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Der Läufer war ein vielbeiniges, gewaltiges Insekt auf einer gewaltigen Platte aus poliertem Eis, und seine stelzenartigen Trägerfüße krallten sich metertief in den arktischen Eispanzer hinein, während der wütend heulende Wind versuchte, ihn mit sich zu reißen. In den letzten Tagen hatte die arktische Eisfläche alle scharfkantigen Erhebungen verloren. Inzwischen wagten sich nur noch die großen Maschinen auf das Eis hinaus, denn alles, was weniger als hundert Tonnen wog, wurde vom Wind einfach fortgerissen. Nicht einmal die Jared-Krieger waren zäh und dumm genug, sich in dieses weißgraue Inferno hinauszuwagen.

Inzwischen war es den Jared gelungen, den großen Ring zu schließen. Die Eisscholle auf der Innenseite des Ringes war unter der Wucht der Winde in viele Teile zerbrochen, und nun stürmte eine meterhohe Brandung gegen den Ring an. Obwohl der Meeresboden viele hundert Meter tief unter der Wasserfläche lag, schlug die Gischt immer wieder über die Ringbauten, und in regelmäßigen Abständen mußten Gleiter hinaus, um Eisberge zu zerstören, die auf den Ring zudrifteten. Teile des Ringes schwammen auf mächtigen Pontons. Erdbeben erschütterten immer wieder die Eismassen.

Das Loch mußte inzwischen die Erdkruste abgetragen und an einigen Stellen das glühende Innere der Erde freigelegt haben. Glücklicherweise floß der größte Teil der Magma direkt in das Loch hinein und gelangte nicht ins Meerwasser. Dort, wo sich früher die Schwarze Festung befunden hatte, wurde nun in jeder Minute die Energie mehrerer Wasserstoffbomben freigesetzt.

Gurk beugte sich näher an die vereiste Seitenscheibe des Cockpits und spähte hinaus. Unter ihnen wurden im Moment die Folgen des letzten Einbruchs beseitigt. Es hatte Schäden an den Maschinenhallen gegeben. Der Ring selbst war inzwischen eingeschaltet, aber noch nicht in vollem Betrieb. Die erzeugte Energie reichte allerdings aus, mit Hilfe der Kraftfelder den Ring gegen Schwerkraft und Druckwellen zu sichern.

Das galt allerdings nicht für alles, was sich außerhalb der Kraftfelder befand. Unter ihnen brach eine der riesigen Gehmaschinen langsam in das schmelzende Eis und versank im kalten Wasser. Die Mannschaft hatte vermutlich noch versucht, den mächtigen Läufer zu verlassen, aber der Sturm hatte sie einfach mit sich gerissen. Sogar innerhalb der riesigen Libelle spürte man die mörderische Kraft der Sturmböen. Der gewaltige Transportgleiter bewegte sich wie ein vierflügeliger Raubvogel an der Außenseite des Rings entlang auf der Suche nach Beute.

»Da sind sie«, sagte der Jared-Pilot. Falls er sich darüber wunderte, daß der Zwerg darauf bestanden hatte, an dieser selbstmörderischen Rettungsmission teilzunehmen, so behielt er seine Gedanken für sich. Gurk war ihm dankbar dafür, denn eigentlich wußte er selbst nicht so recht, was ihn dazu getrieben hatte, in das gepanzerte Cockpit der Libelle zu steigen. Er hatte in den letzten Wochen viele Dinge getan, über die er sich nur wundern konnte. Die Schäden an dem Ring hätte er genausogut von innen besichtigen können, in einem geheizten Radfahrzeug auf der sicheren Seite der Kraftfelder.

Unter ihnen stakste ein weiterer Läufer auf den Ring zu. Zahlreiche Beine waren zerbrochen oder abgerissen worden, und die Überreste hingen kraftlos in ihren Gelenken. Die Libelle ging tiefer, wobei der Pilot es sorgfältig vermied, den Ring zu überfliegen oder ihm zu nahe zu kommen.

Ein Absturz auf den Ring hätte das gesamte Projekt ruinieren können, und die Jared nahmen keine Rücksicht auf ihr eigenes Leben, soweit es den Ring betraf.

