubuddeln, und Carruthers versuchte, den Kirchendiener davon zu überzeugen, daß wir vom Hilfsfeuerwehrkorps kamen.
»Das hier ist Leutnant Ned, unser Truppenführer«, sagte er auf mich weisend, »und ich bin Kommandant Carruthers. Ich bin der Befehlshaber unseres Postens.«
»Was für’n Posten?« fragte der Kirchendiener mit zusammengekniffenen Augen.
»Sechsunddreißig«, sagte Carruthers aufs Geratewohl.
»Und der da?« Der Kirchendiener deutete auf den neuen Rekruten, der gerade herauszufinden versuchte, wie die Taschenlampe funktionierte, und der nicht einmal schlau genug aussah, um ein Mitglied der Bürgerwehr zu sein, geschweige denn vom Hilfsfeuerwehrkorps.
»Das ist mein Schwager«, improvisierte Carruthers. »Egbert.«
»Meine Frau wollte, daß ich ihren Bruder für die Brandwache anheu’re«, sagte der Kirchendiener, teilnahmsvoll den Kopf schüttelnd. »Dabei kann er nicht mal durch die Küche laufen, ohne über die Katze zu stolpern. ›Wie soll der denn Brandbomben löschen?‹ fragte ich sie. ›Er braucht Arbeit‹, sagte sie. ›Soll Hitler ihn zur Arbeit schicken‹, sagte ich.«
Ich ließ die beiden stehen und ging zu der Stelle, wo das Kirchenschiff gewesen sein mußte. Wir hatten keine Zeit zu verlieren. Wir waren spät angekommen, und obwohl es erst kurz nach vier war, machten es Rauch und dichter Mauerstaub, der in der Luft hing, schwierig, überhaupt noch etwas zu erkennen.
Der Rekrut hatte es aufgegeben, mit der Taschenlampe herumzuprobieren und beobachtete Mr. Spivens, der entschlossen im Schutt neben der Treppe wühlte. Ich schaute abschätzend an ihm vorbei, um festzustellen, wo sich der Nordgang befunden hatte, und begann, mich in Richtung Kirchenschiff vorzuarbeiten.
Des Bischofs Vogeltränke hatte auf einem schmiedeeisernen Pfosten genau vor der Chorschranke der Smithschen[1] Kapelle gestanden. Ich bahnte mir vorsichtig meinen Weg durch die Trümmer und versuchte, herauszufinden, wo ich mich eigentlich befand. Von der Kathedrale erhoben sich nur noch die Außenmauern und der schöne Kirchturm mit der Spitze. Alles andere — das Dach, die hohe Kuppel, die Lichtgaden und Säulen waren zu einem einzigen riesigen Haufen unidentifizierbaren, schwärzlichen Schutts zusammengestürzt.
Also, dachte ich, auf einem Dachbalken stehend, hier war wohl die Altarnische gewesen und dort drüben die Drapersche Kapelle, obwohl man das lediglich anhand der zersplitterten Fenster sagen konnte. Das steinerne Gewölbe war eingebrochen, und nur die mit Erkern versetzte Wand stand noch.
Und hier war die St. Laurence-Kapelle, überlegte ich, während ich auf Händen und Knien über den Schutt kroch. Trümmer und verkohlte Dachsparren lagen hier fast zwei Meter hoch aufgetürmt, außerdem war es glitschig. Es hatte den ganzen Tag über wiederholt genieselt, und der Regen hatte die Asche in schwärzlichen Matsch verwandelt und die Bleischiefern des Daches glatt wie Eis werden lassen.
Die Girdlersche Kapelle. Und dies hier mußte die Smithsche sein. Von der Chorschranke war allerdings nichts zu sehen. Ich versuchte abzuschätzen, wie weit entfernt vom Fenster sie gestanden haben mochte, und begann zu graben.
Des Bischofs Vogeltränke lag jedoch nicht unter dem Haufen zersplitterter Tragbalken, und die Chorschranke ebensowenig. Ich fand nur ein Stück zerbrochenen Geländers, hinter dem einst Gläubige gekniet hatten, und Teile einer Kirchenbank, was hieß, daß ich zu weit ins Kirchenschiff hineingeraten war.
Ich erhob mich und versuchte, mich zu orientieren. Es ist erstaunlich, wie große Verwüstung den Raumsinn irritieren kann. Ich kniete mich hin und schaute die Kirche hoch zum Chorgestühl, versuchte, den Sockel einer der Säulen im Nordgang zu finden, um zu sehen, wie weit ich mich im Kirchenschiff befand, aber in dem Schutt war keiner auszumachen.
Ich mußte herausfinden, wo sich das Gewölbe befunden hatte und von dort aus beginnen. Deshalb betrachtete ich zunächst die Ostwand der Girdlerschen Kapelle und fing wieder zu graben an, auf der Suche nach dem Stützpfeiler des Gewölbes.
Er war fünfzehn Zentimeter über dem Boden abgebrochen. Ich legte die Stelle ringsum frei, betrachtete sie genau, versuchte abzuschätzen, wo die Schranke gewesen sein mußte, und grub weiter.
Nichts. Ich zerrte ein gezacktes Stück der hölzernen Decke hoch und sah darunter eine riesige Marmorplatte liegen, die in der Mitte zerbrochen war. Der Altar. Jetzt war ich zu weit. Ich schaute wieder zu dem neuen Rekruten hinüber, der immer noch Mr. Spivens beim Graben beobachtete, ging zehn Schritte zurück und schaufelte weiter.
»Aber wir sind vom Hilfsfeuerwehrkorps«, hörte ich Carruthers zu dem Kirchendiener sagen.
»Sind Sie ganz sicher?« fragte der Kirchendiener. »Ihre Schutzanzüge sehen ganz anders aus als irgendeine Uniform der Hilfsfeuerwehr, die ich jemals gesehen habe.«
Das konnte er auch kaum. Unsere Uniformen eigneten sich vielleicht inmitten eines Luftangriffs, wo jeder, der nur etwas aus Blech auf dem Kopf trug, als Soldat durchging. Und mitten in der Nacht. Im Tageslicht sah die Sache anders aus. Carruthers’ Helm trug die Insignien der Königlichen Pioniere, auf meinen war mit Schablone Luftschutz gesprüht, und die Uniform des neuen Rekruten stammte aus einem gänzlich anderen Krieg.
