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Es hätte das Ende der Welt sein können - oder auch der Anfang. Dichter, ätzender Qualm mischte sich mit den hellen weißen Dampfschwaden von verdunstendem Stickstoff, eine Mischung, die in den Schleimhäuten brannte und den Verstand verwirrte. Der unaufhörlich tosende Wolkenbruch aus den Sprinkleranlagen verwandelte den Hallenboden in eine schlüpfrige, schimmernde Fläche, und hier und da wuschen die Wassermassen sogar den schwarzen Rauch aus der Luft. Die nächsttiefere Ebene erinnerte an ein gigantisches Sektglas: schäumende, brodelnde Flüssigkeit mit einem Stich ins Gelbe, die sich über Treppen ergoß, in Gängen sammelte und bei jeder Explosion emporstieg wie ein eiskalter Geysir. Irgendwo hinter Net brannten Maschinen, die ebenso feuergefährlich wie hochexplosiv gewesen sein mußten.

Das plötzliche intensiv weißgelbe Licht heftiger Detonationen vertrieb sekundenlang die Dunkelheit und riß sie erneut von den Beinen. Diesmal schluckte sie wieder Wasser, und um ein Haar hätte sie das Lasergewehr verloren, mit dem sie einen Teil dieser Schäden angerichtet hatte.

Die meisten Treffer jedoch, vor allem die, die die letzte Serie von Bränden und Erschütterungen ausgelöst hatten, stammten aus den schwereren Waffen der Moroni. Während sie sich mühsam an einer verbogenen Strebe aus dem Wasser zog, fragte sie sich, ob die Ameisen nun völlig den Verstand verloren hatten. Die Moroni hatten das Feuer eröffnet, ohne sich um die entstehenden Schäden zu kümmern, und sie hatten wahllos auf alles gefeuert, was sich bewegt hatte. Die Halle hinter ihr war vermutlich eine einzige Müllhalde. Das einzige, was sich aus dem Inferno hatte retten können, war sie selbst, und das war nicht einmal ihr eigenes Verdienst gewesen. Jetzt kam es darauf an, rechtzeitig die notwendige Distanz zwischen sich und ihre Verfolger zu bringen.

Net schüttelte sich das Wasser aus dem Gesicht und sah sich um. Eine weitere Kette kleinerer Explosionen zeichnete stroboskopartig Licht in die Halle, und im nachfolgenden Halbdunkel erkannte sie eine Tür am Ende einer halb eingebrochenen Treppe. Hastig faßte sie ihr Gewehr und watete durch das knietiefe Wasser auf die verbogenen Treppenstufen zu. Sie fragte sich, ob die Verwüstungen auch die höhergelegene Halle mit dem neuen Sternentransmitter erreicht hatten und was aus Hartmann geworden war. Der Ablenkungsangriff hatte den gewünschten Erfolg gehabt, soweit es die Aufmerksamkeit der Moroni betraf. Tatsächlich hatte sie weit mehr Aufmerksamkeit erhalten, als sie sich gewünscht hatte. Die Erinnerungen überlagerten das verschwommene Bild der dunklen Treppe.

»Wie lange noch?« murmelte Net vor sich hin, obwohl sie es genau auf der Uhr ablesen konnte, die die letzten Minuten ihres Lebens zählte. Eine unbestimmte, zügellose Wut erfaßte sie. Von ihrem Platz aus hatte sie durch das große Flügeltor freies Schußfeld auf die Halle, in der Hartmann vor wenigen Minuten verschwunden war. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, seine Gestalt im Schatten der Maschinenkolosse zu erkennen. Vermutlich hielt er sich noch an den besprochenen Weg, aber sie konnte ihn dort ebensowenig ausmachen, wie die Moroni-Ameisen es konnten.

»Geduld«, sagte Kyle in ihrem linken Ohr. Er hatte ihre leisen Worte verstanden, obwohl die zahlreichen elektronischen Systeme in der Halle ihre kleinen Funkgeräte stark beeinträchtigten.

Geduld, wiederholte sie stumm. Der Megamann war ganz offensichtlich nicht bei Verstand. Sie fragte sich, wie es gekommen war, daß sie hier lag, ein Lasergewehr in der Hand, um einem Mann Deckung zu geben, der sich selbst, Kyle und sie in wenigen Minuten töten würde. Die einzigen, die ein Interesse daran hatten, das zu verhindern, waren, seltsamerweise, ihre Todfeinde, die Moroni. Vergeblich versuchte sie, irgendeinen Sinn darin zu entdecken. Sie wollte nicht sterben, und sie glaubte nicht, daß Hartmann sterben wollte. Nicht einmal Kyle konnte das wollen, obwohl er nach der Schlacht in der Schwarzen Festung nicht mehr seinen unbändigen Lebenswillen an den Tag gelegt hatte. Wie kam es dann, daß drei Menschen, die nicht sterben wollten, sich zusammentaten, um sich umzubringen?

»Idiotisch«, murmelte sie, und diesmal blieb sie so leise, daß Kyle sie nicht hörte. Oder er hielt es nicht für angemessen, ihr zu widersprechen. Was mochte im Kopf des Mannes vorgehen, Mensch, Megamann, Jared, Sterbender, der zwanzig Meter von ihr entfernt in einem Treppengerüst an der anderen Wand zwischen gewaltigen Zylindertanks hockte, die über fünf Stockwerke in der Halle emporragten. Sie fragte sich, was die Tanks enthalten mochten. Hinter ihnen zog sich ein verwirrendes Geflecht aus meterdicken Stahlrohren und kreuzförmigen Verstrebungen bis an die Tanks heran, wie das Rohrnetz einer riesigen Raffinerieanlage. Breite Rolltreppen führten auf eine tiefergelegene Ebene einer anderen kleineren Halle hinunter, die aber immer noch groß genug war, um als Hangar für eine Raumfähre oder ein Moroni-Raumschiff zu dienen.

Sie bezweifelte, daß sie noch viel über Kyles Gedanken erfahren würde. Der Sekundenzeiger zerschnitt die letzten Augenblicke.

