8


Je höher er stieg, desto heißer wurde es. Anscheinend sammelte sich die Hitze unter dem Deckengewölbe der Blase, und inzwischen hatte er eine Höhe erreicht, in der es keine Thermik gab. Es gab überhaupt keine Luftbewegungen mehr. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Es war, als müßten seine Lungen heißen, zähen Honig pumpen. Seine Kehle war vollkommen ausgetrocknet, Schleimhäute und Augen schmerzten bei jeder Regung. Sein Körper hatte die Reserven an Feuchtigkeit und Tränenflüssigkeit verbraucht. Allerdings schwitzte er noch immer, und die heiße, trockene Luft entzog ihm immer mehr Wasser. Hartmann vermutete, daß er in den letzten sechzig Minuten mindestens sechs Kilo Gewicht verloren hatte.

Er hatte seine wunden Hände mit schweißgetränkten Fetzen seiner Uniform umwickelt und kletterte mühsam Meter um Meter. Das größte Hindernis war nicht sein eigenes Gewicht, sondern die Tatsache, daß die Drahtoberfläche relativ wenig Halt bot.

Er erreichte eine Verzweigung. Mehrere verschieden starke Drähte liefen in einem Knoten zusammen. Keuchend ließ er sich zwischen die Drähte sinken und schloß die Augen.

Hartmann konnte sich ziemlich sicher sein, die Moroni abgeschüttelt zu haben. Anscheinend war selbst eine Ameise nicht dumm genug, sich auf eine derartige Kletterpartie einzulassen. Außerdem waren die glatten Chitinpanzer und die groben Greifzangen nicht gerade das beste Inventar für einen Bergsteiger oder Trapezartisten. Es war an der Zeit, umzukehren und sich an einer anderen Stelle der Galerie abzuseilen, um sich davonzustehlen.

»Immerhin habe ich eine Verabredung«, spottete er über sich selbst und öffnete die Augen.

Gerade rechtzeitig genug, um die Spinne zu sehen.

Tatsächlich sah das Wesen mehr wie eine vielbeinige Krabbe aus. Der Körper war rund wie eine Kugel, dicht mit drahtigen Haaren bedeckt, die aussahen, als könnte man problemlos ein Telefonbuch mit ihnen zerschneiden. Zwei zusätzliche Extremitäten, die wie Klauenarme wirkten, sahen aus, als habe man sie nachträglich am Körper befestigt. Das Maul war eine dreieckige Schnittwunde, angefüllt mit spitzen Zähnen, und die Augen schimmerten in ihrem eigenen Licht. Hartmann hielt es durchaus für möglich, daß dieses Wesen in seinem Leib selbst die Drähte produzierte, die sich überall in der Blase spannten.

Er verfluchte sich für seinen Leichtsinn. Natürlich hatten die Moroni irgendwelche Wächter zurückgelassen, die sich um das Drahtgewirr kümmerten und es von Störungen befreiten. Seine Kletterei mußte kilometerweit reichende Schwingungen ausgesandt haben. Vielleicht hatten die Moroni dieses Wesen wie einen Suchhund auf seine Fährte gesetzt.

Die Spinne hockte reglos zehn Meter unter ihm und sah zu ihm empor. Seltsamerweise waren ihre Augen dunkelblau, und der Blick wirkte wach und aufmerksam. Die Beine hatten sich um drei Drähte verschlungen, die bis zu dieser Stelle parallel verliefen, sich dann aber umeinander schlangen und in verschiedene Richtungen auseinanderliefen. Nach einer Weile begriff Hartmann. Das Wesen hatte sich den falschen Weg ausgesucht und wartete nun auf seinen nächsten Zug, bevor es sich entschied, welchen Weg in dem dreidimensionalen Irrgarten des Drahtgeflechtes es beschreiten wollte.

Hartmann spähte aufmerksam nach unten. Es sah so aus, als ob sein Verfolger ein ganzes Stück wieder nach unten klettern müßte, bevor er eine geeignete Abzweigung finden konnte. Hartmann hatte also einen kleinen Vorsprung. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als die Spinne träge mit einem Bein wackelte. Er sah sich hastig um, ob vielleicht noch andere der scheußlichen Kreaturen in seine Nähe gekommen waren, aber es war nichts zu sehen.