»Unsere regulären Uniformen wurden bei der Explosion einer Sprengbombe vernichtet«, sagte Carruthers.
Der Kirchendiener sah nicht sehr überzeugt drein. »Wenn Sie vom Hilfsfeuerwehrkorps sind«, sagte er, »warum waren Sie dann letzte Nacht nicht hier, wo Sie gebraucht wurden?«
Eine ausgezeichnete Frage, und eine, die Lady Schrapnell mir bestimmt auch bei meiner Rückkehr stellen würde. »Was meinen Sie damit — Sie sind am fünfzehnten gesprungen, Ned?« hörte ich sie bereits fragen. »Das ist ein ganzer Tag zu spät.«
Und deshalb kroch ich auch über rauchende Dachbalken, verbrannte mir den Finger in einer immer noch flüssigen Pfütze Blei, die letzte Nacht vom Dach getropft war, und erstickte fast am Mauerstaub, anstatt ihr Bericht zu erstatten.
Ich hob das Stück eines Stützpfostens hoch, meinen verbrannten Finger anpustend, und fing an, zwischen Schieferplatten und verkohltem Gebälk zu wühlen. Dabei schnitt ich mir den verbrannten Finger an einem abgebrochenen Metallteil auf und erhob mich schließlich, den Finger im Mund.
Carruthers und der Kirchendiener waren sich noch nicht einig geworden. »Ich hab’ noch nie von ’nem Posten Sechsunddreißig gehört«, sagte der Kirchendiener mißtrauisch. »Die Posten des Hilfsfeuerwehrkorps in Coventry gehen nur bis Siebzehn.«
»Wir kommen aus London«, erwiderte Carruthers. »Sondereinheit, die hier mithelfen soll.«
»Wie sind Sie durchgekommen?« Der Kirchendiener packte angriffslustig seine Schaufel. »Alle Straßen sind blockiert.«
Es war an der Zeit, einzugreifen. Ich ging zu den beiden hinüber. »Wir kamen über Radford«, sagte ich, leidlich sicher, daß der Kirchendiener nicht in dieser Gegend gewesen war. »Ein Milchmann nahm uns mit.«
»Ich dachte, dort wär’n auch Barrikaden.« Der Kirchendiener umklammerte immer noch die Schaufel.
»Wir haben Sonderpassierscheine«, sagte Carruthers.
Fehler, Fehler! Der Kirchendiener würde sie bestimmt sehen wollen. Hastig sagte ich: »Die Königin schickte uns.«
Das half. Der Blechhelm wurde heruntergerissen, und der Kirchendiener selbst nahm Haltung an, die Schaufel wie ein Paradestab vor sich. »Ihre Majestät?«
Ich drückte meinen Luftschutzhelm ans Herz. »Sie sagte, sie könne Coventry nicht mehr ins Antlitz sehen, wenn sie nicht etwas täte, um zu helfen. ›Ihre schöne, schöne Kathedrale‹, sagte sie zu uns. ›Auf der Stelle müssen Sie nach Coventry gehen und ihnen jedwede Hilfe anbieten.‹«
»So ist sie«, sagte der Kirchendiener und schüttelte ehrfurchtsvoll sein kahles Haupt. »So ist sie. ›Ihre schöne, schöne Kathedrale.‹ Ich hör’ sie direkt sprechen.«
Ich nickte dem Kirchendiener feierlich zu, winkte Carruthers und begab mich zurück ans Graben. Der Rest der zusammengebrochenen Gewölbebögen lag unter den Dachplatten, zusammen mit einem Gewirr elektrischer Drähte und einer zerbrochenen Gedenktafel, auf der stand: »Ruhe in Frieden in alle Ewi…«, ein Wunsch, der offenkundig nicht in Erfüllung gegangen war.
Ich räumte eine ungefähr zwei Meter breite Stelle rings um die Säule frei. Nichts. Ich kroch über den Schutt, suchte die Überbleibsel der Säule, fand ein Stück davon und grub erneut.
Carruthers kam herbei. »Der Kirchendiener wollte wissen, wie die Königin aussah«, sagte er. »Ich sagte ihm, sie hätte einen Hut getragen. Stimmt doch, oder? Ich kann mich nie richtig erinnern, welche von ihnen diese Hüte trug.«
»Alle. Außer Victoria, Sie trug so eine Art Spitzenhaube«, erklärte ich. »Und Camilla. Sie war nicht lange genug Königin. Sag ihm, ihre Majestät hätte Königin Victorias Bibel gerettet, als der Buckingham Palast bombardiert wurde. Hätte sie im Arm hinausgetragen, als wäre sie ein Baby.«
»Wirklich?« fragte Carruthers.
»Nein. Aber es wird ihn davon abhalten, zu fragen, warum du den Helm eines Sprengtrupps trägst. Und es bringt ihn vielleicht dazu, zu erzählen, was vergangene Nacht gerettet wurde.«
Carruthers zog ein Blatt Papier aus der Tasche seines Anzugs. »Die Kerzenleuchter und das Kreuz vom Hochaltar und das aus der Smithschen Kapelle wurden von Probst Howard und der Brandwache gerettet und der örtlichen Polizei übergeben. Ebenso ein silberner Abendmahlskelch, ein hölzernes Kruzifix, eine silberne Hostienschale, die Epistolarien, die Evangelien und die Regimentsfahnen des Königlichen Regiments von Warwickshire, siebtes Bataillon«, las er vor.
Das stimmte mit der Liste in dem Bericht des Probstes über den Angriff überein. »Und nichts über des Bischofs Vogeltränke«, sagte ich und blickte über die Trümmer. »Was bedeutet, daß sie noch irgendwo hier steckt.«
»Kein Glück gehabt?« fragte Carruthers.