Die menschliche Zivilisation mit all ihrer Macht hätte hundert Jahre benötigt, ein Bauwerk wie den Ring fertigzustellen. Die Jared dagegen verbrauchten Material und Leben mit erschreckender Geschwindigkeit. Der Schatten der Libelle streifte den Läufer, und das Fluggerät senkte sich schlingernd herab. An der Bauchseite öffneten sich die Luken eines gewaltigen Docks, das groß genug war, um einen Läufer aufzunehmen, und mächtige Zangen mit mehreren Stockwerken Durchmesser öffneten sich langsam. Ohne diese gewaltigen Moroni-Transporter hätten die Jared niemals alle Abschnitte des Rings rechtzeitig an den Nordpol schaffen können.

Ein Bildschirm flackerte und lenkte Gurks Aufmerksamkeit ab. Eine Ameise erschien, kaum zu unterscheiden von ihren Artgenossen, aber Gurks Blick hatte sich in den letzten Wochen geschärft.

»Kias«, stellte er fest und verzichtete auf eine Begrüßung.

»Die Kraftwerke werden auf Vollast hochgefahren«, teilte ihm der Jared knapp mit. »In zwanzig Minuten wird der Ring seine geplante Leistung erreicht haben.«

Irgend etwas in Gurks Unterbewußtsein regte sich, schwerfällig wie ein Bär, der aus einem langen Winterschlaf erwacht.

»Das Loch ist bereits zu groß, um auf diese Weise geschlossen zu werden«, sagte er und wunderte sich, warum sein Herzschlag sich plötzlich beschleunigte.

Kias nickte. »Wir können die Situation stabilisieren.«

»Ihr könnt verhindern, daß es noch größer wird«, schränkte Gurk ein, »solange die Rückstaus aus dem Netz so schwach sind wie in den letzten Stunden. Aber früher oder später wird eine große Schockwelle kommen.«

»Natürlich«, sagte Kias. Anscheinend erwartete er einen weiteren Wutausbruch Gurks, wie er in den Tagen nach der Explosion der Black-Hole-Bombe häufiger vorgekommen war.

Aber die Aussichtslosigkeit der Situation ließ den Zwerg kalt. Er fühlte sich, als würde er versuchen, zwei verschiedene Gedanken zur selben Zeit zu formulieren.

»Ist alles in Ordnung?« fragte Kias. Der Jared-Pilot, ein Mensch, der die Libelle senkrecht über dem Läufer hielt, warf dem Zwerg einen mißtrauischen Seitenblick zu.

»Was werdet ihr jetzt machen?« fragte Gurk, ohne auf die Frage einzugehen. Er war sich bewußt, daß er über Kias eigentlich mit der ganzen Jared-Gemeinschaft sprach, die inzwischen den größten Teil der Erdoberfläche umspannte.

»Wir werden warten«, sagte Kias.

Die Worte hatten ein dumpfes Echo in seinen Gedanken. Gurk schüttelte den Kopf, um das Echo loszuwerden. »Ihr hofft, daß die rückläufigen Wellen im Netz zu schwach sind, um den Ring zu sprengen«, stellte er fest.

»Wir haben keine andere Wahl«, sagte der Jared. »In zwanzig oder dreißig Jahren werden wir vielleicht in der Lage sein, das Loch zu schließen, wenn das Netz die überschüssige Energie abgegeben hat, aber bis dahin ...«

»... seid ihr machtlos«, beendete Gurk widerwillig den Satz. Seine Zunge fühlte sich wie gelähmt an.

Kias nickte. »Es gibt nichts mehr, was wir noch tun könnten.«

Irgend etwas in Gurks Bewußtsein regte sich. Er beugte sich vor und schaltete die Verbindung zu Kias, bevor der Jared etwas sagen konnte.

Die Zangengreifer der Libelle hatten inzwischen den Läufer erfaßt und zogen ihn mit in die Höhe. Die gewaltigen Triebwerke an der Bauchseite dröhnten, und die mächtigen Flügel veränderten immer rascher ihre Form, um die Böen für zusätzlichen Auftrieb auszunutzen. Einen Moment lang sah es so aus, als würde der Sturm die Libelle mit ihrer Last kippen können, aber dann gewann der Pilot die Balance zurück und zog die Maschine in sicheren Abstand von Ring und Boden.

Der Feuerlöscher traf den Piloten am Hinterkopf und riß ihn halb aus den Gurten. Er blieb reglos liegen. Ein menschlicher Schädel brach unter solch einem Schlag. Der Zwerg ignorierte ihn und schaltete die Instrumentenreihe vor dem leeren Sitz des Copiloten ein, um die Kontrolle über die Maschine zu übernehmen. Die Libelle legte sich leicht auf die Seite und zog in einem Bogen wieder auf den Ring zu und in großer Höhe über ihn hinweg. Er schaltete auf automatische Steuerung und begann, sich anzuschnallen.