»Jetzt«, sagte Kyles Stimme in ihrem Ohr, und gleich darauf schlug ein Laserblitz in eine Apparatur ein, die wie ein überdimensionaler Verbrennungsmotor aussah. Die Explosion erschütterte das gewaltige Gerüst aus Tanks und Rohren, und ihr eigener Schuß traf nur den Hallenboden und hinterließ einen kleinen hellweißen Hitzefleck, der sich rasch ausbreitete. Sie sah Ameisen, die hektisch durcheinanderliefen, und zielte auf eine Säule, die zwischen ihnen stand. Die Maschine detonierte nicht, sondern zerplatzte mit majestätischer Langsamkeit, und eine ungesund aussehende, bräunliche Flüssigkeit quoll nach allen Seiten auseinander und riß die Moroni-Krieger mit sich. In der niedrigen Schwerkraft des Mondes und auf Grund der absurd großen Dimensionen der Halle wirkten alle Bewegungen auf bizarre Weise verzögert. Tatsächlich konnte man unter diesen Bedingungen nicht einmal laufen, ohne den Kontakt mit dem Boden zu verlieren. Sie feuerte eine Salve von Schüssen auf ein Dutzend Ameisen ab, die sich geschickt an einem Treppengeländer entlang auf sie zu bewegten, und zerschoß dann den Laufsteg in der Mitte zwischen zwei großen Tanks. Die beiden Gerüsthälften hingen sekundenlang frei in der Luft, dann brachen sie zusammen.

Sie sah sich rasch um und entdeckte etwa drei Dutzend Moroni, die in der Halle vor dem Transmitterring hin und her liefen, die meisten davon nicht einmal bewaffnet. Nicht weit von ihr entfernt stand eine weitere Gruppe von säulenförmigen Maschinen, vielleicht irgendwelche Filteranlagen. Eine Reihe von Pulten stand auf einer Plattform davor, und vier Moroni duckten sich hinter die Pulte. Ein Laserblitz schlug drei Meter über ihr ein, das erste Zeichen von Gegenwehr. Weitere Schüsse folgten. Sie schob den Regler an ihrem Gewehr auf volle Leistung und feuerte eine rasche Schußfolge in die Pulte, die in Rauch und Flammen auseinanderbarsten. Der blauweiße Blitzschlag einer elektrischen Entladung hüllte die gesamte Plattform ein, und dann stürzte die Stahlscheibe qualmend und brandgeschwärzt in die Tiefe. Sie feuerte erneut auf die Säulen, deren Wände entlang der geschwächten Nähte auseinanderklafften. Diesmal entzündete sich die Flüssigkeit, und die Säulengruppe verschwand in einer orangeroten Explosionswolke. Die Druckwelle riß die durcheinanderlaufenden Moroni um und trieb sie in der niedrigen Schwerkraft zwischen Gerüstteile, Schaltpulte und Zwischenwände. Net rutschte einen halben Meter über den glatten Boden. Der treppenhausartige Turm, auf dem sie sich befand, schwankte bedenklich.

Eine weitere Explosion dröhnte in der Halle. Net konnte aus den Augenwinkeln den flüchtigen Fächer aus Laserschüssen erkennen, der sich von Kyles Standort durch die rauchverhangene Luft bis hin zu den intakten Anlagen auf der rechten Hallenseite zog. Inzwischen mußte Hartmann das Gleiterwrack erreicht haben, dachte Net, und etwas in ihrer Brust zog sich zusammen.

Das Treppengeländer über ihr war plötzlich weißglühend, getroffen von einem Laserschuß. Die Glut breitete sich rasch aus, schälte die Plastikbeschichtung vom Metall, und während sie sich noch hastig in Deckung rollte, rauchte bereits das ganze Gitterwerk. Ein weiterer Laserschuß traf einen Feuermelder hinter ihr. Glassplitter verteilten sich in einer schimmernden Wolke, und irgendwo über dem prasselnden Geräusch der Brände ertönte ein auf- und abschwellender Alarm. Flüchtig fragte sie sich, warum die Feuerschutzanlagen bisher nicht reagiert hatten. Sie duckte sich hinter einen Entlüftungsschacht. Ihr Herz raste. Einen Moment war es totenstill. Sie sah Ameisen, die zwanzig Meter unter ihr auf den Gerüstkomplex zugesprungen kamen. Bisher hatten die Moroni auf den Überfall im Grunde nicht reagiert. Eigentlich hätte es in der Halle von schwerbewaffneten Kriegern nur so wimmeln müssen. Net fragte sich, warum sie noch am Leben war. Unwillkürlich spähte sie zu dem Gleiterwrack hinüber, das vor dem mächtigen Ring des Transmitters lag. Seltsamerweise hatten weder Kyle noch sie einen Schuß auf die unfertige Anlage selbst abgegeben, die gut fünfzig Meter außerhalb der Halle lag. In der niedrigen Schwerkraft hatte nicht einmal das Feuer besonders viel Kraft.

Sie hob das Gewehr und richtete es auf das Wrack. Durch die vergrößernde Zieloptik mit Restlichtverstärker konnte sie ein paar Schritt weit in die noch immer offenstehende Schleusenkammer hineinsehen. Eine Ameise lag dort reglos am Boden. Ein paar Moroni bewegten sich in der Nähe, aber die sonst so zielstrebigen Bewegungen der Insekten wirkten auf bizarre Weise konfus. Sie ließ das Gewehr wieder sinken. Abgesehen von den quäkenden Alarmsirenen und den schwachen Bränden war kein Geräusch zu hören.