»Nein«, erwiderte ich. »Es ist wohl zwecklos zu hoffen, daß schon früher irgend jemand eintraf und sie bereits gefunden hat, nicht wahr?«
»Keiner von uns jedenfalls«, sagte Carruthers. »Davis und Peters gelang es nicht einmal, das richtige Jahr zu treffen. Ich brauchte vier Versuche, um so nahe heranzukommen. Das erste Mal landete ich am neunzehnten. Dann fand ich mich Mitte Dezember wieder. Beim dritten Mal traf ich zwar genau die Zeit, richtiger Monat, richtiger Tag, zehn Minuten, bevor der Luftangriff begann. Allerdings steckte ich irgendwo zwischen hier und Birmingham mitten in einem Feld Ibisse.«
»Ibisse?« Ich dachte, ich hätte mich verhört. Ibisse wuchsen doch nicht auf dem Feld, oder?
»Kürbisse«, sagte Carruthers gereizt. »In einem Feld Gemüsekürbisse. Und das war überhaupt nicht witzig. Die Bauersfrau hielt mich für einen deutschen Fallschirmjäger und sperrte mich in der Scheune ein. Ich brauchte ewig, um dort wieder rauszukommen.«
»Und was ist mit dem neuen Rekruten?« wollte ich wissen.
»Der kam dicht vor mir durch. Ich las ihn auf, als er gerade die Landstraße nach Warwick entlang irrte, ohne die geringste Ahnung, wohin er eigentlich sollte. Hätte ich ihn nicht gefunden, wäre er in einen Bombentrichter gefallen.«
Was, wenn man’s genau bedachte, nicht das Schlechteste gewesen wäre. Der neue Rekrut hatte es aufgegeben, Mr. Spivens zu beobachten, und war wieder damit beschäftigt, die Taschenlampe zu untersuchen, um sie irgendwie zum Leuchten zu bringen.
»Wir brauchten zwei Stunden bis hierher«, sagte Carruthers. »Und was war mit dir, Ned? Wie viele Versuche hattest du, bis du endlich hier warst?«
»Nur den einen. Ich wurde von den Wohltätigkeitsbasaren abberufen, nachdem du so wenig Glück hattest.«
»Wohltätigkeitsbasare?«
»Lady Schrapnell hatte die Idee, daß des Bischofs Vogeltränke vielleicht auf einem der kirchlichen Wohltätigkeitsbasare angeboten würde«, sagte ich. »Du weißt doch, wo sie versuchen, Geld für die Verteidigung des Landes zu sammeln. Oder daß sie vielleicht in einer Alteisensammlung gelandet sei. Deshalb mußte ich seit September jede Kirche und Gemeinde abgrasen. Du weißt auch nicht zufällig, wozu ein Federhalterwischer gut ist, oder?«
»Ich weiß nicht einmal, was ein Federhalterwischer ist.«
»Ich auch nicht«, sagte ich. »Ich kaufte sieben davon. Zwei Dahlien, eine Rose, ein Kätzchen, einen Igel und zweimal den Union Jack. Man muß dort einfach etwas kaufen, und weil ich nichts durch das Netz mit zurückbringen kann, mußte es etwas sein, das ich unentdeckt auf dem Tisch mit den Galanteriewaren ablegen konnte. Federhalterwischer sind klein. Bis auf die Rose. Sie war beinahe so groß wie ein Fußball, Blätter um Blätter aus zusammengenähter fuchsienroter Wolle, rosa an den Rändern. Und was ich einfach nicht verstehe, ist, wozu um alles in der Welt man so etwas braucht, außer natürlich, um es auf einem Basar zu verkaufen. Sie verkauften die Dinger überall, auf dem Basar zur Unterstützung evakuierter Kinder, beim Backwarenverkauf des Luftschutzes zugunsten des Gasmaskenfonds, bei der Verkaufsauktion am Tag der Heiligen Anna…«
Carruthers warf mir einen merkwürdigen Blick zu. »Wie oft bist du in der vergangenen Woche gesprungen, Ned?« fragte er.
»Zehnmal.« Ich versuchte mich zu erinnern. »Nein, zwölfmal. Zum Herbstfest der Dreifaltigkeitskirche, zur Sammelaktion der Frauengemeinschaft, zum Spitfire-Benefiztee.[2] Dreizehn. Nein, zwölf. Zu Mrs. Bittner war es kein Sprung.«
»Mrs. Bittner?« fragte Carruthers. »Die Ehefrau des letzten Bischofs von Coventry?«
Ich nickte. »Sie lebt noch. Immer noch hier in Coventry. Lady Schrapnell wollte, daß ich sie interviewte.«
»Was könnte sie denn über die alte Kathedrale wissen? Zu der Zeit, als diese niederbrannte, war Mrs. Bittner noch nicht einmal geboren.«
»Lady Schrapnell dachte, daß des Bischofs Vogeltränke das Feuer vielleicht überstanden hätte und in der neuen Kathedrale irgendwo verstaut worden wäre, also schickte sie mich zu den Ehefrauen der Bischöfe, denn — ich zitiere — ›Männer haben sowieso keine Ahnung davon, wo man Dinge aufbewahrt‹.«
Carruthers schüttelte bekümmert den Kopf. »Und? Wußten die Frauen etwas?«
»Sie hatten nicht einmal davon gehört, abgesehen von Mrs. Bittner, und diese sagte, das Ding wäre nicht dabei gewesen, als sie alles zusammenpackten, bevor sie die neue Kathedrale verkauften.«
»Aber das ist doch prima, oder? Wenn es nicht dabei gewesen ist, bedeutet das, es war nicht hier, als der Angriff erfolgte, und du kannst Lady Schrapnell sagen, daß sie es für die Rekonstruktion der Kathedrale bei der Einweihung auch nicht braucht.«
»Sag du ihr das«, erwiderte ich.