Nach unten konnte er nun nicht mehr klettern. Die Spinne würde ihm den Weg abschneiden. Und über sie hinweg in einem Bogen auf die Galerie zurückzukehren war aus denselben Gründen unmöglich. Blieb nur noch der Weg nach ganz oben. Hartmann legte den Kopf in den Nacken und starrte zum Deckengewölbe empor. Er konnte noch keine Einzelheiten erkennen, aber die Logik sagte ihm, daß das Drahtgewirr irgendwo an der Decke befestigt sein mußte. Vielleicht gab es irgendwelche Fenster oder Einstiegsluken dort oben. Er mußte es darauf ankommen lassen.

Langsam und vorsichtig löste er sich aus der Drahtmasche und begann, nach oben zu steigen. Die Spinne ließ ihn so wenig aus den Augen wie er sie. Ihr Blick folgte ihm, während sie mit einigen ihrer Beine zerstreut an den Drähten spielte. Ihr Maul öffnete sich in regelmäßigen Abständen. Vielleicht machte ihr die Hitze nicht weniger zu schaffen als ihm.

Nach einer Weile wandte Hartmann den Blick ab und konzentrierte sich auf seinen Weg. Er hatte mindestens zehn Minuten, bevor das Wesen ihn eingeholt haben konnte. Sein Weg führte ihn immer näher an eine der mächtigen Felssäulen heran. Als er die hochragende Wand erreicht hatte, blickte er sich noch einmal um. Die Spinne war nicht mehr zu sehen. Sie mußte den Verzweigungsknoten verlassen haben. Er musterte die Felswand. Zahlreiche Drähte führten mehr oder weniger nah an dem mindestens zehn Meter durchmessenden Basaltzylinder vorbei, aber keiner war an der Felswand befestigt. Der Fels zeigte tiefe Risse und Spalten, und ein Geflecht aus Drähten und Streben bedeckte ihn wie ein ramponierter Nylonstrumpf mit Löchern, durch die ein Lastwagen hindurchgepaßt hätte. Unter irdischen Bedingungen wäre Hartmann niemals auf die Idee gekommen, seine Klettertour an der Säulenwand fortzusetzen, aber es sah so aus, als würde der Fels weitaus weniger Hindernisse bieten als das Gewirr aus dünnen und scharfkantigen Drähten. Außerdem bestand die Gefahr, daß er wie die Spinne in eine Sackgasse hineinkletterte. Er vermutete, daß sein Verfolger nur darauf wartete. Er wußte, daß dieser Weg vermutlich sehr viel einfacher war.

Seinen Verstand davon zu überzeugen, daß er tief im Inneren des Mondes in Beinahe-Schwerelosigkeit herumkletterte, war schon schwierig genug, aber sich dazu zu bringen, eine senkrechte Felswand hinaufzuklettern, ohne sich dabei auf mehr als seine bloßen Hände und Füße verlassen zu können, war unmöglich. Er robbte sich näher an die Säule heran. Der geringste Abstand zwischen seinem Drahtbündel und der Säulenwand betrug etwa fünf Meter. Entlang der Säule fand sich überhaupt kein Halt, nichts, um einen Sturz abzufangen. Hartmann hatte es schon nicht gewagt, sich in dem Drahtgewirr einfach durch weite Sprünge fortzubewegen, denn das Risiko, die ausgewählte Verstrebung zu verfehlen oder an einem anderen Draht hängenzubleiben, war ihm einfach zu hoch erschienen.

Er bemerkte aus den Augenwinkeln eine Bewegung und drehte hastig den Kopf. Die Spinne hockte hinter ihm, keine drei Meter entfernt, und ihre beiden Klauenarme waren ausgestreckt. Während er seine Zeit mit müßigen Überlegungen vertan hatte, hatte sein Verfolger ihn eingeholt. Die Kreatur mußte sich weitaus gewandter im Drahtgewirr bewegen können, als er vermutet hatte.

Die blauen Augen musterten ihn mit einer nicht zu leugnenden Intelligenz. Langsam senkte die Spinne eine der schweren Klauen und schloß sie um einen der Drähte, auf denen er lag. Die metallisch schimmernden Kanten an der Innenseite der Schere kappten den Draht mit einem melodischen Ton, und der straff gespannte Draht peitschte auseinander. Das Ende schnitt tief in Hartmanns Oberschenkel und riß ihn halb von dem restlichen Bündel los. Er schrie vor Schmerzen auf und hielt sich hastig mit den Händen an dem schwingenden Drahtbündel fest. Die Spinne kam etwas näher heran und zwängte die andere Klaue um einen zweiten Draht.