»Was dauert denn da so lange«, sagte sie wütend. Die Angst lähmte ihren Körper, und sie beschloß, einfach sitzen zu bleiben und abzuwarten, bis das Fusionsfeuer die Halle und sie verschlang. Ein großer dunkler Schatten bewegte sich hinter dem Gleiterwrack. Sie erkannte die Silhouette einer Gestalt mit unmöglich großen Flügeln und wußte, was sich ihr näherte. Eine Schußsalve zerfetzte das dünne Blech des Luftschachts, riß die rechteckigen Platten auseinander und überschüttete sie mit einem Schwall heißer Luft. Ihre Lähmung war schlagartig verschwunden. Irgendein Explosivgeschoß zerriß die Bodenplatten unter ihr, und die Wucht des Aufpralls schleuderte sie rückwärts von den Füßen. Um sie herum schien nur noch Feuer zu sein. Sie schrie auf, schwebte sekundenlang in der Luft, und prallte dann nach einem Sturz über fünf Meter hart auf die breite Rolltreppe. Mühsam rappelte sie sich auf. In irdischer Schwerkraft hätte ihr dieser Sturz alle Knochen gebrochen, aber so hatte sie sich nur ein paar schmerzhafte Prellungen zugezogen. Ihr Gesicht und ihre Brust waren mit Brandblasen bedeckt. Es gelang ihr, sich aufzurichten. Sie hob das Gewehr und zielte auf das verwüstete Treppengestell. Eine weitere Salve von Explosivgeschossen traf das Gerüst, und der Turm wankte. Anscheinend feuerten die Moroni-Wächter nun doch in rasender Wut auf den Raffineriekomplex. Metallsplitter prasselten auf Net herunter, und sie duckte sich auf die Rolltreppe. Über ihr zerplatzte einer der Tanks, und eiskalter, dampfender Stickstoff kam in einem Schwall herab, verdampfte in den Bränden. Plötzlich war es, als habe jemand die Welt von Zeitlupen-Wiederholung auf schnellen Vorlauf umgeschaltet. Ein Hagel von Laserschüssen und Projektilen schlug überall in den Turm ein. Weitere Tanks zerplatzten, und mit einemmal zerriß eine Geschoßsalve die dicke Haut eines der mächtigen fünfstöckigen Zylinderbehälter. Gleich darauf überschwemmte Net eine Woge aus klarem, kaltem Wasser und spülte sie die Rolltreppe hinunter, weg von dem auseinanderbrechenden Turm und hinein in die heftigen Regenfälle der Sprinkleranlage, die einen Hallenkomplex löschten, der überhaupt nicht in Flammen stand. Endlose Sekunden vergingen, bis sie irgendwo Halt fand, und als sie wieder Luft holen konnte, begriff sie, daß sie vorerst am Leben bleiben würde. Hinter ihr erzeugten Brände und Explosionen ein seltsam orangefarbenes Dämmerlicht. Die Raffinerie war ein Inferno, das ihre Verfolger eine Weile aufhalten würde.

»Kyle?« Vorsichtig tippte sie mit dem Finger an das Funkgerät. Es kam keine Antwort, aber sie konnte Störgeräusche hören und Explosionen. Das Gerät war erstaunlicherweise in Ordnung. Sie blickte zu den brennenden Zylindertanks hinauf. Vermutlich befand sich Kyle noch dort, und das Funkgerät war von den Explosionen fortgeschleudert worden. Von dieser Seite hatte sie keine Hilfe zu erwarten, doch es war eine vertraute Situation, auf sich allein gestellt zu sein. Das Wasser schmerzte in ihren Brandwunden, aber anscheinend hatte sie keine schweren Verbrennungen davongetragen. Sie schulterte das Lasergewehr, verzog das Gesicht, als der Kolben auf einer Prellung aufsetzte, und taumelte dann durch riesige Pfützen in die Dunkelheit, fort von der Halle, in der der Transmitter stand. Ein weiterer Wasserschwall holte sie ein und trug sie mit sich fort.


*


Hartmann wußte, daß er gefesselt war, noch bevor er ganz bei Bewußtsein war. Instinktiv versuchte er, sich auf die Knie zu rollen, aber seine Handgelenke wurden mit eiserner Gewalt zurückgerissen, und der heftige Schmerz vertrieb die letzten Reste von Benommenheit. Er riß die Augen auf.

Und er starrte in das chitinglänzende schwarze Gesicht eines Moroni, eine Armlänge entfernt. Die mächtigen Kiefer waren geöffnet, als wollten die Zangen im nächsten Moment seinen Kopf packen und zermalmen, und in den großen Facettenaugen schimmerten ringförmig die Reflexionen der schwachen Deckenbeleuchtung. Er konnte aus dieser Entfernung sogar die zahllosen Barthaare um den Mund und die langen Fühler am Kopf erkennen. Noch nie hatte er eine Ameise aus solcher Nähe gesehen. Er spannte sich und versuchte, sich zur Seite zu werfen, aber seine Fesseln gaben keinen Zentimeter nach. Nach ein paar Sekunden resignierte er und wartete auf den tödlichen Biß.

Nichts geschah. Der Moroni blieb reglos wie ein Standbild. Ein schwacher Hauch traf Hartmanns Gesicht, und er erkannte, daß der Krieger noch lebte. Hartmann holte tief Luft, erkannte, daß er unwillkürlich den Atem angehalten hatte, und als er seine Lungen mit Luft füllte, durchzuckte ein heftiger Schmerz seinen Brustkorb. Er fühlte sich so steif wie ein toter Papagei, jeder seiner Muskeln war in Erschöpfung gelähmt. Obwohl seine Beine wegen der niedrigen Schwerkraft keine Last zu tragen hatten, zitterten seine Oberschenkel, und er hatte das vage Gefühl, daß jede noch so geringe Anspannung seiner Waden einen heftigen Krampf zur Folge haben würde. Er nahm die Schulter zurück und streckte den Rücken. Der Schmerz tanzte seinen Rücken entlang wie ein Buschfeuer. Hartmann fühlte sich, als würde sein Körper auseinanderfallen.

Kyles hilfreiche Gabe, dachte er mißmutig. Der Jared hatte ihm gesagt, daß er sich nicht besonders gut fühlen würde, sobald der Kraftschub vorüber war, den er ihm verpaßt hatte. Jetzt glaubte er, er habe in seiner Berserkerwut nicht die Moroni, sondern sich selbst verprügelt, so, als habe jeder Schlag, den er austeilte, ihn selbst ebenso heftig getroffen.

Ausgleichende Gerechtigkeit. Er schüttelte den Kopf, bemühte sich, die Schmerzen zu ignorieren, die durch seinen Nacken zuckten, und fixierte den Moroni. Der Krieger hatte sich nicht bewegt, seit Hartmann erwacht war. Langsam sah Hartmann sich um. Um seine Oberarme, Handgelenke, Fußknöchel und Oberschenkel lagen schwarze dicke Ringe, soweit er das in der unsicheren Beleuchtung erkennen konnte. Er spannte versuchsweise den rechten Arm an. Ebensogut hätte er versuchen können, einen Panzer anzuheben. In seiner augenblicklichen Verfassung hätte er wohl nicht einmal auf eigenen Beinen stehen können.