»Vielleicht wurde es weggeschafft, damit ihm nichts passiert«, schlug Carruthers vor und schaute zu den Fenstern. »Wie die Ostfenster.«
»Des Bischofs Vogeltränke?« Ich war skeptisch. »Machst du Witze?«
»Du hast recht«, sagte er. »Es ist nicht gerade das, was man davor bewahren möchte, zerbombt zu werden. Victorianische Kunst!« Er schauderte.
»Außerdem«, sagte ich, »war ich bereits im Pfarrhaus von Lucy Hampton, dort, wo sie die Fenster hingebracht haben. Sie war nicht da.«
»Aha. Könnte sie innerhalb der Kirche an eine andere Stelle geschafft worden sein?«
Das war kein übler Gedanke. Vielleicht von einer der Frauen, die sich um den Blumenschmuck kümmerten, und die den Anblick nicht länger ertragen konnte und sie hinter einer Säule oder sonstwo versteckt hatte?
»Warum ist Lady Schrapnell eigentlich so versessen auf dieses Ding?« wollte Carruthers wissen.
»Warum ist sie von jedem Detail dieses Projektes so besessen?« fragte ich. »Bevor ich auf des Bischofs Vogeltränke angesetzt wurde, waren es Denkmäler. Sie wollte eine Kopie jeder Inschrift von jedem Denkmal in dieser Kirche, eingeschlossen die auf Kapitän Gervase Scropes Grab, die unendlich lang ist.«
Carruthers nickte teilnahmsvoll. »Orgelpfeifen«, sagte er. »Mich hetzte sie durchs ganze Mittelalter, um Orgelpfeifen auszumessen.«
»Die wahre Frage ist natürlich, warum sie überhaupt von dem Wiederaufbau der Kathedrale von Coventry so besessen ist.«
»Ihre Ur-ur-oder-was-Großmutter besuchte Coventry und…«
»Weiß ich, weiß ich. Diese Erfahrung veränderte das Leben ihrer Ur-ur-oder-was-Großmutter von Grund auf, und als Lady Schrapnell ihr Tagebuch fand, veränderte es ihr Leben ebenso von Grund auf, und sie beschloß, die Kathedrale haargenau so wiederaufzubauen, wie sie vor dem Brand gewesen war, und zwar aus Hochachtung vor und aus Respekt für und was weiß der Himmel noch. Ich habe diese Ansprache zigmal gehört. Ebenso den Vortrag darüber, daß Gott…«
»…im Detail steckt«, ergänzte Carruthers. »Ich hasse diesen Vortrag.«
»Ich hasse am meisten den Vortrag mit ›Dreht jeden Stein dreimal um‹. Hilf mir mal.« Ich zeigte auf das eine Ende eines großen Steins.
Er beugte sich hinab und packte das andere Ende.
»Eins, zwei, drei«, sagte ich, »hoch!«, und wir wuchteten den Stein in den Gang, wo er weiterrollte, in die noch stehenden Überreste einer Säule hinein und diese dadurch endgültig zum Einsturz brachte.
Des Bischofs Vogeltränke befand sich nicht unter dem Stein, aber der schmiedeeiserne Pfosten, auf dem sie gestanden hatte, sowie eine der Verstrebungen der Chorschranke und, unter einem Brocken roten Sandsteins, ein halbverkohlter Blumenstengel. Es war nicht mehr zu erkennen, was für eine Art Blume es gewesen war, weil nicht einmal mehr ein einziges Blatt am Stiel hing, und es hätte genausogut ein Stecken oder ein eiserner Stab sein können, wenn nicht an dem einen Ende ein paar Millimeter Grün zu erkennen gewesen wären.
»Die Vogeltränke stand vor einer Schranke?« Glas knirschte unter Carruthers’ Füßen.
»Vor dieser Schranke.[3] Auf diesem Pfosten«, entgegnete ich und zeigte auf den schmiedeeisernen Pfosten. »So auch am neunten November bei der Andacht für die Royal Air Force und dem anschließenden Backwarenverkauf des Luftschutzes. Genauso wie zwei gehäkelte Sofaschoner, ein Federhalterwischer in Stiefmütterchenform und ein halbes Dutzend Marmorkuchen, alle äußerst liebevoll verziert.«
Carruthers betrachtete das Glas zu seinen Füßen. »Könnte die Explosion die Vogeltränke in einen anderen Teil des Kirchenschiffes geschleudert haben?« fragte er.
»Was die Kathedrale zerstörte, war kein Sprengstoff. Es waren Brandbomben.«
»Oh«, sagte er. Er schaute zu dem Kirchendiener hin, der auf uns zukam. »Was sagst du — die Bibel von Königin Victoria?«
»Ja. Komplett mit allen Geburten, Todesfällen und Nervenzusammenbrüchen sämtlicher Georges«, entgegnete ich. »Finde heraus, ob irgend etwas vor dem Angriff von hier fortgeschafft wurde, außer nach Lucy Hampton.«
Er nickte und ging zu dem Kirchendiener zurück, und ich stand da und schaute den schmiedeeisernen Pfosten an. Was tun?
Der überwiegende Teil der Bomben, welche die Kathedrale getroffen hatten, waren Brandbomben gewesen, aber Carruthers hatte recht. Erschütterungen konnten verschiedenste Dinge bewirken, und es hatte eine gewisse Anzahl Explosionen in der Nachbarschaft gegeben, von Sprengstoff bis zu Hauptgasleitungen, die in die Luft flogen. Des Bischofs Vogeltränke mochte davon in den Hauptgang der Kirche oder ins Chorgestühl geschleudert worden sein.
Ich räumte noch mehr Mauerwerk fort, um zu sehen, in welche Richtung das Glas der Draperschen Kapelle geflogen war. Das meiste schien sich südlich und westlich verstreut zu haben. Ich sollte mich besser in eine andere Richtung orientieren, zurück zum hinteren Teil des Kirchenschiffes.
Ich kehrte zu der Chorschranke zurück und begann, südlich und westlich davon zu graben. Jeder Stein wurde umgedreht.
Die Glocken begannen den Abend zu läuten, und wir alle, sogar Mr. Spivens, verharrten und schauten zu dem Spitzturm hoch. Weil das Dach fehlte, konnten wir den Turm sehen, der sich unversehrt über dem Rauch und dem Staub erhob. Die Glocken klangen wunderbar, von der Zerstörung um uns herum völlig unberührt.