Kurz entschlossen schwang sich Hartmann in die Luft und stieß sich mit aller Kraft ab. Die Kraft seiner Arme ließ ihn mit merklicher, aber erschreckend geringer Geschwindigkeit auf die Felswand zutreiben. Zugleich packte ihn die schwache Schwerkraft und zog ihn abwärts, kaum spürbar erst, dann aber immer schneller. Die Spinne befreite hastig ihre Klaue aus dem Drahtbündel und schnellte heran. Die zupackenden Scheren verfehlten ihn um eine Armlänge. Er drehte sich langsam um die eigene Achse. Obwohl er sich fast den Kopf verrenkte, verlor er die Spinne aus dem Blickfeld. Es lief ihm kalt den Rücken herunter, und er glaubte zu spüren, wie sie ihn beobachtete und ihre Chancen abschätzte.

Nach endlos scheinenden Sekunden prallte er sanft gegen die Säule. Inzwischen hatte sich seine Fallbewegung derart beschleunigt, daß er fast anderthalb Meter über den rauhen Fels abrutschte, bevor er sich festhalten konnte. Der heftige Ruck zerrte schmerzhaft an seinen Schultergelenken und erinnerte ihn nachdrücklich daran, daß er zwar vorübergehend sein Gewicht, nicht aber seine Masse losgeworden war. Stöhnend zog er sich nach oben, bis er sicheren Halt hatte, dann schaute er sich um.

Die Spinne wippte auf dem Drahtbündel und starrte unverwandt zu ihm hinüber. Anscheinend zögerte sie, das Risiko einzugehen. Jagdinstinkt und kühle Vorsicht hielten einander die Waage. Verärgert klickte sie mit den Scherenklauen.

Hartmann spürte, wie ihn Erleichterung übermannte. Er lachte, ein Geräusch, das mehr danach klang, als habe er den Verstand verloren. »Na los doch«, brüllte er, winkte und hätte fast den Halt verloren. »Traust du dich nicht, du Mißgeburt?«

Die Spinne hörte auf zu wippen. Ihre Augen funkelten. Hartmann erstarrte. Er würde diesen Verfolger nicht loswerden, begriff er. Früher oder später würde die Spinne wieder in seiner Nähe auftauchen. Moroni-Kreaturen waren ausdauernd wie Maschinen. Seine Gedanken überschlugen sich, verharrten plötzlich.

»Was ist? Los, spring schon.« Hartmann vermied es, nach unten zu sehen, und löste das Funkgerät vom Rücken. Vorsichtig wickelte er sich den Tragegurt um die rechte Hand, dann ließ er das Funkgerät am Riemen herabhängen. Die ganze Zeit über behielt er wachsam die Spinne im Auge. »Komm schon, du elender Feigling.«

Die Spinne warf ihre schweren Klauenarme nach vorn und stieß sich mit den Beinen ab. Sie hatte haarige Beine, aber keines war besonders kräftig. Obwohl er an der Säule ein Stück nach unten abgerutscht war, kam sie erst auf seiner Höhe an die Felswand heran. Er hielt sich mit der rechten Hand an einer stählernen Naht im Fels fest und ließ sich am ausgestreckten Arm von der Wand hängen, schwang das Funkgerät am Riemen wie eine Schleuder. Die Spinne entfaltete ihre Beine und riß das zahngefüllte Maul weit auf, als sie auf Armlänge herabgesunken war. Hartmanns Funkgerät traf sie mitten in das häßliche Gesicht. Das Maul schloß sich reflexhaft, die widerstandsfähige Verkleidung des Funkgerätes splitterte, und die diamantharten Zähne zermalmten die empfindliche Elektronik. Ein ohrenbetäubend gellendes Pfeifen ertönte, als sie die Überreste des Funkgerätes ausspuckte und die Scheren nach der Säulenwand ausstreckte. Hartmann beobachtete mit angehaltenem Atem, wie sie nach einer Strebe griff. Einen Sekundenbruchteil lang schien die Strebe die Fallbewegung zu stoppen, dann glitten die Scherenkanten ab und zerschnitten die Stahlverstrebung, und Hartmanns unheimlicher Widersacher stürzte kreischend in die Tiefe.

Er starrte hinterher, bis er die Spinne nicht mehr sehen konnte. Er fluchte anhaltend. Der Verlust des Funkgerätes war nicht einkalkuliert gewesen, aber er hatte keine andere Wahl gehabt.

»Ich werde mich beeilen müssen«, sagte er. Vorsichtig begann er mit dem Aufstieg. Die Felssäule war durchsetzt mit tiefen Rissen, aus denen ein schwarzes, mürbes Mineral herausbrach. Solange er sich an festem Basalt und den daran angebrachten Stützen festhielt, war er in Sicherheit. Langsam gewann er Meter um Meter an Höhe, und nach einer Viertelstunde konnte er in dem allgegenwärtigen rötlichen Widerschein des Lavasees die kuppelförmige Decke der Blase erkennen.