Man hatte ihn anscheinend in eine kleine Lagerhalle geschafft. Er konnte Schriftzeichen an der Tür hinter dem Krieger erkennen, die eindeutig menschlichen Ursprungs waren, eine Code-Bezeichnung, die auf eine militärische Anlage hindeutete. Die Beleuchtung bestand aus den kümmerlichen Resten von drei Reihen Leuchtröhren, um die sich seit sechzig Jahren vermutlich niemand mehr gekümmert hatte. Hartmann fragte sich, wie viele solcher Orte es geben mochte, in denen seit der Invasion das Licht nicht abgeschaltet worden war.

»Bin ich froh, daß ich die Stromrechnung nicht zahlen muß«, sagte er in die Stille hinein. Obwohl es kein Echo gab, schienen seine Worte lange nachzuhallen. Psychologie, dachte er mißmutig und behielt wachsam den Krieger im Auge. Es gab keine Reaktion. Nach einiger Zeit setzte er seine Bestandsaufnahme fort. Links und rechts von ihm sah er Regale, die sich drei Meter hoch bis zur Decke zogen. Zu Hunderten stapelten sich Behälter, Dosen und Pakete in den Regalen, geordnet und ausgerichtet. Vermutlich hatten Dutzende von Soldaten zahllose Stunden Strafdienst damit verbringen dürfen, das Material zu sortieren, von Staub zu befreien und zu inventarisieren. Die Armee hatte eine lange Tradition in der Erfindung solcher nützlichen Tätigkeiten. Er hatte selbst reichlich Zeit mit solchen Disziplinaraufgaben verbringen müssen.

Angestrengt spähte er in die Dunkelheit. Die Etiketten waren nicht zu erkennen, aber die Umrisse im Regal deuteten auf Ausrüstungsgegenstände hin. Er entdeckte die länglichen, kolbenförmigen Verpackungen von Munition und die flachen Kästen, in denen Magazine für automatische Waffen aufgehoben wurden, Batterieblöcke für Lasergewehre, zylinderförmige Behälter für Handgranaten und Gewehrgranaten und kistenweise Sprengstoff.

»Um Himmels willen«, entfuhr es ihm. Zu Tode erschrocken sah er zur anderen Seite. Noch mehr Munition, Rauchgranaten, Tanks für Flammenwerfer, Explosivgeschosse für Maschinenkanonen, Sprengkapseln. Hinter dem Regal war eine ganze Reihe Leuchtkörper intakt geblieben, und er konnte ein weiteres Regal erkennen. Er kam sich vor wie jemand, der mitten in einer riesigen Bombe von den Ausmaßen eines Wohnblocks saß, während der Rest der Welt um dieses Haus herum Krieg führte.

Mühsam wandte er den Kopf und erkannte einen dunklen Umriß, der nur entfernt menschenähnlich wirkte. Noch ein Krieger, dachte er, aber dann erkannte er, daß in der rauchgeschwärzten Haut tatsächlich ein Mensch steckte, gekleidet in die verbrannten Reste menschlicher Kleidung.

Net, durchfuhr ihn ein Gedanke, und die Heftigkeit seiner Gefühle verwirrte ihn. Er überwand die Schmerzen und drehte sich herum, soweit seine Fesseln es zuließen. Hinter der reglosen Gestalt zeichnete sich eine kantige, stelzenbeinige Silhouette ab, ein weiterer Krieger, dessen Arme und Beine sich um Gelenke und Extremitäten des anderen Gefangenen schlangen. Hartmann begriff plötzlich, daß auch hinter ihm noch ein Moroni stand, und daß die schwarzen Zangen um seine Handgelenke und Beine Moroni-Hände waren, die sich unbarmherzig geschlossen hatten. Angestrengt starrte er auf seinen Leidensgenossen.

»Net?« fragte er zaghaft.

Ein einzelnes Auge öffnete sich in dem brandgeschwärzten Gesicht, reflektierte blaßblau das schwache Licht, und Hartmann begriff seinen Irrtum. Der Megamann sah schrecklich aus. Er konnte den Geruch verbrannter Haare wahrnehmen, und die Haut an der Schulter, die im Licht einer der Deckenlampen lag, war mit Brandblasen bedeckt. Die Beine, im Halbdunkel kaum auszumachen, wirkten ... seltsam.

»Kyle«, sagte er, und es gelang ihm nicht ganz, die Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung in seiner Stimme zu unterdrücken. Der Jared verzog sein Gesicht zu einem Lächeln. Er hatte zwei Zähne verloren, und die Hartmann zugewandte Gesichtshälfte war blutverschmiert.

»Dasss meissste davon isst Ruß«, sagte Kyle. Seine Stimme schwankte.

»Und Ihr Auge?«

»Zssugesswollen«, kam die knappe Antwort.

»Was ist passiert?« fragte Hartmann und wappnete sich gegen eine schlechte Nachricht.

»Dass frage ich Ssie«, sagte Kyle.

Hartmann verzog das Gesicht. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er.

»Ich habe gerade nichts anderes vor«, erwiderte Kyle ohne Humor.

Hartmann ignorierte den Tonfall. »Was ist mit Net?«

»Keine Ahnung.« Der Gesichtsausdruck des Megamanns war nicht zu erkennen. »Sie war nicht weit von mir weg, als die Moroni die ganze Anlage in Fetzen geschossen haben. Ich wurde in die Halle hineingeschleudert und habe dabei das Bewußtsein verloren. Ich weiß nicht, ob Net vor der Explosion noch weggekommen ist. Falls nicht ...«

»Ich verstehe«, erwiderte Hartmann tonlos. »Wenn sie noch am Leben wäre, dann wäre sie hier.«

Kyle verzichtete auf einen Kommentar.

»Und wo sind wir?« fragte er.