»Schau, dort ist ein Stern«, sagte Carruthers.
»Wo?« fragte ich.
»Dort.« Er zeigte hoch.
Alles, was ich sah, war Rauch. Ich sagte ihm das.
»Dort«, sagte er. »Über dem Spitzturm. Über dem rauchigen Bahrtuch des Krieges, über den Ruinen der Zerstörung. Unberührt von des Menschen Unmenschlichkeit gegen seinen Nächsten, ein hoher Herold der Hoffnung und Schönheit, der besseren Zeiten, die kommen mögen. Das funkelnde Symbol einer Befreiung, die noch nicht am Horizont aufgetaucht ist.«
»Aufgetaucht? Am Horizont?« Ich schaute ihn besorgt an. »Ein hoher Herold der Hoffnung und Schönheit?«
Eines der ersten Symptome der Zeitkrankheit ist rührselige Sentimentalität, wie sie ein Ire besitzt, der zu tief ins Glas geschaut hat, oder ein stocknüchterner victorianischer Dichter. Carruthers hatte seit dem Vortag mindestens vier Sprünge hinter sich, zwei von ihnen im Abstand von nur wenigen Stunden, und wer weiß, wie viele während seiner Forschungen über die Orgelpfeifen. Er hatte selbst gesagt, daß er überhaupt nicht geschlafen habe.
Ich runzelte die Stirn und versuchte, mir die Liste der Symptome ins Gedächtnis zu rufen. Rührseligkeit, Sentimentalität, Schwierigkeiten, Laute zu unterscheiden, Schläfrigkeit — aber er hatte die Glocken gehört, und jeder, der in irgendeiner Form mit Lady Schrapnells Rekonstruktionsprojekt zu tun hatte, litt an Schlafentzug. Der einzige Schlaf, den ich in der letzten Woche gehabt hatte, war der während des Basars am Tag des Heiligen Crispin gewesen, zugunsten der Verteidigung des Landes. Ich war während des Willkommens eingenickt und hatte die Hälfte der Rede verschlafen, in der sich das Organisationskomitee vorstellte.
Was waren die anderen Symptome? — Eine Tendenz, sich über Kleinigkeiten aufzuregen. Langsames Antworten. Verschwommene Sicht.
»Der Stern«, sagte ich. »Wie sieht der Stern denn aus?«
»Was meinst du damit? Wie soll er aussehen?« fragte Carruthers, nicht im geringsten langsam mit der Antwort. »Wie ein Stern natürlich.«
Die Glocken verstummten, ihr Echo hing noch eine Weile in der rauchigen Luft.
»Oder wie sieht deines Erachtens ein Stern aus?« sagte Carruthers und stapfte davon, zu dem Kirchendiener hinüber.
Reizbarkeit war ein eindeutiges Symptom. Und die Richtlinien des Netzes besagten klar und deutlich, daß jemand, der an der Zeitkrankheit litt, unverzüglich »aus der Umgebung« und vom Dienst entfernt werden mußte, aber wenn ich das tat, hätte ich Lady Schrapnell erklären müssen, weshalb wir uns in Oxford aufhielten und nicht in Coventry.
Und genau deshalb stöberte ich hier im Schutt herum, weil ich nämlich nicht versuchen mochte zu erklären, warum ich nicht am vierzehnten um fünf Uhr hier vor der Kathedrale gelandet war, wie man es von mir erwartet hatte, und weil es wenig Sinn hatte, von Schlupfverlusten zu sprechen, weil Lady Schrapnell nicht an Schlupfverluste glaubte. Und an die Zeitkrankheit ebensowenig.
Nein, solange Carruthers noch einigermaßen zusammenhängend sprach, war es besser, hier zu bleiben, des Bischofs Vogeltränke zu finden, und dann erst zurückzukehren, imstande, Lady Schrapnell mitzuteilen, daß sich des Bischofs Vogeltränke tatsächlich während des Angriffs in der Kathedrale befunden hatte, und sich dann in Schlaf fallen zu lassen. Schlaf, der den zerlumpten Ärmel der falschen Uniform flickte,[4] Schlaf, der die rußige Stirn glättete und Gram fernab hielt, der die müde Seele mit heilender, wonniger Ruhe…
Carruthers kam herbei und sah weder müde noch abgelenkt aus. Ausgezeichnet…
»Ned!« sagte er. »Hast du mich nicht rufen hören?«
»Tut mir leid. Ich habe gerade nachgedacht.«
»Scheint so. Ich rufe dich bereits seit fünf Minuten«, erwiderte er. »Hatte sie Dookie dabei?«
Entweder hatte ich mich verhört, oder Carruthers’ Symptome waren noch schlimmer als ich dachte. »Dookie?« fragte ich behutsam.
»Ja, Dookie! Hatte sie Dookie bei sich?«
O nein, ich mußte ihn nach Oxford zurückbringen, ohne daß der Kirchendiener es merkte, mußte ihn zur Krankenstation bringen und dann versuchen, wieder hierher zurückzukehren, wobei ich sicher mitten in einem Gemüsekürbisfeld irgendwo zwischen Coventry und Liverpool landen würde…
»Ned, hörst du mich nicht?« Carruthers’ Stimme klang besorgt. »Ich fragte, ob sie Dookie bei sich hatte.«
»Wer?« fragte ich und überlegte, wie ich es ihm wohl am besten beibrachte, daß er nach Hause geschickt werden mußte. Die Opfer der Zeitkrankheit fühlen sich nie davon befallen. »Lady Schrapnell?«
»Nein«, erwiderte er ausgesprochen gereizt. »Ihre Majestät. Die Königin. Als sie uns den Auftrag erteilte, hierher zu gehen. ›Ihre schöne, schöne Kathedrale‹ und so weiter.« Er deutete auf den Kirchendiener, der auf uns zustrebte. »Er wollte wissen, ob sie Dookie bei sich hatte, als wir sie sahen, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer das sein soll.«
Genausowenig wie ich. Dookie… Unwahrscheinlich, daß es ihr Spitzname für den König gewesen sein sollte. Für ihren Tunichtgut von Schwager vielleicht? Nein, Edward hatte bereits 1940 abgedankt, und die Königin nannte ihn überhaupt nichts mehr.