Ein grünes Licht leuchtete an der Funkanlage auf und zwei weitere an der Bordsprechanlage. Gurk griff wie in Trance nach einem großen Hebel, und hinter ihm wurde der Sicherheitsverschluß des Cockpits verriegelt. Er verdrängte die Jared-Mannschaft auf den Decks hinter und unter ihm aus seinen Gedanken. Der Computer setzte den eingeschlagenen Kurs fort und ließ sich vom Wind spiralförmig immer weiter nach Norden tragen.

Inzwischen lag der Ring schon fast dreißig Kilometer hinter ihm. Der Sturm begann, sogar die schwere Libelle zu schütteln. Auf den Kontrolltafeln wechselten grüne und weiße Lampen zu Gelb, eine nach der anderen, wie eine sich ausbreitende Epidemie, und dann entstanden rote Flecken. Alarmsirenen heulten auf und bemühten sich, den tosenden Sturm zu übertönen, um die Aufmerksamkeit des toten Piloten auf sich zu ziehen. Einer der gewaltigen Flügel brach plötzlich in Stücke, und die Libelle verlor schlagartig an Höhe, als heftige Fallwinde sie auf die Eisberge herabdrücken wollten.

Irgend etwas in Gurks Bewußtsein erinnerte sich an den Läufer, den die Libelle noch immer in ihrem Bauch trug. Irgendwie bewegte sich seine Hand und berührte ein paar Kontrollhebel. Die Notautomatik übertönte die Befehle der Bergungsmannschaft, und tief unten im Inneren der Dockanlagen liefen riesige Motoren an. Die magnetisch gelagerten Zangengriffe öffneten sich langsam, überließen den Läufer dem Wirbelsturm. Die Libelle gewann taumelnd wieder an Höhe, während die riesige Gehmaschine auf einen der Eisberge prallte, an die steile Kante des leicht schrägstehenden Plateaus, um dann mit gebrochenem Rückgrat über die Kante abzurutschen und im eisigen, aufgewühlten Wasser aufzuschlagen. Der Läufer sank wie ein Stein, noch bevor der Wind die Libelle davongetragen hatte.

Dann erreichten sie die ersten Ausläufer des Zyklons, der sich in dem ausgedehnten Sturmgebiet verborgen hielt, vor Beobachtung geschützt durch einen Kokon aus Wolkenbrüchen und Sturmböen. Eine gewaltige Faust aus Luft schloß sich um die Libelle, zerdrückte ihre mächtigen Flügel und zerbrach ihren stählernen Panzer. Die Triebwerke explodierten, und gleichzeitig mit den meisten Kontrollpulten fiel auch die Cockpitbeleuchtung aus. Wrackteile, so groß wie Lastwagen, lösten sich von dem Torso, überholten die Libelle, die sich im Griff eines unsichtbaren Raubtieres aufbäumte, und segelten davon. Der Wind hielt das mächtige Fahrzeug, und nur die ungeheure Masse der Transportmaschine verhinderte, daß sie einfach auseinanderbrach. Es wurde dunkel im Cockpit, als das Wrack in die sich ausbreitenden Gewitterwolken eintrat.

Gurk starrte mit offenen Augen nach draußen, ohne zu blinzeln oder sich zu bewegen. Die Libelle drehte sich schräg nach vorn und überschlug sich. Der Zwerg wurde in den Gurten hin und her geschleudert, aber er empfand keine Angst. Er empfand überhaupt nichts. Es war, als sei er ein unbeteiligter Beobachter eines Uhrwerks, das seinen vorherbestimmten Ablauf nahm. Die Jared-Ameisen auf der anderen Seite des Schotts hatten aufgehört, gegen die Stahlplatte zu schlagen. Dröhnend und kreischend verbog sich die Bauchhülle der Libelle, und der Zyklon faßte in das Innere des gewaltigen Wracks und schickte sich an, den Rückenschild zu zerbrechen.

Der Zwerg drückte die rot leuchtende Taste direkt auf der Armlehne des Sitzes. Sirenen heulten in kurzen Abständen auf. Explosivbolzen klappten aus ihren Halterungen, und Sekunden später trennte eine Explosion das winzige Cockpit vom auseinanderbrechenden Wrack der Libelle. Die Steuerungszentrale der Transportmaschine war ein eiförmiges Gebilde mit dicker Panzerung, die auf einige Entfernung sogar einer kleineren Atomwaffe widerstehen konnte. Die drei Booster-Treibsätze zündeten und schleuderten das Cockpit davon, legten eine für sicher gehaltene Distanz zwischen sich und die nun steuerlose Transportmaschine, bevor der Zyklon zuschlug und sich seine Beute zurückholte.