»Ein Depot. Um uns herum liegt tonnenweise Munition, alles, was das Soldatenherz begehrt. Mit dem Zeug hätten wir in den Zweiten Weltkrieg einsteigen können.« Er deutete mit dem Kopf auf den Krieger, der vor ihnen stand. »Hinter unserem Freund hier liegt eine Durchgangstür. Vielleicht können Sie die Beschriftung auf der Tür besser lesen als ich.«

»Halle 15«, las Kyle. »Mil-Arm römisch drei ... Das ist alles unverständliches Zeug, Hartmann.«

»Was haben Sie erwartet?« Hartmann bewegte sich, soweit der eiserne Zangengriff seines Moroni-Wächters es zuließ. »Mindestens fünfzehn Lagerhallen. Nun, ich denke, daß wir irgendwo auf der Rückseite des Mondes sein müssen. Tranquilitatis war eine wissenschaftliche Basis, und wenn dort militärisches Material eingelagert gewesen war, dann hat es bestimmt nicht ausgereicht, um eine ganze Armee auszurüsten. Die Mondbasen auf der Seite, die der Erde zugewandt war, konnte man leicht beobachten und angreifen. Nein, ich vermute, wir sind in dieser großen Basis auf der erdabgewandten Seite, MacDonalds oder so ähnlich.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich nicht«, antwortete Hartmann. »Ich bin nie auf dem Mond gewesen. Wir müßten einen freien Ausblick auf den Himmel haben, dann wüßten wir es.«

»Warum?«

»Ganz einfach«, antwortete Hartmann. »Falls die Erde am Himmel zu sehen ist, sind wir auf der Vorderseite, falls nicht, ist es die Rückseite. Und auf der Rückseite gab es praktisch keine Basis außer MacDonalds.«

Kyle hob den Kopf und blickte zur Decke. »Was glauben Sie, wie tief wir sind?« fragte er nach einer Weile.

»Keine Ahnung«, antwortete Hartmann. »Kann nicht sehr tief sein. Denken Sie an die Druckschleuse.«

»Die Druckschleuse.« Der skeptische Tonfall in Kyles Stimme war nicht zu überhören. »Dann waren wir schon an der Oberfläche, nicht wahr. Haben Sie die Erde sehen können?«

»Nein.« Die nachfolgende Stille bedrückte ihn. »Es war ein recht großes Fenster, aber das Blickfeld war nach oben ziemlich eingegrenzt. Ich habe nicht mehr gesehen als Sie und Net.«

Kyle starrte ihn mit seinem intakten Auge an. Er konnte es spüren.

»Irgend etwas haben Sie aber gesehen, nicht wahr?« Der Megamann sprach mit einem täuschend gleichmütigen Tonfall. »Es ist mir gleich aufgefallen, als Sie zu uns zurückkamen, um uns die Schleuse zu zeigen. Da ist etwas gewesen, was nicht mehr dort war, als wir hinaussahen, habe ich recht?«

»Ja«, sagte Hartmann widerwillig und sah nach rechts hinüber.

Kyle nickte zufrieden. »Sie haben ausgesehen, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.« Hartmann zuckte unwillkürlich zusammen. Der Megamann starrte ihn an. »Was haben Sie gesehen, Hartmann?«

»Vermutlich habe ich eine Halluzination gehabt«, antwortete er wütend. »Oder glauben Sie an Leute, die durch Wände gehen können?«

Kyle antwortete nicht, und als Hartmann zu ihm hinübersah, bemerkte er, daß der andere stumm auf die verschlossene Tür starrte.

»Alles in Ordnung?« brach Hartmann schließlich das Schweigen. »Habe ich irgend etwas Falsches gesagt?«

Kyle schüttelte stumm den Kopf. »Später«, sagte er kurz. »Ich vermute, Sie haben noch einiges mehr zu erzählen, aber vorher müssen wir hier heraus.«

Hartmann warf ihm einen verwirrten Blick zu, verzichtete aber darauf, nach dem Grund für die plötzliche Eile zu fragen. Die Zwischenfälle an der Druckschleuse und später in der Reaktorkammer des Gleiterwracks machten ihm noch immer zu schaffen, und er war froh, daß Kyle zunächst nicht auf einer ausführlichen Antwort bestand. »Irgendwann wird man uns holen«, sagte er laut.

Kyle schüttelte den Kopf. »Darauf möchte ich lieber nicht warten.«

»Dann werden wir Hilfe brauchen«, versetzte er, und der Gedanke löste eine ganze Kette von Erkenntnissen aus.

»Was ist?« fragte Kyle, der den entgeisterten Blick bemerkt hatte.

Hartmann wies mit dem Kopf auf die Ameise, die die ganze Zeit reglos hinter Kyle gestanden hatte. Jetzt wußte er, was ihn die ganze Zeit daran gestört hatte. »Wieso ...« Er wagte es nicht, den Gedanken laut auszusprechen.

Kyle grinste freudlos. »Wieso unser Freund hier noch nicht umgewandelt worden ist?« Kyle drehte den Kopf und versuchte, über die linke Schulter zu blicken. »Sehen Sie genau hin«, sagte er nach einer Weile. »Achten Sie auf den Kopf.«

Hartmann kniff die Augen zusammen und legte die Stirn in Falten. Irgend etwas glitzerte auf dem schwarzen Chitin, wie ein Spinnennetz aus Glas oder Silber. »Da ist etwas«, sagte er und hatte ein seltsames Gefühl dabei, über die Ameisen zu reden, so als seien sie gar nicht anwesend. »Sieht aus wie Drähte.«

»Es ist ein Lebewesen«, erwiderte Kyle. »Ein Parasit, genaugenommen. Der metallische Glanz ist eine Eigenschaft der Membranen. Interferenzfarben.«

»Dieses ... Ding macht sie immun?«

»Es wächst in die Hirnnerven hinein«, sagte Kyle, und seine Stimme klang plötzlich entmutigt. »Normalerweise dauert das Jahre, aber die hier sind implantiert worden und bestehen aus elektronischen Bauteilen.«

»Diese Krieger sind verstümmelt worden«, begriff Hartmann.

»Sie verkrüppeln ihre eigenen Kinder«, sagte Kyle tonlos. Hartmann mußte sich daran erinnern, daß der Megamann ein Jared war, und daß die Jared nichts anderes als herangereifte Moroni-Jungen darstellten. Er betrachtete diese tödlichen Kreaturen als unreife Kinder. Hartmann fragte sich, wie das Jared-Bewußtsein den millionenfachen Mord an den eigenen unwissenden Nachkommen verkraften konnte.

»Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wie diese Umwandlung überhaupt zustandekommt?« fragte er nach einer Weile. »Eine Infektion?«

»In gewisser Weise ist es eine Infektion«, antwortete Kyle, wobei sein kontrollierter Tonfall keinen Aufschluß gab, ob er wirklich darüber reden wollte. »In jeder Körperzelle eines Jared sind Proteine vorhanden, die es in einem Moroni-Körper noch nicht gibt. Das Vorhandensein dieser Moleküle verändert das Nervensystem und aktiviert Hirnteile, die vorher nicht aktiv waren.«

»Sinnesorgane?«

»Vor allem Drüsen. Es würde zu lange dauern, alle Schritte der Metamorphose aufzuzählen.«

»Aber es geht so schnell«, meinte Hartmann zweifelnd.