Möglicherweise der Hund der Königin, überlegte ich, aber das half mir auch nicht besonders. In ihren späteren Jahren als Königinmutter züchtete sie Welsh Corgies, aber was hatte sie während des Zweiten Weltkriegs getan? Yorkshire Terrier? Zwergspaniel? Und wenn ja, welches Geschlecht? Vielleicht war Dookie ihre Zofe. Oder der Spitzname einer der Prinzessinnen?
Der Kirchendiener hatte uns inzwischen erreicht. »Sie haben nach Dookie gefragt«, sagte ich. »Nein, Dookie war nicht bei Ihrer Majestät. Ist für eine Zeitlang auf Schloß Windsor. Wegen der Bomben, wissen Sie. Hat fürchterliche Angst davor.«
»Manche nimmt’s schlimm mit«, sagte der Kirchendiener und sah zu der Stelle, wo sich Mr. Spivens und der neue Rekrut aufhielten. »Schwache Nerven, wissen Sie.«
Der neue Rekrut hatte endlich herausgefunden, wie die Taschenlampe funktionierte. Er knipste sie an und ließ ihren Lichtstrahl die geschwärzten Wände des hohen Chors entlangwandern. Dann richtete er ihn auf Mr. Spivens, der im Schutt neben den Stufen einen Tunnel grub.
»Verdunklung?« Ich blickte Carruthers fragend an.
»Oh, mein Gott!« stöhnte Carruthers. »Machen Sie das Ding aus!« schrie er und kroch zu dem Rekruten hinüber.
»Letzte Woche geh’ ich doch auf den Dachboden, und was seh’ ich da?« sagte der Kirchendiener und blickte zu dem hohen Chor, wo Carruthers dem neuen Rekruten die Lampe entrissen und sie ausgeknipst hatte. »Meinen Schwager, unvorsichtig wie nur was, der dort ein Streichholz ansteckt! ›Warum schießt du nicht gleich ein paar Leuchtkugeln ab, wenn du schon dabei bist‹, sag’ ich zu ihm, ›damit die Luftwaffe auch sichergehen kann, uns zu finden?‹ — ›Es ist doch nur ein einziges Streichholz‹, sagt er. ›Was kann das schon anrichten?‹«
Er schaute düster umher auf das, was die Luftwaffe offensichtlich so problemlos gefunden hatte, und ich überlegte, ob er seinen Schwager vielleicht dafür verantwortlich machte, aber er sagte nur kopfschüttelnd: »Armer Probst Howard. Es war ein schlimmer Schlag für ihn, die Kathedrale zu verlieren. Ging nicht mal heim. Blieb die ganze Nacht über hier.«
»Die ganze Nacht?«
Er nickte. »Wegen der Plünderer.« Wieder blickte er traurig auf die Trümmer. »Nicht, daß hier noch viel zu holen wär’. Aber falls irgendwas noch unversehrt ist, will man schließlich nicht, daß es sich einer unter’n Nagel reißt.«
»Nein«, stimmte ich zu.
Betrübt schüttelte er den Kopf. »Sie hätten ihn sehen sollen, wie er durch die Trümmer schritt, hin und her, vor und zurück. ›Geh’n Sie heim und legen Sie sich etwas hin, Mr. Spivens‹, sagte ich zu ihm, ›ich löse Sie ab‹.«
»Also war seit dem Brand immer jemand hier anwesend«, stellte ich fest.
»Beinahe immer«, sagte er. »Außer als ich heim zum Tee ging. Und heute morgen hatte es zu regnen begonnen, und ich schickte meinen Schwager nach Hause, um meinen Regenmantel und ’n Schirm zu holen, aber er kam einfach nicht wieder, und so mußte ich selbst los und die Sachen holen. Es wird dunkel«, fügte er mit einem nervösen Blick zum Himmel in Richtung Osten hinzu. »Die Jerries werden bald zurückkommen.«
Das würden sie sicher nicht tun. Die Luftwaffe hatte beschlossen, sich in dieser Nacht statt dessen London zu widmen. Aber dunkel wurde es tatsächlich. Das entfernte Ende der Kirche, wo Carruthers dem neuen Rekruten gerade lautstark einen Vortrag über Verdunklungsmaßnahmen hielt, lag in Düsternis, und die Fensterhöhle des Ostfensters gähnte zu einem finster werdenden blauschwarzen Himmel. Lichter von Suchscheinwerfern fuhren im Zickzack über den Rauch.
»Wir machen am besten voran, bevor es richtig dunkel wird«, sagte ich und ging wieder dorthin, wo ich vorher gegraben und die Trümmer begutachtet hatte, um herauszufinden, wie weit des Bischofs Vogeltränke weggeschleudert worden sein mochte. Falls sie nicht von Plünderern weggekarrt worden war. Der Kirchendiener war mindestens eine Stunde Tee trinken gewesen, eine Zeitspanne, während der jeder Vorbeikommende durch das nicht mehr existierende Südportal in die Kirche spazieren und alles, was ihm gefiel, hätte mitnehmen können. Einschließlich des Bischofs Vogeltränke.
Mein Verstand mußte durch den Schlafentzug gelitten haben. Niemand, nicht einmal ein Mensch mit Kriegsneurose, würde etwas Derartiges stehlen. Oder auf einem Wohltätigkeitsbasar kaufen. Es handelte sich hier um des Bischofs Vogeltränke. Es sei denn, jemand erkannte ihr Potential als psychologische Waffe gegen die Nazis.
Sie mußte also hier irgendwo sein, zusammen mit dem Rest der Chorschranke und dem Teil der Gedenktafel, auf dem »gkeit« stand, und ich machte mich besser an die Arbeit, wenn ich das alles noch vor Einbruch der Nacht finden wollte. Ich hob ein Kniekissen auf, das noch qualmte und intensiv nach verkohlten Federn roch, legte es in den Gang und machte mich daran, zum hinteren Teil des Schiffes durchzugraben.