Die Kapsel trat in eine Zone aus reinem, endlosem Schwarz ein, eine Region, in der sogar das Licht verschlungen wurde von einem gewaltigen Moloch. Der Sturz wurde gleichmäßiger, ruhiger, langsamer. Gurks Hände lösten die Gurte, während rings um ihn herum die Panzerung der Kapsel begann, sich aufzulösen. Hier und da verschwanden Stücke der Wirklichkeit, als hätte ein Unsichtbarer sie herausgebissen. Das Cockpit wurde plötzlich kleiner, verkürzte sich um einen halben Meter. Stahl, Keramik, Plastik, die elektronischen Bauteile, Haut, Fleisch und Knochen verloren ihre Festigkeit, verblaßten, lösten sich auf in einem grünen Schimmer, der wenig später ebenfalls verschwunden war.

Harrach-aal Abn El Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel der Vierte löste sich auf wie Fleisch, das in konzentrierte Säure fällt, und das Wesen, dessen Schale er gewesen war, schüttelte die letzten einengenden Reste seiner kümmerlichen Identität ab und breitete sich aus.

Warf sich der Zukunft entgegen, für die es geschaffen worden war.


Die gewaltigen Radaranlagen des Ringes verloren den Kontakt mit der Cockpitkapsel, als sie den Rand des eigentlichen Lochs erreicht hatte. Der Läufer und die Wrackteile waren bereits vorher von den Bildschirmen verschwunden. Die Jared-Einheit Kias streckte langsam einen ihrer vier Arme aus und schaltete die Bahnverfolgung ab.

Das Jared-Bewußtsein, zumindest der Teil, der sich im Inneren des Rings befand und dieselbe Luft wie Kias atmete, war nicht überrascht. Der Transmittersprung von der Orbitstadt zur Schwarzen Festung war kein normaler Übergang gewesen, ein Nebeneffekt der Black-Hole-Bombe, die in einen offenen Transmitter hinein explodiert war. Die Jared wußten nicht, inwieweit die Menschen überhaupt begriffen hatten, was mit ihnen geschehen war, aber die Einheit Kias hatte aufschlußreiche Einblicke in das Bewußtsein Captain Lairds und ihrer Begleiter bekommen, und sie hatte einen flüchtigen Blick durch die Schleier getan, die das Bewußtsein des seltsamen Gnomwesens bildeten, welches die Jared bis dahin niemals vollständig einzuschätzen gewußt hatten. Die Jared-Gemeinschaft vermutete, daß die Menschen während des beinahe mißglückten Transmittersprungs wesentlich mehr erfahren hatten als die Einheit Kias. Das menschliche Nervensystem war umfassender entwickelt als das eines einzelnen Moroni oder Jared, und ebenso verhielt es sich mit dem Bewußtsein. Andererseits standen Captain Laird und ihrem Begleiter nicht die millionenfache Intelligenz der Jared-Gemeinschaft zur Verfügung, um diesen umfangreicheren Einblick in das Wesen namens Gurk zu verarbeiten. Möglicherweise konnte ein menschlicher Verstand Eindrücke dieser Art überhaupt nicht verarbeiten und verdrängte sie statt dessen, damit sie ihm nicht schaden konnten.

Die Computer der eroberten Moroni-Festungen bargen Informationen über die gesamte Galaxis, und das Jared-Bewußtsein erinnerte sich. Es hatte eine Spezies gegeben, deren Körper und Verstand dem des Wesens ähnelten, das sich selbst Abn El Gurk genannt hatte, ein Name, der ebenso um des Effektes willen wie auch aufgrund eines unverständlichen Humors gewählt worden sein mochte. Es hatte einen Planeten gegeben, auf dem sich diese Wesen entwickelt hatten, und die Moroni hatten diese Welt im Dienst der Shait vernichtet.

Es hatte Überlebende gegeben, die dem Inferno der Nova durch das Transmitternetz entflohen waren. Überlebende, deren Spuren sich im Netz verloren hatten. Der Zwerg hatte niemals gelogen.

Das Jared-Bewußtsein fragte sich, ob er dazu überhaupt in der Lage gewesen war.

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