»Es ist eine Kettenreaktion. Eine befallene Zelle steckt ihre Nachbarn an, die wiederum ihre Nachbarn infizieren ... wir haben vielleicht Milliarden Körperzellen, aber hintereinandergereiht sind es nur ein paar hunderttausend davon, und es breitet sich aus wie ein Steppenbrand.«

»Ein Virus?«

»Nein«, antwortete Kyle und atmete tief ein. Anscheinend hatte er Schmerzen. »Man könnte es als infektiöse Proteine bezeichnen.«

»So etwas gibt es nicht«, sagte Hartmann voller Zweifel.

»Nun, es ist nicht gerade häufig«, antwortete Kyle. »Infektiöse Proteine sind wie Viren erst spät in der Evolution entstanden, aber es gibt sie. Bringen Sie eines davon in eine intakte Körperzelle, und wenig später finden sich Myriaden von Kopien davon. Es geht viel schneller als bei einem Virus, weil die Zelle nicht umprogrammiert werden muß. Ein infektiöses Protein ist eine Art Katalysator, es bedient sich der in der Zelle vorhandenen Bruchstücke seiner selbst und veranlaßt sie, sich zu einer Kopie zusammenzusetzen.«

»So, als wenn man einen Magneten in eine Kiste Eisenspäne wirft«, sagte Hartmann nachdenklich.

»Sofern diese Eisenspäne sich wie der Magnet anordnen und selbst magnetisch werden.« Kyles eines Auge war inzwischen völlig zugeschwollen. »Oder stellen Sie sich vor, Sie würden eine programmierte Montagemaschine in einem Ersatzteillager einschließen ... nein, das trifft es nicht. Es gibt wohl keinen vernünftigen Vergleich. Das Protein bedient sich der in der Zelle vorhandenen Baustoffe, um sich zu vervielfältigen.«

»Und woher kommt es?«

»Die einzelnen Bauteile sind ganz gewöhnliche Teile einer lebenden Körperzelle«, erklärte Kyle müde. »Und in jeder Körperzelle setzen sich einzelne Teile spontan zusammen und fallen wieder auseinander. Das Protein ist ziemlich kompliziert, und es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß die Bauteile per Zufall zueinanderfinden, aber jeder Moroni besteht aus Milliarden Zellen, und es gibt Milliarden Moroni ... früher oder später muß es passieren, wenn genug von ihnen da sind. Die Evolution hat sich dieses Mechanismus nur bedient, um den Übergang von Moroni zu Jared einzuleiten. Je mehr Ameisen es gibt, desto unvermeidlicher ist es.«

Hartmann sah nach vorn, auf den Krieger, der vor ihnen stand. Jetzt konnte er auch an dessen Kopf das silbrige Spinnennetz erkennen. »Dieses Ding kann eine solche Infektion nicht aufhalten«, vermutete er.

»Nein«, sagte Kyle, und diesmal konnte Hartmann mühsam unterdrückte Wut in seinem Tonfall erkennen. »Statt dessen zerstört es die Teile des Gehirns, die aus einem Moroni einen Jared und damit zu einem Teil der Gemeinschaft werden lassen.«

»Er ist blind und taub«, begriff Hartmann und dachte an Kyles frühere Erklärungen. Die Jared bewegten sich in einem Meer aus Gerüchen, überlagert mit Geräuschen und eingebettet in die schwachen elektromagnetischen Schwingungen der erwachten Jared-Gehirne, und dieses Gefüge ließ sie zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen, bis sie zu einer Einheit verschmolzen, in der die einzelnen Lebewesen keine Individuen mehr sein konnten. Jede Erinnerung war in jedem Jared vorhanden, aber in keinem von ihnen war sie nach einigen Jahren noch vollständig. Isolierte man einen Jared von seiner Gemeinschaft, so war er wie ein neugeborenes Kind, und er würde im Lauf der Jahre wieder zu einem Individuum werden, das erneut von der Gemeinschaft absorbiert werden konnte, sobald er wieder zurückgelangte in das Gefüge aus Botschaften und Reizen, die Menschen nicht einmal wahrnehmen konnten.

»Und er ist dumm. Ohne Initiative, ohne Verstand; ein abgerichteter Roboter.« Kyle verbarg seine Wut nicht. »Früher oder später werden diese Kreaturen sterben, weil sie nicht einmal mehr wissen, daß sie leben sollen, oder aber sie werden wahnsinnig. Die Shait setzen solche entgeistigten Krieger für Selbstmordangriffe auf Jared-Nester ein.« Kyle atmete heftiger. »Es paßt zu ihnen, sich dazu eines Nestparasiten zu bedienen, der schon in grauer Vorzeit eine Pest für die Jared war.« Er verstummte.

»Und wieso funktioniert es bei Menschen?« fragte Hartmann und meinte die Infektion, die ein Wesen zu einem Jared werden ließ.

»Zufall«, antwortete Kyle nach einiger Zeit. »Ein Teil der Baustoffe, die zum Milieu des Proteins gehören, sind auch im Menschen vorhanden. Es sind ziemlich grundlegende Moleküle, wissen Sie. Jedes höher entwickelte Lebewesen trägt diese Moleküle mit sich herum. Das ist normalerweise nicht ausreichend, aber wir können die entsprechenden Stoffe von außen zuführen. Ein Mensch, der ständig mit Jared zusammen ist, nimmt die fehlenden Substanzen mit der Luft und mit der Nahrung auf.«

»Das dauert zu lange«, sagte Hartmann. »Erzählen Sie mir keinen Blödsinn.«

Kyle lachte kalt. »Das menschliche Nervensystem ist der Schlüssel«, sagte er. »Es gibt ein paar Regionen der Großhirnrinde, die besonders empfindlich auf eine bestimmte Beeinflussung reagieren ... es ist schwer zu beschreiben. Die Umwandlung, die Sie bei Ihren Soldaten gesehen haben, war nur eine Art Trance. Die körperliche Veränderung setzte später ein, und danach erst wird ein Mensch vollständig zum Jared. Es war ein glücklicher Zufall.«

»Kommt darauf an, aus welcher Perspektive man es sieht«, sagte Hartmann eisig und fixierte Kyle.