Ich entdeckte noch mehr Reste der Schranke, einen einzelnen bronzenen Kerzenhalter und ein angesengtes Gesangbuch, das bei dem Lied: »Preise deinen Namen, alles was lebt«, aufgeschlagen war. Im Umschlag steckte ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
Ich zog es heraus. Es war die Gottesdienstordnung vom Sonntag, zehnter November. Als ich sie auseinanderfaltete, stoben angeschwärzte Papierteile hoch.
Blinzelnd versuchte ich in der Dämmerung etwas zu entziffern. Jetzt hätte ich die Taschenlampe des neuen Rekruten brauchen können. »… und rote Nelken auf dem Hochaltar«, las ich, »zur Erinnerung an Fliegerleutnant David Halberstam. Das Kanzelarrangement aus rosa Begonien und das Bukett gelber Chrysanthemen in des Bischofs Vogeltränke wurden vom Blumenausschuß der Frauengemeinschaft gestiftet und arrangiert. Die Vorsitzende, Mrs. Lo…«
Der Rest der Vorsitzenden war verbrannt, aber zumindest hatte ich hier den Beweis, daß sich des Bischofs Vogeltränke noch vor fünf Tagen in der Kathedrale befunden hatte. Wo war sie also jetzt?
Ich schaufelte weiter, und der Mond, der in der Nacht zuvor der Luftwaffe so gute Dienste geleistet hatte, tauchte kurz auf und verschwand dann wieder im dunkeltrüben Dunst aus Rauch und Staub.
Der Teil der Kirche, in dem ich mich befand, mußte auf einen Schlag eingestürzt zu sein, und bald fand ich nichts mehr, was ich allein hätte heben können. Ich hielt nach Carruthers Ausschau, aber er war tief in königliche Themen mit dem Kirchendiener verstrickt und versuchte wahrscheinlich, gleichzeitig ein paar Informationen aus ihm herauszuquetschen. Ich wollte ihn nicht stören.
»Helfen Sie mir mal!« rief ich statt dessen dem neuen Rekruten zu. Er hockte wie ein Frosch neben Mr. Spivens und sah zu, wie dieser den Tunnel grub. »Hier drüben!« schrie ich und gestikulierte.
Keiner von beiden schenkte mir irgendeine Beachtung. Mr. Spivens steckte fast gänzlich im Tunnel, und der neue Rekrut fingerte wieder an seiner Taschenlampe herum.
»Hallo!« schrie ich. »Hierher!« und dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig: Mr. Spivens verschwand, der neue Rekrut beugte sich nach hinten und fiel um, die Taschenlampe ging an, ihr Strahl glitt über den Himmel wie ein Suchscheinwerfer, und ein langes, schwarzes Tier kam aus dem Tunnel geschossen und raste quer über die Trümmer. Eine Katze. Mit lautem Gebell setzte ihr Mr. Spivens nach.
Ich ging zu der Stelle, wo der neue Rekrut saß und interessiert den beiden Tieren nachstarrte, knipste die Lampe aus, zog ihn hoch und sagte: »Kommen Sie! Helfen Sie mir, diese Balken dort wegzuheben.«
»Haben Sie die Katze gesehen?« fragte er und schaute hinüber, wo sie unter der Treppe zum hohen Chor verschwunden war. »Es war doch eine Katze, oder? Sie sind kleiner als ich dachte. Ich dachte, sie hätten mehr die Größe eines Wolfes. Und wie flink sie sind! Waren alle so schwarz wie die hier?«
»Zumindest alle, die in einer ausgebrannten Kathedrale herumkrochen«, sagte ich.
»Eine richtige Katze!« Er klopfte den Staub aus seiner falschen Hilfsfeuerwehruniform und folgte mir. »Wie aufregend, einem Geschöpf zu begegnen, das seit nahezu vierzig Jahren ausgestorben ist. Noch nie zuvor habe ich eine Katze gesehen.«
»Packen Sie dieses Ende«, sagte ich und wies auf ein Stück steinerner Dachrinne.
»Alles ist so aufregend«, sagte er. »Wirklich hier zu sein, hier, wo alles begann.«
»Oder endete«, entgegnete ich trocken. »Nicht das da! Obendrauf das!«
Er hob es an, die Knie gestreckt, und schwankte ein bißchen. »Wie aufregend! Lady Schrapnell sagte, an der Kathedrale mitzuarbeiten, sei ein lohnendes Unterfangen, und recht hat sie! Das alles zu sehen und zu wissen, daß es nicht wirklich zerstört wurde, daß es sich in just dieser Minute wieder aus der Asche erhebt, gerettet und wiederhergestellt in seiner ganzen früheren Pracht.«
Er klang auch nach Zeitkrankheit, hatte sie aber sicher nicht. Sämtliche neuen Rekruten von Lady Schrapnell hörten sich so an.
»Wie oft sind Sie schon gesprungen?«
»Das ist mein erstes Mal«, sagte er mit eifrigem Gesicht. »Und ich kann’s immer noch nicht fassen. Wir sind wirklich hier, im Jahre 1940, auf der Suche nach des Bischofs Vogeltränke, und graben einen Schatz der Vergangenheit aus, die Schönheit einer längst vergangenen Epoche.«
Ich schaute ihn an. »Sie haben sie noch nie gesehen, stimmt’s?«
»Nein«, erwiderte er, »aber sie muß erstaunlich sein. Sie veränderte nämlich das Leben von Lady Schrapnells Ururgroßmutter.«
»Weiß ich«, sagte ich. »Es veränderte unser aller Leben.«
»Hier!« rief Carruthers von der Draperschen Kapelle herüber. Er lag auf den Knien. »Ich habe etwas gefunden.«
Er grub, was den Luftdruck betraf, in der falschen Richtung, und zunächst sah ich bloß einen Haufen verkohltes Fachwerk, aber Carruthers deutete auf etwas mittendrin.