Kurz darauf zog er sich ächzend über die Kante auf die gut fünfzehn Meter durchmessende Fläche am oberen Ende der Säule. Im ersten Moment begriff er überhaupt nicht, wo er sich befand. Er plagte sich auf, wischte sich den brennenden Schweiß aus den Augen und sah sich um. Die Säule endete nicht im Deckengewölbe. Genau genommen hatte sie überhaupt keine Verbindung zur Decke. Er kniete auf einer blankgefegten, polierten Kreisfläche, die mindestens zwanzig Meter unter dem Deckengestein lag. Anscheinend standen diese Säulen freitragend in dem Lavasee. Da sie ganz offensichtlich nicht die Last der Gewölbedecke trugen, war ihre Funktion noch rätselhafter.

Dann sah er den dünnen, silberfarbenen Draht, der genau in der Mitte der Fläche aus dem Fels heraustrat und sich senkrecht in die Höhe zog. Von einer düsteren Vorahnung geleitet, legte Hartmann den Kopf in den Nacken. Der unmöglich dünn wirkende Draht zog sich im Hitzedunst bis zum Deckengewölbe, hinein in eine zylindrische Öffnung, die ein paar Meter größer war als die Felssäule, und verschwand danach in einem Schacht, dessen Höhe unmöglich zu schätzen war.

»Das ist doch nicht möglich«, hauchte er ehrfürchtig. Er kannte die Festigkeit von Moroni-Materialien, aber wenn dieser Draht tatsächlich das gesamte Gewicht der monströsen Felssäule trug, dann war das selbst in der geringen Schwerkraft eine beängstigende Leistung. Hartmann hatte von Experimenten mit Fasern gehört, die aus organischen Verbundwerkstoffen bestanden, und von Theorien über Zugseile, die aus einem einzigen langen Riesenmolekül mit vielen Billiarden Einzelsträngen bestanden, aber über die Möglichkeit zu reden war eine Sache, ihre Verwirklichung zu sehen eine andere. Er schaute sich langsam um. Hundertfünfzig Meter entfernt hing eine weitere, etwas größere Säule, und dahinter konnte er in der hitzewabernden Luft noch ein Dutzend weitere erkennen. Überall um ihn herum hingen Millionen Tonnen schwere Basaltsäulen wie die Gewichte einer überdimensionalen Kuckucksuhr in einen Pfuhl aus rotglühender Lava herab. Er dachte an den zylindrischen Schacht, vor dem sie den Shait gesehen hatten. Die Moroni mußten diese Felssäulen mit einer Art Sprengladung aus dem Deckengewölbe herausgeschmolzen haben. Ihm wurde schwindelig bei dem Gedanken an eine Technologie, die die Möglichkeit geschaffen hatte, vier Kilometer lange Säulen aus Fels aus dem Inneren eines Mondes herauszusprengen.

Dann drängte sich ein anderer Gedanke in sein Bewußtsein. Eine der weiter entfernten Säulen schien sich gleichmäßig zu bewegen. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und versuchte, in der hitzeflimmernden Luft etwas zu erkennen. Nun stand die Säule wieder still. Gerade, als er sich abwenden wollte, begann sich eine andere, etwas näher befindliche Säule zu bewegen.

»Was ...«

Der Boden unter seinen Füßen setzte sich mit einem kaum merklichen Ruck in Bewegung.

Nach unten.

Er ließ sich flach auf den Boden fallen und klammerte sich an der polierten Felsfläche fest. Die Säule schwankte und geriet in immer größere Schwingungen, während sie sich Zentimeter um Zentimeter senkte. Er sah förmlich vor Augen, wie das Kilometer entfernte untere Ende gleichmäßig in der rotglühenden Lava verschwand, und sekundenlang glaubte er schon zu spüren, wie die Hitze zunahm, bevor ihm klar wurde, wie abwegig diese Befürchtung war. Bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit würde es Tage dauern, bis sich der Basaltstab ganz abgesenkt hatte.

Andererseits würde er den Absprung wohl kaum noch einmal schaffen.

Er seufzte und blickte wieder nach oben und versuchte die Entfernung zur Decke abzuschätzen. Die Säule senkte sich ein gutes Stück langsamer, als er klettern konnte. Dann fiel ihm noch etwas auf.

Er kannte diese Schächte.

»Nicht schon wieder«, sagte er flehentlich.

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