»Natürlich«, sagte Kyle mit höflicher Distanz.

Hartmann wich seinem Blick nicht aus. »Sie hätten sich dagegen wehren können«, vermutete er. Es war ein Schuß ins Blaue hinein.

Kyle nickte langsam. »Ich bin nicht so leicht zu beeinflussen wie ein normaler Mensch«, sagte er. »Aber es war Teil einer Abmachung.« Er wandte den Blick ab und richtete sein Auge auf den Wächter vor der Tür. »Und ich wollte es«, fügte er nach einer Weile hinzu.

Hartmann verzichtete darauf, nach dem Grund zu fragen. Falls der Megamann darüber reden wollte, würde er es früher oder später von selbst tun. »Das heißt, der Krieger hinter Ihnen ist bereits infiziert«, folgerte er. »Er ist gar kein Moroni mehr, sondern ein verstümmelter Jared.«

»Ja.« Kyle lachte verbittert. »Niemand wird uns holen, Hartmann. Man hat uns hier abgestellt, damit wir aus dem Weg sind, und man wird uns hier verschimmeln lassen, mitsamt unseren armseligen Bewachern.«

»Warum haben sie uns dann nicht getötet?« fragte Hartmann verwundert.

»Vielleicht hat der Shait einen Sinn für Humor«, erwiderte Kyle grimmig. »Vielleicht ist er auch nur ein Dummkopf.«

»Und wie kommen wir hier heraus?«

Kyle richtete sich auf, als bestünde der Krieger hinter ihm aus Luft. Mit einem scheußlichen Geräusch zerrissen Gelenke aus Horn. Der Wächter vor Hartmann erwachte aus seiner Starre und schnellte vor, aber ein gestrecktes Bein erwischte ihn und durchstieß seinen Brustpanzer. Hartmann konnte einen entsetzten Aufschrei nicht unterdrücken. Die Zangen an seinen Armen und Beinen begannen sich zu schließen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er einen unförmigen Schatten, der sich mit atemberaubender Geschwindigkeit um sich selbst drehte. Eine geschwärzte Hand zuckte an seiner Wange vorbei, und die Zangen, die sich anschickten, seine Knochen zu brechen, verkrampften sich in der Bewegung. Er hörte splitterndes Chitin, und ein warmer Hauch streifte ihn, als der Moroni-Krieger hinter ihm ein letztes Mal ausatmete.

Kyle zog die Hand zurück. Zwischen Chitinscherben, Sehnen und Knochensplittern konnte Hartmann einen Strang silbriger Fäden erkennen, bevor der Jared seine Hand öffnete.

»Wie haben Sie das gemacht?« brachte Hartmann dann schwerfällig heraus. Sein ganzer Körper schmerzte, und einen Moment lang befürchtete er, die Ameisen hätte ihm doch noch das Rückgrat gebrochen, so taub fühlten sich seine Beine an.

Kyle richtete sich auf. Im Halbdunkel wirkte er plötzlich sehr viel unförmiger als früher. Das zweite Auge öffnete sich plötzlich.

»Eine Frage der Anpassung«, sagte der Jared.

Hartmann wich zurück, bis er gegen die tote Ameise prallte. Anscheinend hatte Kyle die Nervenstränge des Moroni zerrissen. Der Megamann beugte sich über den Wächter vor der Tür. Im Licht der Deckenbeleuchtung konnte Hartmann erkennen, daß unter Kyles verbrannter Haut sich eine glatte, schwarze Masse abzeichnete, schimmernd wie geölter Panzer an den Stellen, wo das abgestorbene menschliche Gewebe sich bereits von ihm gelöst hatte.

»Was geschieht mit Ihnen?« fragte er gegen seinen Willen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Kyle. »Es muß beim letzten Transmitter-Durchgang passiert sein. Zu Anfang war es schmerzhaft, und es hat mich alle Kraft gekostet, die ich noch hatte, aber jetzt ... ist es angenehm.«

»Sie verwandeln sich«, sagte Hartmann, auf grauenvolle Weise fasziniert von dem Anblick. Die linke Gesichtshälfte war ein starrer Panzer aus schwarzem Chitin, auf dem noch die Überreste des verbrannten Gesichts hingen, und das nun wieder offene Auge hatte eine gleichmäßig glitzernde, dunkelblaue Färbung angenommen.

»Nur dort, wo ich verletzt worden bin«, antwortete Kyle. »Es sieht so aus, als wenn meine Wundheilung manipuliert worden ist. Mein eigenes Gewebe regeneriert sich nicht mehr, sondern wird durch anderes ersetzt.« Er hob die rechte Hand, deren Finger wie Krallen aussahen, die aus Ebenholz geschnitzt waren.

»Ihre eigenen Leute?« fragte Hartmann, während es ihm gelang, seine Arme von dem leblosen Zangengriff seines toten Bewachers zu lösen.

»Das steht außerhalb unserer Macht«, antwortete Kyle, aber sein Tonfall klang unsicher.

Hartmann verzichtete auf Widerspruch. »Nun«, versetzte er, »dem Shait haben wir das wohl kaum zu verdanken. Schließlich wollte man uns hier festhalten.«

»Sie waren dumm, es überhaupt zu versuchen«, antwortete Kyle. Hartmann riß sich von dem toten Krieger los und sah sich um. Der Moroni, der Kyle festgehalten hatte, lag auf dem Rücken. Die meisten Extremitäten waren zerfetzt worden wie morsches Holz, und der Brustkorb war eingedrückt. Die Ameise wirkte, als sei sie mumifiziert worden. Es war kein Blut zu sehen, der Kadaver wirkte wie eingetrocknet.

»Was haben Sie mit ihm gemacht?« fragte er, während er um die tote Ameise herumging und sich dabei vorsichtig einem der Regale näherte.

»Er war schon tot, bevor ich zu Bewußtsein kam«, antwortete Kyle. »Vielleicht habe ich mich von ihm ... genährt. Ich weiß es nicht.«

Hartmann warf ihm einen Blick zu. Kyle wirkte, von den Stellen abgesehen, an denen fremdes Gewebe sein eigenes ersetzt hatte, unverkennbar menschlich, und seine Haltung zeigte, daß er die unheimliche Schwäche überwunden hatte, die ihn nach der Flucht aus der Schwarzen Festung befallen hatte. Was immer in ihm vorging, es schien ihm noch nicht zu schaden.