»Ich seh’s!« sagte der Kirchendiener. »Es sieht nach Metall aus.«
»Machen Sie die Taschenlampe an«, befahl Carruthers dem neuen Rekruten.
Der Rekrut, der vergessen hatte, wie man die Lampe anknipste, fummelte eine Weile damit herum und traf, als sie endlich anging, mit dem Lichtstrahl direkt Carruthers’ Gesicht.
»Nicht auf mich«, schimpfte Carruthers. »Hier unten hin!« Er riß ihm die Lampe aus der Hand, beleuchtete das Gebälk, und meine Augen erhaschten ein metallisches Glitzern. Mein Herz hüpfte.
»Weg mit den Balken«, sagte ich, und gemeinsam machten wir uns an die Arbeit.
»Da ist es«, sagte der Kirchendiener, und Carruthers und der neue Rekrut zerrten etwas aus dem Haufen heraus.
Das Metall war schwarz vor Ruß, das Ganze völlig zerbeult und zerquetscht, aber ich wußte sofort, um was es sich handelte, und der Kirchendiener auch. »Es ist einer der Sandeimer«, sagte er und brach in Tränen aus.
Es war physisch unmöglich, daß der Kirchendiener auch an der Zeitkrankheit leiden konnte, außer sie war irgendwie ansteckend. Wie dem auch sei, er gab eine gute Imitation davon ab.
»Ich sah diesen Sandeimer noch gestern abend«, heulte er in ein völlig verrußtes Taschentuch, »und seh’n Sie mal, wie er jetzt aussieht.«
»Wir werden ihn saubermachen«, sagte Carruthers und tätschelte dem Kirchendiener unbeholfen die Schulter. »Er wird so gut wie neu aussehen.« Das bezweifelte ich.
»Der Henkel ist glatt abgerissen«, sagte der Kirchendiener. Er schnaubte sich geräuschvoll die Nase. »Ich füllte diesen Eimer eigenhändig mit Sand. Hängte ihn selbst ans Südportal.«
Das Südportal lag am anderen Ende der Kirche, die ganze Länge des Kirchenschiffes und Reihe um Reihe Bänke aus solidem Eichenholz zwischen ihm und der Draperschen Kapelle.
»Wir werden den Henkel finden«, versprach Carruthers, was ich ebenso bezweifelte, und sie knieten sich hin wie zum Gebet und begannen, rings um den Haufen Fachwerk zu graben.
Ich ließ sie und den neuen Rekruten, der unter die Stufen spähte und offenbar nach weiteren Katzen Ausschau hielt, allein und ging dorthin, wo das Dach in einem Stück heruntergebrochen war.
Und stand dort, wo der Hauptgang gewesen war, und versuchte herauszufinden, wo ich jetzt nachschauen sollte. Der Luftdruck hatte den Sandeimer fast durch die ganze Kirche geschleudert, entgegengesetzt der Richtung des Luftdrucks, der das Fenster in der Smithschen Kapelle herausgedrückt hatte. Das bedeutete, daß des Bischofs Vogeltränke überall sein konnte.
Und es war Nacht. Die Suchscheinwerfer schwenkten ihre Strahlen in großen Bögen über den Himmel, und im Norden erleuchtete das orangebraune Glühen eines Feuers, das die Posten Eins bis Siebzehn noch nicht unter Kontrolle bekommen hatten, die Nacht, aber beides gab nicht genug Licht, und der Mond war nirgends zu entdecken.
Wir würden nicht mehr länger arbeiten können, und Lady Schrapnell würde uns im Netz treffen und wissen wollen, wo wir gewesen waren und warum wir des Bischofs Vogeltränke nicht gefunden hatten. Sie würde mich zurückschicken, schlimmer noch, sie würde mich wieder auf die Wohltätigkeitsbasare ansetzen, mit all den fürchterlichen Federhalterwischern und bestickten Teedeckchen und steinharten Kuchen.
Vielleicht sollte ich besser hierbleiben, mich zur Infanterie melden und mich an irgendein friedliches, ruhiges Plätzchen schicken lassen, zum Beispiel an die Strände der Normandie. Nein — dieser Tag kam ja erst 1944. Also auf nach Nordafrika! Nach El Alamein!
Ich schob das verschmorte Ende eines Kerzenleuchters beiseite und hob den Stein daneben an. Fußboden war darunter, der Sandsteinboden der Dyerschen Kapelle. Ich setzte mich auf eine Mauerkappe.
Mr. Spivens trottete herbei und begann auf dem Fußboden zu scharren. »Zwecklos, Junge«, sagte ich. »Sie ist nicht hier.« Resigniert dachte ich an Federhalterwischer in Gestalt von Gartenwicken, die ich würde erstehen müssen.
Mr. Spivens setzte sich mir zu Füßen und schaute mich mitleidig an.
»Du würdest helfen, wenn du nur könntest, nicht wahr, alter Freund?« sagte ich. »Kein Wunder, daß sie dich den besten Freund des Menschen nennen. Treu, loyal und ehrlich teilst du unsere Freuden und feierst mit uns unsere Triumphe. Der ehrlichste Freund, den wir kennen, einen besseren, als wir verdienen. Ihr habt euer Schicksal mit dem unseren verwoben, durch dick und dünn, auf dem Schlachtfeld und auf dem Kaminvorleger, und weigert euch, euren Herrn zu verlassen, selbst wenn euch Tod und Zerstörung umgibt. Oh, nobler Hund, du pelziger Spiegel, in dem wir unser besseres Selbst abgebildet sehen, der Mensch, wie er sein könnte, unbefleckt von Krieg oder Ambitionen, unverdorben durch…«
Und mit einem harten Ruck wurde ich nach Oxford zurückgerissen und in die Krankenstation transportiert, noch ehe ich Mr. Spivens Kopf zu Ende tätscheln konnte.
»Wenn sich jeder um seinen eigenen Kram kümmerte«, grollte die Herzogin dumpf, »würde sich die Welt ein gutes Stück schneller drehen.«