»Sie werden das nicht brauchen«, sagte Kyle mit kaltem Spott.

Hartmann folgte dem Blick und betrachtete einen Moment lang seine rechte Hand, die nach einer der verpackten Handgranaten getastet hatte. »Vielleicht nicht«, sagte er und nahm den Behälter an sich.

»Wie Sie wollen«, sagte Kyle.

»Woher weiß ich, ob ich mich auf Sie noch verlassen kann«, sagte Hartmann, während er die Granate auspackte. »Ich weiß nicht einmal, was Sie sind. Sie wissen es ja selbst nicht mehr.«

Kyle hinderte ihn nicht daran, die Granate zu entsichern.

»Sie sind kein Jared mehr, nicht im eigentlichen Sinn«, fuhr Hartmann fort. »Vielleicht beginnen Sie gefährlich zu werden. Sie sind von Ihrer Gemeinschaft isoliert, Kyle, nicht wahr? So, wie diese armen Kreaturen isoliert waren.« Er deutete mit der Handgranate auf die drei toten Ameisen.

Kyle verzog das Gesicht zu einem freudlosen Lächeln. »Sie sind nicht dumm, Hartmann.«

Hartmann nickte. »Vermutlich sind Sie zu schnell für mich«, sagte er. »Und vielleicht genügt eine Granate nicht, um Sie zu töten, aber hier lagern mehrere tausend Tonnen Explosivstoff.«

»Wir haben einen gemeinsamen Feind«, sagte Kyle nach einer Weile.

»Das frage ich mich«, sagte Hartmann, obwohl er dem Jared glaubte.

Kyle verzichtete auf eine Antwort. Nach einer Weile seufzte Hartmann und sicherte die Granate wieder. »Na schön«, sagte er. »Sieht so aus, als könnte ich jetzt nur schlechte Entscheidungen treffen.« Er schwankte und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Ein plötzlicher Schwächeanfall ließ ihn am Regal Halt suchen, und mehrere kleine Kartons mit Explosivgeschossen fielen auf den Boden.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte Kyle besorgt. »Ihre vitalen Reserven sind durch meinen Eingriff in Ihren Stoffwechsel aufgebraucht. Sie können jetzt an einer einfachen Erkältung sterben. Passen Sie auf, daß Sie nicht hinfallen.«

»Oder etwas fallen lassen, das weniger gut verpackt ist«, spottete Hartmann mit vorgetäuschter Gelassenheit. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Sie sagen es«, stimmte Kyle zu. Er richtete sich auf und blickte sich um. Im Halbdunkel sah es aus, als wenn er in letzter Zeit noch ein paar Zentimeter gewachsen wäre. »Wir benötigen Waffen«, sagte er.

Hartmann musterte gedankenverloren die toten Moroni und fragte sich, wer von ihnen aus welchem Grund noch Waffen brauchen sollte. »Bedienen Sie sich«, sagte er und machte eine ausholende Geste mit der linken Hand. »Es ist genug für alle da.«

Kyles ungleiche Augen fixierten ihn. »Ich sehe zwar Munition, aber keine Waffen. Haben Sie etwas bemerkt, was mir entgangen ist?«

Hartmann schüttelte stumm den Kopf. »Das wäre ein echter Witz«, sagte er grimmig. »Tonnenweise Munition, aber keine einzige Waffe.« Er löste sich von dem Regal und machte versuchsweise ein paar Schritte. Ihm wurde schwindelig, aber nach ein paar tiefen Atemzügen gewann er etwas Kraft zurück.

»Alles in Ordnung?« fragte Kyle.

Hartmann hob die Hand. »Nein«, sagte er, »aber ich komme zurecht. Ich nehme diese Seite, okay?«

»Einverstanden.« Kyle griff in das Regal neben sich und warf ihm etwas zu. Er fing es auf und erkannte, daß es ein kleiner Zielscheinwerfer war.

»Batterien sind drin«, sagte Kyle und schaltete seine Lampe ein.

Hartmann tat es ihm nach. Zielscheinwerfer wurden an einer Waffe angebracht und erzeugten einen scharf gebündelten, intensiven Strahl, der in völliger Dunkelheit den Fleck markierte, den der Schuß treffen würde. Als Lampe waren sie denkbar ungeeignet, aber sie leuchteten immer noch besser als Stiefel oder Handtücher. Er ließ den Lichtfleck über die hohen Regale tanzen und schüttelte den Kopf. »Vermutlich ist das ganze Zeug alphabetisch geordnet worden«, murmelte er und setzte sich in Bewegung.

»Was?« Kyle war schon auf der anderen Seite des Regals angekommen.

»Nichts«, sagte Hartmann ergeben. »Achten Sie auf Funkgeräte, ja?«

»Wozu?« fragte Kyle und umrundete das Regal am anderen Ende.

»Net hat vielleicht noch das kleine Funkgerät. Auf diese Weise haben wir noch eine Chance, sie zu finden.«

»Falls sie noch am Leben ist«, versetzte der Jared ungerührt.

»Ich hoffe es«, antwortete Hartmann leise. »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«

Kyle musterte ihn mit dem forschenden Blick eines Raubvogels. »Sie würden sie vermissen«, sagte er.

Die Worte klangen seltsam unangemessen. Hartmann nickte widerwillig.

»Als Tochter ... oder als Frau?«

Er war drei Schritte auf den Jared zugegangen, ehe seine Schwäche ihn zwang, sich wieder an das Regal zu lehnen. Überrascht erkannte er, daß er den Jared geschlagen hätte, wenn er dazu noch in der Lage gewesen wäre.

»Das wird zur schlechten Gewohnheit«, sagte Kyle, und etwas in seinem Tonfall warnte Hartmann. Kyle veränderte sich, und die Veränderung seiner Beine und seines Gesichtes waren nicht die schlimmsten. Hartmann fragte sich, ob sich Kyle dieser Veränderungen überhaupt bewußt war.

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Passen Sie auf sich auf«, sagte er und ging zum nächsten Regal.

Kyle musterte ihn verwundert, ohne zu blinzeln. »Sie meinen, ich sollte mich vor weiteren Wunden in acht nehmen«, sagte er dann.

Hartmann nickte ihm vom nächsten Gang aus zu. »Ich finde, Sie haben sich zu Ihrem Nachteil verändert«, stellte er trocken fest.

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